Einleitung
Die angesehene italienische Zeitung „Corriere della Sera" hat vor einem Jahr die Bundesrepublik Deutschland angesichts ihrer Probleme als ein Land bezeichnet, „das fast in einer Gegenwart ohne Geschichte" zu erstarren scheint.
Wie immer man dieses Urteil eines ausländischen Beobachters bewerten mag — Tatsache ist, daß hierzulande die Geschichte vor 1945 lange Jahre stärker im Blickfeld stand als die jüngste Vergangenheit nach 1945 mit der Entstehung und Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, die, wie ihr östliches Pendant DDR, inzwischen länger existiert als Weimarer Republik und Drittes Reich zusammen. Zweifellos hat die allgemeine Geschichtsmüdigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg, nach so viel und so hautnah erlebter und erlittener deutscher Geschichte, ebenso ihren Teil zu jener zeitweisen Ausblendung der jüngsten Vergangenheit hierzulande beigetragen wie die nahezu ausschließliche Fixierung auf den Wiederaufbau und die Schaffung einer sicheren Existenz in Wohlstand und Besitz — mit sichtbar hohen Folgekosten für unsere Gegenwart. In der DDR nimmt sich die Situation anders aus. Nicht nur die marxistisch-leninistische Historiographie hat dort von Anfang an den Blick auch und insbesondere auf die Zeitgeschichte nach 1945 gerichtet; die nahezu totale Umwälzung, die dort in politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht vollzogen wurde, hat das Interesse und Bewußtsein der dort lebenden Deutschen für die Zeitgeschichte, insonderheit für die Geschichte der Nachkriegszeit mit der Gründung und Entwicklung zweier deutscher Staaten, stets wacher sein lassen als bei uns.
Der hohe Stellenwert, den Zeitgeschichte schon immer und nicht zuletzt aufgrund der ihr zugedachten bewußtseinsbildenden Funktion in der DDR innehat und der nicht ohne Grund seit Anfang der siebziger Jahre — seit dem VIII. Parteitag der SED im Jahre 1971 mit dem Machtwechsel von Ulbricht auf Honekker — eher noch an Bedeutung gewonnen hat, so daß Zeitgeschichte inzwischen dominierender Teilbereich der historischen Forschung in der DDR geworden ist, dieser hohe Stellenwert läßt sich jedoch nicht zureichend begreifen, ohne die Gesamtentwicklung der Historiographie in der SBZ/DDR in Betracht zu ziehen. Konkret ist damit der ab der zweiten Jahreshälfte 1948 unter der Stalinschen Parole: „Stürmt die Festung Wissenschaft!" einsetzende personelle, institutioneile und ideologische Transformationsprozeß gemeint, der die Umwandlung von einer sogenannten bürgerlichen Geschichtswissenschaft in eine marxistisch-leninistische Historiographie bedingte und bedeutete. Besonders in jener Anfangszeit ist die Entwicklung der Geschichtsforschung im anderen deutschen Staat von wiederholten Eingriffen seitens der SED geprägt worden, mit entscheidender Folge-und Nachwirkung auf die seit Ende der fünfziger Jahre sich allmählich ausbildende Zeitgeschichte.
Doch ebenso bestimmend wurde, daß die Geschichtswissenschaft der DDR in dieser Anfangsphase ihrer Entwicklung bis mindestens Mitte der sechziger Jahre geradezu auf die westdeutsche Historiographie fixiert war, was wiederum für die eigene und ganz besonders für die Entwicklung der Zeitgeschichtsforschung in der DDR von großer Auswirkung gewesen ist. Nur am Rande sei bemerkt, daß es die bundesrepublikanische Geschichtswissenschaft im Gegensatz dazu jahrelang für ausreichend hielt, ihr östliches Pendant allenfalls aus den Augenwinkeln wahrzunehmen — zum Teil bis heute.
Zeitgeschichte, die in der DDR von der Epo-chenperiodisierung her als Geschichte der Neuesten Zeit I 1917 bis 1945 sowie als Geschichte der Neuesten Zeit II von 1945 bis zur Gegenwart definiert wird, ist und wird jedoch noch von anderen Faktoren bestimmt, auf die im Rahmen unserer Fragestellung jedoch nur verwiesen werden kann. Zu nennen wäre die wissenschaftlich und nicht zuletzt politisch-ideologisch brisante Periodisierungs-Diskussion, insbesondere für die Zeit nach 1945 und die davon nicht zu trennende inhaltliche Füllung sowie schließlich die institutionelle Organisation innerhalb der marxistisch-leninistischen Historiographie
In historisch-systematischem Abriß sollen nachfolgend wichtige Stationen der Entwicklung zeitgeschichtlicher Forschung in der DDR herausgearbeitet werden, dem sich ein daraus abgeleiteter Funktionenkatalog marxistisch-leninistischer Zeitgeschichte anschließt. Im Schlußteil dieses Beitrages wird die bisherige Entwicklung zusammengefaßt und im Vergleich mit der westdeutschen Zeit-geschichtsforschung im Hinblick auf mögliche Trends in der Zukunft beurteilt.
I. Anfangsprobleme und politisch-ideologische Restriktionen
Einer zügigen Entwicklung der Zeitgeschichte als Forschungsgebiet marxistisch-leninistischer Historiographie in der SBZ/DDR stand zunächst und mit Wirkung bis in die sechziger Jahre hinein der rigorose Transformationsprozeß selbst im Wege, den die SED seit der zweiten Jahreshälfte 1948 in der Geschichtswissenschaft der damaligen Sowjetischen Besatzungszone eingeleitet hatte.
Durch diese Maßnahmen ergab sich eine zunehmende Abwanderung von nichtmarxistischen Historikern in den Westen; es mangelte der jungen marxistischen Geschichtswissenschaft deshalb an sowohl wissenschaftlich qualifizierten und zugleich ideologisch zuverlässigen Kadern als auch an einer funktionierenden institutionellen Organisation, um die von der Partei geforderte, auf hohem wissenschaftlichem Niveau und auf den Prinzipien des Marxismus-Leninismus ruhende, erklärtermaßen „neue" Geschichtswissenschaft tatsächlich betreiben zu können
Doch mindestens genauso hinderlich war, auch und gerade unter dem Aspekt geplanter Herausbildung zeitgeschichtlicher Forschung, daß die damalige marxistische Geschichtsauffassung dieser Anfangszeit in der SBZ/DDR stark von der sogenannten „Misere-Theorie der deutschen Geschichte“ geprägt und belastet war: Vor allem die leidvollen persönlichen Erfahrungen, die viele parteipolitisch engagierte Mitglieder und Funktionäre der deutschen Arbeiterbewegung durch ihre Zugehörigkeit zur KPD oder SPD während der Nazi-zeit in Haft, im Untergrund oder im Exil hatten machen müssen, wie gleichzeitig die häufig unter ihnen vorherrschende Meinung, die deutsche Geschichte sei von einem tragischen Verlauf gekennzeichnet, sie habe es im Gegensatz zur englischen oder insbesondere zur französischen Geschichte nie zu einer erfolgreichen Revolution gebracht, hatte die Auffassung virulent werden lassen, die deutsche Geschichte stelle eine einzige Misere dar
In der Tat wirkte diese Theorie bis in die ersten Jahre nach Gründung der DDR fort als Beispiel hierfür sei nur an den bezeichnenden Titel des mehrfach aufgelegten Werkes von Alexander Abusch: „Der Irrweg einer Nation" erinnert, das geradezu programmatisch dieser Auffassung Ausdruck verlieh.
Mit solchem Geschichtsbild jedoch konnten zwei grundlegende Funktionen, die die Partei ihrer jungen Geschichtswissenschaft zugedacht hatte, nicht erfüllt werden:
1. Eine fruchtbare, gegenüber der sogenannten bürgerlichen Historiographie neue Fragen stellende und damit möglicherweise zu anderen Beurteilungen kommende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte zum Zwecke der Erstellung eines positiven Geschichtsbildes der deutschen Historie. 2. Eine auf solch positivem Geschichtsbild beruhende sozialistische Bewußtseinsbildung, die letztlich die Identifikation mit dem von der SED geschaffenen Staats-und Gesellschaftssystem durch historische Legitimation bewirken sollte.
Zwei Jahre nach Gründung der DDR wurde daher mit der „Zerschlagung der Theorie" durch die Entschließung des ZK der SED vom 20. Oktober 1951 über „Die wichtigsten ideologischen Aufgaben der Partei" praktisch per Dekret der Weg für eine positive Deutung der deutschen Geschichte freigemacht und zugleich ein entscheidendes Interpretationsraster für die weitere Entwicklung der Geschichtswissenschaft in der DDR gesetzt. Die nun möglich gewordene Öffnung der marxistisch-leninistischen Historiographie für die als progressiv bezeichneten Epochen der deut-sehen Geschichte nahm jetzt ihren Anfang und bildete die Grundlage für die bis heute geradezu anatomisch vorgenommene Präparierung zweier entgegengesetzter Klassenlinien der deutschen Geschichte, insbesondere aber in der zeitgeschichtlichen Darstellung, deren sogenannte progressive ausschließlich für die DDR reklamiert wird und darin gipfelt, daß „die Herausbildung und Entwicklung der DDR die Krönung der Geschichte des deutschen Volkes" darstelle, während die sogenannte reaktionäre Linie nach diesem Verständnis von der Bundesrepublik Deutschland weitergeführt werde.
Der Beschluß der SED zur „Verbesserung der Forschung und Lehre in der Geschichtswissenschaft der Deutschen Demokratischen Republik" aus dem Jahre 1955 bildete einen weiteren Meilenstein in der Entwicklung der Historiographie in der DDR, dokumentierte jedoch gleichzeitig, daß die von der Partei geforderten ideologischen, wissenschaftlichen und organisatorischen Fortschritte in der Geschichtswissenschaft nach wie vor zu wünschen übrig ließen und nicht den Vorstellungen der Partei entsprachen Wie schon in den Jahren zuvor wurde insbesondere kritisiert, daß „eine historische Darstellung der tiefgreifenden Veränderungen in Deutschland seit 1945 ... bisher fast völlig unterlassen worden sei" Die unübersehbare Scheu der professionellen Historiker in der DDR, sich mit Fragen und Themen der Zeitgeschichte — vor allem nach 1945 — auseinanderzusetzen, sollte bis Ende der fünfziger Jahre zu dem geradezu schizophrenen Tatbestand führen, daß geschichtliche Darstellungen der jüngsten Vergangenheit nahezu ausschließlich aus der Feder führender Mitglieder des Partei-und Staatsapparats stammten — allen voran Walter Ulbricht, der aus seinem großen persönlichen Geschichtsinteresse kein Hehl machte und sich selbst als Historiker „sozusagen im dritten Beruf" verstand.
Die offenkundige Zurückhaltung der Historiker in der DDR hatte allerdings handfeste Gründe: Zum einen war ihre Verunsicherung durch die permanenten Eingriffe der SED groß; Unklarheit bestand vor allem hinsichtlich des ideologischen Standpunktes, der eingenommen werden sollte, denn seit dem Tod Stalins im Jahre 1953 hatten sich die Auseinandersetzungen innerhalb der Partei um die Frage der Entstalinisierung, besonders nach dem XX. Parteitag der KPdSU, verschärft. Durch die Zuspitzung der weltpolitischen Lage während der Suez-Krise und durch die Aufstände in Ungarn und Polen hatten die parteiinternen Konflikte ein neues Stadium erreicht, die erst nach vollzogenem Machtkampf in der Spitze der Parteiführung mit dem Sieg Walter Ulbrichts ein Ende fanden
Zum anderen sah sich die Partei trotz ihres Beschlusses vom Jahre 1955 zwei Jahre später erneut gezwungen, die Historiker zu kritisieren, weil es als Folgeerscheinung durch „gewisse ideologische Schwankungen in den Reihen der kommunistischen und-Arbeiterparteien, von denen auch manche marxistischen Historiker der DDR nicht unbeeinflußt geblieben sind" dazu gekommen sei, „das Prinzip der friedlichen Koexistenz von Staaten mit verschiedener Gesellschaftsordnung auf das Gebiet der Ideologie zu übertragen" Gemeint war damit, daß die Historiker der DDR nach Ansicht der SED-Führung „in den Diskussionen zwischen den Vertretern des dialektischen und historischen Materialismus und den Vertretern bürgerlicher Auffassungen zu wenig marxistisch-leninistische Prinzipien-festigkeit bewiesen.
Allerdings hatte die Partei durch unklar formulierte Aufgabenstellung der von ihr geforderten Zeitgeschichtsforschung dazu beigetragen, die Zwecksetzung marxistisch-leninistischer Zeitgeschichte unscharf werden zu lassen. So hieß es im Beschluß der SED aus dem Jahre 1955 in einem Atemzug: „Eine historische Darstellung der tiefgreifenden Veränderungen in Deutschland seit 1945 wurde bisher fast völlig unterlassen. Es sind erst wenig Bücher und Artikel erschienen, die sich bei der Darlegung der historischen Wahrheit konkret mit den von der reaktionären westdeutschen Geschichtsschreibung verbreiteten Geschichtslügen auseinandersetzen." Was war demnach marxistisch-leninistische Zeitgeschichte? Geschichtswissenschaftliche Erforschung der Geschichte der Neuesten Zeit oder ideologische Auseinandersetzung mit der Geschichtsschreibung des westdeutschen Klassenfeindes — oder beides zusammen? Jedenfalls war die Funktion der geforderten und zu intensivierenden Zeitgeschichtsforschung in der DDR zweideutig formuliert, was vor dem Hintergrund der ideologischen Richtungskämpfe in den Jahren zwischen 1953 und 1958 die Entwicklung marxistisch-leninistischer Zeitgeschichte eher behinderte.
überdies zeigte sich, daß die wenigen Veröffentlichungen, die tatsächlich von Historikern stammten und sich mit zeitgeschichtlichen Themen befaßten, nahezu ausnahmslos einer scharfen Kritik anheimfielen, in der entweder die Einnahme eines falschen ideologischen Standpunktes oder die unrichtige politische Einschätzung historischer Vorgänge bemängelt wurde.
Dies galt z. B. für die Arbeitvon Werner Plesse zum „Antifaschistischen Widerstandskampf in Mitteldeutschland (1939 bis 1945)" an der kritisiert wurde, „daß die Rolle der Kommunistischen Partei Deutschlands nicht gründlich wissenschaftlich dargelegt und eingeschätzt, sondern geradezu außer acht gelassen werde, wie ebenso für das Werk von Stefan Doernberg „Die Geburt eines neuen Deutschland" die man als eine der ersten, tatsächlich aus der Feder eines DDR-Historikers stammenden zeitgeschichtlichen Monographien bezeichnen kann Doernberg wurde von zwei Mitgliedern der Deutschen Akademie für Staats-und Rechtswissenschaft gerügt, seiner „formalistischen Staatsbetrachtung" wegen die „Staatsmacht im wesentlichen einseitig, nur als Ergebnis, nicht aber zugleich als Instrument des von der marxistisch-leninistischen Partei gelenkten Volkskampfes betrachtet" und dadurch „Tendenzen der Konstruktion eines Gegensatzes von Volk und Staat" freigesetzt zu haben; dies schade der spezifisch bewußtseinsbildenden Funktion zeitgeschichtlicher Darstellungen.
Wohl die härteste Kritik an den ersten Forschungsergebnissen der frühen marxistisch-leninistischen Zeitgeschichte in der DDR, die zugleich die massivste Interpretationskorrektur seitens der Partei gegenüber der Geschichtswissenschaft darstellte, bedeutete die Verwerfung der Thesen zum 40. Jahrestag der Novemberrevolution im Jahre 1958, welche die Historiker eigens zu diesem Zweck ausgearbeitet hatten. Ulbrichts Kritik an den Historikern war unmißverständlich: „Bei der Ausarbeitung der vorliegenden Thesen zeigten sich in der vom Politbüro eingesetzten Kommission grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten und falsche Auffassungen über den Charakter der Novemberrevolution. Ein Teil der Genossen Historiker-vertrat eine Auffassung, die dem Beschluß des Parteivorstandes der SED ... widersprach. Wie war es dazu gekommen?“ Es folgte eine ausführliche Begründung dieser Fehlurteile der unter — wie es hieß — „revisionistischen Einfluß" gekommenen Historiker. Diese Intervention, die die wissenschaftliche Arbeit der DDR-Historiker sozusagen vom Tisch fegte und sie zugleich desavouierte, stellt den Tiefpunkt der Entwicklung der Geschichtswissenschaft der DDR insgesamt und der marxistisch-leninistischen Zeitgeschichte im Besonderen dar. Kein Wunder, daß die Historiker in der DDR wenig Lust verspürten, sich — wie gefordert — zeitgeschichtlichen Fragen verstärkt zu widmen. Die Publikation von zeitgeschichtlichen Arbeiten hielt sich daher nach wie vor in Grenzen und trug fast ausnahmslos propagandistischen Charakter.
In dieser ersten Entwicklungsphase marxistisch-leninistischer Geschichtswissenschaft in der DDR zeigte sich deutlich — und dies bis heute —, daß Zeitgeschichte im Vorfeld von Politik und Ideologie angesiedelt und entsprechend stärkeren Erschütterungen ausgesetzt ist bzw. darauf zu reagieren hat als andere Forschungszweige und -gebiete der Historiographie in der DDR. Eine im Jahre 1959 abgehaltene Tagung, die tatsächlich „als erste große wissenschaftliche Konferenz auf dem Gebiet der Zeitgeschichte in der DDR angesehen werden muß, kam um die Feststellung nicht herum, daß nach wie vor „wichtige Fragen der Geschichte nicht von den Historikern, sondern von der Führung der Sozialistischen Einheitspartei geklärt würden"
Nach und nach jedoch, so scheint es in der Rückschau, gelang es der SED, diese Scheu der Historiker zu überwinden, wenngleich es an Mahnungen, sich verstärkt mit der jüngsten Zeitgeschichte auseinanderzusetzen, nicht fehlte. Denn zwei Jahre später erklärte das für die Geschichtswissenschaft zuständige ZK-Mitglied der Partei und der zugleich rang-höchste Historiker der DDR, Ernst Diehl, mit unüberhörbarer Ironie, es sei der SED inzwischen gelungen, eine „Art Abstandstheorie, die bei Historikern unserer Republik verbreitet war, zu überwinden. Diese Theorie besagte, daß die gründliche wissenschaftliche Untersuchung von geschichtlichen Prozessen, die eben erst abgeschlossen oder noch im Gange sind, unmöglich wäre, daß ohne Zugang zu allen Akten und Unterlagen keine wirksame Geschichtsschreibung möglich sei, usw. Tatsächlich lief diese Auffassung auf eine pseudoakademische Loslösung der Geschichtswissenschaft von der Praxis, von den Lebensfragen unseres Volkes hinaus."
Festzuhalten bleibt, daß die von der SED immer wieder und bisweilen ungestüm geforderte intensivere Auseinandersetzung mit zeitgeschichtlichen Problemen schließlich doch zu einer beträchtlichen Erhöhung von Veröffentlichungen zur Zeitgeschichte führte, wobei gemäß der vorgegebenen Doppelfunktion zeitgeschichtlicher Arbeit, sich gleichzeitig kämpferisch mit der Historiographie in der Bundesrepublik auseinanderzusetzen, letzteres zum damaligen Zeitpunkt einen gewissen Vorlauf hatte. Dies resultierte nicht zuletzt daraus, daß die DDR durch die sprunghaft steigende Fluchtwelle in den zwei Jahren vor dem Mauerbau wie auch noch geraume Zeit nach dem 13. August 1961 in eine politisch-ideologische „Schlinger-Phase" geraten war, in der die ideologische Diversion aus der Bundesrepublik besonders gefürchtet wurde und dementsprechend abgewehrt werden sollte. Als Resümee bleibt jedenfalls festzuhalten, daß die zeitgeschichtliche Forschung in der DDR seit etwa dem V. Parteitag der SED im Jahre 1958 einen — zum Teil herbeigezwungenen — Aufschwung nahm
II. Zur Konsolidierung der Geschichtswissenschaft und Institutionalisierung von Zeitgeschichtsforschung in der DDR
Für die Weiterentwicklung marxistisch-leninistischer Zeitgeschichtsforschung in der DDR sollte nun seit Anfang der sechziger Jahre die zunehmende Konsolidierung der Geschichtswissenschaft insgesamt entscheidende Bedeutung gewinnen. Dies war einerseits eine Folge der seit 1955 vorgenommenen Eingriffe der SED, eine größere ideologische, aber auch personelle Homogenität in der Historiographie zu erzielen — man könnte diesen Entwicklungsabschnitt als „Disziplinierungsphase" bezeichnen —, andererseits entkrampfte sich das Verhältnis Partei/Ge-Schichtswissenschaftzunehmend, wobei in diesem Zusammenhang ausdrücklich festzuhalten ist, daß es hier keinen wirklich tiefgreifenden oder gar grundsätzlichen Dissens im ideologischen Bereich gab, sondern Konflikte eher aus dem Verhältnis zwischen den Anforderungen der Politik und deren Umsetzung in der Geschichtswissenschaft resultierten zumal die Historiographie in der DDR Mitte der sechziger Jahre bedeutende eigenständige Leistungen vorlegen konnte — so die 1966 auch von der Partei groß gefeierte Herausgabe der achtbändigen „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung" sowie die 1968 erschienene dreibändige und reich ausgestattete „Deutsche Geschichte"
Die vertiefte Orientierung auf die Geschichte der Arbeiterbewegung seit 1962, die in der ausdrücklichen Befürwortung durch das ZK der SED zur Ausarbeitung eines Grundrisses der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung konkreten Ausdruck gefunden hatte und durch den VI. Parteitag ein Jahr später bestätigt wurde, minderte das Prioritätsziel geforderter Intensivierung der zeitgeschichtlichen Forschung keineswegs. Mit zunehmend auf die Zeit nach 1945 gerichtetem Blickwinkel wurde die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft auf die Darstellung der Entstehung und Entwicklung der DDR als Ergebnis des kontinuierlichen und gesetzmäßigen Entwicklungsprozesses der deutschen Arbeiterbewegung verwiesen. Doernbergs „Kurze Geschichte der DDR", die 1964 nach umfänglicher Umarbeitung auf der Basis dieser Grundlinie herauskam und seither mehrfach aufgelegt worden ist, war die erste zusammenfassende Darstellung der Geschichte des zweiten deutschen Staates. Diese Ausrichtung auf die Historie der Arbeiterbewegung lief parallel zu dem von der SED auf dem VI. Parteitag erhobenen Anspruch auf nationale und klassenmäßige Führung in Deutschland, wie dieser Parteitag überhaupt den Beginn einer DDR-spezifischen Identitätsprofilierung darstellte, die bis zum Ende der Ära Ulbricht im Mai 1971 bestimmender Grundzug der Selbstdarstellung der DDR bleiben sollte.
Für die Zeitgeschichte in der DDR stellen die sechziger Jahre den allmählichen Übergang von einer vornehmlich propagandistisch ausgerichteten und sich im Dauer-Clinch mit der bundesrepublikanischen Historiographie befindlichen Polemik zu einer sowohl thematisch als auch methodisch einsetzenden Differenzierung bei der Bearbeitung zeitgeschichtlicher Forschungsthemen dar. Im Anleitartikel für die Geschichtswissenschaft nach dem VI. Parteitag hieß es: „Besonderes Augenmerk ist auf die Untersuchung der Probleme des sozialistischen Aufbaus in der DDR, auf die historische Rolle des ersten deutschen Arbeiter-und Bauernstaates, sowie auf die Aufdeckung der volksfeindlichen Rolle des westdeutschen klerikal-militaristischen Regimes ... zu richten." In dieser Reihenfolge ist zugleich eine Rangfolge zu sehen. Denn in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre begann eine breitangelegte Erforschung der Geschichte der SBZ bzw. späteren DDR, deren Schwerpunkte in der Darstellung der Politik der SED, der Entwicklung der Wirtschaft und der Außenpolitik lagen, wobei der Einbezug von Quellen-texten und Dokumenten das ideologisch-propagandistische Element zunehmend in den Hintergrund zu drängen begann. Einen Höhepunkt der zeitgeschichtlichen Produktion stellte naturgemäß der 20. Jahrestag der Gründung der DDR im Jahre 1969 dar
III. Die Bedeutung des VII. und VIII. Parteitages für die Forcierung der Zeitgeschichtsforschung in der DDR
Von besonderer Bedeutung mit entsprechender Rückwirkung auf die Zeitgeschichte wurde der VII. Parteitag der SED vom April 1967. Dieser Parteitag, der mit der Formel von der „relativ eigenständigen Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft in der DDR" eine politisch-ideologische Positionsbestim37) mung vornahm, durch welche die Eigenentwicklung der DDR dokumentiert werden sollte, war mit der Propagierung der „Gestaltung des entwickelten gesellschaftlichen Systems in der DDR" auch innerhalb des Ostblocks eine politisch-ideologische Besonderheit.
Für die weitere Entwicklung der Geschichtswissenschaft in der DDR über die Ulbricht-Zeit hinaus wurde die besondere Rolle und Funktion, die den Gesellschaftswissenschaften jetzt beigemessen wurde, bedeutsam. Sie war Ausdruck eines nunmehr favorisierten Systemdenkens: Gesellschaft wurde begriffen als Gesamtsystem mit davon abhängigen Teilsystemen; Wissenschaft wurde dementsprechend als Teilsystem, d. h. als „unmittelbare Produktivkraft" bzw. „Hauptproduktivkraft" definiert. Dahinter stand die Absicht der SED, die gesellschaftspolitische und ideologische Effizienz der Gesellschaftswissenschaften zu steigern. Als der bedeutendsten marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaft wurde der Geschichtswissenschaft die entscheidende Funktion bei der Herausbildung eines sozialistischen Geschichtsbewußtseins zugemessen, das gleichsam den Kern des projizierten DDR-Staatsbewußtseins bilden sollte. Dies hatte für die Entwicklung der Historiographie in der DDR zur Folge, daß innerhalb der Wissenschaft eine breite Diskussion einsetzte über die Problematik von Geschichte und Geschichtsbewußtsein in der sozialistischen Gesellschaft, die schnell den von der Partei gegebenen Anstoß vergessen machte und in eine tatsächlich wissenschaftliche Auseinandersetzung mündete, wie sie in solcher Intensität bisher noch nicht stattgefunden hatte.
Zugleich war diese innerwissenschaftliche Diskussion folgenreich über die diskutierte Problematik hinaus: Sie führte zu einer verstärkten Auseinandersetzung der marxistischleninistischen Geschichtswissenschaft in der DDR mit theoretischen und methodologischen Problemen. Denn der anlaufende und bisher nicht zum Stillstand gekommene Prozeß der Theoretisierung geschichtswissenschaftlicher Forschung in der DDR hatte die Ausweitung, Implementierung und Differenzierung des geschichtswissenschaftlichen Theorie-und Methodenpotentials zur Folge, was gleichzeitig — und bis heute — zu einer zum Teil erheblichen Ausweitung der interpretatorischen Bandbreite marxistisch-leninistischer Geschichtsforschung der DDR beitrug
Der Vorgang wirkte auch auf die Zeitgeschichtsforschung zurück. Nicht nur, daß die vom VIII. Parteitag ausgegebene, stark DDR-zentrische Perspektive der Geschichtsdarstellung bzw. Selbstdarstellung das Forschungsgebiet Zeitgeschichte direkt förderte und es seither zum dominierenden historischen Forschungsthema werden ließ, auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Historie ab 1945 führte zunehmend zu differenzierteren Betrachtungsweisen und Bewertungen, zumal die Erstellung eines konkreten Geschichtsbildes von der Partei immer wieder gefordert wurde. Dies gilt bis heute: „Die Welt historisch erfassen — das ist keine leere Formel, keine abstrakte, des konkreten geschichtlichen Lebens entleerte These; denn das wissenschaftliche Weltbild soll das Handeln der Menschen prägen. Das verlangt eine wirkliche Vorstellung vom Gang der Geschichte in ihren wesentlichen Zügen; dazu gehört, daß man sich die Geschichte selbst mit all ihren Widersprüchen und Konflikten, mit ihrer Dramatik, mit den Kämpfen, Niederlagen und Siegen der fortschrittlichen Klassen angeeignet hat: Das Geschichtsbild besteht nicht aus einer Summe von abstrakten theoretischen Formeln; zu einem Geschichtsbild gehört die Kenntnis des gesetzmäßigen Entwicklungsprozesses der Gesellschaft in ihrer Konkretheit.“
Insofern bedeutet die bislang letzte und nach wie vor gültige Kurskorrektur, welche die SED politisch und ideologisch auf dem VIII. Parteitag im Jahre 1971 vornahm, keine Einschränkung oder gar Minderung des Stellenwerts zeitgeschichtlicher Forschung in der DDR. Ge-rade innerhalb des zeitgeschichtlichen Themenkatalogs zeichnete sich unübersehbar eine Veränderung ab: Seit etwa 1973 überwiegt das Forschungsgebiet „Geschichte der Neuesten Zeit II", d. h. die Geschichte nach 1945, gegenüber dem Bereich „Geschichte der Neuesten Zeit I", also der Zeit von 1917 bis 1945
Die Neuorientierung der Geschichtsperspektive, welche die Partei ausgab und die auf den folgenden Parteitagen nicht mehr geändert wurde, ist für die seitherige Zeitgeschichtsforschung in der DDR von grundsätzlicher Bedeutung. Hinter dem 1971 propagierten Diktum „Revolutionärer Weltprozeß“ verbarg sich nichts anderes als eine Zurücknahme der in Ulbrichts letzter Amtszeit stark betonten DDR-zentrischen Perspektive der Geschichtsdeutung zugunsten internationalistischer Geschichtsinterpretation. Entsprechend wurde auch die politisch-ideologische Standortbestimmung der DDR mit der Definierung vom VII. Parteitag 1967 als einer „relativ eigenständigen und langfristigen Entwicklung des Sozialismus in der DDR" verworfen und statt dessen die gesellschaftliche Entwicklung des Sozialismus in der DDR mit der Bestimmung „Bestandteil der welthistorischen ökonomischen Gesellschaftsformation Sozialismus/Kommu-nismus" wieder in völligen Einklang gebracht. In politischer Hinsicht kam in dieser Formel erneut eine stärkere Anbindung der DDR an die Sowjetunion und die sozialistischen Nachbarstaaten zum Ausdruck; ideologisch gesehen wurde damit an dogmatischen Positionen des Leninismus wiederangeknüpft. Konkret soll die internationalistische Betrachtungsweise des Geschichtsprozesses, den die DDR-Historiographie seither zu erbringen hat, besonders die Bedeutung der Oktoberrevolution für die Geschichte der DDR und die Rolle der Sowjetarmee nach 1945 „als integrale Bestand-teile der DDR-Geschichte“ d. h. als Leitlinien zeitgeschichtlicher Geschichtsdeutung in der DDR, herausarbeiten.
Durch diese Positionsbestimmung der SED ergab sich für die Geschichtswissenschaft der DDR beinahe zwangsläufig eine erneute Periodisierungs-Debatte über die Entwicklung nach 1945 auf dem Boden der SBZ bzw. späteren DDR. Das von der Partei initiierte „internationalistische Herangehen“ führte in der marxistisch-leninistischen Zeitgeschichtsforschung dazu, den Prozeß der Entstehung und Entwicklung der DDR auf dem Territorium der Sowjetischen Besatzungszone nach dem Zweiten Weltkrieg als Bestandteil einer Welle von Revolutionen innerhalb des ost-und südosteuropäischen Raumes zu interpretieren, einer antifaschistischen-demokratischen von 1945 bis 1949 und, mit der Gründung der DDR einsetzend, einer sozialistischen Revolution, die „gleichzeitig und gemeinschaftlich mit der Entstehung anderer sozialistischer Staaten und in Verbindung mit der Herausbildung des sozialistischen Weltsystems“ erfolgten-, d. h., DDR-spezifische Entwicklungsbedingungen werden bzw. wurden jetzt nicht mehr, wie zuvor, noch eigens betont, sondern die parallele Entwicklung zu den übrigen sozialistischen Staaten Osteuropas hervorgehoben
Eine weitere entscheidende Änderung erfuhr die Interpretation der jüngsten Zeitgeschichte durch die Geschichtswissenschaft in der DDR dadurch, daß die SED auf dem VIII. Parteitag von 1971 eine neue Haltung zur nationalen Frage einnahm. Dieser politische Kurswechsel war eine Reaktion auf die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition, deren deutschlandpolitische Formel: „Zwei Staaten — eine Nation" den Abgrenzungsabsichten der Partei zuwiderlief. Nach den Worten Honeckers muß die nationale Frage von ihrem „Klasseninhalt" her angegangen werden Dementsprechend sei die nationale Frage auf deutschem Boden inzwischen endgültig entschieden. Während in der Bundesrepublik Deutschland die „bürgerliche Nation" fortbestehe, deren Wesen durch den Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und den werktätigen Massen bestimmt werde, entwickle sich in der DDR die sozialistische Nation. In der Folge ist in der zeitgeschichtlichen Darstellung der Entwicklung der DDR das Adjektiv „sozialistisch" stärker hervorgehoben worden als das Substantiv „Nation“.
IV. Gegenwärtige Entwicklungen und Tendenzen
In jüngster Zeit schließlich lassen sich in zeitgeschichtlichen Publikationen der DDR-Historiographie gewisse Ansätze zu einer kritischeren Haltung gegenüber der eigenen Geschichte erkennen, die bisweilen sogar die SED tangieren können. Als Beispiel für mehrere Beiträge dieser Art sei die Frage der polnischen Westgrenze in den Jahren 1948/49 herausgegriffen: „Eine breite Auswertung der internationalen Erfahrungen und der Ausbau der internationalen Beziehungen waren nicht möglich, solange sich in den Reihen der SED nicht eine von internationalistischer Haltung geprägte Einstellung zur Oder-Neiße-Grenze durchgesetzt hatte. Nicht alle Mitglieder der Partei hatten die Konsequenzen aus den Ergebnissen des vom deutschen Imperialismus verschuldeten Zweiten Weltkrieges gezogen ... Die Überwindung antipolnischer Tendenzen erklärte die SED zur Voraussetzung für gutnachbarliche und freundschaftliche Beziehungen zur Volksrepublik Polen." Solche Ansätze scheinen bemerkenswert, wobei für den konkreten Fall angemerkt werden muß, daß diese Umerziehungsprozesse weder in den Reihen der Partei noch in der Bevölkerung der DDR offensichtlich bisher von großem Erfolg gekrönt worden sind. Trotz dieser Ansätze darf aber keinesfalls übersehen werden, daß es nach wie vor zeitgeschichtliche Themata und Probleme gibt, die, da sie nicht tabuisiert werden können, eindeutig kaschiert werden: Dies gilt vor allem für den 17. Juni 1953 und den 13. August 1961
Resümierend muß festgestellt werden, daß die siebziger Jahre zum Jahrzehnt der zeitgeschichtlichen Forschung in der DDR wurden. Der Schwerpunkt lag und liegt dabei eindeutig auf der Zeit nach 1945. Es erschienen sowohl Gesamtdarstellungen als auch Darstellungen zu speziellen Themen und gesellschaftlichen Entwicklungen der DDR-Geschichte Zweifellos ist diese aus DDR-Sicht sicherlich positive Leistungsbilanz der Zeitgeschichte mit ihrer charakteristischen Konzentration auf die Nachkriegszeit zugleich auch Ausdruck eines in der DDR gewachsenen Selbstbewußtseins und Selbstwertgefühls. Wenn daher im anderen deutschen Staat seit Beginn der siebziger Jahre die Bestrebung klar erkennbar ist, den eigenen Staat zunehmend aus der eigenen Geschichte heraus zu legitimieren, dann wird versucht, diesem Gefühl und dieser Selbsteinschätzung Stabilität zu verleihen.