Daß Demokratien ohne politisch urteilsfähige Bürger keine lange Lebenserwartung haben, gehört zu jenen erhabenen Wahrheiten, deren man sich bei festlichen Veranstaltungen gerne erinnert. Und wenigstens unter gebildeten Leuten ist es auch unumstritten, daß politische Urteilsfähigkeit nicht ohne eine solide Grundausstattung von Geschichtskenntnis zu haben ist. In einer von Krisenbewußtsein und von der Empfindung raschen Wertwandels geschlagenen Epoche wie der unseren wird dies schärfer erkannt als in ruhigeren Jahrzehnten, die ihrer selbst sicherer sind.
„Vorgerückte Zivilisation", so wird dieser Sachverhalt von einem spanischen Kulturphilosophen formuliert, „vorgerückte Zivilisation ist gleichbedeutend mit harten Problemen ... Das Leben wird immer angenehmer, aber immer verwickelter. Es ist klar, daß sich mit der wachsenden Kompliziertheit der Probleme auch die Mittel zu ihrer Lösung vervollkommnen.
Aber jede neue Generation muß sich in den Besitz dieser verfeinerten Mittel setzen.
Unter ihnen nennen wir ... eines, das trivialerweise mit dem Vorrücken einer Zivilisation verbunden ist; es besteht darin, daß sich hinter ihr Vergangenheit anhäuft, Erfahrung, mit einem Wort Geschichte. Historisches Wissen ist eine Technik ersten Ranges zur Erhaltung und Fortsetzung einer gereiften Zivilisation. Nicht weil es positive Lösungen für die neuen Konflikte des Lebens lieferte — das Leben ist immer wieder anders, als es war —, sondern weil es verhindert, daß die naiven Irrtümer früherer Zeiten wieder begangen werden. Aber wenn man, nicht genug damit, daß man alt ist und das Leben schwieriger zu werden beginnt, das Gedächtnis verloren hat und keinen Gewinn aus seinen Erfahrungen zieht, so ist alles verloren. Und in dieser Lage ist, glaube ich, Europa
Die Betrachtungen, die ich eben wiedergegeben habe, stammen nicht aus den siebziger Jahren oder gar aus unserem Jahrzehnt. Ortega y Gasset hat sie 1930 niedergeschrieben — drei Jahre vor der Machtergreifung Adolf Hitlers und neun Jahre, bevor der Zweite Weltkrieg die europäische Zivilisation in den Abgrund stieß. Ganz offenkundig aber ist in diesen Feststellungen nicht nur das Gefühl, in einer Verfallszeit geschichtlichen Bewußtseins zu leben, sondern auch die Erkenntnis, daß Zivilisation und Geschichtsbewußtsein zusammengehören.
Trotz der Schrecken von Diktaturen und Krieg ist wenigstens Westeuropa noch einmal davongekommen. Als sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Westdeutschland wieder eine Neubesinnung auf die Fundamente freiheitlicher Gesellschaft und Demokratie durchsetzte, gehörte die Erkenntnis der überragenden Bedeutung geschichtlichen Wissens zum Gemeingut aller verantwortlichen Kräfte quer durch das Spektrum der Verfassungsparteien. Zur historischen Erkenntnis gehört aber auch ein vertieftes Verständnis der Zeitgeschichte. Deshalb bildete die geschichtliche Aufarbeitung des Scheiterns der Demokratie von Weimar und der totalitären Herrschaft Adolf Hitlers ein Zentralelement bei jener geistigen Umorientierung, die sich. in der damals jungen Bundesrepublik Bahn brach.
Es war alles andere als ein Zufall, daß zwei Institutionen, die sich dieser Aufgabe mit besonderem Nachdruck widmen, nur wenige Jahre nach Gründung der Bundesrepublik ins Leben gerufen wurden: die „Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien" und das heutige „Institut für Zeitgeschichte" mitsamt den „Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte" in München. (Nicht zufällig hieß das „Institut für Zeitgeschichte" zunächst „Institut zur Erforschung des Nationalsozialismus". In der Kommission ging es vor-überarbeitete Fassung eines Vortrags, den der Autor zum dreißigjährigen Bestehen der „Kommission ür Geschichte des Parlamentarismus und derpoiitiKhen Parteien“ am 15. Juni 1982 in Bonn gehalten wiegend darum, die Entwicklungen deutscher Verfassungs-, Parlaments-und Parteigeschichte zu analysieren und gewissermaßen im kollektiven Gedächtnis der Zweiten Republik zu speichern. Doch auch die — mit Ortega y Gasset zu sprechen — „naiven Irrtümer" der Weimarer Republik sind systematisch untersucht worden.
Weimarer Republik, Drittes Reich, Zweiter Weltkrieg: in diesen Bereichen liegt bis heute der Schwerpunkt deutscher Zeitgeschichtsforschung. Wir alle wissen, daß sich ihr Ertrag sehen lassen kann. Begünstigt durch die freie Verfügbarkeit der deutschen Akten sind die neueren Historiker, die Politikwissenschaftler, später auch die Wirtschafts-und Sozialhistoriker rasch in diese Felder vorgerückt.
Hand in Hand damit ging eine intensive Popularisierung der Ergebnisse — im Schulunterricht, in der'politischen Erwachsenenbildung, in zahllosen Darstellungen, die für ein breiteres Publikum geschrieben sind, aber nicht zuletzt auch durch Rundfunk und Fernsehen.
Goethe, dessen Zeitgenossen ja auch eine Vergangenheit zu bewältigen hatten, hat in der Umbruchperiode seiner Zeit nicht ohne eine gewisse Ironie bemerkt: „Geschichte schreiben ist eine Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen." Wäre das wirklich wahr, so hätte uns die deutsche Zeitgeschichtsschreibung der letzten drei Jahrzehnte die nationalsozialistische Vergangenheit denkbar gründlich vom Hals geschafft. Doch bekanntlich ist eher das Gegenteil der Fall. Zwar hat die intensive Forschungsbemühung das große Verdienst, die Zusammenhänge klar gemacht und das Aufkommen falscher, politisch untragbarer Auffassungen verhindert zu haben. Andererseits aber zeigt sich in den Popularisierungsbemühungen des Forschungsertrages doch auch eine gewisse Problematik.
Entgegen den Ankündigungen Hitlers ist das Tausendjährige Reich schon nach zwölf Jahren zu Ende gewesen. Zwölf Jahre — gewiß eine Periode entscheidende in der deutschen Geschichte und für jeden, der sie zu durchleben hatte, unvergeßlich, aber eben doch auch nur zwölf Jahre. Bereits die sozial-liberale Koalition regiert schon länger als Adolf Hitler.
Die unentwegte pädagogisierende Erinnerung an die Vorgänge erweckt aber, wie sich jeder im Gespräch mit Schülern oder Studenten leicht überzeugen kann, bei vielen eben doch auch die ganz unhistorische Empfindung, als habe zwischen 1933 und 1945 tatsächlich so etwas wie ein Tausendjähriges Reich des absolut Bösen Bestand gehabt. Natürlich wird und muß die Forschung weitergehen, aber diejenigen, die sich der Popularisierung von Zeitgeschichte annehmen, sollten doch langsam bedenken, diese eine im Verlauf wie in den Folgen so negative Epoche der deutschen Geschichte nicht über alle Maßen und auf Kosten der späteren, insgesamt doch erfreulicheren Entwicklung zu beleuchten.
Immerhin ist festzustellen, daß die deutsche Zeitgeschichtsforschung das Schwellenjahr 1945 schon sehr früh überschritten hat. Eine der ersten einschlägigen Publikationen war die bereits 1953 veröffentlichte Arbeit von Hans Georg Wieck, heute NATO-Botschafter in Brüssel: „Die Entstehung der CDU und die Wiederbegründung des Zentrums im Jahr 1945"
Die Erforschung der Besatzungsperiode zwischen 1945 und 1949 nimmt seither an Breite und Tiefe ständig zu, wobei das Feld in der letzten Zeit auch vom popularisierenden Fernsehen wiederentdeckt worden ist.
. Der wichtigste wissenschaftliche Ertrag der Arbeiten über die Jahre der Okkupation liegt zum einen in einer vielfach schon recht akribischen Darstellung des Aufbaus der deutschen Parteien und ganz allgemein der Demokratiegründung in den Westzonen Zum anderen wurden die alliierte Besatzungspolitik und die Spannungen zwischen den Großmächten erhellt, die zur Teilung Deutschlands führten Auch diese Periode ist bereits hinlängB lieh bearbeitet, wenn auch längst noch nicht mit der Intensität wie die vorhergehenden Jahrzehnte.
Doch im Sommer 1949 bricht die zünftige Geschichtsforschung fast völlig ab. Wir besitzen zwar auch für die fünfziger, sechziger und siebziger Jahre eine große Zahl durchaus relevanter Arbeiten, vielfach aus der Feder von Politikwissenschaftlern, auf die im folgenden noch einzugehen sein wird. Aber verglichen mit dem breiten Mississippi historischer Forschung zur Geschichte zwischen 1933 und 1945 ist die ernst zu nehmende Geschichts-Schreibung über die ersten drei Jahrzehnte unseres Staates und unserer westdeutschen Gegenwartsgesellschaft doch einem nur recht schmalen Bach zu vergleichen. Entsprechend wenig erheblich und überzeugend sind bis heute auch alle Bemühungen geblieben, die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland unter Einsatz aller Mittel im Bewußtsein der Bevölkerung ähnlich nachhaltig lebendig zu machen und zu thematisieren, wie das mit der Geschichte der Hitlerzeit geschieht. Die erfolgreichste, für das heutige politische Selbstverständnis ausschlaggebend wichtige Periode neuester deutscher Geschichte scheint weder großes Forschungsinteresse zu wecken noch eine ausgeprägte Bereitschaft, sie unter konzentriertem Einsatz der Bildungsapparate und der Medien im Gespräch zu halten. Verpfuschte Geschichte ist anscheinend der Erinnerung würdiger als die geglückte.
Das ist mehr als verwunderlich, mehr auch als bedauerlich, es ist kulturpolitisch bedenklich.
Wer sich über die Geschichtsunkenntnis und das vielfach auffällig gebrochene Verhältnis verschiedener Altersjahrgänge zu der in über dreißig Jahren gereiften pluralistischen Gesellschaft der Bundesrepublik bekümmert, muß darin eine der Ursachen erkennen. Wo fundierte Geschichtskenntnisse fehlen, pflegen politische Mythen und die Abstraktionen eines sterilen ideologischen Denkens einzuströmen. Dabei liegt es auf der Hand, daß gutgemeinte Appelle oder erste Anläufe der politischen Bildung, an denen es ja durchaus nicht fehlt, weitgehend ins Leere laufen müssen, wenn sie nicht durch eine breit aufgefächerte, professionelle Forschung getragen werden. Schon Mitte der sechziger Jahre, also 20 Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, waren zahlreiche einschlägige Monographien, Gesamtdarstellungen und Einzelforschungen auf dem Markt, während heute — immerhin 33 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik — quellengestützte Studien zu größeren Zusammenhängen oder auch nur fundierte Aufsätze zu Teilbereichen immer noch rar sind. Die erste Gesamtdarstellung zur Geschichte der Bundesrepublik beginnt eben erst zu erscheinen
Abgesehen von quellenmäßig abgesicherten Biographien über Ernst Reuter 6a), Jakob Kaiser und Fritz Erler sowie einer (obwohl ohne den Nachlaß geschriebenen, doch wissenschaftlich gehaltvollen) Arnold-Biographie liegen über die wichtigen Politiker der Jahre nach 1949 nur jene meist kurz vor Wahlen oder anläßlich des innerparteilichen Aufstiegs eiligst zusammengehauenen Lebensbilder vor, die viel häufiger durch kritiklose Popularisierung oder blanken Haß gekennzeichnet sind als durch das Bestreben nach historischer Wahrheit Gerade im biographischen Bereich hält sich die seriöse Geschichtsforschung auffällig zurück, wobei das in der Zunft der deutschen Historiker bis vor kurzem vorherrschende Vorurteil zum Ausdruck kam, daß man sich mit einer gut recherchierten und gut geschriebenen Biographie keinen Namen machen könne. So harren Adenauer und Ludwig Erhard, Schumacher und Carlo Schmid, Reinhold Maier, Wilhelm Kaisen, Fritz Schäffer und Dutzende anderer, die ihren bedeutenden Beitrag zur Bundesrepublik geleistet haben, noch ihrer Biographen. Der deutsche Fehlbestand fällt erst richtig auf, wenn man sich an die zahllosen Politikerbiographien in England oder in den USA erinnert. Ähnliche Lücken erkennen wir aber auch in vielen anderen Bereichen, über einige kleinere, inzwischen verschwundene Parteien sind schon mehr oder weniger brauchbare Monographien geschrieben worden, aber wo bleibt die quellenmäßig abgesicherte, systematisch angelegte und natürlich nur von Forschungsteams zu erstellende Parteigeschichte der CDU, der SPD oder der FDP?
Die gleich zu erörternde Unzugänglichkeit der amtlichen Quellen ist nicht die alleinige Ursache für die auffällige Zurückhaltung der Fachhistoriker. Auf dem Feld der Wirtschafts-und Sozialgeschichte, wo vielfach mit offenen oder leicht zugänglichen Quellen gearbeitet werden könnte, steht es nicht viel besser als bei der politischen Geschichtsschreibung. Nachdem das Paradigma der „Modernisierung“ oder des „organisierten Kapitalismus" nunmehr schon die längste Zeit durchs Kaiserreich und die Weimarer Republik hindurch traktiert worden ist, stehen die einschlägig bekannten Historiker jetzt glücklich im Dritten Reich. Nur wenige haben sich bisher in die Besatzungszeit gewagt, und wenn, dann zumeist mit der Absicht, die ungebrochene Kontinuität kapitalistischer Führungsgruppen und Wirtschaftsstrukturen nachzuweisen.
Die in jeder Hinsicht aufregenden und interessanten gesellschaftlichen Wandlungsvorgänge in den fünfziger Jahren haben zwar seinerzeit die Aufmerksamkeit einer ganz bemerkenswert gegenwartsbezogenen, für den Sozialhistoriker auch heute noch vorbildlichen empirischen Sozialforschung gefunden. Aber seit Mitte der sechziger Jahre ist über diese Periode nur noch wenig gearbeitet worden. Die Verfassungsgeschichte, trotz der großen Anstrengungen der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien ohnehin ein Stiefkind der heutigen deutschen Geschichtsforschung,'hat die Bundesrepublik noch nicht richtig entdeckt. Dasselbe gilt für die Rechtsgeschichte; sie wird in juristischen Arbeiten zwar berührt, aber eben meistenteils nur am Rande. Ähnliches läßt sich von der Geistes-und Kulturgeschichte der Bundesrepublik sagen, und so könnte ich Bereich für Bereich fortfahren. Die Lücken wären weniger auffällig, müßte man beim internationalen Vergleich nicht feststellen, daß in den USA oder — dort besonders bemerkenswert — in Großbritannien auf vergleichbaren Feldern der Zeitgeschichte dieser Staaten vielfach systematischer und intensiver gearbeitet wird. Sicher finden sich auch bei uns da und dort Ansätze, sogar manches Gelungene. Im ganzen aber trifft es zu, daß die zünftige Geschichtsforschung unseren Staat und unsere Gesellschaft noch nicht richtig entdeckt hat.
Das hat viele Gründe, auf die hier nicht allesamt eingegangen werden kann. Ganz ohne Zweifel spielt die Quellenfrage eine Hauptrolle — und zwar auch in dem Sinne, daß eben für die Periode der Weimarer Republik und des Dritten Reiches eine derartige Fülle interessantester, häufig auch noch nicht ausgeB schöpfter Quellen verfügbar ist, die das Interesse in diesen Jahrzehnten festhält. Ganz fraglos sind auch die zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre durch eine größere Dramatik gekennzeichnet gewesen als der seit Mitte der fünfziger Jahre doch etwas träger dahinfließende Geschichtsstrom.
Es kommt aber noch ein weiterer Umstand hinzu, auf den etwas ausführlicher eingegangen werden muß. Der professionelle Historiker sieht sich einer durchaus nicht zu verachtenden Konkurrenz gegenüber, die weite Bereiche und die vielfältigsten Zusammenhänge der Zeitgeschichte schon zu bearbeiten pflegt, kaum daß sich der Staub über den Auseinandersetzungen gelegt hat.
Moderne liberale Gesellschaften — und das gehört zu ihren großen Vorzügen — sind auch dadurch gekennzeichnet, daß sie die von ihnen durchlebte und gestaltete Geschichte schon zu dem Zeitpunkt, da sich diese vollzieht, unablässig zum Objekt historiographi-scher Selbstreflexion machen. So bildet sich bereits eine recht tragfähige erste Schicht von Geschichtsschreibung. Das beginnt schon bei der vorwissenschaftlichen Verarbeitung tagespolitischer Vorgänge. Geschichtlich gebildete Journalisten, Publizisten oder auch Beamte in amtlichen Funktionen unternehmen unablässig Anläufe, den chaotischen Strom der Ereignisse in einer umfassenden Geschichtslandschaft zu verorten. Dabei kann sich der zeitgenössische Journalismus auf eine unübersehbare Flut amtlicher und nicht-amtlicher Dokumentationen stützen.
Die Offenheit der Gesellschaft bewirkt, daß wenig von dem, was sich in den Regierungen oder in den Fraktionen abspielt, lange geheim bleibt. Die Regierungskunst wie die Kunst des Opponierens in modernen Demokratien besteht ja gerade darin, möglichst alle Politik im vollen Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit abzuwickeln. Aber auch das, was vertraulich bleiben soll, kommt meist rasch heraus. Steht es nicht im „SPIEGEL", so findet man es in der •WELT“. Gelingt es doch einmal, wie etwa bei der deutschen Mitwirkung an den Verhandlungen über die Freilassung der amerikanischen Geiseln im Iran, einen Vorgang über eine Reihe von Wochen hinweg geheim zu halten, so klopfen sich alle beteiligten Politiker und Diplomaten selbstbewußt, aber auch in fast ungläubigem Erstaunen gegenseitig auf die Schultern. Zumeist sind die Bemühungen der Presse, auch die allergeheimsten Vorgänge, ja vorzugsweise sogar diese, unverzüglich auf den Markt zu bringen, von durchschlagendem Erfolg gekennzeichnet. Die Zahl der Journalisten, die kenntnisreich, aufgrund harter Konkurrenz auch durchaus zuverlässig, mit gutem Gespür für das Wesentliche bei gleichzeitiger Skepsis gegenüber allen Täuschungsversuchen die zeitgenössischen Zusammenhänge erhellt, ist ungleich größer und leistungsfähiger als die Zahl der Historiker, die sich nach 20 oder 30 Jahren daran macht, dieselben Ereignisse aus einem gewissen Abstand erneut aufzugreifen.
Zweifellos sind somit heute die Voraussetzungen für die Entstehung eines schon recht zuverlässigen Geschichtsbildes von den Ereignissen, die eben ablaufen, aufgrund bestens ausgestatteter Medien, Agenturen, Dokumentationszentren wesentlich günstiger als in der Zeit der Weimarer Republik oder des Kaiser-reichs, von früheren Perioden ganz zu schweigen. Die Leistungen des zeitgenössischen Journalismus und moderner Dokumentation werden unterstützt durch die Sozialwissenschaften sowie die Wirtschaftswissenschaften. In der Politischen Wissenschaft, in einer gegenwartsbezogenen Soziologie und Ökonomie sind Institutionen und Individuen am Werk, bereits im Zeitpunkt des Geschehens oder kurz danach wissenschaftlich gesicherte, systematisch angelegte, nicht selten auch bereits theoretisch vertiefte Darstellungen von Gegenwartsgeschichte zu erarbeiten. Künftige Wirtschaftshistoriker werden einiges investieren müssen, wenn sie etwa die Monatsberichte der Deutschen Bundesbank an Präzision und Tiefen-schärfe übertreffen wollen. Aber auch auf dem Felde der Außenpolitik liegen beispielsweise mit den Jahrbüchern der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) „Die Internationale Politik" verläßliche, durchaus auch schon die großen geschichtlichen Zusammenhänge analytisch herausarbeitende Werke vor. Ähnlich ständig erscheinende Zu-Standsbeschreibungen und Analysen finden sich auch für die verschiedensten Bereiche der Innenpolitik: Parteiwesen, Parlamentarismus, Medien, Entwicklungspolitik.
So bildet die Gegenwartsgeschichte der Bundesrepublik für eine ganze Reihe wissenschaftlicher Disziplinen den Rohstoff, der unverzüglich und durchaus methodensicher verarbeitet und aufbereitet wird.
Kein Wunder, daß sich der zünftige Historiker unter diesen Umständen zurückhält und geduldig auf die Stunde wartet, zu der er seine erprobten Talente ins Spiel bringen kann — nämlich dann, wenn bisher unerschlossene Quellenbestände zugänglich werden, die ein neues Bild gestalten lassen und die systematisch vertiefte Analyse ermöglichen.
Auch dies ist nicht selten bereits wenige Jahre nach den Ereignissen möglich. Zwar bleibt die Hoffnung, einen geschichtlichen Zeitraum umfassend, wenn nicht gar abschließend bearbeiten zu können, solange ein Wunschtraum, wie die amtlichen Archive nicht offen sind. Aber in bestimmten Bereichen eröffnen sich schon früher Zugänge zu interessanten, zuvor unbekannten Informationen, deren Auswertung zu einer weiteren Schicht zeitgenössischer Geschichtsschreibung führt. Auch dabei hat sich aber der Historiker mit der Konkurrenz von Journalisten oder Politikwissenschaftlern auseinanderzusetzen.
Die Bemühung, wichtige Vorgänge mittels neu erschlossener Quellen auch schon historisch zu behandeln, setzt vielfach bereits innerhalb eines Jahrzehnts nach Ablauf bestimmter Vorgänge ein. Dabei schlüpft entweder der Journalist in die Rolle des Historikers, oder der Historiker versucht sich als Journalist. Eines der wichtigsten Handwerkszeuge dieser Geschichtsschreiber ist das Tonband.
gelingt Vielfach es, an Privatarchive einzelner Politiker heranzukommen, manchmal auch an Materialien, die sich im Besitz von Parteien, Verbänden oder Presseunternehmungen befinden. Von einer allseits abgewogenen Darstellung kann dabei freilich wegen der selektiven Quellenauswertung meist noch nicht die Rede sein. Nicht selten dienen Bücher, die dem Genre der journalistischen Geschichtsschreibung angehören, dazu, bestimmte Vorgänge oder Personen zu verherrlichen, ins rechte Licht der Geschichte zu rücken oder ihren Ruf zu zerstören. Mit dem Wunsch, den Dingen auf den Grund zu gehen oder — was nicht dasselbe ist — ein engagiertes Geschichtsbild zu entwerfen, verbindet sich das kommerzielle Interesse. Zumeist steht dabei das Bestreben nach Vermarktung der Zeitgeschichte sogar im Vordergrund.
Das Genre der journalistischen Geschichtsschreibung ist vor allem in den USA, aber auch in Großbritannien und in Frankreich verbreitet. Hauptobjekte der amerikanischen Produktionen dieser Gattung sind die Präsidenten: Kennedy Johnson Nixon mit Kissinger. Umstrittene Vorgänge wie der Vietnamkrieg oder die Nahostkriege sind ebenso beliebte Sujets wie Haupt-und Staatsaktionen von der Art der Watergate-Affäre Der Großmeister dieser Gattung ist William Manchester Aber im Ausland widmen sich auch immer wieder professionelle Historiker diesem Genre — ihr Doyen und das viel nachgeahmte Vorbild ist Arthur M. Schlesinger
In der Bundesrepublik hat sich diese Mischform zwischen journalistischem Bericht und distanzierter Geschichtsschreibung noch nicht richtig eingebürgert Auch wenn in den letzten Jahren das eine oder andere Buch dieser Art erschienen ist bleibt hier ein gewisser Fehlbestand zu bemerken — vielleicht auch deshalb, weil es in der durch eine gewisse langweilige Durchschnittlichkeit gekennzeichneten bundesdeutschen Politik an dramatischen Vorgängen, an strahlenden Helden und an großen Schurken derzeit etwas fehlt.
Auch solche Werke sind nicht ohne Verdienst. Sie erweitern die zeitgeschichtliche Kenntnis, wecken oder erhalten das Interesse eines breiteren Publikums an der Zeitgeschichte und schaffen so ein aufnahmebereites Klima für professionelle und distanziertere historische Arbeiten. Naturgemäß überwiegt bei diesem Genre die Aufmerksamkeit für Spitzenpolitiker, für die Details ihrer mehr oder weniger verschwiegenen Machtkämpfe. Was dabei gesicherte Erkenntnis ist, was auf der im politischen Bereich omnipräsenten Mödisance beruht, was einfach aus dem ja überreichlich verfügbaren Rohstoff zeitgenössischer Presseberichte entnommen wurde, wird von diesen Autoren klugerweise meist nicht deutlich ge-macht. Strukturanalytische Durchblicke werden nur selten angestrebt. Aber solche Arbeiten sind wichtig, weil sie an den menschlichen Faktor im Zeitalter der technokratischen Demokratie erinnern, der von den Politikwissenschaftlern oder auch von theorie-faszinierten jüngeren Historikern häufig übersehen wird. So breitet sich die Geschichtskenntnis weiter aus — allerdings nur partiell und ganz unsystematisch. Zu diesem in unserem Zusammenhang nicht unwichtigen Genre der Geschichtsvermarktung durch Insider oder durch diesen nahestehenden Autoren gehören auch die hierzulande seit etwa Mitte der sechziger Jahre in beträchtlicher Zahl erscheinenden Memoiren aus der Feder von Botschaftern, Generalen, Politikern, die sich zentral mit Vorgängen in der Bundesrepublik befassen. In gewissem Maß sind Memoiren für die Erkenntnis ergiebiger als die eben angesprochenen Werke der journalistischen Geschichtsschreibung. Jedermann weiß, daß Akteure lediglich aus ihrer spezifischen Perspektive schreiben können. Dabei ergibt sich die subjektive Färbung vielfach weniger aus der Absicht der Selbstrechtfertigung als vielmehr aus der mehr oder weniger zufälligen Verfügbarkeit mitgenommener Staatspapiere und aus der Blickverengung, wie sie sich aus jeder Teilfunktion im Innern oder auch an der Spitze von großen Apparaten ergibt.
Bekanntlich besitzen wir zur Geschichte der Bundesrepublik verschiedene Memoirenwerke, die aus dem Durchschnitt dieses Genres weit hervorragen — sei es, weil der Verfasser, wie etwa Professor Grewe die selbstkritische Distanz des Wissenschaftlers aufzubringen weiß und mit den einschlägigen Forschungen genauestens vertraut ist, sei es, weil der Betreffende, wie seinerzeit Bundeskanzler Adenauer eine große Menge wichtigster amtlicher Quellen oder Quellen aus dem Intimbereich seiner Partei hat einarbeiten können — hierin nur noch übertroffen von Henry Kissinger, der anscheinend ganze Tonnen geheimster Staatspapiere aus dem National Security Council und dem State Department herausgeschleppt hat. Im allgemeinen aber bringen diese „Ich-war-dabei" -oder „Das-alles-habe-ich-getan" -Bücher die Wissenschaft nicht besonders voran, und auch ihr Einfluß auf das historische Bewußtsein in der Bundesrepublik hat sich bisher in Grenzen gehalten. Nicht selten läßt der pensionierte Memoirenschreiber ein ähnlich gebrochenes Verhältnis zur Wahrheit erkennen wie der seinerzeitige Aktive, und man muß es bedauern, daß die professionellen Zeitgeschichtsforscher, die zumeist höfliche Leute sind, dies in den Rezensionen nicht oft deutlicher sagen Aber wahrscheinlich fürchten sie sich, mit einem Verriß wichtige Quellen zu verschließen und ganze Parteien oder Ministerien zum Verstummen zu bringen.
Der deutsche Liebhaber zeitgeschichtlichen Schrifttums, der durch den Glanz ausländischer Memoirenschreiber wie Dean Acheson George Kennan Charles de Gaulle oder neuerdings auch Henry Kissinger verwöhnt ist, wundert sich zudem immer wieder darüber, wie kunstlos einstmals hochgestellte Deutsche ihre Bücher komponieren und wie mitleiderregend schlicht sie sich auszudrük-ken pflegen, wenn sie ihre Memoiren zu Papier bringen. Auch in diesem Punkt sind wir in vielem noch ein Entwicklungsland. Am bekömmlichsten sind zumeist die Veröffentlichungen boshafter Tagebuchbriefe — strahlendes Vorbild die Briefe von Theodor Heuss an Toni Stolper
So fließt zwar Jahr für Jahr ein im ganzen doch dünnes Rinnsal von Büchern zur Zeitgeschichte der Bundesrepublik in die Buchhandlungen. Aber diese Beiträge sind sowohl hinsichtlich des Erkenntnisertrags wie zahlenmäßig nicht zu vergleichen mit jenen wissenschaftlichen Arbeiten, Memoirenwerken Tagebüchern Berichten, die beispielsweise in den vergangenen 20 Jahren zur britischen Geschichte seit Mitte der fünfziger Jahre erschienen sind. Historiographisch verläßliche Einzelstudien sind und bleiben erst recht selten.
Natürlich ist die Abstinenz der Historiker eine mehr oder weniger unvermeidliche Folge der amtlichen Archivpolitik. Bekanntlich ging ein älteres europäisches Konzept staatlicher Archivpolitik von der Überlegung aus, daß die Sphäre staatlicher Willensbildung und Entscheidung einer unbedingten Abschottung gegen neugierige Blicke bedürfe. Überlegungen des Persönlichkeitsschutzes kamen hinzu. Einschlägige Bestände in Archiven sollten erst zugänglich gemacht werden, wenn kein Akteur — weder ein Monarch noch ein Politiker, Beamter oder ein mit der Regierung in Verbindung stehender Privater — mehr auf Erden weilte, somit auch nicht in Verlegenheit gebracht werden konnte. Derselbe Grundsatz galt erst recht für den Verkehr mit ausländischen Regierungen.
Mit solchen Überlegungen verband sich die Erkenntnis, daß der Historiker einige zeitliche Distanz braucht, wenn er objektiv arbeiten will. „Sollte — oder vielleicht auch kann — man über Geschichte schon schreiben, während sie noch qualmt?" hat Barbara Tuch-man vor fast 20 Jahren die in unserem Zusammenhang zentrale Frage formuliert. Sie selbst kam zum Schluß, ein Historiker brauche „einen Abstand von mindestens 25 Jahren, besser noch 50. Jahren, um sich eine einigermaßen gültige Meinung zu bilden" (Diese Erkenntnis hat sie allerdings nicht davon abhalten können, Ende der sechziger Jahre, also keine 25 Jahre, nachdem der Ofen noch qualmte, ein Buch über General Stilwell und die amerikanische Erfahrung mit China zu schreiben Wie der Politiker hält sich eben auch der Historiker nicht immer ganz streng an die von ihm proklamierten Grundsätze.)
Jedenfalls ging die traditionelle Archivpolitik von der Auffassung aus, daß eine am Erfordernis unbedingter Diskretion bei der Vollbringung der Staatsgeschäfte orientierte Behandlung des staatlichen Archivguts durch die Fünfzig-Jahr-Sperre am besten gewährleistet ist.
Ich möchte mich hier gar nicht weiter darüber verbreiten, ob dieser Auffassung nicht auch ein gewisses Maß an weiser Lebenserfahrung innewohnte. Tatsache jedenfalls ist, daß die Regierungen, die Historiker und die Öffentlichkeit in den westlichen Demokratien inzwischen mehr oder weniger ausnahmslos zu der Auffassung gelangt sind, daß an einer derartigen Arkanpolitik nicht mehr festgehalten werden darf, weil die Öffentlichkeit Anspruch auf Transparenz, auf liberale Informationspraxis und nicht zuletzt auf eine umfassende, kritische Aufarbeitung ihrer eigenen Zeitgeschichte hat. Bei der Güterabwägung zwischen den möglichen Nachteilen, die vorzeitiges Bekanntwerden von Regierungsinterna bringen kann, und den viel größeren Nachteilen, die auftreten, wenn einer Gesellschaft die zentralen Quellen zum Verständnis ihrer neuesten Geschichte verschlossen bleiben, hat man sich für eine viel frühzeitigere Öffnung der Archive entschieden. Den Anfang mit einer modernen, liberalen Archivpolitik machten die Amerikaner. Ihnen folgten die Briten. 1979 hat sogar Frankreich die Dreißig-Jahres-Regel eingeführt.
Für ein Abgehen von der früheren Arkanpolitik sprach gewiß auch die Erkenntnis, daß in modernen Demokratien das meiste, was im Schoß der Regierungen und in der staatlichen Verwaltung geschieht, ohnehin bereits bekannt ist. Außerdem wirkte es ansteckend, als sich erst einmal einzelne Regierungen führender demokratischer Staaten zu einer vergleichsweise frühzeitigen Offenlegung ihrer „Arcana-Imperii" entschieden hatten. Wie sollte auch eine Regierung wie die deutsche oder die niederländische ein Festhalten an der Fünfzig-Jahres-Regel im Ernst rechtfertigen, wenn Großmächte wie die USA oder Großbritannien, bei denen zumindest ähnlich gewichtige Geheimhaltungsinteressen aus Sicherheitsgründen bestehen, keine Bedenken gegen die Dreißig-Jahres-Regel haben, wobei die Vereinigten Staaten bekanntlich noch sehr viel kürzere Fristen für ausreichend halten!
So hat sich auch die Bundesregierung in den sechziger Jahren dieser allgemeinen Tendenz in den westlichen Demokratien angeschlossen. § 80 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien in der (gegenwärtig gültigen) Fassung vom 26. September 1979 sieht bezüglich der Freigabe von Schriftgut für wissenschaftliche Zwecke vor:
„(1) Schriftgut der Ministerien aus einer mehr als 30 Jahre zurückliegenden Zeit steht Dritten im Rahmen der Benutzungsordnung für das Bundesarchiv zur Verfügung, wenn die Bundesregierung nichts anderes bestimmt hat.
(2) Schriftgut aus jüngerer Zeit darf für wissenschaftliche Zwecke nur mit Zustimmung des Ministers oder Staatssekretärs verwendet werden. Vorher ist die Stellungnahme der beteiligten Bundesministerien einzuholen."
Das sind schöne Grundsätze, die, wenn sie nur befolgt würden, bereits eine blühende Forschung zur Frühgeschichte der Bundesrepublik zur Folge gehabt hätten.
Für das Archivgut aus den Jahren 1945 bis 1949 ist diese aus einem aufgeklärten liberalen Geist entstandene Zusage an die Wissenschaft auch eingehalten worden. Ebenso haben verschiedene Ministerien bis gegen Ende der siebziger Jahre in Einzelfällen von der Möglichkeit, Sondergenehmigungen für frühere Auswertung der Akten zu erteilen, einen durchaus vernünftigen, wissenschaftsfreundlichen Gebrauch gemacht, was uns beispielsweise eine so wertvolle Untersuchung wie die von Hans Günther Hockerts über die alliierte und westdeutsche Sozialversicherungspolitik in den Jahren 1945 bis 1957 beschert hat
Gespannt wartete daher die Zeitgeschichtsforschung auf den Zeitpunkt, zu dem erstmals ab Herbst 1979 oder spätestens ab Anfang 1980 die wichtigen Vorgänge in der Frühgeschichte der Bundesrepublik auf der Basis der amtlichen Akten analysierbar und darstellbar sein würden. Die Anträge häufen sich, aber bisher sind nur die Nicht-Verschlußsachen zugänglich. Solange jedoch nicht auch die VS-Sachen und als „geheim" eingestufte Vorgänge in die Dreißig-Jahres-Regel einbezogen werden, stößt eine intensive Erforschung an vielen Stellen auf unzugängliches Archivgut. Weshalb in'diesem Punkt bisher keine großzügigere Regelung für die Freigabe erfolgte, ist nicht voll ersichtlich. Immerhin hätten die Bundesregierung und die Verwaltung, denen in erster Linie die Aufgabe obliegt, gemäß § 80(1) die der Wissenschaft gegebenen Zusage einzulösen, lange Jahre Zeit gehabt, sich eingehend darüber Gedanken zu machen, nach welchen Richtlinien bei der Freigabe verfahren werden soll, welche weiter schutzwürdigen Bestände aus der freizugebenden Aktenmasse vorerst auszugliedern sind und wie die Aufgabe personell und administrativ zu bewältigen wäre. Die weltweit berühmte britische Praxis hätte dabei als Vorbild dienen können.
Ich erspare es mir, ins Detail zu gehen oder Vermutungen über die Gründe, über bestimmte Institutionen oder benennbare Personen anzustellen, bei denen die Schwierigkeiten in erster Linie zu suchen sein dürften. Nach allem, was bisher bruchstückhaft bekannt geworden ist, trifft dabei das Bundesarchiv kein Verschulden an den gegenwärtigen unguten Zuständen. Man kann es den Bundesarchivaren abnehmen, daß sie froh wären, die von ihnen verwahrten Materialien der wissenschaftlichen Forschung möglichst ohne große Einschränkungen zugänglich machen zu können. über die gesonderte Problematik des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes möchte ich in diesem Zusammenhang nicht sprechen.
Ebenso ist eigentlich nicht zu vermuten, daß die grundsätzlichen oder die praktischen Schwierigkeiten aus dem politischen Raum kommen. Wer als Zeithistoriker oder Politik-wissenschaftler Kontakte zu verantwortlichen Politikern aller Parteien unterhält, weiß, daß sie eine liberale Archivpolitik befürworten — zumindest die meisten unter ihnen. Bundeskanzler Schmidt hat im Jahr 1978 vor dem Hamburger Historikertag mit großer Überzeugungskraft herausgearbeitet, welche staatspolitische Bedeutung er Geschichtsforschung zumißt, auch der Zeitgeschichtsforschung So bleibt es vielen von uns ein Rätsel, weshalb die in anderen Zusammenhängen so eindrucksvoll beschworenen Grundsätze der Transparenz, der Liberalität und der Ablehnung obrigkeitsstaatlicher Arkanpolitik nicht mehr ganz eindeutig zu gelten scheinen, wenn es um das amtliche Archivgut der Bundesregierung geht.
Jedenfalls ist es jetzt doch einmal an der Zeit, die Aufmerksamkeit auf diese der Forschung durchaus unbekömmlichen Zustände zu lenken. Größere Projekte, die im Vertrauen auf die Gültigkeit der Dreißig-Jahres-Regel vor Jahren begonnen wurden, kommen nicht recht voran, die Einzelforschung wird aufgehalten und — was das Bedauerlichste ist — die zünftigen Historiker werden davon abgehalten, in breiter Front mit der Arbeit an der Geschichte der Bundesrepublik zu beginnen.
Der Laie muß sich einmal vor Augen halten, wie zeitgeschichtliche Forschung praktisch erfolgt. Im Stichjahr, zu dem die Archive geöffnet werden, oder bald danach, beginnen in der Regel führende Wissenschaftler auf dem Feld oder auch ehrgeiziger Nachwuchs, systematisch die Bestände durchzugehen. Bis daraus fertige Studien publiziert werden können, dauert es im Regelfall drei bis vier Jahre.
Erst wenn die Professoren einen Überblick gewonnen haben, können sie auch gezielt einzelne Doktoranden oder ganze Forschungsteams ansetzen. Auch die Ingangsetzung überregionaler oder internationaler Projekte kann nur nach einer gründlichen ersten Durchsicht beginnen. Wären die Akten über die ersten ein oder zwei besonders wichtigen Jahre bundesdeutscher Geschichte rechtzeitig — also 1980 oder 1981 — verfügbar gewesen, hätte immerhin Mitte der achtziger Jahre mit einem ersten Forschungsertrag gerechnet werden können, von dem weitere stimulierende Wirkungen ausgegangen wären.
Solange aber die Ungewißheiten über die endgültigen Modalitäten des Zugangs und über den genauen Zeitpunkt und den Rhythmus der Öffnung anhalten, befassen sich nur wenige Wissenschaftler — im deutschen Fall häufig Vertreter der Politischen Wissenschaft — mit zeitgeschichtlichen Themen. Der zünftige Historiker wartet ab, bis die Akten für einige zusammenhängende Jahre verfügbar sind. Dann mag er geruhen, sich langsam von den bisher bestellten Feldern zu lösen, sich in die neuen, ihm selbst noch wenig bekannten Geschehnis-komplexe einzuarbeiten und zu überprüfen, wie die bisherigen theoretischen und sonst-wie systematischen Fragestellungen, die sich in früheren Perioden bewährt haben, auf die jetzt zugängliche Periode anwendbar sind. Selbst unter günstigen Umständen hätte es also bis weit in die zweite Hälfte der achtziger Jahre hinein gedauert, bis eine Forschung auf so breiter Front möglich gewesen wäre, wie sie für die Geschichte des Dritten Reiches schon seit Jahrzehnten selbstverständlich ist. So, wie die Dinge jetzt liegen, wird es nun noch wesentlich länger dauern. Die Konsequenzen liegen auf der Hand. Eine aus kulturpolitischen und staatspolitischen G'ründen dringlich wünschenswerte, intensive, möglichst viele Bereiche erfassende planmäßige Erforschung der Geschichte der Bundesrepublik kann nicht richtig in Gang kommen. Ich bin überzeugt, daß dies den Wünschen der Bundesregierung diametral entgegenläuft. Aber die Verantwortung dafür liegt letzten Endes bei ihr.
Zum Glück müssen wir nicht nur klagen. Wenn der Historiker von der Wissenschaftsfreundlichkeit und vom geschichtlichen Verständnis der Bonner Politiker eine überwiegend günstige Auffassung hat, so nicht zuletzt deshalb, weil die politischen Parteien mit reger Unterstützung aktiver oder ehemaliger Abgeordneter und Regierungsmitglieder früherer Jahrzehnte in den Archiven der politischen Stiftungen ganz hervorragende Voraussetzungen für die Erforschung der Geschichte der Bundesrepublik geschaffen haben. Die in Bonn versammelten Stiftungen — Konrad-
Adenauer-Stiftung, Friedrich-Ebert-Stiftung, Friedrich-Naumann-Stiftung, die Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus, wo sich die Papiere Adenauers befinden, die Ludwig-Erhard-Stiftung — stellen heute neben den Nachlässen oder Deponaten im Bundesarchiv und in den Staatsarchiven der Länder die wichtigsten Quellensammlungen dar. Im Münchner Institut für Zeitgeschichte, im Archiv der Hanns-Seidel-Stiftung und in weiteren Institutionen, die jetzt nicht alle genannt werden können, sind gleichfalls archivalische Sammlungen im Aufbau. Wer bisher über die Geschichte der Bundesrepublik arbeitet, war in erster Linie auf die Stiftungen und einzelne Landesarchive angewiesen. Diese Institutionen praktizieren ohne Ansehen der politischen Verortung des Forschers und im Rahmen des Möglichen jene Liberalität der Forschungspolitik, die man sich auch von allen staatlichen Stellen wünschen würde. Sie sind zugleich ein sprechender Beweis für die Vorteile der Dezentralisierung — auch beim politischen Archivgut.
Jedenfalls fußen die nicht allzu zahlreichen Monographien, in denen Zusammenhänge aus der Geschichte der Bundesrepublik auf der Grundlage neuen Quellenmaterials und mit einigermaßen systematischer Auswertung eine wissenschaftlich haltbare Darstellung gefunden haben, vielfach auf diesen Beständen Besäßen wir sie nicht, so würde es um eine strengeren historiographischen Maßstäben verpflichtete Zeitgeschichtsforschung zur Geschichte der Bundesrepublik noch viel betrüblicher aussehen.
Freilich sollte man sich auch von einer unter günstigsten Archivbedingungen arbeitenden Zeitgeschichtsforschung keine Wunderwirkung auf das geschichtliche Bewußtsein versprechen. Vor allem kann sich die Wirkung nicht kurzfristig entfalten.
Die Einflußmöglichkeiten des Historikers auf das Geschichtsbild einer Gesellschaft sind eben doch vergleichsweise gering, viel geringer, als dies oft im politischen Raum angenommen wird, wo man sich bisweilen von der Zeit-geschichte einen unmittelbar wirksamen Ertrag verspricht.
Das geschichtliche Bewußtsein eines Zeitalters wird durchaus nicht in erster Linie, wahrscheinlich nicht einmal in zweiter Linie, von der Geschichtswissenschaft geformt. Der Historiker sieht sich nicht nur, wie schon ausgeführt, bei der Forschung selbst, sondern auch bei der Vermittlung seiner Ergebnisse in die Öffentlichkeit hinein einer übermächtigen Konkurrenz gegenüber. Das gilt sowohl, was die Einflüsse seiner Arbeit auf das Bewußtsein der politischen und gesellschaftlichen Führungsgruppen anbelangt, wie auch hinsichtlich der Einflußnahme auf die gleichfalls bedeutsamen Schichten politischer Aktivisten an der Basis der Parteien, der Kirchen, der Gewerkschaften oder bezüglich der Bevölkerung in ihrer ganzen Breite.
über die Bewußtseinsformung und -Verformung durch das Fernsehen ist schon einiges* gesagt worden. Aber die ZDF-, WDR-, NDR-oder BR-Redaktionen, die breitenwirksame zeitgeschichtliche Serien konzipieren, Dokumentarfilme einplanen oder Medienereignisse nach Art der „Holocaust-Diskussion" kreieren, sind nicht die einzigen Instanzen, von denen nachhaltige Wirkungen ausgehen. Die Bundeszentrale und die Landeszentralen für politische Bildung sind hier ebenso zu nennen wie Verlage, Wochenzeitschriften, das Schulwesen. Nicht zuletzt gehen von Seiten der Spitzenpolitiker und der Parteiorganisationen prägende Impulse auf das jeweilige Geschichtsbewußtsein der Bevölkerung aus. Es gehört zu den großen, von den Historikern bezüglich Medienwirkung und Redundanz gar nicht erreichbaren Künsten politischer Führer und ih« rer Informationsapparate, Anhänger und Gegner unentwegt durch Verstärkung oder Erfindung von Geschichtsbildern in ihrem Sinn zu beeinflussen. Ständige Arbeit nicht bloß an der Geschichte, sondern auch am Bild der Zeitgeschichte gehört zu den Daueraufgaben jeder politischen Führung — eine Bemühung, die ebenso wichtig ist wie die ständige Vermittlung ordnungspolitischer Grundvorstellungen. So gehörte — um nur zwei Beispiele zu nennen — die Durchsetzung eines neuen Geschichtsbildes zu den großen Führungstechniken Adenauers. Immer wieder hat er, ohne den Terminus als solchen zu verwenden, die These vom „deutschen Sonderweg" verkündet: daß sich Deutschland vor 1945 über lange Jahrzehnte hinweg auf einem Sonderweg befunden habe, der es von westlichen demokratischen Traditionen weggeführt und damit auch außenpolitisch isoliert habe, während die neue, von ihm gestaltete Geschichtsepoche im Zeichen von Westbindung und europäischer Integrationspolitik als Korrektur dieser deutschen Sonderentwicklung zu verstehen sei
In gleicher Weise gehörte das Geschichtsbild von einem unaufhaltsamen Fortschritt aus einer Periode des Kalten Krieges und der Konfrontation hinein in eine neue, verheißungsvolle Phase der Entspannung und ost-westlicher Kooperation zu den ebenso wirkungsvollen Geschichtsbildern der sozial-liberalen Koalition wie das von ihr gepflegte Geschichtsbild der restaurativen, nur partiell demokratischen Entwicklung der Bundesrepublik vor 1969. Weitere Beispiele ließen sich in Fülle anmerken. In sehr viel stärkerem Maß, als wir es uns vielfach klarmachen, dienen eben relativ einfache, grobformatige, aber die Phantasie ansprechende Geschichtsbilder der Legitimation bestimmter Politiken — und dies ganz unabhängig davon, ob es sich dabei um die Politik von Regierungen und Parteien der rechten Mitte oder der linken Mitte, der radikalen Rechten oder der radikalen Linken handelt. In der Hand des Politikers ist das Geschichtsbild und der Geschichtsmythos eine Waffe, die er unentwegt handhabt.
Geschichtsmythen würden freilich nicht geglaubt, sofern ihnen nicht starke Elemente der Wahrheit und der Alltagserfahrung breiter Schichten beigemischt wären. Sie könnten auch gar nicht überzeugend vermittelt oder verstärkt werden, wenn diejenigen, die sie verstärken und unablässig propagieren, nicht selbst zutiefst davon überzeugt wären — was freilich die manipulierende Handhabung nicht ausschließt, sondern diese nur noch erleichtert.
Diese Überlegungen führen zur Einsicht, daß sich schon in dem Zeitpunkt, da die aktuellen politischen Kämpfe zu Geschichte gerinnen, im Bewußtsein der Führungsgruppen und der Bevölkerung geschichtliche Situationsdeutungen und Geschichtsverständnisse einprägen, die eine große Dauerhaftigkeit aufweisen und allenfalls durch neue Geschichtserfahrung veränderbar sind. Das gilt genauso für die fest tradierten Geschichtsbilder und Selbstverständnisse politischer Subkulturen — also etwa Deutungen der eigenen Partei — oder Verbandsgeschichte, wie man sie im Umkreis der Sozialdemokratie, der Freien Demokraten, der Christlichen Demokraten oder auch der Gewerkschaften beobachten kann.
Angesichts dermaßen verfestigter und politisierter Geschichtsbilder kann von den objektivierenden, allein der Wahrheit verpflichteten Anstrengungen zeitgeschichtlicher Forschung nicht zuviel erwartet werden. Veränderungen des geschichtlichen Bewußtseins vollziehen sich eben nicht in erster Linie als Resultat neuer historischer Forschungen. Sie sind in viel stärkerem Maß die Frucht konkreter, neuer geschichtlicher Erfahrung, der Konfrontation mit neuen Problemen, des Aufkommens neuer Torheiten und des Nachwachsens neuer Generationen. Immerhin: Auch die Zeitgeschichtsforschung kann einen nachhaltigen Beitrag zur Veränderung und, hoffen wir es, zur Klärung des geschichtlichen Bewußtseins leisten, aber nur langsam und in einem mühevollen Umsetzungsprozeß.
Ein einzelner Forscher etwa oder eine historische Schule entwickelt, gestützt auf neue Quellen, vielleicht auch mit neuen Methoden und mit frischen Interpretationsmustern eine andere Art und Weise, bestimmte geschichtliche Vorgänge zu verstehen, über lange Jahre hinweg wird dann eine Generation mehr oder weniger begabter und geistig lebendiger Studenten mit dieser Blickweise gleichsam imprägniert. Diese Studenten rücken schließlich — wiederum in einem langjährigen Marsch durch die Institutionen — in Multiplikatoren-Funktionen bei den Rundfunkanstalten, in der politischen Bildung, im Schulwesen ein und verbreiten jetzt über die Jahre hinweg das, was sie an thematischen Ansätzen, an neuen Methoden oder an neuen Erkenntnissen gewonnen haben. Unnötig zu sagen, daß dies ein Prozeß ist, der 15 bis 30 Jahre in Anspruch nimmt.
Dabei können sich aber die Erkenntnisse der einzelnen Schulen nicht ungebremst entfalten. Auch hier gilt die alte Legende: Als Gott den deutschen Professor geschaffen hatte und sagte „Siehe, es ist alles gut", da kam der Teufel und schuf seinen Kollegen. Der Forscher und die von ihm auf einen bestimmten Interpretationspfad geleiteten Studenten treffen auf andere Forscher, die die neuen Deutungen in Frage stellen und die Fruchtbarkeit der neuen Methoden bezweifeln. So ist der Prozeß, in dem sich das von der Zeitgeschichte vermittelte Geschichtsverständnis ausbreitet und vertieft, einerseits ein sehr langfristiger Vorgang, andererseits wird er durch den Pluralismus der Forschungsrichtungen und durch die Vielzahl der Institutionen abgebremst, die bei der Verbreitung neuer Erkenntnisse mitwirken.
Dennoch: Die Bemühung wird unternommen, und sie wird auch bei der Arbeit an der Geschichte der Bundesrepublik Resultate zeitigen, wie dies schließlich auch bei der seit Jahrzehnten laufenden Arbeit an der Erhellung der deutschen Zeitgeschichte vor 1945 der Fall . gewesen ist. Aber das alles braucht Zeit und — ich wiederhole es noch einmal — es setzt voraus, daß die Breitenforschung überhaupt endlich einsetzen kann.
Dabei werden es wie in der Vergangenheit Arbeiten recht unterschiedlichen Typs sein, die auf das geschichtliche Selbstverständnis einwirken. Die überwiegende Zahl zeitgeschichtlicher Studien zur Geschichte der Bundesrepublik dürfte auch künftig aus vergleichsweise unprätentiösen, aber solide gearbeiteten, einen breiten Quellenbestand erfassenden, detaillierten Untersuchungen bestehen. Sie werden unsere Kenntnis vieler einzelner Zusammenhänge vertiefen, korrigieren und erweitern. Manche Arbeiten dieses Typs sind schon erschienen oder sie sind in Vorbereitung. Derartige Untersuchungen wirken zwar nicht sensationell, aber sie garantieren über die Jahrzehnte hinweg jenen auf breiter Linie erfolgenden Erkenntnisfortschritt, der ein Kennzeichen jeder reifen Wissenschaft ist, auch der reifen Zeitgeschichtsforschung.
Früher oder später mag dann ein zweiter Typ von Historiographie zur Geschichte der Bundesrepublik hinzutreten, der heute noch kaum sichtbar ist: kritische Geschichtsschreibung im Sinne Nietzsches. Natürlich ist jede Geschichtsschreibung, die auf sich hält, dem jeweiligen Erkenntnisobjekt gegenüber kritisch eingestellt. Wenn also in unserem Zusammenhang von kritischer Geschichtsschreibung die Rede ist, so meine ich das, was heute in bezug auf andere Epochen revisionistische Geschichtsschreibung genannt wird.
Erstaunlicherweise fehlt es bisher an Ansätzen, die bisherige bundesdeutsche Geschichte im einen oder anderen Punkt kritischer Revisionen zu unterziehen — also: etablierte Geschichtsmythen in Frage zu stellen, vielleicht auch im einen oder anderen Fall die etablierte politische Reputation führender Staatsmänner anzuzweifeln oder die Geschichte der einen oder anderen Partei revisionistisch ganz neu zu schreiben. Besonders im Bereich der Wirtschafts-und Sozialgeschichte der Bundesrepublik, wo ziemlich alle relevanten Quellen auch heute schon verfügbar sind, wäre eine kritische Geschichtsschreibung möglich und wünschenswert, wobei sich der Revisionismus gegen die Geschichtsmythen der einen oder der anderen Seite wenden mag — gegen die der Linken oder gegen die der Rechten. Sicher wäre es falsch, einen Revisionismus um des Revisionismus willen herbeiwünschen zu wollen. Aber etwas mehr grundsätzliche wie spezifische Kontroversen könnten die gegenwärtige Zeitgeschichtsforschung, die sich mit der Bundesrepublik beschäftigt, zu ihrer Belebung schon gebrauchen. Schließlich aber wird sich auch eine Zeitgeschichtsschreibung der Bundesrepublik gerade dann, wenn sie Breitenwirkung anstrebt, darauf besinnen müssen, jener Generation, die die Geschichte unseres Staates geformt und bewußt erfahren hat, aber auch jenen jüngeren Generationen, denen Geschichtserfahrung nur sekundär vermittelt werden kann, die Geschichte der Bundesrepublik zu erzählen. Erinnerung, Wiederbelebung der Vergangenheit im Bewußtsein der Gegenwart ist und bleibt die klassische Aufgabe jeder Geschichtsschreibung, auch die der Zeitgeschichtsschreibung.
Wie wir alle wissen, ist die erzählende Geschichtsschreibung unter vielen zünftigen Historikern vor allem der heute mittleren Generation seit den sechziger Jahren in einen gewissen Verruf gekommen. Die gar nicht zu bestreitende Problematik jeder literarischen Geschichtsschreibung, deren sich die Historiographie seit Droysens „Historik" bald mehr, bald weniger kritisch bewußt gewesen ist, wird besonders von den sozialwissenschaftlicher Theoriebildung verpflichteten Forschern rein negativ gesehen. Angesichts der Schein-alternative von theoretischer Raffinesse und Validität der Darstellung hat man sich meist für die esoterische Langeweile entschieden. Diese methodologische Orientierung vieler Historiker ist ein Grund dafür — wenn auch nicht der einzige —, daß sich die Bereitschaft, Geschichte darstellend und analytisch vertieft zu erzählen, deutlich verflüchtigt hat.
Wenn es vielerorts, nicht zuletzt bei den jüngeren Generationen, an geklärten Vorstellungen oder überhaupt an Vorstellungen über die Geschichte der Bundesrepublik fehlt, dann eben doch auch deshalb, weil ein erheblicher Teil der Historiker unwillig und vielleicht auch gar nicht mehr fähig ist, Geschichte einfühlsam, wennschon unter vollem Einsatz aller kritischen Methoden, zu verstehen und dann ein geklärtes, auch literarisch durchgeformtes Gesamtbild einer Epoche, eines bedeutenden Politikers oder einer wichtigen Organisation zu gestalten. Ohne Anschaulichkeit, ohne die Fähigkeit, auch die historische Phantasie anzusprechen, ohne Bereitschaft der Forscher, nicht nur für die Kollegen, sondern auch für ein breiteres gebildetes Publikum zu schreiben, wird letzten Endes auch die Geschichte der Bundesrepublik nicht neu erfahrbar werden. Die ziemlich offenkundige Verkümmerung des politischen Verständnisses für die jüngste Vergangenheit unseres Staates ist eben leider nicht nur die Folge fehlenden Zugangs zu wichtigen Quellen, sondern auch die Folge einer Verkümmerung historiographi-scher Darstellungskraft und schriftstellerischer Souplesse.
Es ist eine schöne Forderung, daß gebildete Bürger — Journalisten, Naturwissenschaftler, Ökonomen, Politiker oder Juristen — bereit sein sollten, ihr im Laufe der Zeit geformtes geschichtliches Bewußtsein von Zeit zu Zeit kritisch zu überprüfen. Aber wie sollte das denn geschehen, wenn der Historiker als Fachmann für eine wissenschaftliche Deutung von Geschichte gar nicht in der Lage ist, ein neues, kritisches, zugleich aber auch anschaulich geschriebenes Bild von bestimmten Vorgängen und Persönlichkeiten zu vermitteln! Alle, denen am vertieften Verständnis für die Geschichte der Bundesrepublik gelegen ist, sollten daher zweierlei fordern: Sie sollten — erstens — die Bundesregierung veranlassen, den Dreißig-Jahres-Rhythmus für die Freigabe des Archivgutes künftig fest voraussehbar und so automatisch zu praktizieren, wie dies in Großbritannien geschieht. Dabei sollten auch VS-Sachen und als „geheim" eingestufte Vorgänge soweit nur irgend vertretbar herabgestuft und zur Auswertung freigegeben werden. Das Voranschreiten von den Anfängen bis zur Gegenwart muß hinsichtlich der Zugangsbedingungen und der Fristen klarer vorangehen als bisher. Sie sollten — zweitens — von den Historikern verlangen, diese für uns gegenwärtig wichtigste Epoche jüngerer deutscher Zeitgeschichte in voller Breite aufzuarbeiten, wenns gefällt, kritisch in Frage zu stellen, aber auch literarisch überzeugend zu gestalten. Wenn die jüngeren und älteren deutschen Zeithistoriker nicht begreifen wollten, daß Geschichtsschreibung nicht nur eine Wissenschaft, sondern zugleich eine Kunst ist, werden sie letztlich auch zum politischen Selbstverständnis der Öffentlichkeit keinen durchschlagenden Beitrag leisten können.