I. Entwicklungen seit Mao Zedongs Tod
1. Der Spätmaoismus und seine Hinterlassenschaft Im September 1976 starb Mao Zedong. Schon einen Monat später wurden seine — zum. Teil von ihm eingesetzten, zum Teil selbst ernannten — Nachfolger gestürzt. Mit dem Ende der sogenannten „Viererbande" unter Führung der Mao-Witwe Jiang Qing begann der Abschied von der spätmaoistischen Phase, die zuletzt im Zeichen von zehn Jahren Kulturrevolution, zehn Jahren „Schulausfall" (vor allem an den Höheren und Hochschulen) und fast zwanzig Jahren Wirtschaftsexperiment gestanden hatte. Während China infolge der politischen Auseinandersetzungen zwischen 1956 und 1976 pro Jahr durchschnittlich 2% BSP-Wachstum einbüßte, steigerte sich sein Bevölkerungswachstum im gleichen Zeitraum um jährlich rund 20 Millionen (!) Menschen — eine verhängnisvolle Schere, die durch das kulturrevolutionäre Experiment nicht geschlossen werden konnte, sondern sich eher noch öffnete. Die Kulturrevolution war realpolitisch mit dem Ziel gestartet worden, die Gegner des maoistischen Kurses, die ja bereits seit 1961 ein Alternativprogramm propagiert hatten, auszuschalten; sie hatte ideologisch unter dem Anspruch gestanden, die „Widersprüche"
zwischen der sozialistisch gewordenen Basis und den verschiedenen „im Rückstand gebliebenen“ Bereichen des Überbaus einzuebnen, und zwar nach Maßgabe der „Mao-ZedongIdeen": „Massenlinie" gegen Bürokratismus, . rot'1 gegen „fachmännisch", Klassenkampf gegen Versöhnlertum, so lauteten die Forderungen. Anfang 1975 zogen die Kulturrevolutionäre Bilanz und erklärten 13 sogenannte „Neue sozialistische Dinge" als Errungenschaften des zehnjährigen Kampfes: 1 Die „stürmische Entwicklung der Massen-bewegung zum Studium des Marxismus-Leni-nismus und der Mao-Zedong-Ideen", 2. die Geburt der Revolutionskomitees und die Stärkung der einheitlichen Führung durch die Partei, 3. die Schaffung von revolutionären Musterstücken und deren Popularisierung, 4. das Wachstum der „Massenkontingente von Aktivisten der marxistischen Theorie", 5. das Hochschulstudium von Arbeitern, Bauern und Soldaten und die Umgestaltung im Erziehungswesen, 6. Jugendliche mit Schulbildung lassen sich auf dem Lande nieder, 7. medizinisch Tätige gehen aufs Land, 8. Heranwachsen von Barfußärzten und Gründung eines genossenschaftlichen medizinischen Betreuungssystems auf den Dörfern, 9. Studium der historischen Erfahrungen der Kämpfe zwischen der konfuzianischen und der legalistischen Schule sowie der Klassenkämpfe insgesamt durch die Millionenmassen,
10. Dreierverbindung von Älteren, Personen mittleren Alters und jungen Menschen in den Führungsgruppen aller Ebenen, 11. Studienkurse für die Ausbildung von Arbeiter-, Bauern-und Soldatenkadern, 12. Teilnahme der Kader an körperlicher Arbeit,
13. Hervortreten zahlreicher vorbildlicher Einheiten in der Landwirtschaft, in der Industrie, im Handel, auf kulturellen Gebieten und im Erziehungswesen.
Das „sozialistische Neue" entstehe im ewigen Kampf der zwei Klassen und zwei Linien. Die Geschichte des Kampfes entwickele sich in einer Spiralbewegung, niemals geradlinig.
Was hier im schönsten Licht erscheint, wird von den Nachfolgern in düsteren Farben gemalt: Die dogmatische Wirtschaftspolitik („Getreide und Stahl als Kettenglieder") habe zu Verzerrungen im Gleichgewicht zwischen den einzelnen Wirtschaftssektoren geführt. Die Indu3 strie sei auf Kosten der Landwirtschaft, die Schwerindustrie auf Kosten der Leichtindustrie und des Wohnungsbaus, die metallurgische Industrie auf Kosten des Energie-und Infrastrüktursektors bevorzugt worden. Die Folge: Es wüchsen immer größere Stahlwerke aus der Landschaft, während immer mehr Menschen sich mit immer kleineren Wohnungen, immer bescheideneren Konsumzuwendungen und immer weniger Energie begnügen müßten. Der Mensch lebt nur einmal — und er darf nicht nur von einer fernen Hoffnung zehren.
Im Bereich des Militärwesens war China bei seinen Volkskriegserfahrungen und bei der Technologie der frühen fünfziger Jahre stehengeblieben und hätte, wenn es zur offenen Auseinandersetzung mit der Sowjetunion käme, zunächst wohl kaum Abwehrchancen. Im politischen Bereich waren die Partei-und Regierungsinstitutionen durch die Kulturrevolution zerschlagen und durch sogenannte „Revolutionskomitees" ersetzt worden, die Rätecharakter haben sollten, die aber in Wirklichkeit von kulturrevolutionären Agitatoren und Militärs durchsetzt waren, die zwar politischen Eifer, aber kaum Sachverstand mit-brachten. Durch die Kulturrevolution waren auch längst geplante Gesetzgebungswerke aufgeschoben und die letzten Reste der Verfassung von 1954 ad absurdum geführt worden. Die politische Auseinandersetzung spielte sich nicht mehr in verfassungsmäßig oder parteistatutenmäßig geregelten Formen ab, sondern erschöpfte sich im interfraktionellen Grabenkrieg und in „Klassenkämpfen'', die bald als „Antikonfuziuskampagne", bald als „Bewegung gegen den Kapitulationismus" etc. in Erscheinung traten, sich letztlich aber gegen jene Zhou Enlai-Gruppe richteten, die versucht hatte, der kulturrevolutionären Anarchie entgegenzusteuern.
Das Kulturleben des (damals) 900-Millionen-Volkes reduzierte sich auf die acht „Musteropern" Jiang Qings sowie auf die Lektüre von Mao-Werken, die am Ende gar noch auf die Aphorismensammlung des „Kleinen Roten Buchs" eingedampft worden waren. Die Schriften Maos hatten zu dieser Zeit ihre im konkreten politischen Kontext einst so lebendige Wirkung längst verloren und waren zum Staatsmaoismus erstarrt. Gleichzeitig hatte sich um den „Vorsitzenden" ein regelrechter Personenkult entwickelt.
Nicht zu Unrecht bezeichnet die heutige Propaganda die Jahre zwischen 1966 und 1976 als „zehnjährige Katastrophe". 2. Die Machtergreifung der antikulturrevolutionären Kräfte a) Die Personalpolitik der Sieger Der „Staatsstreich" von 1966/67, durch den di« Kulturrevolutionäre um Mao Zedong die ZK Mehrheit um Liu Shaoqi und Deng Xiaoping ausgeschaltet hatten, wurde am 6. Oktobei 1976 durch einen zweiten Staatsstreich gleichsam wieder aufgehoben.
Von Anfang an gab es zwischen den Siegern eine erregte Diskussion um die Frage, ob der im April 1976 zum zweiten Mal gestürzte Deng Xiaoping in die Führung zurückgeholt werden sollte. Personalistisch, wie die chinesische Politik nun einmal — trotz aller anders-lautenden marxistischen Selbstdarstellungen — ausgerichtet ist, war die Entscheidung für oder gegen die Person Dengs bereits für das gesamte nachmaoistische Programm vorentscheidend. Obwohl maßgebende Politbüromitglieder wie Partei-und Regierungschef Hua Guofeng oder aber die Nummer Fünf in der Führung, Wang Dongxing, sich gegen Deng aussprachen, wurde dieser im Juli 1977 dann doch wieder formell in seine drei Ämter als stellvertretender Parteivorsitzender, stellvertretender Ministerpräsident und Generalstabschef eingesetzt. Kaum im Amt, arbeitete Deng zielbewußt auf eine personelle Säuberung des Parteiapparats von kulturrevolutionären Elementen sowie auf ein Reformprogramm hin, das die bisher vorherrschenden maoistischen sozial-und wirtschaftspolitischen Vorstellungen auf den Kopf stellen sollte.
Der Säuberungsprozeß ist auch 1982 noch nicht ganz abgeschlossen und bisher in fünf Phasen verlaufen:
— Zwischen 1978 und 1980 wurden die ersten „Provinzfürsten“, unter ihnen der Pekinger Bürgermeister, abgesetzt.
— Im Frühjahr 1980 (5. Plenum des XI. ZK) wurden die vier führenden Kulturrevolutionäre in der Pekinger Parteizentrale entmachtet, nachdem sie schon vorher als „Windfraktion" (sie drehten sich nach jedem Wind), als „Erdbebenfraktion''(sie warteten auf ein ihnen günstiges politisches Erdbeben) und als „Zweiwas-auch-immer-Fraktion“ (was Mao auch immer gesagt und getan hat, bleibt unantastbar) unter Beschuß geraten waren. Gleichzeitig wurden die späteren Premiers und Parteivorsitzenden Zhao Ziyang und Hu Yaobang — zwei Schützlinge Dengs — ins Politbüro aufgenommen. — Ebenfalls 1980 kam es, zum dritten Mal nach 1954 und 1974, zu einem umfangreichen Militärrevirement, bei dem acht von elf Wehrbereichskommandanten auf neue Posten versetzt und ein alter Deng-Mitkämpfer, Yang Dezhi, anstelle Dengs zum Generalstabschef ernannt wurde.
— Im August/September 1980 (3. Plenum des V. Nationalen Volkskongresses) wurde der Staatsapparat neu besetzt. Hua Guofeng hatte dabei seinen Ministerpräsidentenposten an Zhao Ziyang abzugeben; gleichzeitig traten sieben stellvertretende Ministerpräsidenten zurück, und zahlreiche hochqualifizierte Fachleute erhielten Ministerposten. Ein dreiviertel Jahr später hatte Hua Guofeng auch noch von seinem Posten als Parteivorsitzender zurückzutreten und seinem Konkurrenten Hu Yaobang Platz zu machen (Juni 1981). — 1982 erfolgte der Übergang von der harten zur „weichen Säuberung". Unter der Bezeichnung „Strukturreform", die äußerlich gesehen nur mit Maßnahmen der Verwaltungsvereinfachung zu tun hatte, wurde auch der Bestand an Ministern und Kommissionsvorsitzenden durchforstet. Nicht nur die Zahl der Staatsratsorgane wurde verringert (von der Strukturreform waren 50 Ministerien und Kommissionen betroffen, die auf 19 zusammengelegt wurden), sondern auch der Personalbestand. Statt 51 Ministern gibt es jetzt nur noch 41, von denen wiederum 25 neu ernannt wurden und die nunmehr ein Durchschnittsalter von 61 Jahren aufweisen; gleichzeitig wurde die Zahl der Vizeminister von 362 auf 130 reduziert, unter denen wiederum 30% „Neulinge" waren. Nur 15% der stellvertretenden Minister haben die jüngste Reform überlebt.
Man kann in diesem personellen Rückschnitt einerseits eine Verjüngungs-und „Verfachlichungs'-Maßnahme erblicken (das Höchstalter für Minister wurde überdies auf 65, das der Vizeminister auf 60 Jahre festgelegt), man kann ihn aber auch als politische Säuberungs-maßnahme interpretieren. Andererseits ist die Frage erlaubt, ob die Neuorganisation nicht in erster Linie darauf abzielte, unqualifizierte und der Kulturrevolution nachtrauernde Kader aus verantwortlichen Positionen zu entfernen
Die Personalpolitik der Deng-Führung seit 1977 läßt den Schluß zu, daß leitende Funktionäre vor allem nach drei Kriterien gemessen werden:
1. Auf welcher Seite standest Du am 6. Oktober 1976?
2. Hast Du eine positive Leistungsbilanz aufzuweisen? (Vor allem der neue Ministerpräsident Zhao Ziyang hat einen solchen Nachweis im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau der Provinz Sichuan erbracht).
3. Bekennst Du Dich zum „Neuen Testament" vom Dezember 1978? b) Das Sachprogramm der Reformer Deng Xiaoping konnte seine Vorstellungen beim 3. Plenum des XL ZK (11. November bis 15. Dezember 1978) durchsetzen und beendete damit ein monatelanges Tauziehen, das auch auf dem Kongreß selbst noch fortgedauert hatte. Dieses Treffen war ursprünglich nur auf drei Tage angesetzt worden, dehnte sich dann aber zu einer zeitlichen Mammutveranstaltung von 34 Tagen aus. Am Ende ging Deng als triumphierender Sieger hervor. Er hatte es verstanden, sich als Nachfolger jenes Zhou Enlai zu präsentieren, dessen Gloriole nach 1976 das Bild Maos zu überstrahlen begann. Deng optierte ideologisch für die Aufhebung des Klassenkampfprinzips und für die Entmaoisierung (Parteibeschluß: „Der Schwerpunkt der KP-Arbeit wird vom Klassenkampf auf die Modernisierung verlagert"), wirtschaftlich für die Einführung des Leistungsprinzips, der materiellen Anreize, der Marktgesetze und der Betriebsautonomie, organisatorisch für die Abschaffung der „Personenherrschaft" zugunsten einer „Herrschaft des Rechts" und personalpolitisch für die Ablösung der Apparatschiki durch qualifizierte Fachleute.
Die neue „Generallinie" lautete, auf eine Kurz-formel gebracht: Vom Klassenkampf zur Modernisierung, vom Maoismus zur „Wahrheit in den Tatsachen“.
II. Das Dengsche Reformwerk: Ziele, Errungenschaften, Defizite
1. Ziele: Ein neuer Modus vivendi Schlagwortartig ausgedrückt, hat sich die Bevölkerung Chinas seit Mitte der fünfziger Jahre verdoppelt, während das Bruttosozial5 produkt sich halbiert hat — mißt man nämlich das tatsächlich erreichte Ergebnis an jenen Zuwächsen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erreichen gewesen wären, wenn sich China nicht ein politisches Dauerexperiment von 20 Jahren geleistet hätte. Gleichzeitig hat sich die ohnehin schon knapp bemessene Ackerfläche Chinas durch die Ausdehnung der Städte und Industrien um rund 23 Mio. ha verringert, also um ein Areal, das der Gesamtanbaufläche der Bundesrepublik Deutschland entspricht.
Die nachmaoistische Führung war angesichts solch erschreckender Entwicklungen zu der Einsicht gezwungen, daß die Revolution nicht mehr Vorrang vor der Produktion haben durfte, sondern daß um jeden Preis zunächst einmal die Ernährungs-und Wirtschaftsbasis des Landes gesichert werden mußte — notfalls auf Kosten „revolutionärer" Vorstellungen.
Es galt m. a. W. in erster Linie nach einem neuen Wirtschaftskonzept zu suchen, mit dessen Hilfe sich die Ernährung einer wachsenden Einwohnerzahl sichern, die Nachfrage nach Arbeitsplätzen befriedigen und der Aufbau einer leistungsfähigen Wirtschaft bewerkstelligen ließ. Mit der bisherigen Ideologie und den überkommenen Strukturen war hier kaum noch etwas anzufangen; gefragt war vielmehr eine „Modernisierung" im politischen, ideologischen, rechtlichen und kulturellen Bereich.
Sollten neue Formen greifen, so mußten zuerst die alten beseitigt werden; daher galt es, eine Übergangsperiode einzuleiten, die zunächst auf die Jahre 1979 bis 1981 begrenzt war, dann auf 1985 limitiert wurde und inzwischen noch ungefähreren Zeiträumen Platz gemacht hat. In dieser Zeitspanne sollten die Verhältnisse — und zwar nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet — „reguliert", „umgestaltet", „zur Ausrichtung gebracht" und „im Niveau gehoben" werden — so die immer wiederkehrende Vier-zahl der Zwischenziele.
Kurzfristig beschloß die Führung eine Durchforstung des statistischen Materials, nicht zuletzt aber auch eine Offenlegung von Defiziten, die bisher durch die öffentliche Propaganda noch allemal unter den Teppich gekehrt worden waren. U. a. sollte auch eine Volkszählung durchgeführt werden.
Schaffung von Transparenz, Beseitigung überkommener Mißstände und Modernisierung — so also lauten stichwortartig die kurz-, mittel-und langfristigen Ziele der nachmaoistischen Führung. 2. Maßnahmen der Modernisierung Die Wirkungen des neuen Programms waren durchschlagend. Tausende von ehemaligen „Revisionisten" wurden innerhalb weniger Monate rehabilitiert und in Leitungspositionen zurückgeholt; in der Wirtschaft kam es zum Einbau von marktwirtschaftlichen Elementen in die bisherige Planwirtschaft; in der Industrie entstanden erste Ansätze eines selbständigen Managements, im Außenhandel wurden Joint Ventures und Sonderwirtschaftszonen gegründet; in der Landwirtschaft wurde das der individuellen Bauernschaft günstige Haushaltsquotensystem eingeführt; der Wissenschaftsapparat erhielt höhere Zuschüsse; der Gesetzgebungsapparat begann auf Hochtouren zu laufen; Schriftsteller holten ihre alten Manuskripte aus der Schublade; die verschiedenen Religionen durften wieder ihre Gottesdienste ausüben, gleichzeitig überzogen sich die Mauern der Städte mit einer bunten Folge von Wandzeitungen, auf denen der Parteiapparat, der Staat und die Kulturrevolution hinterfragt und angeklagt wurden — und dies alles innerhalb von nur wenigen Monaten Im Jahre 1979!
Wie schon bei der Hundert-Blumen-Kampagne im Jahre 1957 forderte die überwältigende Mehrheit der Partei, nachdem sie ihren ersten Schock überwunden hatte, schnelle und strikte Repressionsmaßnahmen: Wenn Landwirtschaft und Industrie im bisherigen Emanzipationstempo fortführen, wären die Politruks schon bald überflüssig; wenn die Wand-zeitungen das Wort behielten, werde die Partei über kurz oder lang nichts mehr zu sagen haben; wenn Staats-und Parteiposten voneinander getrennt würden — wo bliebe da am Ende die Parteiführung!? Und überhaupt: Seit wann werden Konflikte von den Massen ausgetragen!? Seit 2000 Jahren findet Opposition, wenn man einmal von den großen Massenbewegungen der verschiedenen Bauernaufstände absieht, immer nur intra-elitär statt. Diesem Verlangen mußte auch die Führung um Deng Rechnung tragen, zumal sie kaum etwas hätte gewinnen können, wenn Ereignisse, wie beispielsweise der mißlungene „Erziehungsfeldzug" vom Februar/März gegen Vietnam, in aller Öffentlichkeit diskutiert worden wären.
Da die Deng-Führung auch beim Rückzug die Initiative nicht verlieren wollte, verkündete sie am 30. März 1979 die inzwischen so berühmt gewordenen „Vier Grundprinzipien", lurch die vorgeschrieben wurde, daß man iuch künftig festhalten müsse an der KP-Fühung, am Sozialismus, an der Diktatur des Proetariats und an den Mao-Zedong-Ideen — in illererster Linie freilich an der KP-Führung! Deng ließ außerdem die Wandzeitungen wieier verbieten und schwang erneut den „großen Knüppel" gegen Literaten und Filmregisseure, lie sich, wie im Falle des vieldiskutierten Spielfilms „Bittere Liebe", zu weit mit ihrer Kritik an der Partei vorgewagt hatten. Hier zeigte sich einer jener „Widersprüche", die u. a. für die gesamte Liberalisierungs-und Wieder-Verschärfungs-Politik der VR China seit 1949 charakteristisch geworden sind, und für die sich auch heute noch weitere Beispiele finden lassen: so hatte etwa Deng dem Außenhandel mächtige Impulse gegeben, um dann am Ende doch wieder die chinesische . Autarkie" zu betonen. Er setzte sich für die Kürzung des Militärhaushalts ein, um dann ostentativ dem größten und kostspieligsten Militärmanöver (in Nordchina, Herbst 1981) zu präsidieren. Deng bekämpfte die Kulturrevolution, erklärte aber gleichzeitig den urkulturrevolutionären Helden Lei Feng zum Modell eines „geistig zivilisierten" Neuen Menschen. Dies waren Widersprüche, in die sich die Deng-Fraktion während der Auseinandersetzung mit ihren beiden ernsthaftesten Machtkonkurrenten verfing.
Offiziell ist immer von den „Vier Modernisierungen" die Rede, und zwar auf den Gebieten Landwirtschaft, Industrie, Militärwesen und Wissenschaft (in dieser Reihenfolge). Daneben findet die „Modernisierung" aber auch noch in vielen anderen Bereichen statt, so z. B. im politischen System, in der Verwaltungsapparatur, im Recht, in der Eigentumskonzeption, in der Ideologie und nicht zuletzt in der Außenpolitik.
Im vorliegenden Zusammenhang sind nur die innenpolitisch relevanten Modernisierungen zu behandeln. a) Die „Modernisierung“ des politischen Systems und des Verwaltungsapparats Wichtigste Eigenart des politischen Systems der VR China ist der Dualismus zwischen Danwei-und Transdanweibereich. „Danwei" heißt Einheit. Der einzelne ist in erster Linie nicht Individuum, sondern Danweimitglied. Danwei ist jener organisatorische Raum, in dem jeder seine Arbeit ableistet und zum Teil auch sein Leben führt, wobei die Tendenz besteht, daß Produktions-und Konsumtionssphäre möglichst deckungsgleich sind, obgleich beide Bereiche manchmal auch auseinanderbrechen. Angesichts des Mangels an Freizügigkeit, die mit der zurückgebliebenen Infrastruktur, vor allem aber mit der Einmilliardenzahl der Chinesen zu tun hat, sind diese Danweis in hohem Maße stabil und ermöglichen strikte Sozial-kontrolle. Die Danwei ist Geburtsort, Schule, Arbeitgeber und — von wenigen Ausnahmen abgesehen — lebenslanger Aufenthaltsort. Es gibt in China im allgemeinen nicht Demokratie, sondern nur Danwei-Demokratie, nicht Sozialpolitik, sondern Danwei-Sozialpolitik, und nicht Sozialismus, sondern Danwei-Sozialismus
Im Trans-Danwei-Bereich haben sich eine Reihe von Mechanismen eingespielt, die mit dem offiziellen — sozialistischen — Selbstverständnis nur mühsam in Einklang zu bringen sind:
So läßt sich beispielsweise eine starke „Personalisierung" politischer Funktionen beobachten, in deren Gefolge sich ganze Seilschaften von Landsleuten, ehemaligen Mitkämpfern und Freunden zu informellen Interessenbündnissen zusammenfinden; Macht wird ferner ausgeübt durch Informationsdosierung mittels strenger Amtsgeheimnis-Vorschriften; wichtige Entscheidungen werden nicht in den offiziellen Gremien getroffen (dort herrscht fast immer Einstimmigkeit), sondern auf informellen Veranstaltungen vorgefiltert; Opposition vollzieht sich nicht in offener Feldschlacht, sondern verdeckt und hinter den Kulissen. Zhou Enlai wurde beispielsweise mehrere Jahre lang von der „Viererbande" nicht direkt und offen kritisiert, sondern als „Konfuzius" mit versteckten Anspielungen diffamiert. Das „Schattenschießen" war schon im traditionellen China alltäglich.
Es darf kein Zweifel sein, daß auch die nachmaoistische Führung die Danweis als höchst effiziente Agenturen der Sozialkontrolle im kleinen beibehalten will. Die einzelnen „Modernisierungs" -Ansätze bleiben auf den Transdanweibereich beschränkt und haben sich hier vor allem dreifach ausgewirkt, nämlich in Richtung Demokratisierung, Strukturreform und im Kampf gegen die Wirtschaftskriminalität.
„Demokratisierung“ soll auf Beseitigung des bisher so häufig geübten „Kommandismus" hinauslaufen und zielt vor allem auf sechs Maßnahmen ab:
1. Die Stärkung der Volkskongresse aller Ebenen gegenüber der bisher allmächtigen Partei-und Staatsbürokratie;
2. die Trennung zwischen Parteiausschuß und Verwaltung/Management: Die Partei solle, wie es heißt, künftig nur noch indirekt führen und sich nicht mehr direkt in Verwaltung und Justiz einmischen;
die Stärkung der örtlichen Ebenen (früher galt der Grundsatz: „Je zentraler, desto sozialistischer"); die Autonomie/Teilautonomie der Betriebe;
5. Reform des Kadersystems: Zum Hauptkriterium für die Demokratisierung des Kaderapparates gehört neben Wahl und laufender Kontrolle vor allem die Absetzbarkeit der Amtsträger durch Beschlüsse der Basis. Bis 1981 hatte es u. a. keine Altersbegrenzungen gegeben. Der Kader starb auf seinem Beamtenstuhl; 6. durch einen weiteren Ausbau des Rechtssystems soll dafür gesorgt werden, daß die Herrschaft durch Gesetz anstelle der „Herrschaft durch Menschen" tritt, daß also jedermann vor dem Gesetz wirklich gleich ist.
Hauptproblem bei diesen Reformen ist der Versuch, altgediente Kader in den Ruhestand zu schicken. Dies widerspricht nicht nur alt-konfuzianischen Grundsätzen, die im stillen weiterleben, sondern auch den revolutionären Verdiensten der Amtsinhaber:
— Die seit Anfang 1982 laufende „Strukturreform" -Bewegung dient offiziell der Verwaltungsvereinfachung, der Verjüngung und der erhöhten Leistungsfähigkeit, ist gleichzeitig aber, wie oben bereits ausgeführt, auch ein Mittel, um politisch unliebsame Kader aus Spitzenämtern zu entfernen.
— Der Kampf gegen die Wirtschaftskriminalität schließlich hat das Ziel, Korruptionsfälle offenzulegen, die angesichts der Verquickung von administrativer und wirtschaftlicher Verfügungsmacht im China der letzten 20 Jahre zum Kaderalltag gehören. Dies geht zumindest aus einer Fülle von Protokollen hervor, die in jüngster Zeit regelmäßig veröffentlicht werden.
Der inzwischen auf vollen Touren laufende Kampf gegen die Wirtschaftskriminalität führte zu einem paradoxen Ergebnis: Ausgerechnet zu einer Zeit, da die Partei mit sich ins reine zu kommen versucht, verliert sie an Ansehen; die Desillusionisierung der Bevölkerung wächst mit dem Maß der Offenlegung; gleichzeitig sind Prozesse gegen korrupte Kader höchst populär. b) Ansätze zu einer „Verrechtlichung"
Dreißig Jahre lang kam die VR China ohne ein Strafgesetz, ohne eine Strafprozeßordnung, ohne ein Zivilgesetzbuch, eine Zivilprozeßordnung und ohne formelle Wirtschaftsgesetze aus. Zivilrechtsprechung fand im allgemeinen in Form der Arbitrage statt; Straftaten wurden je nach dem „Zorn" oder aber der „Milde" der Massen abgeurteilt. Es gab kein nulla poena sine lege, keine Möglichkeit zur Einlegung von Rechtsmitteln, keine wirkliche Waffen-gleichheit zwischen Staatsanwaltschaft und Angeklagten, kein in dubio pro reo, keine Verfassungsgerichtsbarkeit, keine offizielle Kommentierung und — von ein paar Rudimenten abgesehen — auch keinen Juristenstand. 1979 begann sich das Blatt zu wenden: Im Juli erging ein Strafgesetzbuch und eine Strafprozeßordnung sowie ein — neugefaßtes — Gerichts-und Staatsanwaltschaftsgesetz. Mit dem Joint-Venture-Gesetz begann auch die Legislative im Wirtschaftsbereich anzulaufen (Zusatzregelungen zum Joint Venture; Steuer-gesetze etc.). Auch eine Rechtsanwaltsordnung, ein Gesetz über Wirtschaftsverträge und eine Zivilprozeßordnung sind inzwischen ergangen. Das lang erwartete Zivilgesetzbuch steht vor seiner Verabschiedung 3).
Auf den ersten Blick klingt dies alles vielversprechend; nur leider werden die Gesetze, vor allem das Strafgesetzbuch, nicht allzu wörtlich genommen. Dies zeigte sich beispielsweise beim Prozeß gegen die „Viererbande", bei dem sich das Gericht neun Verstöße gegen die Strafprozeßordnung und drei Verstöße gegen das Strafgesetzbuch erlaubte 4). Schlimmer noch: durch die Vorschriften über Arbeitserziehung haben Verwaltungsbehörden die Möglichkeit erhalten, Personen, die sich nicht ordentlich betragen, auch ohne Vorliegen einer Straftat kurzerhand jahrelang hinter Schloß und Riegel zu bringen — eine Methode, mit der sich die von formellen Fußangeln nur so strotzende Strafprozeßordnung bequem umgehen läßt In den 1982 erlassenen Ergänzungen zum Strafgesetzbuch, die u. a. neue Tatbestände gegen Wirtschaftsverbrechen einführen, werden überdies Todes-und schwere Gefängnisstrafe auch gegen solche Personen festgelegt, die ihre Straftaten bereits vor Erlaß dieser Ergänzungen begangen haben — ein klarer Verstoß gegen den im Strafgesetzbuch selbst festgelegten Grundsatz des nulla poena sine lege 1982 erging auch eine neue Verfassung, die im wesentlichen wieder an die Regelungen der ersten Verfassung von 1954 anknüpft. Insgesamt hat China bisher vier solcher Grundgesetze erlassen (1954, 1975, 1978 und 1982) — nicht gerade ein Musterbeispiel für ruhige Beständigkeit, von der ein „Grundgesetz" doch eigentlich erfüllt sein sollte. c) Die Überprüfung des Eigentumbegriffs Bis Ende 1978 galten als Kriterien für die Überlegenheit des sozialistischen Eigentums zwei Eigenschaften, nämlich die Größe einer Einheit („Je größer, desto besser") und der Grad der Organisiertheit („Je mehr der Volkskommune gehört, um so besser, je mehr der Produktionsmannschaft, um so schlechter").
Neuerdings gilt hier ein neues Fortschrittlichkeitsmerkmal, nämlich die Effizienz eines Gegenstands im konkreten wirtschaftlichen Zusammenhang. Der Traktor eines Privathaushalts kann also u. U. sozialismusgemäßer sein als ein Kollektivtraktor, falls er den „Entwicklungsstand der Produktivkräfte" besser fördert. Man sieht: Die Suche nach Produktionssteigerungen und -Verbesserungen bringt auch eine Relativierung des sozialistischen Eigentumsbegriffs mit sich. Die drei Formen des Eigentums (staatlich, kollektiv und privat) haben de facto fast wieder gleichen Rang erhalten. Dies wird besonders deutlich an zwei neuen Entwicklungen: — Da ist einerseits (im Landwirtschaftsbereich) das „Haushaltsquotensystem", in dessen Zusammenhang die Haushalte als Unternehmer in den Vordergrund treten. Die nach wie vor kollektiv organisierten Produktionsmannschaften überantworten ihnen auf vertraglicher Basis für einen befristeten Zeitraum Aufgabenbereiche, wie z. B. die Aufzucht einer bestimmten Zahl von Hühnern, die Bearbeitung eines Naß-oder Trockenfeldes, die Herstellung von Seide oder die Anfertigung von Werkzeugteilen — Aufgaben also, die der betreffende Haushalt dann in Eigenverantwortung zu bewältigen hat. Erwirtschaftet er ein Übersoll, erhält er Prämien, bleibt er unter den Vereinbarungen, handelt er sich Strafpunkte ein.
Der Vorteil dieser Entwicklung liegt auf der Hand: Sie steigert die Leistungsbereitschaft der Bauern. Der Nachteil besteht darin, daß die Kollektiv-zugunsten der Haushaltsarbeit vernachlässigt wird, und daß überhaupt der Sozialismus an seinen Fundamenten, nämlich den Vorstellungen vom Gemeineigentum an Produktionsmitteln, angefressen wird.
Auch im Bereich der Industrie und des Handwerks gibt es ähnliche Entwicklungen: Am 15. Juli 1981 erging eine Verordnung des Staatsrats, die das Einzelwirtschaftssystem künftig auch für Mittel-und Kleinbetriebe im städtischen Bereich zuläßt und in diesem Zusammenhang gestattet, daß Einzelbetriebe dort nicht nur Produktionsmittel als Eigentum besitzen, sondern auch bis zu fünf Arbeitskräfte anheuern dürfen. Merkwürdig genug klingt die Begründung: Es handele sich hier nur um eine „kleine Ausbeutung", die obendrein aufgrund des niedrigen Entwicklungsstands der Produktivkräfte als gerechtfertigt angesehen werden müsse. Hier tickt ein Sprengsatz im Sozialismusgebäude der Volksrepublik. Das Dilemma lautet heute: Rechtfertigt höhere Produktion den Verzicht auf sozialistische Prinzipien? d) Die Modernisierung des Militärwesens Ein militärisches Gleichziehen mit den beiden Supermächten kommt für China auf absehbare Zeit schon aus finanziellen Gründen nicht in Betracht. „Modernisierung“ kann unter den heutigen Gegebenheiten also nur auf Teilmaßnahmen hinauslaufen: Da ist zunächst der Nachholbedarf an moderner Ausrüstung. China ist in der glücklichen Lage, daß seine beiden an die Sowjetunion angrenzenden Landesteile im Nordosten (frühere Mandschurei) und Nordwesten durch Gebirgsketten abgeriegelt sind, die sich nur an wenigen Stellen passieren lassen. DieVerteidigungsanstrengungen müssen sich also lediglich auf diese „Flaschenhälse" konzentrieren. Das chinesische Militär hat inzwischen einige der neben den Einfallpforten gelegenen Berge mit Bunkern und in den Fels hineingehauenen Straßen versehen, kann hier also jeden ersten Schlag überstehen. Tritt der Feind gleichwohl zum Angriff an, so dürften sich bei der Armee vor allem drei Schwächen bemerkbar machen. Sie ist „halbblind" (d. h. es fehlen vor allem hochwertige Informations-und EDV-Geräte), sie ist abwehrschwach (d. h. konzentrierten sowjetischen Panzerangriffen nicht gewachsen, es sei denn, daß sie gleich die nukleare Keule einsetzt), und sie ist weitgehend bewegungsunfähig — ein Mangel, der mit der unterentwickelten Infrastruktur des Landes zusammenhängt, der sich langfristig aber auch zu Ungunsten des Gegners auswirkt. Modernisierung heißt also zunächst einmal Ausfüllung dieser drei Lücken, heißt aber auch bessere Ausbildung (etwa im Sinne jenes großangelegten Verbundtrainings, wie es im Herbst 1981 in Nordchina stattfand) und Anpassung der institutioneilen Strukturen an die Erfordernisse des Umgangs mit modernstem Gerät. Langfristig wird sich also das maoistische Volkskriegskonzept mit seiner Beschränkung auf die „geistige Atombombe" des Kampfwillens und auf „Gewehre plus Hirse" kaum aufrechterhalten lassen, zumindest muß es ergänzt werden durch einen modernen militärischen Sektor, der dann jedoch am Ende tendenziell auch die Volkskriegsstrukturen überlagern dürfte.
Es fällt auf, daß die militärische Modernisieru-ng, obwohl sie offiziell immer an dritter Stelle genannt wird, gegenüber Landwirtschaft, Industrie und Wissenschaft einen auffällig bescheidenen Stellenwert einnimmt. Vielleicht kehrt China langfristig wieder zur „Normalität" (wie sie vom Durchschnittsbürger als solche empfungen wird) zurück. „Normal" in diesem Sinne war 2000 Jahre lang die absolute Priorität des zivilen vor dem militärischen Element, der Politik vor der militärischen Auseinandersetzung und des „Straffeldzugdenkens" vor „kolonialer Gesinnung", die ja durch eine enge Verbindung von Militarismus und Handelsinteressen gekennzeichnet ist 2000 Jahre lang suchte China anstehende Probleme möglichst mit nichtmilitärischen Mitteln zu lösen (dies ist übrigens ein bemerkenswerter Gegensatz zur heutigen vietnamesischen Praxis).
Das Militär hatte eine ähnlich negativ eingeschätzte Funktion wie beispielsweise auch das Strafrecht: Ein schöner Politiker, der auf Soldaten oder Richter rekurrieren mußte! Bewies er damit nicht einen Mangel an persönlicher Tugend und an Vorbildhaftigkeit!?
Außenpolitische Probleme wurden seit 2000 Jahren mit wohlgeprüften politischen Mitteln angefaßt, wie: „Man verbünde sich mit dem Fernen, um das Nahe zu bekämpfen“ (man denke an die heutige chinesische EG-Politik), „Man bekämpfe einen Barbaren mit dem anderen" (die chinesische Kambodscha/Vietnam-Politik), oder „Man zivilisiere den Barbaren" (chinesische Politik der modellhaften Selbstdarstellung, die in den sechziger Jahren z. B. auch auf die westliche Jugend wirkte).
Schon zeigen sich erste wirtschaftliche, soziale und politische „Einbußen" der Armee: Der Militärhaushalt wird zusammengestrichen, die Armee ist nicht mehr, wie noch 1967, „Modell des ganzen Volkes”; eine mehr technische Einstellung macht sich breit. Im übrigen steckt China in der Anschaffung moderner konventioneller Waffen schon deshalb zurück, weil man eingesehen hat, daß eine Verbesserung des Militärwesens der Modernisierung von Industrie, Landwirtschaft und Wissenschaft nicht vorausgehen kann, sondern diesen vielmehr nachzufolgen hat. In der Zwischenzeit bleibt die Volkskriegsstrategie zwar erhalten, verliert in dieser Lückenbüßerfunktion allerdings immer mehr von ihrer ursprünglichen Ausstrahlungskraft.
Trotz aller Sparsamkeit im Militärischen scheut China aber nicht die Ausgaben in besonders forschungsintensiven Bereichen strategischer Natur wie Erdsatelliten, Raketen und Kernwaffen. Wäre es nicht besser, das Geld für die Hebung des Lebensstandards einzusetzen? Die Antwort: Chinas Kernwaffen-tests seien begrenzt, dienten der Landesverteidigung, ferner dem Zweck der Brechung des Nuklearmonopols der Supermächte, nicht zuletzt aber auch dem Ziel, endlich die Kernwaffen überhaupt aus der Welt zu schaffen.
Ferner bestehe, ganz allgemein gesprochen, zwischen Spitzentechniken und der Verbesserung des Lebensstandards kein Gegensatz; denn fortgeschrittene Wissenschaft und Technik seien die Voraussetzung für eine Verbesserung des wirtschaftlichen Lebens. e) Und wie steht es mit der „Modernisierung"
der Ideologie?
Der maoistischen Ideologie werden — meist indirekt — vor allem drei gefährliche Irrtümer vorgeworfen, nämlich ihre „Gleichmacherei" (z. B. „Reich = revisionistisch", Verurteilung von Prämien und Leistungsanerkennung), ihre „Klassenkampforientierung" und die „Schabionisierung des Denkens", die jeder eigenen Initiative den Weg verbaut habe.
Statt Gleichmacherei wird heute die Anerkennung der Leistung in Form von Aufstiegschancen, Prämien etc., statt dem Klassenkampf die Modernisierung und statt dem Schablonen-denken das Postulat anerkannt, die „Wahrheit in den Tatsachen zu suchen" (und nicht etwa in einem maoistischen Dogma!).
Die eigentliche Abrechnung mit Mao Zedong erfolgte in dem ZK-Beschluß „über einige Fragen unserer Parteigeschichte" vom 27. Juni 1981, in dem eine Liste „ernsthafter linker Fehler" Maos aufgeführt und überdies das „MaoZedong-Denken" von der Person Maos getrennt wird (es sei letztlich ja eine „Kristallisation kollektiver Weisheit"). Die drei Kernpunkte der maoistischen Lehren seien die Massenlinie, das Vertrauen auf die eigene Kraft und die Forderung, die „Wahrheit in den Tatsachen zu suchen“.
Der Maoismus wird mit anderen Worten mit dem Kernpostulat Deng Xiaopings gleichgesetzt. Ein weiterer Versuch, das „Mao-Zedong-Denken" auf den Modernisierungskurs zu eichen, bestand in der Herausgabe des V. Bandes der „Ausgewählten Werke", die einen Zeitraum umfassen (1949 bis 1956), in dem Mao mehr als Pragmatiker hervorgetreten ist als in anderen Epochen. Diese Neuinterpretation ist eine typisch chinesische Methode, um den Revolutionär Mao in den „Modernisierer Mao“ umzuprägen. Inzwischen zeigen sich Tendenzen einer Über-lagerung der „Mao-Zedong-Ideen" durch die Begriffswelt der sogenannten „geistigen Zivilisation". Dieser erst seit 1980 verwendete Begriff ist zwar identisch mit dem, was Marx als „überbau" bezeichnet hat, zeigt aber bereits als neuer Terminus, daß die chinesische Führung auf dem besten Wege ist, die Genese eines Neuen Menschen und eines Neuen sozialistischen Bewußtseins aus dem maoistischen Kontext herauszulösen. Das Schlagwort von der „Befreiung des Denkens" zielt letztlich auf eine Befreiung vom maoistischen Dogma überhaupt.
Was vom „Sozialismus" in China letztlich übrigbleiben dürfte, ist die KP-Führung, die freilich teilweise auf eine Perpetuierung der alten Mandarin-Tradition hinausläuft.
Modernisierung der Ideologie wäre am Ende eine Befreiung von allen Dogmen, die der Modernisierung im Wege stehen könnten — mit Ausnahme des einen Dogmas, daß nämlich die KP nach wie vor die Zügel in der Hand behält.
III. Ein Blick in die Zukunft
L „Krisen“?
China durchläuft zur Zeit eine kritische Epoche seiner Geschichte:
Es hat Wirtschaftskrisen zu bewältigen. Die Gleichgewichte zwischen den einzelnen Wirtschaftssektoren sind verzerrt. Jahrelang wurde der Investbau überbetont, die Infrastruktur vernachlässigt und das Konsumbedürfnis so gut wie nicht zur Kenntnis genommen. Selbst wenn diese „Disproportionen" eines Tages überwunden sein sollten, stehen neue Gefahren vor der Tür: Arbeitslosigkeit, Finanzierungsschwierigkeiten und vor allem die oben erwähnte Schere zwischen wachsender Bevölkerung und abnehmender Ackerfläche. In allererster Linie hat die Führung ihre Aufmerksamkeit heute der Bevölkerungsexplosion zuzuwenden. Sollte sie nicht in der Lage sein, ihre gegenwärtig praktizierte — aber immer noch nicht durchweg erfolgreiche — Ein-Kind-Politik durchzusetzen, so werden die Ernährungs-und Arbeitslosigkeitsprobleme in den neunziger Jahren Dimensionen annehmen, die nicht mehr bewältigt werden können. Wenn immer wieder behauptet wird, daß China seine Dilemmata nur mit Hilfe des Sozialismus lösen könne, so ist dies zumindest insoweit richtig, als die Geburtenkontrollpolitik angesprochen ist. Hier wird ein „harter Staat" auch in den nächsten Jahrzehnten unentbehrlich sein.
China durchläuft darüber hinaus gegenwärtig eine „Drei-Glaubenskrise" nämlich eine Loyalitäts-(gegenüber der KP-Bürokratie), eine Glaubens-(gegenüber dem „Mao-Zedong-Denken") und eine Vertrauenskrise (in die Zukunft). Jahrelang hatte die kulturrevolutionäre Propaganda ein strahlendes Bild vom chinesischen Sozialismus an die Wand geworfen. Ideologie bewährte sich hier eine Zeitlang als der Versuch, die Welt einfacher zu sehen, als sie ist. Inzwischen hat die Modernisierung zu einer „Entzauberung der Welt" (Max Weber) geführt, wie sie Folge jeder Modernisierung zu sein scheint.
Nicht zuletzt aber ist von einer Krise in der chinesischen Führung die Rede — vor allem bei zahlreichen westlichen Meinungsmachern. Ob all diese „Krisen“ zu lösen sind, wird sich noch zeigen müssen. Schon jetztz steht aber fest, daß es zum gegenwärtigen Kurs keine brauchbare Alternative gibt:
— Eine Politik des Neo-Maoismus scheint nach den Erfahrungen des Großen Sprungs und der Kulturrevolution heute kaum denkbar. Das maoistische Massenexperiment hat die chinesische Volkswirtschaft zwischen 1956 und 1976 jährlich einen BSP-Wachstums-verlust von 2 % gekostet. Man hat erkannt, daß diese Art von Revolution zu „teuer“ ist. Jede kulturrevolutionäre Renaissance würde zu Wachstumsverlusten führen, die sich China angesichts seiner Bevölkerungsprobleme heute weniger denn je leisten kann. Außerdem wurde die letzte in sich geschlossene neomaoistische Fraktion, wie oben bereits beschrieben, im Frühjahr 1980 abgehalftert.
— Unter der Oberfläche des politischen Lebens in China gibt es noch eine zweite Gruppierung, die ein geschlossenes Gegenprogramm zum Deng-Kurs besitzt, indem sie sich weiträumig an sowjetischen Modellen orientiert. Es ist dies die sogenannte „Erdölfraktion", der zahlreiche Führungskader aus dem Energie-und Industriebereich angehören. Diese Koalition konnte sich — ganz im Dunstkreis der zentralen Großindustrie aufgewachsen — mit den Dezentralisierungsplänen der Reformer nie anfreunden. Deng Xiaoping nahm hier den Untergang einer Ölbohrhubinsel im Bo-Meer 1981 zum Anlaß, um einige Kader, u. a. den Erdölminister, „auszugraben" und die Anhängerschaft, die bis zur Grauen Eminenz der Großbürokratie, Li Xiannian, hinaufreichte, zu warnen. Auch die „Strukturreform“ von 1982 hat zu einer weiteren Schwächung dieser Fraktion geführt.
Nach Ausschaltung der beiden ernsthaftesten Machtkonkurrenten, die zu einem geschlossenen Gegenprogramm fähig gewesen wären, gibt es in China heute keine geschlossene Opposition mehr, sondern nur noch gegnerische Gruppen, die Partikularinteressen verfolgen. Dengs industrielles Dezentralisierungsprogramm beispielsweise stößt auf den Unmut der zentralen Wirtschaftsbürokratie, seine „Verrechtlichungspolitik" widerspricht den Vorstellungen des an unbekümmertes Durchgreifen gewöhnten Sicherheitsapparats, seine Haushaltsquotenpolitik in der Landwirtschaft stellt die Existenzberechtigung der Dorfbürokratie in Frage, seine Kader-Pensionierungspolitik setzt Revolutionshelden gegen ihren Willen aufs Altenteil und seine Wehretatkürzungen erzürnen die Militärs — allenfalls der Wissenschaftsapparat kann zufrieden sein.
Alle diese Gruppierungen leiden daran, daß sie kein Alternativprogramm zu Dengs klarem Aufbaukurs besitzen. Sie nörgeln an den neuen Richtlinien herum, die ihnen von der Deng-Führung fast täglich beschert werden, bringen ab und zu ein paar Einwände aus dem „Alten Testament", ziehen dann aber, nachdem sie ein paar Zugeständnisse erhandelt haben, wieder mit in der Reformkarawane.
Seine bisher feierlichste Bestätigung erfuhr der 1978 eingeleitete Reformkurs durch den XII. Parteitag, der vom 1. — 10. September 1982 dauerte und bei dem das Parteispitzenpersonal neu gewählt, eine überarbeitete Parteisatzung erlassen und — eben — die politische Linie des 3. Plenums ex cathedra als korrekt bestätigt wurde: allen Zweiflern und Widersachern zum Trotz.
Die wichtigsten Änderungen des Parteistatuts passen genau zum Reformkurs: das Amt des — unter Mao so häufig als Rüstzeug des Personenkults mißbrauchten — Parteivorsitzenden wurde abgeschafft und durch eine . Kollektiv-führung'(unter einem . Generalsekretär'an der Spitze) ersetzt. Für ältere Parteimitglieder entstand ein sogenanntes . Beraterkomitee'. Veteranen werden hier mit anderen Worten in gesichtswahrender Form zugunsten des expertokratischen Nachwuchses . auf das Altenteil geschoben'. Solange der Reformkurs nicht grundlegend scheitert, kann Deng von der Ratlosigkeit seiner Gegner leben. Er hat es bisher noch immer verstanden, sie durch ein geschicktes divide et impera sowie durch verbale und sachliche Zugeständnisse vom Aufbaueiner vereinten Anti-Reform-Front abzuhalten. Anders als der klassenkämpferische Mao ist er auch konsens-fähig geblieben und hat es vermeiden können, daß die Fronten sich auf „zwei Lager und zwei Linien" reduzieren. Der Zwang zum Dauerkompromiß verleiht seiner Politik freilich etwas Schillerndes und Unstetes — aber eine Alternative zum Reformkurs ist derzeit nicht in Sicht!