I. Von „Demokratie durch Entwicklung" zu „Entwicklung durch Demokratie". Deutsche Entwicklungshilfestrategien und einschlägige wissenschaftliche Theorien 1955— 1980
Die heute geltenden Grundsatzerklärungen der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages zur Entwicklungspolitik enthalten an vorderer Stelle weitgehende Forderungen nach Demokratie und Verwirklichung der Menschenrechte in den Entwicklungsländern. Zitiert seien als Beispiele: „Die Bundesregierung achtet daher bei Entscheidungen über entwicklungspolitische Zusammenarbeit auch auf die Verwirklichung der Menschenrechte in den Entwicklungsländern“ und: „Sie teilt die Auffassung, daß der Erfolg von Entwicklungsanstrengungen auch von der Verwirklichung gleicher bürgerlicher, politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte für alle Mitglieder der Gesellschaft abhängt" Inhaltlich dasselbe verlangt der Bundestag in einer gemeinsamen Entschließung von 1982 gleich in der ersten Ziffer: „Bei der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland sollte die Verwirklichung der Menschenrechte ein wesentliches Ziel der Politik der Bundesregierung sein... Bei der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit sollten jene Länder bevorzugt unterstützt werden, die sich um den Aufbau demokratischer Strukturen bemühen.“ Entsprechende Formulierungen enthalten auch die entwicklungspolitischen Positionen aller drei Bundestagsparteien.
Solche politischen Zielsetzungen für Entwicklungshilfestrategien bilden völlig neue Schwerpunkte, die in früheren entwicklungspolitischen Erklärungen nicht zu finden sind.
Vielen mögen diese Sätze als in der Politik übliche deklamatorische Formeln erscheinen, die bestenfalls Absichtserklärungen sind, nicht jedoch die politische Praxis steuern. Diese Skepsis ist, wie im letzten Teil noch zu erörtern sein wird, nicht unberechtigt. Trotzdem würde eine bloß darauf gerichtete Kritik verkennen, welch fundamentalen Wandel in der offiziellen deutschen Entwicklungspolitik die zitierten Formulierungen widerspiegeln.
Die folgende Übersicht möchte den Weg zu diesen Neuformulierungen darstellen und die Erfolgsaussichten erörtern, die Entwicklungshilfestrategien jeweils im Lichte der wissenschaftlichen Erkenntnisse hatten und heute haben.
Die kurze Geschichte deutscher Entwicklungspolitik wird dabei in drei Phasen eingeteilt:
1. ökonomische Strategien im Dienste der Außenpolitik bis ca. 1969. 2. ökonomisch-technologische Strategien ohne politischen Bezug bis 1978.
Politische Zielsetzungen um ihrer selbst und um der ökonomischen Effizienz willen seit 1979 3).
Demokratie durch Entwicklung: ökonomische Strategien im Dienste antikommunistischer Außenpolitik bis 1969 In der ersten Phase fehlten der Entwicklungspolitik überall fundierte Vorstellungen von den Zielen und erst recht planmäßige Strategien für entsprechende Hilfe an Entwicklungsländer. Das galt nicht nur für die ersten Hilfeansätze in den USA um 1950 sondern auch noch Jahre später für die entwicklungspolitischen Anfänge der deutschen Bundesregierung Zwar waren trotz der Sorgen um die eigene materielle Existenz karitative Impulse gegenüber der Not in der Dritten Welt auch damals schon in der Bundesrepublik verbreitet Doch fand sich die Bundesregierung — deshalb zu Recht als „verspäteter Geber" bezeichnet — zu nennenswerten laufenden Leistungen an Entwicklungsländer erst nach etwa fünfjährigem Drängen des Bundestages und vor allem der USA bereit. Im Bundestag hatte sich ein interfraktioneller Konsens unter entwicklungspolitisch motivierten Abgeordneten herausgebildet, die sich allerdings nur langsam gegen Haushalts-und Finanzexperten der Fraktionen und gegen die Exekutive durchsetzen konnten Die USA begründeten ihr Drängen mit der notwendigen Aufteilung der Verteidigungslasten, zu denen sie auch die Kosten der Eindämmungspolitik in der Dritten Welt gegenüber der Sowjetunion rechneten
Es paßte zu dieser Zielsetzung, daß die Bundesregierung ihre Entwicklungshilfe bis 1969 als Instrument der Außenpolitik, besonders der auswärtigen Nichtanerkennungspolitik gegenüber der DDR im Rahmen der sogenannten Hallstein-Doktrin, benutzte Entwicklungshilfe wurde bevorzugt an Länder gegeben, die mit der Anerkennung der DDR drohten, und solchen Ländern entzogen, die sie anerkannten. Erst 1961 wurde das politische Interesse an den Entwicklungsländern in der Bundesrepublik auch durch die Einrichtung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) institutionalisiert Die besonders vom Auswärtigen Amt betriebene außenpolitische Instrumentalisierung der Entwicklungshilfe mußte für dieses neue Ministerium schon aus der Dynamik des Ressortegoismus heraus, aber auch aus sachlicher Überzeugung ebenso eine Zweckentfremdung sein wie auch für das ebenfalls zuständige Wirtschaftsministerium
Die Nichtanerkennung der DDR war allerdings nicht das sachliche Hauptziel der Entwicklungshilfe, sondern nur die Bedingung, daß Länder Mittel für das Hauptziel erzielten, nämlich: zur Förderung oder Einleitung industriellen wirtschaftlichen Wachstums. Dieses Ziel hatten die USA und die UN für das erste sogenannte Entwicklungsjahrzehnt 1961 in den Vordergrund gerückt. In der Bundesregierung verfocht vor allem das Wirtschaftsministerium diese Priorität. Das schlug sich in einer Konzentration auf Kapitalhilfe nieder, denn die Akkumulation von Kapital für industrielle Investitionen galt als entscheidende Voraussetzung wirtschaftlichen Wachstums. Dieses Wachstum wiederum wurde nicht nur anhand der Steigerung des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens in einem Land gemessen, sondern weithin auch damit gleichgesetzt. Die Dominanz dieser in viele Einzel-und Teil-ziele aufgegliederten ökonomischen Zielsetzung auch in der Bundesrepublik ist eindeutig belegt’
Solche ökonomische Zielpriorität widersprach der außenpolitischen Zweckbestimmung keineswegs, sei es, weil sie unabhängig davon gesehen wurde wie im Wirtschaftsministerium und aus dem Blickwinkel deutscher Exportinteressen sei es vor allem, weil man hoffte, daß ökonomisches Wachstum indirekt dem außenpolitischen Zweck diene. Es wurde erwartet, daß im Gefolge materieller Wohlstandssteigerung sich freiheitliche Systeme in den Entwicklungsländern herausbilden würden, die sich dann außenpolitisch nicht dem Osten anschließen und auch die DDR nicht anerkennen würden
Welche Erfolgsaussichten hatte nach dem damaligen Stand der Wissenschaft diese wachstumsökonomisch vorgehende Entwicklungshilfestrategie der ersten Phase, und zwar sowohl in ihrem ökonomischen als auch in ihrem politischen Zielbündel? Die Heranziehung des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes ist zur Beurteilung der politischen Pro-grammatik erforderlich, aber auch deshalb wichtig, weil Politiker immer wieder ihre Prioritätensetzung ausdrücklich mit Argumenten der herrschenden wissenschaftlichen Meinung begründen
Entgegen manchen späteren Kritiken muß man sagen, daß damals die prominentesten ökonomischen Entwicklungstheoretiker wie Lewis und Rostow deutlich auf die Vielzahl weiterer Faktoren hingewiesen haben, die außer der Kapitalakkumulation für industrielle Investitionen erforderlich seien, wenn man Wachstum hervorrufen oder erhöhen wolle. Trotzdem konnte sich die kapitalorientierte Entwicklungshilfestrategie auf sie berufen. Denn sie stellten die Bildung großer Kapitalien und ein sprunghaftes Ansteigen des Anteils industrieller Investitionen bei der Verwendung des Volkseinkommens als entscheidend für den Entwicklungsprozeß dar. Vor allem erweckten sie den Eindruck, daß nach einer Initialzündung in der Phase des „take-off" ein „selbsttragendes Wachstum" weitergehe
Die Überzeugungskraft dieser Theorien war um so größer, als sie das Entwicklungsschema wiederzugeben schienen, nach dem die Industrialisierung der westlichen Nationen verlaufen war. Ihrem Vorbild sollte nach den damals’ vorherrschenden Modernisierungstheorien die Dritte Welt folgen.
Im ökonomischen Bereich blieben die Strategien der Entwicklungspolitik, wie erwähnt, unter dem Niveau der zeitgenössischen wissenschaftlichen Theorien. In der Politik im engeren Sinne spiegelten die Hoffnungen der Politiker auf westliche Demokratisierung durch Wirtschaftswachstum noch genauer die damals einflußreichste Denkrichtung in der Wissenschaft. Bekanntestes Beispiel dieser wissenschaftlichen Richtung ist die These Lipsets, daß „die verschiedenen Aspekte der wirtschaftlichen Entwicklung ... eine so enge Verknüpfung auf(weisen), daß sie einen einheitlichen Faktor als Korrelat der Demokratie bil-den" Analog dem selbsttragenden ökonomischen Wachstum nahm er auch an, daß sich eine Demokratie selbst stabilisieren würde, wenn sie auf dieser wirtschaftlichen Grundlage einmal entstanden sei
Lipsets These wurde vielfach, z. B. 1969 von Oberndorfer, widerlegt Der von Lipset angewandte Erklärungstyp aber, nämlich die Frage nach den sozialen Ursachen politischer Entwicklungen, dominierte damals und noch lange Zeit danach in den als modern geltenden politischen Theorien. Er fand sich vorherrschend auch in der politischen Verhaltens-theorie einschließlich der Wahlforschung den policy Sciences und anderen Teildisziplinen der Politikwissenschaft
Selbst der im engeren Sinne politischen Entwicklungstheorie funktionalistischer Richtung um Almond, die sich mit der Herausbildung und Eigenständigkeit des politischen Systems befaßte, galt die ökonomische Entwicklung als wichtigster Faktor der politischen Entwicklung Führende Vertreter der politischen Entwicklungstheorie in den USA behandeln in einem Resümee noch 1975 hauptsächlich den Einfluß von „socioeconomic modernization" auf politische Variablen
Entwicklung ohne Demokratie: ökonomisch-technologische Strategien ohne politischen Bezug 1970— 1978 In der zweiten Phase der Entwicklungspolitik, die etwa mit der zweiten Entwicklungsdekade der UN begann, veröffentlichte die Bundesregierung erstmals — und als eine der ersten Regierungen — eine eigene, eng an die von der UN beschlossene „Internationale Strategie" angelehnte „Entwicklungspolitische Konzeption"
In der ersten Dekade waren sowohl das selbst-tragende Wachstum als auch das erhoffte Durchsickern der Investitionswirkungen zu der armen Bevölkerung ausgeblieben; zum Teil hatten sich die Verhältnisse sogar verschlechtert. Diese Probleme hatte auch der „Pearson-Bericht" angedeutet, der im Auftrage der UN Stand und Aufgaben der Entwicklung der Dritten Welt untersuchte. Er vermerkte insbesondere unmißverständlich, daß das globale Ziel des Durchschnittswachstums allein nichts über die Situation der Menschen aussage, weil es nicht angebe, wie dieses Wachstum verteilt, wem es also zugute gekommen sei
Trotzdem verleiteten die auch im Pearson-Bericht gefeierten Erfolgsziffern der globalen Wachstumsindikatoren dazu, die ökonomische Wachstumsstrategie beizubehalten, unter anderem um einige soziale Ziele ergänzt Zwar deklamierte die Präambel der UN-Strategie, daß „die Durchsetzung gleicher politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte für alle Mitglieder der Gesellschaft notwendig zum Erfolg" sei Diese Erklärung wurde in der Strategie der UN aber sonst nirgends aufgenommen Die Bundesregierung übernahm sie erst 1975, und zwar nur abgeschwächt Ihre Konzeptionen beschränkten sich 1971 und 1973 völlig, 1975 fast ausschließlich auf ökonomisch-technologische Hilfe Daß die Bundesregierung zu diesem Zeitpunkt nicht mehr nur das formulierte, was allgemein als strategisch möglich erachtet wurde, sondern daß sie hinter anderswo weiter vorangeschrittenen strategischen Überlegungen zurückblieb, zeigt ein Vergleich ihrer Konzeption von 1975 mit den „neuen Richtlinien“ in der US-Entwicklungshilfe von 1973 Motive und Ergebnisse lassen diese US-Richtlinien. zwar mehr als „Rhetorik" und weniger als neue Politik erscheinen. Doch ist der Fortschritt dieser „über die Grundbedürfnisstrategie hinauszielenden Partizipationsstrategie" wenigstens auf Programmebene nicht zu leugnen
Immerhin zog die Bundesregierung in der zweiten Dekade bereits in der Konzeption von 1970 einen Teil der früheren politischen Zielsetzung ausdrücklich zurück mit der Feststellung, Entwicklungspolitik „taugt nicht als Instrument kurzfristiger außenpolitischer Erwägungen", was ähnlich schon im Pearson-Bericht stand. Zugleicht versicherte sie: „Die Bundesregierung versucht nicht, den Partner-ländern politische sowie gesellschafts-und wirtschaftspolitische Vorstellungen aufzudrängen"
Diese Programmänderung ist wohl auch mit dem Regierungswechsel 1969 zu erklären, war die Hallstein-Doktrin doch in SPD und FDP immer weniger unterstützt worden -Wenn die Bundesregierung aber gleichzeitig mit den außenpolitischen Zielen die verfassungspolitischen aufgab, obwohl eine entgegengesetzte Tendenz in der UN-Strategie zumindest ansatzweise zu beobachten war, so zeigte dies, daß die bislang vertretenen universalen demokratischen Prinzipien der deutschen Außen-und Entwicklungspolitik nicht mehr waren als die moralische Überhöhung nationaler Interessenpolitik
Auch dieser Verzicht auf demokratiepolitische Zielsetzungen ökonomischer Entwicklungshilfe konnte an Vorläufer in der politischen Entwicklungstheorie anknüpfen. Der Optimismus, der sich aus Lipsets Korrelationen zwischen Wohlstand und Demokratie hatte ableiten lassen, war durch die Widerlegung Lipsets ins Wanken geraten. Vor allem hatten ihn aber die Erfahrungen von „political decay" anstatt „political development“ im ersten Entwicklungsjahrzehnt gebrochen. So machte er allmählich einer differenzierteren Beurteilung Platz
überdies sahen sich die Modernisierungstheorien, die im Entwicklungsstadium der Dritten Welt ein aufzuholendes Defizit gegenüber dem Modernitätsstandard der Industrieländer sahen und nach denen die politische Entwicklung hin zur Demokratie westlichen Musters verlaufen sollte, dem massiven, wissenschaftlich fundierten Vorwurf des Ethnozentrismus ausgesetzt. Ihn erhob 1969 etwa Ren König Wenig später wurde sogar provozierend gefragt, ob nicht ein „Bankrott der Modernisierungstheorien" vorliege.
Mit der „weltweiten Renaissance marxistischer Theorien" wurde immer häufiger die Auffassung der Modernisierungstheorien in Frage gestellt, die gegenwärtige Unterentwicklung sei ein bloßes Normalstadium der Zurückgebliebenheit, in dem sich eben die Entwicklungsländer noch befänden wie jede Gesellschaft vor der Modernität. Statt dessen, so behaupteten Imperialismus-und Dependenztheorien, hätten die Industrieländer im Laufe der Geschichte die Entwicklungsländer in wechselnden Formen ausgebeutet und da-mit die gegenwärtige Unterentwicklung verursacht und aufrechterhalten
Freilich beinhalteten die marxistischen Thesen nicht die Einsicht, daß es völlig andersartige Entwicklungsmöglichkeiten für die Gesellschaften der Dritten Welt geben könne als für die Industrieländer. Vielmehr bemühte sich der überwiegende Teil marxistischer Entwicklungstheorien, die sperrigen Erscheinungen der Entwicklungsländer in ein noch strengeres Korsett des Modernisierungsverlaufs, nämlich in das deterministische und ursprünglich für die Entwicklung der westlichen Industrieländer entworfene Schema des historischen Materialismus, zu pressen
Kritik richtete sich in dieser Phase aber nicht nur auf die Vorstellung einer quasi zwangsläufigen Abfolge von Entwicklungsstadien, sondern auch auf die Annahme, Entwicklung sei vor allem durch ökonomische Impulse auszulösen oder überhaupt ein vorwiegend ökonomischer Prozeß, dem die Entwicklung in anderen Sektoren dann wie von selber folge.
Einwände hiergegen erhoben etwa 1964 Brzezinski und Huntington und bezeichneten die Annahme, daß Politik ökonomisch verursacht sei, abwertend als Marxismus Solche Einwände führten aber nur in Ausnahmefällen und ohne fundierte Argumentation zu der gegenteiligen These, nämlich „that lagging economic growth is at least a partial consequence of political underdevelopment", wie bei Lasswell In der Hauptsache ging es zunächst einmal darum, beide Bereiche zu entkoppeln, den eigenständigen Wert politischer Entwicklung hervorzuheben
und automatische und determinierte Auswirkungen des einen auf das andere zu bestreiten: „economic development and political stability are two independent goals and progress toward one has no necessary Connection with progress toward the other“ Ähnliche Auffassungen wurden inzwischen auch in Deutschland vertreten in Form der Forderung, „der Interdependenzannahme die Indifferenzannahme entgegen" zustellen
Selbst im sonst ökonomisch deterministischen Marxismus, in der Diskussion um das Verhältnis zwischen Basis und überbau, gelangten einige Varianten des Neomarxismus bis zu einer faktischen Autonomie des politischen Überbaus von der ökonomischen Basis, ja sogar zu einem umgekehrten Beeinflussungsverhältnis
Wer in starken politischen Institutionen eine Voraussetzung allgemeiner Entwicklung sah und zugleich westliche Modernitätsideale ablehnte, der konnte leicht zu der Auffassung gelangen, die autoritären Regime, die damals in vielen Entwicklungsländern die Macht übernahmen, seien als „Entwicklungsdiktaturen" ein eigenständiges, angemessenes Herrschaftsmodell für die Dritte Welt.
Gerade Wissenschaftler, die politische Entwicklung als Motor der übrigen Entwicklung herausstellten hielten zunächst eine starke Machtakkumulation für erforderlich Danach erst sei eine Beteiligung der Bevölkerung an der Machtausübung sinnvoll Ähnlich wie Lipset mit seiner Idee der selbsttragenden Demokratisierung infolge wirtschaftlichen Wachstums eine Hauptthese ökonomistischer Entwicklungstheorien in die Politik übernommen hatte, folgten sie hierbei einem anderen Element dieser Theorie, nämlich der Annahme, zuerst müsse das Entwicklungspotential (dort das Kapital, hier die politische Macht) angesammelt, dann erst könne es verteilt werden. Dies wurde normativ begründet mit der Forderung, politische Eliten in Bürokratie und Partei müßten das „public interest" unabhängig von den gesellschaftlichen Gruppen definieren, in deren Konflikten es sonst untergehe Aber auch sich progressiv verstehende technokratische Wissenschaftler plädierten für den starken Machtapparat, der allein die Kapitalakkumulation und Investition und damit rasche Entwicklung durchsetzen könnte Sie argumentierten dabei sowohl planwirtschaftlich-technokratisch wie -etwa Löwenthal, der einen Widerspruch zwischen Demokratie und notwendiger Entwicklung behauptete als auch im umfassenderen Sinne sozialistisch, als sie für die Entwicklung, die nach ihren deterministischen Entwicklungsvorstellungen kommen mußte, keine andere Möglichkeit mehr erblickten als „revolutionären" Zwang Folgerichtig billigten oder empfahlen sowohl Löwenthal als auch Myrdal die Anwendung von Zwang und Diktatur, wenn auch vielleicht nur widerwillig Dem widersprach in der Sache z. B. Hermens Besonders deutlich setzte sich der Soziologe Behrendt mit dem diktatorischen Modell der Entwicklung auseinander und formulierte dabei bereits frühzeitig, wenn auch noch als einsamer Rufer, die Idee einer Entwicklung durch Demokratie, wie sie für die dritte Phase bestimmend werden sollte.
Entwicklung durch Demokratie: Politische Zielsetzungen um ihrer selbst und der ökonomischen Entwicklung willen in der „Grundbedürfnisstrategie" seit 1979
Die dritte Phase deutscher Entwicklungshilfe-strategien ist hier zwar mit etwa 1979 datiert worden, inoffiziell wurde sie aber schon seit Beginn der zweiten Phase von einzelnen Per
S. 223f. sönlichkeiten und Gruppen und sogar durch einzelne offizielle Maßnahmen in Ansätzen vorbereitet Das BMZ beschloß bereits 1962 die „Förderung der gesellschaftspolitischen Bildung in Entwicklungsländern", die dann vornehmlich über die politischen Stiftungen anlief
Der zuständige Minister Eppler sprach sich 1971 für eine Entwicklungsstrategie aus, die an den Grundbedürfnissen der armen Massen ausgerichtet sein sollte, und erklärte, daß in manchen Entwicklungsländern „auch Machtstrukturen aufgebrochen werden müßten" Solche Aussagen trafen sich mit typischen Rollenbildern von Entwicklungshelfern des Deutschen Entwicklungsdienstes, die sich als demokratieorientiert umschreiben lassen
Die stärksten Impulse für eine Neuorientierung in der Entwicklungshilfestrategie der dritten Phase kamen aus den beiden großen Kirchen in der Bundesrepublik. Sie standen seit langem unter zunehmendem Druck ihrer Partnerkirchen in den Entwicklungsländern und ihrer von diesen im evangelischen Bereich dominierten, im katholischen zunehmend mitbeeinflußten internationalen Gesamtkirchen Da neben den Fachleuten in den Entwicklungshilfebehörden und -Organisationen die interessierten Teile der Kirche damals die einzige nennenswerte Lobby für Entwicklungshilfe in der Bundesrepublik darstellten, hatte die von den Kirchen in den Entwicklungsländern repräsentierte Gruppe hier die wohl wirksamsten Instrumente ihrer Interessenvertretung Deren Einfluß äußerte sich z. B. in der Kritik am . „Fehlschlag einer rein ökonomistischen Entwicklungspolitik" (De Justitia in Mundo 12, vgl. Kritik an Wachstums-strategie dort 10) und führte bis zur Rechtfertigung von Revolutionen unter bestimmten Um-ständen (Ziffer 31 der Enzyklika Populorum Progressio 1967)
Unter den Parteien formulierte als erste die CDU-Opposition 1976 eine umfassende „Entwicklungspolitische Konzeption"; sie ging weit über die Konzeption der Regierung hinaus und enthielt mehrere Passagen etwa im Sinne des folgenden Zitats: „Maßstab für die Gewährung von Entwicklungshilfe ist deshalb ... auch, ob sie der Förderung freiheitlicher, sozial gerechter Infrastrukturen dient" 1977 stimmten im Bundestag die entwicklungspolitischen Redner aller Bundestagsfraktionen in der Forderung nach Beachtung der Menschenrechte in den Entwicklungsländern überein seit 1978 auch die entwicklungspolitischen Programme der Parteien
Gegenüber diesen programmatischen Fortschritten war die Bundesregierung mit ihrer entwicklungspolitischen Konzeption inzwischen weit ins Hintertreffen geraten. Konnte in den Jahren zuvor dieser Rückstand gegenüber anderswo erreichten entwicklungspolitischen Programminnovationen, wie etwa den US-Richtlinien von 1973, noch verborgen bleiben, weil z. B. diese „hierzulande selbst in ent-wicklungspolitischen Fachkreisen kaum zur Kenntnis genommen wurden" so deckten die programmatischen Aussagen der genannten politischen Kräfte in der Bundesrepublik ihn nun unübersehbar auf. Die Bundesregierung scheint ihre unterentwickelte Innovationsfähigkeit in diesem Bereich sehr wohl empfunden zu haben; denn das BMZ versuchte, wenn auch erst 1978, in einer Synopse öffentlich nachzuweisen, daß die Regierungskonzeption von 1975 denselben Strategie-stand erreicht habe wie die Grundsatzerklärung der Weltbeschäftigungskonferenz 1976 und die „Humphrey-Bill“ in den USA von 1978 Es war daher nichts anderes als ein mühsames Nachziehen, wenn die Bundesregierung dann 1978, 1979 und noch deutlicher 1980 ihre Entwicklungshilfestrategie ausdrücklich verfassungspolitisch im Sinne der eingangs exemplarisch zitierten Sätze ausrichtete
Diese Neuorientierung deutscher Entwicklungshilfestrategie ist um so bemerkenswerter, als sie, anders als die ersten beiden Regierungskonzeptionen, in ihren Schwerpunkten nicht die UN-Strategie übernimmt, die auch für die Dritte Dekade unbeirrt weiter durchschnittliche ökonomische Zuwachsraten proklamiert Vielmehr sind das vorrangige Ziel und der neuen Ansatz der deutschen Strategie die Bekämpfung der absoluten Armut in den Entwicklungsländern durch Erfüllung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung
Die politischen Strategien sind damit wissenschaftlich begründeten Neuansätzen gefolgt, die seit Anfang der siebziger Jahre bei der Weltbank ausgearbeitet wurden und in Deutschland seit Mitte der siebziger Jahre Anhänger bei so gut wie allen wissenschaftlichen Richtungen finden
Im Kern enthält diese Strategie drei neue Elemente: — Eine Wiederaufnahme der verfassungspolitischen Zielsetzung aus der ersten Phase, die vorstehend und in den einleitenden Zitaten genannt wurde.
Das dürfte auf die Erfahrung zurückgehen, daß sich bis 1980 „die wirtschaftliche Lage in den meisten — Entwicklungsländern... im Vergleich zu den 60er Jahren noch verschlechtert“ hat, u. a. weil „notwendige Reformen entweder nicht in Angriff genommen" wurden „oder trotz mangelnder Voraussetzungen"
— Die Verknüpfung beider Zielsetzungen, der politischen und der ökonomischen, und zwar nun in umgekehrter Richtung: Während es früher hieß: Demokratie durch Entwicklung, heißt es heute: Entwicklung durch Demokratie.
In der Auffassung, freiheitliche politische Ordnung sei die Voraussetzung für ökonomische Entwicklung, steckt der Grundsatz der neoliberalen Freiburger ökonomischen Schule, daß liberale politische Strukturen notwendige Bedingung marktmäßigen und damit erfolgversprechenden Wirtschaftens seien In der Geschichte von Industriestaaten sehen manche Autoren ein Beispiel für diesen Zusammenhang Freilich geht es hier in erster Linie um eine politische Ordnung, in der die Wirtschaftsentwicklung möglichst frei von Staatseingriffen gehalten wird. Mit dieser liberalen Position ist nicht im selben Umfang auch schon die Forderung nach demokratischen po-litischen Beteiligungsrechten als Voraussetzung breiter wirtschaftlicher Entwicklung verbunden.
Gerade letzteres wirft aber eine schwierig zu beurteilende Frage auf, nämlich die, ob tatsächlich mehr Demokratie und Menschenrechte auch zu einer besseren ökonomischen Entwicklung beitragen. Diese Annahme der Regierungskonzeption in Ziffer 13 und der CDU-Konzeption wird etwa von Hanf und Elsenhans unterstützt. Einige empirische Analysen wecken eher einen gegenteiligen Eindruck; allerdings verwenden sie den fragwürdigen Indikator des Pro-Kopf-Einkommens, bezogen auf Bedingungen der klassischen Wachstumsstrategie und noch nicht der neuen Strategie Es gibt aber auch Versuche, empirisch zu belegen, daß eine „umfassende Anwendung der Demokratie ... unabdingbar für die breite Entwicklung eines Landes" ist Leichter ist die negative Antwort: Entwicklungsdiktaturen haben offenbar nicht die in sie gesetzten Erwartungen erfüllt, ja Verschlechterungen selten verhindern können, nach Auffassung vieler sogar solche verursacht. Sie werden deshalb zu den „Entwicklungshemmnissen" gezählt
Unterstellt man, daß demokratische Ansätze schlimmstenfalls nur nicht effizienter als Diktaturen wären, fiele die Wahl leicht; denn dann bliebe wenigstens freiheitlichere Ordnung als Vorteil bei gleich schlechter Wirtschaftsentwicklung. Dies gilt auch, wenn man nicht wie Hanf an eine enge innenpolitische Bedingtheit der Außenpolitik im Sinne der Kant'schen inneren rechtsstaatlichen Voraus-Setzungen des äußeren ewigen Friedens glaubt
— Die vorwiegend ökonomische Zielsetzung, Massenarmut durch Erfüllung der Grundbe-dürfnisse möglichst direkt zu mildern. Hierauf ist jetzt im Zusammenhang mit den Parteipositionen einzugehen.
II. Die neue Entwicklungshilfestrategie
Der erste Abschnitt zeigte, wie politische Strategien der Entwicklungshilfe sich aus wissenschaftlichen Theorien begründen ließen und sich mit diesen wandelten, bis hin zur heutigen demokratiepolitischen Grundbedürfnis-strategie. Die Erfahrung dieses Wandels legt es nahe, auch die neue Theorie und Strategie als einen Versuch anzusehen, der nicht gegen Irrtum gefeit ist. Trotzdem ist auch für diesen Versuch zu prüfen, ob er die nach unserem Er-kenntnisstand vorhandenen Möglichkeiten ausschöpft, um seine Erfolgsaussichten zu erhöhen. Gehört zu diesen Voraussetzungen der Konsens der Parteien über zentrale Punkte der neuen Strategie, etwa weil Parteienstreit über die Entwicklungspolitik „zu Lasten der notleidenden Menschen in der Dritten Welt geht Und ist gegebenenfalls dieser seit langem geforderte „Allparteienkonsens in der Entwicklungspolitik" heute wieder erreicht
Die Übereinstimmung aller Parteien im Bundestag und der Bundesregierung in zentralen entwicklungspolitischen Zielen könnte den Eindruck erwecken, die deutsche Entwicklungshilfestrategie sei heute durch breiten politischen Konsens gestützt, entspreche modernsten wissenschaftlichen Erkenntnissen und sei dementsprechend besonders wirkungsvoll in der Bekämpfung der absoluten Armut, unter der nach Schätzungen der Weltbank ca. 800 Mio. Menschen in der Dritten Welt leiden. Bei genauerem Hinsehen erweist sich ein solches Bild aber als oberflächlich. Tatsächlich betrifft der Konsens die zentrale Frage der Entwicklungshilfe nicht, bleibt die programmatische Neuorientierung in der Praxis weitgehend wirkungslos und klaffen große Defizite in der konzeptionellen Ausarbeitung der neuen Strategie.
Die neue Strategie — Papier ohne Wirkung? Mit der Übereinstimmung in strategischen Aussagen ist für die tatsächliche Entwicklungshilfe noch wenig erreicht, solange zwischen Strategie und praktischer Politik eine Diskrepanz herrscht wie in der deutschen Entwicklungshilfe. Der Weg vom Programm zur Praxis der Projekte ist sehr weit und erst zu einem kleinen Stück zurückgelegt worden. Er führt über die Umsetzung der Grundlinien in Richtlinien der Sektoral-und Regionalreferate des BMZ, ihre Weitergabe an die ausführenden Institutionen Deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ), Kreditanstalt für Wiederaufbau (KW), Deutsche Gesellschaft für wirtschaftliche Zusammenarbeit (DEG) usw., wo sie wiederum in Prüfrichtlinien umgesetzt werden müssen, die schließlich von den Projektbeauftragten und -mitarbeitern zu praktizieren sind.
Diese wiederum sind auf die Partner in den Entwicklungsländern angewiesen, deren Vorstellungen selten denen der deutschen Strategie entsprechen. Dies beengt aber nicht erst bei der Projektdurchführung den Spielraum, sondern bereits im frühen Stadium der bilateralen Regierungsvereinbarungen über die Hilfe. Dort gelten feste Länderquoten und das Antragsprinzip, d. h. die Vergabe von Hilfe nur auf entsprechende Projektanträge der, Entwicklungsländer. Die finanzielle Manövriermasse hierfür ist jedoch durch die Langfristigkeit eingegangener Verpflichtungen stark beengt.
Damit sind zugleich Ansatzpunkte für Reformen angedeutet, die in der deutschen Hilfeorganisation notwendig wären, wollte man die Akzentsetzungen von Konzeptionen direkter in die Praxis durchschlagen lassen. Die neuen Grundlinien sind in der Umsetzung kaum über die Stufe innerhalb des Ministeriums und von Vorbereitungen in den ausführenden Institutionen hinausgekommen „Die Orientierung an der Grundbedürfnisstrategie bildet noch immer eher eine humanitäre Begleitmusik und ein PR-Rechtfertigungsvehikel denn die Grundlage einer wirklich neuen Entwicklungspolitik."
Nur folgerichtig war es demnach, daß die Vertreter bedeutender Durchführungsorganisationen der Entwicklungshilfe in einer öffentlichen Anhörung den Anteil ihrer Leistungen, der für die Bekämpfung der Massenarmut aufgewandt wurde, von sich aus nicht berührten und auf Anfrage auch nicht benennen konnten Einer großen Durchführungsorganisation konnte nachgewiesen werden, daß sie mit Wissen des BMZ von ihrer in Satzung und Richtlinien gestellten Aufgabe gerade in den Punkten abwich, die noch am ehesten im Sinne der Grundbedürfnisstrategie liegen Weit über solche Umsetzungsschwächen hinaus geht es aber, wenn das zuständige Ministerium — in der gegenwärtigen schwierigen Wirtschaftssituation zwar verständlicherweise, aber im eklatanten Widerspruch zur eigenen Konzeption — den Schwerpunkt der Entwicklungshilfepraxis auf Exportförderung mit faktischer Lieferbindung legt
Der Parteien-Konsens auf kleinstem gemeinsamen Nenner Gemeinsamkeit in der Entwicklungspolitik kann vor allem unter einem Gesichtspunkt nützlich sein: Sie kann die immer noch labile Befürwortung von Entwicklungshilfe in der Bevölkerung festigen helfen und damit eine Grundlage für größeren — auch finanziellen — Spielraum der Entwicklungshilfe schaffen
Zu einer positiven Wirkung auf das entwicklungspolitische Bewußtsein dürfte der gegenwärtige Allparteien-Konsens im Bundestag aber nicht ausreichen. Denn es dürfte schwer-fallen, den Wählern verständlich zu machen, daß Übereinstimmung aller Bundestagsfraktionen für eine Entschließung zur Entwicklungspolitik herrscht, zugleich aber beim Haushalt des BMZ regelmäßig die Fraktionen der Koalition für die Regierung stimmen, die Opposition jedoch dagegen
Zu fragen ist ferner, ob die „Entwicklungspolitiker" aller Parteien den Stellenwert der Entwicklungspolitik bei den Parteiführungen und der Regierung — und darauf kommt es letztlich an — mit interfraktionellem Konsens eher steigern können als mit offener Diskussion über wichtige Unterschiede zwischen Regierung und Opposition.
In unserem parlamentarischen System hat die Zustimmung der Opposition zur Regierungspolitik nur Sinn, wo sie dem legitimen Bestreben der Opposition nach Mitregieren dient Welche Mitwirkungsmöglichkeiten eröffnet aber eine Entwicklungshilfestrategie, die selber wirkungslos ist? Ist da nicht die Überlegung bedenkenswert, ob Oppositionsund Regierungsparteien ihre Positionen nicht klarer ausarbeiten und mit allen Unterschieden den Bürgern vorlegen sollten, als statt dessen einen Konsens auf kleinstem gemeinsamen Nenner zu präsentieren? Nur die Ausklammerung solcher alternativen Ansätze in zentralen entwicklungspolitischen Problemen hat den gegenwärtigen, eher oberflächlichen entwicklungspolitischen Konsens zustande kommen lassen; dies offenbart eine genauere Betrachtung der 14 Punkte in der Gemeinsamen Entschließung des Bundestages ohne Schwierigkeiten.
Gemeint ist damit nicht, daß der „Aufbau demokratischer Strukturen" und die „Verwirklichung der Menschenrechte“ natürlich den Regierungsparteien eher in den rechtsautoritären, den Oppositionsparteien eher in den linksautoritären Regimen gefährdet erscheinen, und es wäre auch nicht im Sinne oppositioneller Alternativfunktion, hier wieder in die unfruchtbare Freund/Feind-Unterscheidung von Regimen und Staaten der Dritten Welt je nach deren augenblicklicher innen-und außenpolitischer Orientierung zurückzufallen. Gemeint ist vielmehr, daß die zentrale, genuin entwicklungspolitische Fragestellung ausgeklammert blieb: die Frage nach der ordnungspolitischen Konzeption, nach der sich eine Entwicklungshilfe orientieren sollte, deren Ziel die „Bekämpfung der absoluten Armut" ist.
Ordnungspolitisches Defizit in der entwicklungspolitischen Kernfrage Daß alle Parteien und die Bundesregierung als „vorrangiges Ziel der deutschen Entwicklungspolitik ... die Bekämpfung der absoluten Armut“ fordern bedeutet zunächst einmal Konsens über das Ziel. Ob auch über die Wege Konsens oder Dissens herrscht, läßt sich nicht bestimmen, weil weder eine Partei noch die Regierung bisher klare Vorstellungen dazu entwickelt haben. Eine kaum übersehbare Fülle einander ergänzender, aber auch widersprüchlicher, oft beziehungsloser einzelner Regional-und Sektoral-Ansätze, Instrumente und Techniken in der bilateralen und multilateralen Entwicklungshilfe und ihre politische Behandlung in und zwischen zahlreichen Gremien von Parlament, Regierung und Organisationen absorbiert die konzeptionelle Kapazität in der Entwicklungspolitik. Darüber bleibt die derzeit für die weitere Entwicklung der Dritten Welt wohl wichtigste Frage zu wenig berücksichtigt: die Frage nach der gesellschaftsund wirtschaftspolitischen Ordnung, die den größten Erfolg bei der Bekämpfung der absoluten Armut verspricht. Damit verbunden wäre nach den Möglichkeiten deutscher Entwicklungshilfe, zu einer solchen Ordnung in den Entwicklungsländern beizutragen, zu fragen. Diese ordnungspolitische Abstinenz der Politik ist um so auffälliger, als die wissenschaftliche Diskussion dieser Frage inzwischen zu relativ klar absehbaren Alternativen vorgedrungen ist
Das Schlagwort „Grundbedürfnisbefriedigung", das sich bei allen Parteien und der Regierung als zentraler Strategieansatz findet, liefert noch keine ordnungspolitische Konzeption. Vielmehr verbergen sich dahinter verschiedene ordnungspolitische Möglichkeiten. Zwei davon entsprechen in der Tendenz ungefähr den konkurrierenden Ordnungsvorstellungen von SPD und CDU in der Gesellschafts-und Wirtschaftspolitik. Man kann zwar nicht sagen, daß sich im Verständnis von Grundbedürfnisbefriedigung in der Entwicklungspolitik beide Parteien ebenso deutlich unterschieden, schon deshalb nicht, weil es hierzu keine ausformulierten Konzeptionen gibt. Viele Äußerungen lassen aber zumindest unterschiedliche ordnungspolitische Akzente erkennen. Arbeitet man diese Akzente der klaren Unterscheidbarkeit halber unter Hinzunahme der ihnen zugrunde liegenden Theorien heraus, dann ergeben sich zwei recht verschiedene Strategien der Grundbedürfnisbefriedigung: — Die mehr verteilungsorientierte und wohlfahrtsstaatliche Strategie, wie sie von sozialistischen Theoretikern vertreten wird, hat vor allem die Versorgung der Armen mit Nahrung, Kleidung, Gesundheit, Obdach, Bildung und Arbeit im Auge. Sie möchte Konsumnormen für Grundbedürfnisse aufstellen und zu einem „rationalen Budget" zusammenfügen, das zum Kriterium für die entwicklungspolitische Förderungswürdigkeit von Produktion und Verteilung in Entwicklungsländern werden soll Zur Definition dessen, was als Grundbedürfnis gilt, zu einer entsprechenden Lenkung der Produktion und Güterverteilung an die Armen, ist eine zentrale Planwirtschaft erforderlich, die weitgehend analog den Zentralverwaltungswirtschaften des Ostblocks arbeiten müßte Kritiker sehen in diesem Ansatz „eine entwicklungspolitische Horrorperspektive", in der „die wachsende Mehrheit von arbeitsfähigen Menschen ... ihre Arbeitskraft im Schlangenstehen vor Versorgungsämtern vergeuden"
In dieser extremen Ausprägung wird das Grundbedürfniskonzept freilich zwar nur von wenigen vertreten, immerhin aber auch von einzelnen Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirates beim BMZ sowie im Bereich von Durchführungsorganisationen des BMZ und in deren Publikationen Das BMZ selbst hat sich hiervon distanziert, aber keine eigene ordnungspolitische Position bezogen. „Entwicklungspolitiker''der SPD stehen einzelnen Elementen dieses Konzepts insofern nahe, als sie die Grundbedürfnisstrategie eher im Zusammenhang mit Verteilungsgerechtigkeit Kritik an Wachstum und Marktwirtschaft und mit „Deckung“ der Grundbedürfnisse verwenden. Diese Akzente bleiben in dem Rahmen, den das Godesberger Programm der SPD ordnungspolitisch den Entwicklungsländern setzte: „Ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung muß von den Ideen des demokratischen Sozialismus erfüllt werden.“ Eine Gefahr auch dieser gemäßigten Variante wohlfahrtsorientierter Grundbedürfnisstrategie ist, daß die ineffizienten und repressiven Strukturen der „bürokratischen Entwicklungsgesellschaft“ noch gestärkt werden, die sich als Staatstyp in den Entwicklungsländern herausgebildet haben.
— Das mehr produktivitäts-und einkommens-orientierte Verständnis von Grundbedürfnis-strategie will die „Produktivkraft der Armen stärken". Es unterstellt, daß Menschen in allen Kulturen eigener wirtschaftlicher Initiative fähig sind und bereit zu Leistung und produzierender Tätigkeit, wenn ihnen ein Anreiz dafür in Gestalt von Preis und Markt geboten wird und sie Zugang zu den Produktionsmitteln, möglichst sogar Eigentum daran, erhalten (durch Agrarreform, Unterstützung bei der Aufnahme selbständiger, handwerklicher oder gewerblicher Tätigkeit, Förderung von Klein-und Mittelindustrien usw.). Ziel dieser Strategie ist es, die Produktivität in den Entwicklungsländern und besonders bei den ärmsten Bevölkerungsgruppen zu steigern. Weiteres starkes Wachstum der Produktion gilt als unentbehrlich zur Linderung der Armut.
Diejenigen sollen produzieren und direkt den Ertrag der Produktion erhalten, die unter sozialen Gesichtspunkten auch am dringendsten darauf angewiesen sind, nämlich die armen Bevölkerungsgruppen. Es soll nicht mehr wie — vergeblich — in der ersten Phase der ökonomistischen Entwicklungsstrategie auf das Durchsickern der zunächst ungleich verteilten Wachstumsergebnisse zu den Massen gewartet werden. „Eine Grundbedürfnisstrategie wird nur dann mehr sein können als ein Elend abschwächendes Bündel von Sozialmaßnahmen, wenn dadurch die . Armen'mehr produzieren und über eine Erhöhung ihrer Produktion einen Zugriff auf Einkommen erhalten. Dies setzt... einen einschneidenden politischen und sozialen Wandel voraus."
Wie die wohlfahrtsorientierte Grundbedürfnisstrategie beruft sich auch diese produktivitätsorientierte auf die Weltbank Sie ist ebenfalls erst in der Wissenschaft einigermaßen ausgearbeitet worden In der Entwicklungspolitik der Opposition kommt sie bisher nur in Schlagworten und vorwiegend in der Auseinandersetzung mit sozialistischen Ordnungsvorstellungen vor ist jedoch nicht in eine positive ordnungspolitische Konzeption gefaßt worden. Die Gefahr einer Entwicklungshilfe nach diesem letztlich marktorientierten Ansatz liegt in der Vernachlässigung der sozialen Verteilung: Es könnten zwar die arbeitsfähigen Armen profitieren, die infolge Unterernährung nicht arbeitsfähigen Ärmsten blieben jedoch unberücksichtigt
Nun liegen die Differenzen zwischen beiden Ansätzen bisher eher in Akzenten: Auch die wohlfahrtsorientierte Grundbedürfnisstrategie will Produktionsmöglichkeiten durch Arbeitsplätze schaffen; auch die produktivitätsorientierte will dort die Grundbedürfnisse durch Güterverteilung befriedigen, wo die Menschen überhaupt leistungsfähig werden müssen. Gerade deshalb sollten Parteien und Regierung ihre Positionen so weit ausformulieren, daß Klarheit entstünde, ob und wie weit hier ordnungspolitischer Konsens oder Dissens herrscht. Die Bundesregierung nimmt vorsichtig eine mittlere Position ein und behauptet, ihre Entwicklungshilfe habe schon bisher zu einem Viertel der Grundbedürfnis-strategie gegolten
Sind diese ordnungspolitischen Nuancen für die Entwicklungshilfe von Belang? Man kann dies verneinen, weil solche Vorstellungen bei den Regierungen der Entwicklungsländer ohnehin kaum Gehör finden. Das gilt aber noch stärker für die verfassungspolitischen Ziele (Menschenrechte, Demokratie) der Entwicklungshilfe. Ein weiterer Einwand ist, daß ethnozentrisehen Systemimperialismus betreibe, wer mit solchen Ordnungsvorstellungen die Entwicklungshilfe verknüpfe Insbesondere die in letzter Zeit auflebende Diskussion um die zu wahrende kulturelle Identität der Entwicklungsländer könnte Zweifel bestärken, ob Ordnungsprinzipien von Industrieländern, insbesondere westlicher Industrieländer und insbesondere Strukturelemente der Marktwirtschaft, Entwicklungsländern empfohlen werden dürfen.
Die im Grunde berechtigte Forderung nach Beachtung der kulturellen Identität kann aber übertrieben werden. Die herrschenden Schichten in den Entwicklungsländern könnten sie mißbrauchen, um ihre Abwehrhaltung gegen die Durchsetzung politischer Grundrechte durch das Tabu der Kulturidentität abzuschirmen Analog läßt sich auf mögliche Kritik an der Übertragung marktwirtschaftlicher Strukturelemente auf Entwicklungsländer durch eine produktivitätsorientierte Grundbedürfnisstrategie entgegnen:
— ökonomische Verhaltensweisen wie Leistungsbereitschaft und Reaktion auf Anreize, wie sie zu den elementaren Bestandteilen von Marktwirtschaften gehören, sind weitgehend kulturunabhängig Ihre Förderung durch Entwicklungshilfe stellt daher keinen Eingriff in kulturelle Autonomie dar, sondern nur einen normalen Zustand her, der dort infolge Armut bisher fehlte oder verloren gegangen war. /— Selbst dort, wo marktwirtschaftliche Grundelemente in ihrer weiteren Entwicklung die traditionelle Kultur verändern, ist dies an sich ein normaler Vorgang, der alle Kulturen zu allen Zeiten gelegentlich oder ständig erfaßt und nur durch die Betroffenen als legitim oder illegitim beurteilt werden kann.
— „Der Kampf gegen die Armut" kann „langfristig nur durch die weitere Rezeption" von „wissenschaftlich-technischer und administrativer Rationalität" in den Entwicklungsländern gewonnen werden Die Entwicklungsländer selbst haben in der UN-Strategie für die dritte Entwicklungsdekade keine Scheu vor dieser Entwicklung gezeigt.
Es hieße das Kind mit dem Bade ausschütten, wollte man als Reaktion auf die gescheiterte ökonomistische Entwicklungshilfestrategie der ersten Dekade jetzt eine Strategie empfehlen, die von den Voraussetzungen der Armutsbekämpfung, nämlich ökonomischem Wachstum und den dafür förderlichen Strukturen, ebenso absieht, wie es die gemeinsame Entschließung des Bundestages zur Entwicklungspolitik tut. Die klassische marktwirtschaftliche Ökonomie hat die Armut nicht verringern können; die wohlfahrtsorientierte Grundbedürfnisstrategie würde in der Dritten Welt eher die Struktur der bürokratischen Entwicklungsgesellschaft verfestigen, die infolge Leistungsschwache und Wachstums-hemmung die Masse ihrer Bevölkerung ebenfalls nicht aus der Armut führen könnte. Was die Entwicklungshilfestrategie jetzt braucht, ist eine offene Diskussion darüber, wie mit demokratiepolitischer, produktivitätsorientierter Grundbedürfnisstrategie die nützlichen Elemente marktwirtschaftlicher Ordnung für die Bekämpfung der Armut in der Dritten Welt genutzt werden können.