I. Süd-Süd-Beziehungen: Problemhorizont
Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte und bearbeitete Fassung der Einführung zu dem vom Verfasser hrsg. Sammelband „Süd-Süd-Bezie-nungen. Zur Kommunikation, Kooperation undSolidarität zwischen Entwicklungsländern", der demnächst erscheinen wird.
In den siebziger Jahren war eine auffällige Verdichtung der politischen und wirtschaftlichen und anderer Beziehungen zwischen Entwicklungsländern zu beobachten, die man — in Analogie zum Begriff der „Nord-Süd-Beziehungen“ zur Bezeichnung der Beziehungen zwischen Industrie-und Entwicklungsländern — als „Süd-Süd-Beziehungen" auf den Begriff gebracht hat -Während noch im Jahre 1976 davon gesprochen wurde, Süd-Süd-Beziehungen „seien nicht der Rede wert" kann mittlerweile an der Bedeutung von Quantität und Qualität dieser Beziehungen nicht mehr vorbeigesehen werden. Allerdings nehmen sich die Süd-Süd-Beziehungen neben dem vertrauten, scheinbar übermächtigen dichten Geflecht der Nord-Süd-Beziehungen als eine vergleichsweise noch exotische Erscheinung von relativ geringem weltwirtschaftlichen und -politischen Gewicht aus; jedoch werden deren Entwicklungstrends und Wirkungsmöglichkeiten in den internationalen Beziehungen sowohl von der Politik als auch von der Forschung zunehmend thematisiert
Definitionen, Schlüsselbegriffe, Ursachen Als Süd-Süd-Beziehungen können alle Interaktionen zwischen Entwicklungsländern bzw. Ländern der „Dritten Welt" gelten. Diese In-teraktionen umgreifen sämtliche Bewegungen von Informationen, Geld, physischen Objekten, Menschen und anderen materiellen und immateriellen Größen über die Staatsgrenzen dieser Länder hinweg, sei es bi-oder multilateral, im subregionalen/regionalen/interregionalen Rahmen, als Konflikt oder Kooperation. Den größten Teil der Süd-Süd-Beziehungen machten bisher „klassische" zwischenstaatliche Interaktionen aus, etwa im Bereich der Diplomatie (z. B. Zusammenarbeit von Entwicklungsländern in der Bewegung der Blockfreien), im Bereich des Handels (z. B. Brasiliens Handel mit afrikanischen Staaten) oder im Bereich des Militärs (z. B. Brasiliens Rüstungslieferungen an den Irak und dessen Krieg mit Iran). Doch gibt es in den Süd-Süd-Beziehungen auch nicht-staatliche (oder zumindest nicht exklusiv-staatliche) Interaktionen, die man als „transnationale" Süd-Süd-Beziehungen bezeichnen könnte, und deren Schwerpunkt im Bereich der Bewegung von Menschen und Ideen (z. B. Wander-und Gastarbeiter, Flüchtlingsströme, Touristen, Wissenschaftleraustausch) liegt.
Eng verbunden mit dem Aufkommen der Süd-Süd-Beziehungen waren verschiedene „Schlüsselbegriffe" die diesen Beziehungen ideologischen und programmatischen Ausdruck gaben. Die wichtigsten dieser Begriffe waren die „Kollektive Self-Reliance" (als gemeinsame Verhandlungsstrategie der Entwicklungsländer gegenüber den Industrieländern und als gemeinsame alternative Entwicklungsstrategie der Entwicklungsländer), die „Süd-Süd-Kooperation" (als wirtschaftliche Kernsubstanz der kollektiven Self-Reliance), die „Wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Entwicklungsländern" /ECDC und die „Technische Zusammenarbeit zwischen Entwicklungsländern" /TCDC (als wichtigste Teil-sektoren der Süd-Süd-Kooperation) sowie der „Süd-Süd-Dialog'1 (als institutionalisierte Kommunikation der Entwicklungsländer, die die Diskussion und Verhandlungen über einen Ausbau kooperativer Süd-Süd-Beziehungen erfaßt).
Auf der politischen Ebene kam die Intensivierung der Süd-Süd-Beziehungen wohl am deutlichsten in der Aktivierung und Ausbreitung von regionalen und vor allem regionenübergreifenden Organisationen, wie namentlich der Bewegung der Blockfreien und der „Gruppe der 77", zum Ausdruck. Militärisch manifestierten sich Süd-Süd-Beziehungen u. a. in den Interventionen Kubas in Afrika (Angola, Äthiopien) Auf der wirtschaftlichen Ebene fanden Süd-Süd-Beziehungen ihre wohl spektakulärste Ausprägung in der Handelsoffensive Brasiliens gegenüber Afrika, in der technischen Hilfe Indiens an arabische und afrikanische Staaten, in der wachsenden Zusammenarbeit zwischen arabischen Olländern und lateinamerikanischen Schwellenländern einerseits und zwischen arabischen und afrikanischen Staaten andererseits, in der Wanderung von Arbeitskräften aus Süd-und Südostasien in die arabischen Ölländer sowie vor allem in der Dynamik des Süd-Süd-Handels (mit jährlichen Zuwachsraten im Durchschnitt der Jahre 1970— 1979 von 28 % gegenüber 6, 6 % im Zeitraum 1955— 1970, wobei der, Handel mit mineralischen Brennstoffen an dieser Dynamik nur marginal beteiligt war Auf der kulturell-kommunikativen Ebene manifestierten sich die Süd-Süd-Beziehungen vielleicht am deutlichsten in der Herausbildung von regionenübergreifenden intellektuell-wissenschaftlichen Netzwerken wie etwa dem „Forum Dritte Welt" oder der . Assoziation der Ökonomen der Dritten Welt“
Fragt man nun nach den Ursachen für diese auffällige Verdichtung der Süd-Süd-Beziehungen in den siebziger Jahren, so lassen sich drei wesentliche Faktoren anführen: die Weltwirtschaftskrise zu Anfang der siebziger Jahre, das Aufkommen neuer dynamischer Wirtschaftsund Machtzentren in der Dritten Welt und der weitgehende Mißerfolg vorherrschender Entwicklungsstrategien und -politiken:
— Die Weltwirtschaftskrise (Zusammenbruch der Weltwährungsordnung von Bretton Woods, öl-und Nahrungsmittelkrise, Rezession und Protektionismus in den Industrieländern) ließ die Entwicklungsländer zunehmend ihre strukturelle Benachteiligung im überkommenen arbeitsteiligen und von den Industrieländern gesteuerten und kontrollierten Weltwirtschaftssystem erkennen. Daher solidarisierten und organisierten sie sich gegenüber den Industrieländern und forderten von diesen die Errichtung einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung“, welche die Kosten-und Nutzenverteilung des weltwirtschaftlichen Austausches zu ihren Gunsten verändern sollte.
— Die Weltwirtschaftskrise wurde zugleich begleitet von einer relativen Schwächung der Position der Industrieländer und einer relativen Stärkung der Position der Entwicklungsländer im allgemeinen und bestimmter Gruppen von Entwicklungsländern im besonderen. Die OPEC-Länder hatten mit ihrer „Ölwaffe" erstmals erfolgreich „Wirtschaftsmacht" gegen die Industrieländer ausgeübt und eine Anzahl (industrieller) Schwellenländer in der Dritten Welt setzte die „klassischen" Industrieländer zunehmend unter Konkurrenzdruck. Das Aufkommen dieser neuen dynamischen Wirtschafts-, Finanz-und Machtzentren in der Dritten Welt mit neuen Angebots-und Nachfragepotentialen gab die wichtigste materiell-ökonomische Basis für die Intensivierung der Süd-Süd-Beziehungen ab.
— Hinzu trat die wachsende Erkenntnis des weitgehenden Fehlschlags bisher vorherrschender Entwicklungsstrategien und -Politiken. Entgegen der langjährig von den Industrieländern (auf der Grundlage ihrer Modernisierungstheorien) verkündeten Behauptung, daß sich durch gezielten Kapital-und Technologietransfer wirtschaftliches Wachs-tum von den Industrie-auf die Entwicklungsländer übertragen lasse und diese dadurch zu gleichgewichtigeren Partnern in einer arbeitsteiligen Weltwirtschaft mache, hatte sich die wirtschaftliche Lage der meisten Entwicklungsländer deutlich verschlechtert. Dependenztheoretische Studien schärften in den Ländern der Dritten Welt das Bewußtsein über die negativen Auswirkungen ihrer historisch gewachsenen Abhängigkeit von den Industrieländern und verwiesen zunehmend darauf, sich nicht länger allein oder vorrangig auf die Zusammenarbeit mit den und auf die Hilfe der Industrieländer zu verlassen, sondern in steigendem Maße — sei es individuell als Einzelland oder kollektiv als Ländergruppe — eigene Anstrengungen zu unternehmen, um Antriebskräfte für wirtschaftliches Wachstum und gesellschaftliche Entwicklung vermehrt aus sich selbst heraus zu mobilisieren (Eigenpotential an Ressourcen und Fähigkeiten; Stichwort: kollektive Self-Reliance). Angesichts des gegen Ende der siebziger Jahre deutlich stagnierenden Nord-Süd-Dialoges über eine Neue Weltwirtschaftsordnung sowie des wachsenden Protektionismus und des verringerten Wirtschaftswachstums in den Industrieländern waren die Entwicklungsländer einem noch stärkeren Druck ausgesetzt; sie mußten gewissermaßen aus ihrer Not eine Tugend machen und in der „Süd-Süd-Option" einen „Ausweg“ aus der Misere der Nord-Süd-Beziehungen sehen
Historische Aspekte In ihren Augen handelte es sich hierbei weniger um einen gegen die Industrieländer gerichteten Akt der Konfrontation, sondern vielmehr um die Wahrnehmung einer historischen Emanzipationschance. Lange Zeiträume hindurch hatten die Gesellschaften der heutigen Dritten Welt infolge kolonialer Zentrum-Peripherie-Beziehungen und der aus diesen Beziehungen resultierenden „Feudalstruktur" des internationalen Systems keine eigenständigen Beziehungen untereinander aufnehmen und pflegen können. Nunmehr bot sich ihnen die Chance, im Zuge des Aufbaus der heutigen Süd-Süd-Beziehungen eben dies nachzuholen und dabei zum Teil wieder an die Tradition vorkolonialer Süd-Süd-Beziehungen anzuknüpfen. Denn lange bevor die Europäer den Gesellschaften der heutigen Dritten Welt die „Feudalstruktur'1 der Nord-Süd-Beziehungen aufzwangen, bestanden zwischen etlichen Vorläufern dieser Gesellschaften " durchaus vielfältige, intensive und dauerhafte Kommunikations-und Wirtschaftsbeziehungen:
„Der Fernhandel im vorkolonialen Asien und Afrika war ein System internationaler Spezialisierungen und lebhaften Austausches und beruhte weithin auf Massengütern. Dies läßt sich von der großen Zahl der Handelswege — zu Land und zur See —, der Anzahl der an die-sem Austausch beteiligten Länder, der Regelmäßigkeit der Reisen, der Größe der Schiffe, der Größe und Art der Reisewagen, der Art der getauschten Güter (wie Reis, Textilien, Salz, Pferde und Holz) und der großen Zahl der Händler und Handelsgesellschaften ableiten. ... Nach der Eröffnung der Kaproute nach Indien begannen die technologischen und Handelsbeziehungen im Süden abzubrechen. Die Süd-Süd-Verbindungen wurden nicht durch das produktive System oder die Handelsunternehmungen des Nordens zerstört, sondern durch die Überlegenheit in der Militärtechnik. Der Prozeß der Auflösung der alten Handels-und Transportverbindungen nahm in verschiedenen Teilen der Welt unterschiedliche Formen an ... Ab 1760 gab es ein beachtliches System des weltweiten Kolonialhandels. Seither wurden Rohstoffe aus allen Teilen der tropischen Welt nach Europa gebracht und es gab Bevölkerungsbewegungen von einem Teil der Welt in einen anderen, um Arbeitskräfte für die Plantagen zu haben. In vielen Teilen der Welt wurde die Bodennutzung entsprechend den Erfordernissen der europäischen Wirtschaft verändert Afrika, der größte Teil Südamerikas und ein Großteil von Asien wurden Außenstellen der industrialisierten Seemächte des Nordens als Rohstoff-und Nahrungsmittelquellen. Das koloniale Transportsystem wurde in erster Linie aufgebaut, um den militärischen, politischen und wirtschaftlichen Interessen der Kolonialmächte zu dienen."
Im Zuge dieser historischen Entwicklungen bildete sich die (von Galtung so genannte) „feudale Interaktionsstruktur" zwischen Metropole und Peripherie heraus.
Im Rahmen hermetisch abgeschlossener vertikaler Nord-Süd-Beziehungen ergaben sich erst im Gefolge der Dekolonisation im 20. Jahrhundert wieder neue Chancen zur Anknüpfung von Süd-Süd-Beziehungen und damit zur „Entfeudalisierung" internationaler Beziehungen (Horizontalisierung und Multilateralisierung des Verhältnisses Peripherie-Metropole einerseits und des Verhältnisses Peripherie-Peripherie andererseits). Zunächst blieben die frühen Süd-Süd-Beziehungen weitgehend auf informelle und sporadische Kommunikation zwischen Personen und Personengruppen im Kontext anti-kolonialer, nationalistischer Panbewegungen (z. B. Pan-Afrikanismus) und der afro-asiatischen Konferenzdiplomatie begrenzt In späteren Jahren formalisierten und verstetigten sich diese Beziehungen jedoch und institutionalisierten sich in regionalen (z. B. Organisation für die Einheit Afrikas) und regionenübergreifenden (z. B. Bewegung der Blockfreien) Organisationen. Im Rahmen vielfältiger, meist im regionalen/subregionalen Bereich verbleibender Integrations-und Kooperationsbestrebungen gab es neben diesen diplomatisch-politischen Süd-Süd-Beziehungen bald auch einen ersten, bescheidenen wirtschaftlichen Austausch zwischen den in die Unabhängigkeit entlassenen Staaten. In den siebziger Jahren erlangten dann die Süd-Süd-Beziehungen aus den bereits genannten Gründen heraus eine „neue" Qualität: Sie zeichneten sich nun durch eine auffällige Dynamik und Verdichtung sowie durch eine Ausdehnung ihrer geographischen Reich-und sektoralen Spannweite aus. In der historischen Perspektive stellen die gegenwärtigen Süd-Süd-Beziehungen also keineswegs eine gänzlich „neue" Dimension internationaler Beziehungen dar, sondern eher eine Rekonstruktion der alten, durch den Kolonialismus verschütteten bzw. blockierten Beziehungen in einem qualitativ veränderten historisch-politischen Zusammenhang (kapitalistisches Weltwirtschaftssystem).
Fragestellungen Vor diesem Problemhorizont der Süd-Süd-Beziehungen sollen nun einige Fragestellungen formuliert werden:
— Aus der Erkenntnis heraus, daß — historisch gesehen — die gegenwärtigen Süd-Süd-Beziehungen einen Emanzipationsakt der Entwicklungsländer darstellen, müßte gefragt werden, ob bzw. in welchem Maße diese Beziehungen bereits die überkommene „Feudalstruktur“ des internationalen Systems aufgelockert oder modifiziert, also strukturverändernde und/oder strukturbildende Kraft entfaltet haben? Könnten Süd-Süd-Beziehungen langfristig gar zu einem Substitut der Nord-Süd-Beziehungen werden oder können sie allenfalls eine Ergänzungsfunktion übernehmen? — Ferner müßte nach den Erfolgsbedingungen und -chancen eines weiteren Ausbaus kooperativer Süd-Süd-Beziehungen gefragt werden, wie er in den Vorstellungen von einer kollektiven Self-Reliance und der Süd-Süd-Kooperation (inklusive ECDC und TCDC) verankert ist?. Zur Beantwortung dieser Frage müßten vor allem der Wille und die Fähigkeit der Länder der Dritten Welt zur Organisierung, Solidarisierung und Machtausübung gegenüber den Industrieländern und zur Bewältigung von Problemen auch in ihren eigenen Reihen untersucht werden.
— Schließlich sollte auch danach gefragt werden, zu welchem Zweck und zu wessen Nutzen denn Süd-Süd-Beziehungen letztendlich überhaupt betrieben werden? Diese Frage hebt zentral auf die entwicklungspolitischen Ziele und Wirkungen von Süd-Süd-Beziehungen ab (kollektive Self-Reliance als alternative Entwicklungsstrategie), also auf eine Abschätzung ihres Beitrages zur Überwindung von Unterentwicklung. Zur Beantwortung dieser Frage gilt es vornehmlich die sozialen Träger und Nutznießer von Süd-Süd-Beziehungen (Staatsklassen und/oder andere Bevölkerungsgruppen?) auszumachen.
II. Zur Organisierung, Solidarisierung und Machtausübung der Entwicklungsländer gegenüber den Industrieländern
Organisation der Entwicklungsländer: „Gewerkschaft der Armen“
Süd-Süd-Beziehungen fanden und finden einen Ausdruck und Antrieb nicht zuletzt in der Aktivierung und Ausbreitung regionaler und überregionaler Organisationen Der Organisationsgrad der Entwicklungsländer nahm in den siebziger Jahren sichtlich zu und erhöhte ihre Kommunikations-und Handlungsfähigkeit. Ein sich verdichtendes Kommunikations-und Organisationsnetz ermöglichte den daran beteiligten Ländern in wachsendem Maße eine gemeinsame Koordinierung und Steuerung ihrer Interessen und Aktionen. Zwischenstaatliche (und auch transnationale) Organisationen wurden auf diese Weise in den Süd-Süd-Beziehungen zu Trägern institutionalisierter Kommunikation und Kooperation und dienten den Ländern der Dritten Welt in den Nord-Süd-Beziehungen als Instrumente syndikalistischer Gegenmacht („Gewerkschaft der Armen“, wie der tansanische Präsident Nyerere analog zu innergesellschaftlichen Verteilungskämpfen formulierte). Im Zuge ihrer effektiveren Organisierung wurde die Dritte Welt in den siebziger Jahren erstmalig zu einem eigenständigen und konfliktfähigen Akteur in den internationalen Beziehungen. Daran hatten zweifellos die Bewegung der Blockfreien und die „Gruppe der 77" den größten Anteil, die „arbeitsteilig“ eine gemeinsame Zusammenfassung und Artikulierung politischer und wirtschaftlicher Dritte-Welt-Interessen betrieben und so eine Art von „Koalition der Dritten Welt" bildeten die zum „Rückgrat" der „Gewerkschaft der Armen“ wurde. Innerhalb dieser Koalition zeichnete sich die Bewegung der Blockfreien durch eine größere thematische Spannweite (Ost-West-und Nord-Süd-Themen), und politische Dynamik (Pionierrolle bei der Erarbeitung und Propagierung der Konzepte der kollektiven Self-Reliance und Neuen Weltwirtschaftsordnung; Katalysator-Rolle innerhalb der „Gruppe der 77“) sowie durch einen höheren Grad an Exklusivität (genuine Eigenorganisation von ausgewählten Entwicklungsländern außerhalb des UN-Systems) aus Die „Gruppe der 77" war hingegen stärker thematisch spezialisiert (Nord-Süd-Themen), agierte innerhalb des UN-Systems (im Rahmen des Gruppensystems der UNCTAD) und war dementsprechend auch in ihrer Mitgliedschaft universaler ausgerichtet Ihren spektakulärsten Erfolg erzielte diese „Koalition der Dritten Welt“ wohl mit der Herbeiführung des Nord-Süd-Dialoges über die Errichtung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung.
Ohne die unterstützende Mitwirkung der OPEC allerdings wäre dieser Erfolg kaum möglich gewesen. Das Vorgehen des Erdölkartells zu Anfang der siebziger Jahre demonstrierte den übrigen Entwicklungsländern eindringlich die Möglichkeit und den Erfolg von Machtausübung im Zuge von Solidarisierung, Organisierung und gemeinsamer Aktion Dieses handlungsorientierte Modell effektiver Süd-Süd-Kooperation wurde seither auf die Dritte Welt als Ganzes übertragen und gab auch der Formierung der „Koalition der Dritten Welt" einen wichtigen politisch-psychologischen Anstoß. Doch trotz dieser unbestreitbaren bisherigen Erfolge einzelner Organisationen von Entwicklungsländern (OPEC) und der „Koalition der Dritten Welt" insgesamt sind in den letzten Jahren schwerwiegende organisatorische Defizite der Dritten Welt erkannt worden. In einer „Ära der Verhandlun-gen“, die durch eine wachsende Komplexität der Verhandlungsgegenstände und durch die zeitliche Diskontinuität sowie institutioneile Mehrgleisigkeit der Verhandlungsprozesse gekennzeichnet sei, so hoben Politiker und Wissenschaftler der Dritten Welt (u. a. Tansanias Staatspräsident Nyerere, Commonwealth-Generalsekretär Ramphal und der dem „Forum Dritte Welt" angehörende Mahbub Ul Haq) hervor bedürften die Entwicklungsländer eines permanenten „Sekretariats der Dritten Welt“; darunter wäre eine durch administrativ-technische Sachkompetenz und Leistungsfähigkeit ausgewiesene Service-Organisation zu verstehen, die gegenüber den mit effizienten Verhandlungsbürokratien und planerischen „Denkfabriken“ gut ausgestatteten Industrieländer-Wirtschaftsblöcken der OECD und des COMECON ein organisatorisches Gegengewicht bilden soll.
Doch trotz wiederholter Aufrufe zur Einrichtung eines solchen Sekretariats ist es bisher nicht zu einer Realisierung des Projektes gekommen. Wenngleich auch in den letzten Jahren eine deutliche Tendenz zu einer Verstetigung und Formalisierung der Organisationen der Entwicklungsländer unverkennbar war, so scheint doch auch weiterhin die große Mehrheit dieser Länder eine Präferenz für eher „weiche" (lockere) Organisationsstrukturen (mit Abstimmungsmodalitäten nach dem Konsensprinzip, mit wechselndem Turnus des Vorsitzes und der Konferenzorte sowie mit dem Verzicht auf ständige Stäbe) zu haben In dieser Bevorzugung scheint u. a. eine große Empfindsamkeit der Entwicklungsländer in Bezug auf eine mögliche Einschränkung ihrer erst frisch erworbenen Souveränität und formalen Gleichheit zum Ausdruck zu kommen, die sie im Rahmen einer „härteren" Organisationsstruktur offenbar von Seiten mächtigerer und einflußreicherer Staaten befürchten.
Solidarität der Entwicklungsländer:
Einheit trotz Vielfalt?
Bei der Frage nach der Solidarität der „Gewerkschaft der Armen" muß man davon ausgehen, daß die Länder der Dritten Welt zwar einerseits in ihrer Politik gegenüber den Industrieländern ein Bild der Geschlossenheit abgeben, andererseits jedoch einem Prozeß fortschreitender sozio-ökonomischer Differenzierung unterliegen, der begründete Zweifel an der Dauerhaftigkeit und Tragfähigkeit ihres Zusammenhalts aufkommen läßt.
Neuere Untersuchungen zum Differenzierungsprozeß in der Dritten Welt prognostizieren für die Zukunft wachsende wirtschaftliche Interessengegensätze zwischen den Entwicklungsländern: „Eine Beurteilung der ... Entwicklungsländer nach ihrem Wachstums-, Industrialisierungsund Rohstoffpotential... verdeutlicht, daß die wirtschaftlichen Probleme und Interessen einzelner Gruppen von ihnen höchst unterschiedlich sind: Etwa20 verhandlungsstarke Akteure besitzen subregionale Einflußzonen, sind regionale Führungsmächte oder können dies bald werden und prägen die Süd-Süd-Beziehungen ... Mehr als hundert Nationalstaaten dagegen sind und bleiben schwache Akteure. Einige ... werden sich um Integrationsprozesse bemühen, jedoch auf größte Schwierigkeiten stoßen, da sie keine gemeinsame Agglomerationsachse besitzen ... Wieder andere werden sich an Länder im Industrialisierungsprozeß ankoppeln, ohne dadurch viel zu gewinnen. Wo aber intraregionale Industrie-und Machtzentren fehlen oder schwach entwickelt sind, werden externe Dominationszentren für Klein-und Kleinststaaten ... bestimmend bleiben, etwa Frankreich in Schwarzafrika."
Im Gefolge der Erdöl-Politik der OPEC-Länder schien sich auch die Erdölpreisexplosion in den siebziger Jahren als eine Belastung für die Solidarität der Entwicklungsländer zu erweisen. Die erdölexportierenden Länder erzielten ihre Einkommenssteigerungen (aus erhöhten Erdölpreisen) ja auch auf Kosten der nicht über Erdöl verfügenden (Entwicklungs-) Länder, denen sie erhebliche finanzielle Mittel entzogen und die sie vor schwierige Anpassungsprobleme stellten. Daß die Ol-preisfrage trotz gelegentlicher Kritik (u. a. auf der Blockfreien-Gipfelkonferenz von Havanna und der UNCTAD-Konferenz von Manila im Jahre 1979) dennoch nicht zur „Gretchenfrage" der Solidarität der Dritten Welt wurde, ist letztlich nur darauf zurückzuführen daß die Nicht-OPEC-Länder unterschiedlich hart von den Preissteigerungen betroffen wurden (zwei Drittel aller Ölimporte von Entwicklungsländern entfallen auf nur wenige Großabnehmer, die sich zumeist im Industrialisierungsprozeß befinden und ihre höheren Ölrechnungen zu einem gut Teil durch ihre Partizipation an dem Importboom der mittelöstlichen OPEC-Länder an Waren, Dienstleistungen und Arbeitskräften wieder ausgleichen konnten) und daß die OPEC-Länder die Vielzahl der kleineren Ölimporteure in der Dritten Welt durch die Umwandlung des zunächst exklusiv angelegten Energie-Dialogs zwischen Nord und Süd in einen allgemeinen Rohstoff-und Entwicklungs-Dialog zu besänftigen vermochten und ihnen auch (als Ersatz für die eigentlich geforderten präferentiellen ölpreise) durch eine Steigerung ihrer bi-und multilateralen Entwicklungshilfe (zwischen 1973 und 1980 sollen insgesamt für ca. 39 Mrd. $Entwicklungshilfekredite und nichtrückzahlbare Leistungen ausgezahlt worden sein, zuzüglich 19, 3 Mrd. $für kommerzielle Kredite und Investitionen) entgegenkamen. Angesichts dieser Lage bezweifeln skeptische Beobachter die Dauerhaftigkeit und Tragfähigkeit der Solidarität der Entwicklungsländer. Während einige zu erkennen glauben, „daß sich Tendenzen zu einer dreischichtigen Struktur der kapitalistischen Weltökonomie verstärken und eine , Semi-Peripherie'von Entwicklungsländern eine Mittelschicht zwischen Metropole und Peripherie bildet" also gewissermaßen eine wachsende „Bourgeoisierung" der OPEC-und Schwellenländer und de-ren Kooptation als „neureiche Mittelschicht" in den Kreis der Wohlhabenden und Privilegierten der Weltgesellschaft vorhersagen kritisieren andere die weiter anhaltende „Einheitsfrontstrategie" und „Blockbildung" der Dritten Welt als den neueren Entwicklungen unangemessene Erscheinung Demgegenüber wird ein „differenzierender Ansatz" (Konzepte der „Graduierung", „Regionalisierung“, „Klassifizierung") propagiert, der die unterschiedlichen Probleme je verschiedener Entwicklungsländer-Gruppen adäquater anpakken und lösen soll. Dabei wird betont, daß dieser Ansatz keineswegs ein Aufbrechen der Solidarität der Dritten Welt zum Ziel habe, sondern nur der Entlastung des stagnierenden globalen Nord-Süd-Dialoges dienen solle.
Doch genau ein solches Unterlaufen der Solidarität der Dritten Welt, eine neue „Teile-und Herrsche" -Strategie der Industrieländer, wird von Vertretern der Entwicklungsländer in solchen Ansätzen und Konzepten gesehen. Sie betonen (wie etwa Mitglieder des „Forums Dritte Welt“), daß ungeachtet der fortschreitenden Differenzierung der Dritten Welt doch auch weiterhin eine fundamentale, historisch gewachsene „strukturelle Abhängigkeit“ aller Entwicklungsländer von den Industrieländern gegeben sei, die gemeinsame Interessen die-ser Länder begründe (Reduzierung und letztliehe Aufhebung der strukturellen Benachteiligung der Dritten Welt im internationalen System) und damit auch weiterhin eine solide interessenpolitische Grundlage für die Solidarität der Dritten Welt abgäbe Darüber hinaus schlossen sie sich auch der verhandlungsstrategischen Argumentation Nyereres an, „daß die Einheit sogar der mächtigsten Untergruppen in der Dritten Welt nicht ausreicht, um ihre Mitglieder im Weltwirtschaftssystem zu echten Agierenden anstelle von Reagierenden zu machen. Die Einheit der gesamten Dritten Welt ist notwendig, um den grundlegenden Wandel in den jetzigen Wirtschaftsvereinbarungen zu erreichen". Das Beispiel der OPEC habe gezeigt, „daß eine einzige Gewerkschaft — so mächtig sie auch ist —, die nur einen Teil eines ganzen Unternehmens abdeckt, nicht die grundlegende Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer verändern kann" Bei der wachsenden Vielzahl und Unterschiedlichkeit der Interessen in der Dritten Welt bedürfte es zum Erhalt der Süd-Süd-Solidarität in der Zukunft allerdings vor allem geeigneter Verfahren für einen einigermaßen gerechten Interessenausgleich zwischen den Entwicklungsländern, und zwar abgehoben von einer „Mythologie der Dritten Welt mit eigener Sprache, Symbolik und Glaubensartikeln" Dies könnte möglicherweise durch eine ausgewogene Kombination von global geschnürten „Paketlösungen" einerseits, die tendenziell eine Vielzahl von gemeinsamen Interessen der Entwicklungsländer vereinen, und von regional-, gruppen-und problemspezifisch differenzierten „Stückwerkslösungen" andererseits erreicht werden. Zusätzlich könnte ein System kompensatorischerVereinbarungen dafür sorgen, bestimmte Länder und/oder Ländergruppen für im Verlauf von solidarischen Verhandlungen und Aktionen erlittene Verluste zu entschädigen.
Macht der Entwicklungsländer:
Mythos und Realität Vor dem Hintergrund der Energiekrise wurde in den siebziger Jahren in den Industrieländern vielfach die apokalyptische Vision eines globalen kriegerischen Nord-Süd-Konflikts beschworen und über die „Macht der Dritten Welt“ gestritten. Die erfolgreiche Ausübung von „Wirtschaftsmacht" durch die OPEC ließ insbesondere das Droh-und Zwangspotential der Entwicklungsländer in der internationalen Rohstoffpolitik (Rohstoffkartelle) als relativ groß erscheinen
Mittlerweile jedoch hat diese aufgeregte und zu pauschalen Übertreibungen neigende Diskussion der „Macht der Dritten Welt" wieder einer nüchterneren und differenzierteren Betrachtungsweise Platz gemacht. Die Grenzen dieser Macht glaubte man vor allem in den folgenden Faktoren zu erkennen:
— in der Unwahrscheinlichkeit einer systematischen und gezielten Machtausübung durch die Dritte Welt als geschlossen handelnde Kraft; allenfalls einzelne Gruppen von Entwicklungsländern (wie z. B. die OPEC) seien zu einem solchen Handeln fähig;
— in dem Fortbestehen der existenziellen materiellen Abhängigkeit der meisten Entwicklungsländer von den Industrieländern, die einen „internationalen Generalstreik" der ersteren letztlich kontraproduktiv für diese mache (wirtschaftliche Kosten, Systemzusammenbrüche)
— in der Verringerung der „Wirtschaftsmacht" der Entwicklungsländer in der internationalen Rohstoffpolitik infolge wachsender Interessengegensätze zwischen rohstoffexportierenden Entwicklungsländern (z. B. in bezug auf Marktanteile, zwischen alten und neuen Anbietern), organisatorischer Defizite von Produzentenvereinigungen, der sinkenden Nachfrage und wachsenden Nutzung von Ersatz-rohstoffen (Substitution) auf Seiten der Industrieländer sowie der zunehmenden Erschließung neuer Rohstoffvorkommen außerhalb der Dritten Welt. All diese Entwicklungen rechtfertigen es nicht, „allzu euphorische Hoffnungen auf das Emanzipations-und Entwicklungspotential der rohstoffexportierenden Entwicklungsländer durch Produzentenvereinigungen zu legen“
— in der Erkenntnis, daß der gefürchteten „Macht der Dritten Welt" vielfach nur ein „Image von Macht" zugrunde lag, die Macht der Entwicklungsländer also im wesentlichen eine Funktion der Perzeption ihrer Macht durch die Industrieländer war
Doch sollte dieses Aufzeigen gewisser Grenzen der Macht der Dritten Welt nicht leichtfertig dazu verleiten, das Machtgewicht der Entwicklungsländer in den internationalen Beziehungen zu unterschätzen. Wie der Be-griff des „Macht-Image" bereits andeutet, darf Macht nicht unbedingt nur mit materieller Überlegenheit, mit Militär-und Wirtschaftspotential, gleichgesetzt werden; Macht besteht auch in der Fähigkeit, „jemand anderen durch die glaubhafte Drohung mit Sanktionen zu einem von ihm an sich abgelehnten Verhalten zu bringen, weil er die in Aussicht gestellten Zwangsmaßnahmen als noch unangenehmer bewertet als das Nachgeben gegenüber dem Verlangen des Mächtigen'' -In diesem Sinne kann auch das Image von Macht effektive Macht sein
Eine solche Wirkung, durchsetzt mit Elementen wirtschaftlicher Macht (OPEC), lag im wesentlichen dem gegen den Willen der Industrieländer von den Entwicklungsländern herbeigeführten Nord-Süd-Dialog über die Errichtung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung zugrunde.
Doch der wichtigste Hebel zur Machtausübung ist für die Entwicklungsländer ihre wachsende wirtschaftliche Integration in das kapitalistische Weltsystem. Im Zuge-dieser Integration wird die Macht der Dritten Welt durch eine komplexe „Verflechtung von Schwäche und Stärke“ begründet, bei der die „ökonomische Schwäche der unterentwickelten Länder ... gleichzeitig ein Element der Stärke“ ist, „weil sich die Industrieländer von einem gewissen Grad der Verelendung der Dritten Welt ab Gegenstrategien zur Verbesserung der Situation ... überlegen müssen, gerade weil die unterentwickelten Länder ökonomisch schwach sind“ Diese Kombination von politischer Schwäche, politischen Einflußmöglichkeiten, ökonomischer Stärke und Schwäche der Dritten Welt kann nur erklärt werden, „wenn die Struktur des internationalen Systems als Hierarchie von Gesellschaften unterschiedlicher Struktur und unterschiedli-chen Entwicklungsstandes begriffen wird, in der der ökonomische Prozeß der Internationalisierung der Produktion gesellschaftliche Situationen schafft, die verschiedene Interessenslagen und Konfliktpotentiale bedingen und deren Manifestierung in der Form befürchteter oder vorhandener Konflikte die Industrieländer als Privilegierte des internationalen Systems zu Konzessionen oder Gegenmaßnahmen im Interesse der Stabilisierung des Gesamtsystems veranlaßt“
Also gerade aufgrund ihrer wirtschaftlichen Verflechtung mit den Industrieländern hätten die Entwicklungsländer eine Chance, die „umgekehrte Abhängigkeit" und damit die Verwundbarkeit der Industrieländer in ausgewählten Bereichen in Erfahrung zu bringen und sodann als Einzelland, als Ländergruppe oder als Dritte Welt insgesamt ihre „Wirtschaftsmacht" (als Rohstofflieferanten, als Märkte und Anbieter von Arbeitskräften), „Chaosmacht“ (Drohung mit Krisen und Kriegen) und „Vetomacht" (Verweigerung konstruktiver Mitarbeit bei der Lösung globaler Probleme) zum Einsatz zu bringen
So läßt sich abschließend (in historischer Analogie zu den europäischen Gewerkschaftskämpfen innerhalb der bürgerlichen Nationalstaaten) formulieren: „je stärker die wirtschaftliche Verweigerungsmacht und das politische Drohpotential von Entwicklungsländern als Folge ihrer zunehmenden Integration in eine differenzierte Weltarbeitsteilung werden, desto größer sind ihre Chancen, verteilbare Systemgewinne und Mitspracherechte mittels Verfahren kompetitiver Kooperation auch durchzusetzen. Die OPEC-Staaten bieten hierfür das bislang überzeugendste Beispiel.“
Ob dieses Machtpotential jedoch genutzt werden kann und wird, scheint nicht zuletzt von der Aufrechterhaltung der Solidarität und einer Verbesserung der Organisation der Dritten Welt abzuhängen.
III. Zusammenarbeit der Entwicklungsländer zur Überwindung von Unterentwicklung
Kollektive Self-Reliance Kollektive Self-Reliance kann zugleich als Strategie und Ideologie kooperativer Süd-Süd-Beziehungen angesehen werden: Strategie im Sinne eines Solidaritätspaktes zwischen Ländern der Dritten Welt, der auf eine Reform der Weltwirtschaftsordnung abzielt, die kollektiv und gezielt herbeigeführt werden soll; Ideologie im Sinne einer Identitätssuche der Entwicklungsländer im Zuge einer . Abkehr von historisch gewordenen Mustern wirtschaftlicher, politischer und kultureller Abhängigkeit"
Als alternative Entwicklungsstrategie will kollektive Self-Reliance durch gemeinsame Anstrengungen der Entwicklungsländer vor allem eine grundlegende Umorientierung von deren Wirtschaftspolitiken fort vom Weltmarkt und hin auf die Binnen-und Regional-märkte der Dritten Welt bewirken. Dabei soll sie den Gesellschaften der Dritten Welt letztendlich eine nicht fremdbestimmte Existenz und Entwicklung ermöglichen, und zwar auf der Basis einer eigenständigen kulturellen Identität, eines autonomen politischen Entscheidungs-und Steuerungsapparates sowie einer Nutzung lokal vorhandener sozio-ökonomischer Ressourcen und technologischer Fähigkeiten
Das Konzept der kollektiven Self-Reliance zeichnet sich durch seine „Zweidimensionalität“ aus: Zum einen soll es durch die (bereits diskutierte) Organisierung, Solidarisierung und Machtausübung der Entwicklungsländer zu einer Neuen Weltwirtschaftsordnung führen, aber gleichzeitig und in enger Verbindung mit dieser ersten Dimension auch durch verstärkte (wirtschaftliche und technische) Süd-Süd-Kooperation (ECDC und TCDC) zur Über-windung von Unterentwicklung beitragen.
Kollektive Self-Reliance ist bislang nicht zum tragenden Entwicklungsmodell der Dritten Welt geworden; es stellt jedoch immerhin ein Alternativmodell zu der vorherrschenden weltmarkt-assoziativen Entwicklung dar, „das in seiner radikalen Form eines völligen Abhängens" der Entwicklungsländer von den Industrieländern wegen der damit verbundenen Kosten wohl im Normalfall nicht zu verwirklichen ist, das aber dennoch als Idealtypus für partielle Strategien und als allgemeines Leitbild durchaus von Bedeutung sein kann
Süd-Süd-Kooperation (ECDC, TCDC)
Wirtschaftliche und technische Zusammenarbeit zwischen Entwicklungsländern gab es auch schon vor der Intensivierung der Süd-Süd-Beziehungen in den siebziger Jahren. Diese Zusammenarbeit vollzog sich vornehmlich im Rahmen einer Vielzahl regionaler/subregionaler Kooperations-und Integrationsansätze (Zollunionen, Gemeinsame Märkte), mit denen vor allem die die Politik der Importsubstitution behindernde Enge nationaler Märkte überwunden werden sollte. Doch u. a. infolge unangemessener Modellierung (Europäische Gemeinschaft), des Ausbleibens von Wachstumsimpulsen und ungleicher Nutzenverteilung zwischen den beteiligten Ländern wurden die praktischen Erfahrungen mit dieser Wirtschaftskooperation überwiegend negativ eingeschätzt
Zur Wiederbelebung der Zusammenarbeit zwischen Entwicklungsländern in den siebziger Jahren bedurfte es daher eines veränderten, neuen Begründungszusammenhanges: die kollektive Self-Reliance gab hierfür die theoretische Grundlage ab, die Wachstumsschwäche und der Protektionismus der Industrieländer (Bedeutungsminderung der Industrieländer als Hauptstimulanten des Wirtschaftswachstums in den Entwicklungsländern) sowie das Aufkommen neuer Wirtschafts-und Finanzzentren in der Dritten Welt (Schwellen-, und OPEC-Länder mit neuen Angebots-und Nachfragepotentialen) stellten die materielle Basis bereit, und die Stagnation des Nord-Süd-Dialogs steuerte den politischen Impetus bei. Außerhalb der bereits vorhandenen regionalen/subregionalen wirtschaftlichen Integrationsansätze hatte die Bewegung der Blockfreien seit 1972 (Außenministerkonferenz von Georgetown) ein regionenübergreifendes . Aktionsprogramm für wirtschaftliche Zusammenarbeit“ in Angriff genommen. Seither schufen die Blockfreien ein institutionell-organisatorisches Netzwerk für die Zusammenarbeit zwischen ihren Mitgliedern (und anderen Entwicklungsländern) in einer wachsenden Zahl wirtschaftlicher Sektoren (z. B. Handel, Fischereiwesen, Rohstoffe, Entwicklungsfinanzierung). Die Gruppe der 77 widmete sich infolge ihrer langjährigen Schwerpunktorientierung auf die Nord-Süd-Beziehungen erst in späteren Jahren der Süd-Süd-Kooperation (1976 Konferenz in Mexiko und 1979 Konferenz in Arusha/Tansania). Ihre bisher wichtigste Konferenz hierzu hielt sie im Mai 1981 in Caracas ab; dort legte sie auf hoher politischer Ebene sieben Schwerpunktsektoren wirtschaftlicher Zusammenarbeit fest (Handel, Technologie, Ernährung und Landwirtschaft, Energie, Rohstoffe, Finanzierung und Industrialisierung) und richtete eine institutionell-organisatorische Ebene zur Durchführung dieser Zusammenarbeit ein. Ob die Konferenz von Caracas, wie der indische Außenminister Rao meinte, „ein Katalysator für Entscheidungen" sein wird, „die den Begriff der kollektiven Self-Reliance aus dem Reiche der Theorie zur praktischen Verwirklichung führen" muß erst noch abgewartet werden Dies gilt auch für die sich ebenfalls (neben Nord-Süd-Themen) der Süd-Süd-Kooperation widmenden (im Frühjahr 1982 ad hoc von der indischen Regierung einberufenen) „Konsultationen von Delhi" Für die Zukunft ist aber möglicherweise eine „Konvergenz" der bislang noch getrennt voneinander laufenden Süd-Süd-Aktivitäten der Blockfreien und der Gruppe der 77 zu erwarten, welche die Knüpfung eines die Dritte Welt insgesamt umgreifenden institutionell-organisatorischen Netzwerks für wirt-schaftliche Zusammenarbeit zur Folge haben könnte
Institutionell abgehoben von diesen Anstrengungen zu verstärkter Süd-Süd-Kooperation laufen seit einigen Jahren Bemühungen auch im Rahmen internationaler Organisationen. Unter dem Forderungsdruck der Entwicklungsländer begannen verschiedene internationale Organisationen damit, sich im Bereich der Süd-Süd-Kooperation zu engagieren und die Industrieländer zur politischen und finanziellen Unterstützung dieser Kooperation zu verpflichten. Die UNCTAD widmete sich der Wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Entwicklungsländern (ECDC) das UNDP förderte die Technische Zusammenarbeit zwischen Entwicklungsländern (TCDC) während das UN-Institut für Ausbildung und Forschung (UNITAR) ein Forschungsprogramm über die Regionale Zusammenarbeit zwischen Entwicklungsländern (RCDC) in Angriff nahm, um den global und sektoral orientierten Konzepten der ECDC und TCDC ein „regionalistisches" Komplement (im Sinne eines Versatzstückes zwischen globaler und nationaler Ebene) beizufügen
Zur Einlösung von ECDC müssen die Entwicklungsländer „verstärkten Handel untereinander treiben, was eine gegenseitige Marktöffnung durch Liberalisierung bzw. sogar Präferenzierung des Handels ... voraussetzt. Weiterhin ist die Zusammenarbeit durch gemeinsam abgestimmte Währungs-und Kreditpolitik, durch die Förderung von gemeinsamen Industrialisierungs-bzw. Agrarentwicklungsvorhaben, durch die Förderung von multinationalen Gemeinschaftsunternehmungen im Binnen-und Außenhandel sowie durch Verstärkung der gemeinamen Infrastrukturentwick-lungspolitik erreichbar'' Als vordringliche Vorhaben der UNCTAD/ECDC-Aktivitäten gelten derzeit die Schaffung eines Allgemeinen Systems von Handelspräferenzen (GSTP), die Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Staatshandelsorganisationen der Entwicklungsländer (STO) und die Gründung multinationaler Marketing-Unternehmen der Entwicklungsländer (MME).
Die gewichtigste Kritik an der ECDC bezieht sich auf die (räumliche und sachliche) „Überdimensionierung" vieler Projekte, aus der sich Implementierungsprobleme ergeben, „weil es ein grundsätzliches Spannungsverhältnis gibt zwischen der notwendigen und möglichen Intensität wirtschaftlicher Zusammenarbeit einerseits und den mit zunehmender Zahl der beteiligten Staaten steigenden politischen und wirtschaftlichen Interessendivergenzen und organisatorischen Koordinierungs-und Steuerungsproblemen andererseits" So scheint beispielsweise gerade das allgemeine System von Handelspräferenzen den „universalistischen Anspruch" der ECDC-Programmatik zu repräsentieren: Zwar gibt es durchaus — zumindest vom Handelsvolumen her — noch ein beträchtliches Liberalisierungspotential im Süd-Süd-Handel, doch kann dabei nicht leichtfertig an den Schwierigkeiten einer solchen Liberalisierung (vor allem am Protektionismus im Handel der Entwicklungsländer untereinander!) vorbeigesehen werden.
Im Hinblick auf wirtschaftliche Integrationsprojekte in der Dritten Welt wurde ähnliche Skepsis geäußert und festgestellt, „daß die zwischenstaatliche Zusammenarbeit ... dann am erfolgreichsten läuft, wenn ganz konkrete und abgegrenzte Zielsetzungen verfolgt werden, die den einzelnen Teilnehmern klar nachweisbare Vorteile bringen. Hier kommt allen Gemeinschaftsprojekten zur Verbesserung der Infrastruktur im Verkehrs-und Produktionsbereich eine besondere Bedeutung zu"
TCDC soll durch den Austausch von Wissen, Erfahrungen und Fertigkeiten, durch die Erarbeitung gemeinsamer Leitlinien für die nationalen Technologiepolitiken der Entwicklungsländer, durch die gemeinsame Nutzung von Forschungseinrichtungen und den gemeinsamen Ausbau des Erziehungs-und Ausbildungswesens die technologische Abhängigkeit der Entwicklungsländer von den Industrieländern verringern und eigenständige Technologie-und Wissenschaftspotentiale für den Entwicklungsprozeß mobilisieren
Die bisherige Ausprägung der TCDC-Aktivitäten läßt jedoch begründete Zweifel daran aufkommen, daß diese Ziele erreicht werden: Zum einen weist TCDC eine starke Beteiligung der technologisch (besonders in zukunftsträchtigen Sektoren wie Meerestechnik, alternative Energietechnologie, Substitutionsforschung etc.) führenden Industrieländer auf, die auf eine Einpassung der TCDC in vorwiegend bilateral betriebene (traditionelle) „Technische Hilfe'-Programme abzielt. Wenngleich das Engagement der Industrieländer auch grundsätzlich positiv zu bewerten ist, so besteht dabei doch die große Gefahr einer Verstrickung der Entwicklungsländer in neue Formen technologischer Abhängigkeit. Eine Ausweitung von TCDC-orientierten Programmen der Industrieländer erscheint daher nur dann sinnvoll, „wenn sichergestellt ist, daß die betreffenden Entwicklungsländer selbst direkten Einfluß auf deren Konzipierung und Durchführung haben". Zum anderen ist bei der TCDC eine deutliche Tendenz zur Asymmetrie und Hierarchisierung in den Süd-Süd-Beziehungen zu erkennen. Als die wichtigsten Nutznießer der TCDC-Aktivitäten können bislang technologisch bereits fortgeschrittene Entwicklungsländer (wie z. B. Indien) und industrielle Schwellenländer (wie z. B. Brasilien) gelten.
IV. Bilanz und Perspektiven der Süd-Süd-Beziehungen
„Entfeudalisierung" internationaler Beziehungen? In welchem Maße haben nun die Süd-Süd-Beziehungen bereits zu einer Auflockerung oder Veränderung der „Feudalstruktur" des internationalen Systems beigetragen? Die bislang schwerwiegendste Erschütterung dieser Struktur bewirkte wohl die Organisation erdölexportierender Länder in den siebziger Jahren. Durch die verstärkte Kommunikation und Kooperation der Entwicklungsländer im Rahmen regionenübergreifender Organisationen wurde diese Struktur auch auf der politisch-organisatorischen Ebene konterkariert. Auch die Süd-Süd-Kooperation könnte in wachsendem Maße zu einer relativen Bedeutungsminderung dieser Struktur beitragen.
Die Verdichtung der Süd-Süd-Beziehungen in den siebziger Jahren traf zusammen mit einer Lockerung der oligarchischen Weltordnung überhaupt, bedingt und gekennzeichnet vor allem durch die Herausbildung neuer regionaler Vormächte in der Dritten Welt mit eigenen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Gravitationsfeldern Allerdings wurden und werden diese neuen, regionalen Vormächte vielfach noch im Sinne von „Subzentren" oder . Submetropolen" weniger als eigenständig handelnde Akteure denn als „Zwischenträger", „Stellvertreter" und willfährige „Instrumente"
der Industrieländer betrachtet. Neueren Untersuchungen zufolge kann die Entwicklung neuer „Mittelmächte" in der Dritten Welt aber eher „als allmählicher Lösungsprozeß einiger Staaten aus dem Abhängigkeitsverhältnis von den ... Industrieländern" angesehen werden denn als „eine Reproduktion dieses Abhängigkeitsverhältnisses auf neuer, indirekterer Stufe
Gerade die neuen Wirtschafts-und Machtzentren in der Dritten Welt mit ihren erweiterten außenwirtschaftlichen und außenpolitischen Handlungsspielräumen erlaubten auch anderen Entwicklungsländern im Rahmen der Süd-Süd-Beziehungen eine stärkere Diversifizie-rung ihrer Außenbeziehungen und die Wahrnehmung alternativer Optionen. So konnten sich beispielsweise Kleinstaaten der Karibik und Mittelamerikas gegenüber den USA an die neuen Regionalmächte Mexiko und Venezuela anlehnen, die ein Interesse an der Zurückdrängung des hegemonialen Einflusses der USA in der Region hatten. Der Eintritt der afrikanischen Staaten in eine enge Kooperation mit den arabischen Olstaaten bewirkte immerhin, daß „tendenziell eine Diversifizierung sowie eine quantitative Erweiterung der politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Beziehungen der afrikanischen Staaten erreicht wurde"
Der Untersuchung Eßers zufolge werden die neuen regionalen Vormächte in der Dritten Welt (z. B. Brasilien, Indien, Nigeria) in den kommenden Jahren die intra-und interregionalen Süd-Süd-Beziehungen maßgeblich tragen und prägen Ob bzw. in welchem Maße gegenüber diesen eher „naturwüchsigen", auf „Nationalinteressen“ beruhenden und mit einer Tendenz zur Asymmetrie und Hierarchisierung verbundenen Süd-Süd-Beziehungen sich die eher „sozialtechnischen", (gemäß dem Konzept kollektiver Self-Reliance) dem Modell einer vollständig horizontalen Dritten Welt (die von Ländern gebildet wird, die nicht nur zu wechselseitigem, sondern auch gerecht verteiltem Nutzen eine Interaktion eingehen) anhängenden Süd-Süd-Beziehungen durchsetzen können und werden, muß noch dahingestellt bleiben. Zumindest sollte davor gewarnt werden, allzu frühzeitig schon „Pyramiden kollektiver Self-Reliance" errichten zu wollen vielmehr sollte man sich vorerst damit begnügen, kleine „Bausteine" kooperativer Süd-Süd-Beziehungen zusammenzutragen, um damit erste, aber tragfähige „Brücken über den Süden" zu schlagen. Um ein wirklich „süd-zentriertes Wachstum" in der Dritten Welt zu erzielen, bedürfte es allerdings noch weitaus massiverer wirtschaftlicher und politischer Eigenanstrengungen und intensiverer Süd-Süd-Dialoge als bisher Substitution oder Komplement der Nord-Süd-Beziehungen? Die in den Industrieländern mancherorts verbreitete Furcht vor einer Ablösung der Nord-Süd-Beziehungen durch die Süd-Süd-Beziehungen erscheint weit übertrieben. Wenngleich mit den Süd-Süd-Beziehungen auch konfrontative und dissoziative Elemente in die Nord-Süd-Beziehungen eingedrungen sind und auch mögliche substitutive Effekte der ersteren auf die letzteren (z. B. im Bereich des Süd-Süd-Handels) nicht gänzlich auszuschließen sind, so scheint eine verstärkte politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit der Entwicklungsländer untereinander letztlich doch auch im langfristigen Eigeninteresse der Industrieländer zu liegen.
Handfeste wirtschaftliche Interessen der Industrieländer an der Süd-Süd-Kooperation wurden in den letzten Jahren zunehmend erkannt. So wies z. B. die Internationale Kommission für Entwicklungsfragen (sog. „BrandtKommission“) darauf hin, daß die beschleunigte Entwicklung des Südens — im Zuge intensivierter Süd-Süd-Beziehungen — letztlich auch dem Norden nützen muß: „in Form von größeren Möglichkeiten in einer erweiterten und blühenden Weltwirtschaft“ Ähnlich positiv schätzte auch das Deutsche Institut für Wirtschaft die Süd-Süd-Kooperation ein: „Dies gilt insbesondere im Hinblick auf den . klassischen'Zusammenhang zwischen Marktgröße, Industrialisierung, Außenhandel und Kapital-bewegungen: Durch intensivierte Zusammenarbeit könnten die Entwicklungsländer auch für die Industrieländer zu attraktiveren Partnern werden."
Eßer schließlich sprach den Süd-Süd-Beziehungen in einem umfassenderen Sinne sogar eine weltwirtschaftliche und weltpolitische Entlastungs-und Stabilisierungsfunktion, also eine Art von „Friedens-Funktion“ im Sinne einer regionalistischen Schaffung von „Frieden durch Integration und Assoziation“ zu. Ihm zufolge ließen sich die Interessengegensätze zwischen den Industrieländern und den Ländern im Industrialisierungsprozeß sowie zwisehen diesen und den übrigen Entwicklungsländern am ehesten über eine stärkere Regionalisierung der Weltwirtschaft und -politik abbauen
Beitrag zur Überwindung von Unterentwicklung? Abschließend soll nach dem entwicklungspolitischen Nutzen von Süd-Süd-Beziehungen gefragt werden. Die Steigerung des Ressourcenzuflusses aus Süd-Süd-Beziehungen stellt zwar — wie bei den Nord-Süd-Beziehungen — eine Entwicklungschance dar, kann aber auch vergeudet werden, sei es z. B. durch (unproduktive) Waffenkäufe oder durch Luxus-konsum einer Staatsklasse
Die Tatsache, daß Süd-Süd-Beziehungen im Kern Beziehungen zwischen Staaten sind und von Staatsklassen getragen werden, läßt begründete Zweifel an einer entwicklungspolitischen Nutzung von Süd-Süd-Beziehungen im Interesse breiter Bevölkerungsgruppen aufkommen. Eine Staatsklasse, die sich das Mehr-produkt einer Gesellschaft aneignet und sich als Apparat und nicht als einzelner Unternehmer finanzielle Ressourcen verschafft, tendiert (nach dem Befund von Elsenhans), da die Kontrollen innerhalb dieser Klasse schwach sind, zu erhöhter Vergeudung Solchen Staatsklassen können Süd-Süd-Beziehungen (einschließlich des Konzepts kollektiver Self-Reliance) zur Verfestigung ihrer Machtstellung dienen, indem sie ihnen zusätzliche Ressourcen und Herrschaftslegitimation verschaffen. Sollten daher Süd-Süd-Beziehungen entwicklungspolitischen Nutzen erbringen, müßten die Staatsklassen zahlreicher Entwicklungsländer also entweder beseitigt oder aber einem starken Reformdruck ausgesetzt werden. Denn nur im Zuge innergesellschaftlicher Wandlungen (z. B.der Produktions-, Konsumtions-und Investitionsstrukturen) dürfte die Süd-Süd-Kooperation letztlich auch entwicklungspolitisch greifen Vor diesem Hintergrund erscheint es dann durchaus verständlich, daß in dem Maße, wie Süd-Süd-Beziehun-gen und Strategien kollektiver Self-Reliance auch innergesellschaftlich strukturverändernd wirken und die privilegierte Position von Herrschaftsgruppen untergraben, der Anreiz zur Aufrechterhaltung dieser Beziehungen und Strategien schwindet
So bleibt als Fazit festzuhalten, was Galtung schon im Zusammenhang mit seiner Forderung nach einer „Entfeudalisierung" internationaler Beziehungen festgestellt hat: daß nämlich die außenwirtschaftliche und außen-politische Emanzipation von Entwicklungsländern zwar eine notwendige, jedoch noch keineswegs hinreichende Bedingung auch für die innergesellschaftliche Emanzipation dieser Länder ist.