Dieser Text hat einem Symposium zu Ehren des 60. Geburtstags von Prof. Dr. Iring Fetscher, das im März dieses Jahres in Frankfurt abgehalten wurde, vorgelegen. Frau Dipl. -Sozialwirtin B. Clemens, Herrn Dr. W. Eßbach und Herrn Dipl. -Sozialwirt D. Hellwig habe ich für Hilfe und informative Gespräche zu danken. Für etwaige schiefe Sichtweisen bin selbstverständlich ich allein verantwortlich.
Als reines Ideal, für sich genommen, altern revolutionäre Vorstellungen überhaupt nicht. Sie leben, als Ausdruck von Menschheitssehnsüchten, im Himmel der Ideen, „ewig wie die Sterne selbst". Doch als Perspektive praktischer Lebensführung und politischer Praxis des einzelnen und sozialer Gruppen können sie veralten, und dies desto schneller, je schroffer sie von der Wirklichkeit abstrahieren. Treffen sie krisenhafte Tendenzen eines überkommenen Regimes, so können sie praktische Politik erfolgreich bestimmen. Dauerhaften Erfolg hat aber nur das Realisierbare, das Konsensfähige, das von der Mehrheit Akzeptierbare, weil es ihren Interessen nützt. Erfolglos bleiben die ideologischen Überhöhungen; wer an ihnen kompromißlos festzuhalten versucht, scheitert.
Der vorliegende Beitrag möchte diese Vermutungen überprüfen. Streng sozialwissenschaftliche Erhebungs-und Beweisverfahren werden dabei nicht angewandt. Es handelt sich um einen Versuch, der mehr als die Plausibilität von Sichtweisen nicht erreichen kann und sich damit bescheidet, Denkanstöße zu geben.
I. Französische Revolution
Was man satt hat Der Graf Mirabeau: „Alle Wesire und Unterwesire, Sultaninen und Zofen von Sultaninen, betitelte Agioteure, dekorierte Lakaien, begönnerte Diebe, bevorrechtigte Monopolisten." — „Diese feigherzige Fügsamkeit, diese(n) öde(n) Egoismus, diese feile Dienstfertigkeit, die alle Klassen der Gesellschaft vergiften.“ — „Die ungesetzliche(n) Befehle, willkürliche(n) Urteile, geheime(n) Bestrafungen.“ Die Privilegien, „die nützlich gegen die Könige, aber verabscheuungswert gegen die Nationen“ sind. Die vielen „unheilvolle(n) Arten von Steuern." Die vampirartigen Zustände in Paris unter dem „Despotismus", der die Leute dazu zwingt, „von Agiotage, Prozessen, Luxus, Putz und Schmuck oder den Gehältern einer korrumpierenden Regierung“ zu leben. (Briefe,
I. Bd., S. 14, 18 f., 75, 127, 135)
Alexis de Tocqueville: „Nun stelle man sich einmal den französischen Bauern des 18. Jahrhunderts vor... Man denke ihn sich, wie ihn die erwähnten Dokumente geschildert haben, so leidenschaftlich erpicht auf das Stück Feld, daß er auf dessen Ankauf alle seine Ersparnisse verwendet und es um jeden Preis kauft. Um es zu erwerben, muß er zunächst eine Abgabe entrichten, nicht an die Regierung, sondern an andere Grundeigentümer der Nachbarschaft, die der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten ebenso fernstehen wie er, und die fast ebenso ohnmächtig sind. Besitzt er es endlich, so versenkt er zugleich mit dem Saatkorn sein Fferz darin. Dieses Stückchen Boden, das ihm in diesem weiten Universum zu eigen gehört, erfüllt ihn mit Stolz und mit dem Bewußtsein der Unabhängigkeit. Trotzdem kommen jene Nachbarn, die ihn seinem Felde entreißen und ihn nötigen, anderswo ohne Lohn zu arbeiten. Will er seine Saat gegen ihr Wild schützen, so hindern sie ihn daran; dieselben Leute erwarten ihn, wenn er über den Fluß setzen will, um einen Zoll von ihm zu fordern. Er findet sie auf dem Markt wieder, wo sie ihm das Recht verkaufen, seine eigenen Waren zu verkaufen; und wenn er, in seine Wohnung zurückgekehrt, zu seinem ei-B genen Gebrauch den Rest seines Korns verwenden will, des Korns, das unter seinen Augen und der Pflege seiner Hände gewachsen ist, so darf er dies erst tun, nachdem er es in derMühle dieserselben Leute hat mahlen und in ihrem Ofen hat backen lassen. Die Zinsen, die er ihnen zahlen muß, erfordern einen Teil des Ertrags seines kleinen Gutes, und diese Zinsen sind unverjährbar und unablösbar ... Man stelle sich die Lage, die Bedürfnisse, den Charakter, die Leidenschaften dieses Mannes vor, und man berechne, wenn man es vermag, den reichen Schatz an Haß und Neid, der sich in seinem Herzen aufgehäuft hat.“ (Der alte Staat und die Revolution, S. 38)
Teile des Adels haben den ruinenhaften Feudalismus satt, das Bürgertum hat ihn satt, die kleinen Leute haben ihn satt, die Bauern haben ihn satt: , „Der gegenwärtige Stand der Dinge', sagt ein deutscher Schriftsteller, ein Zeitgenosse und Freund dieses alten Staates, . scheint im allgemeinen allen anstößig und bisweilen verächtlich zu sein. Es ist seltsam zu sehen, wie man jetzt alles ungünstig beurteilt, was alt ist. Die neuen Anschauungen brechen sich Bahn bis in den Schoß unserer Familien und stören da die Ordnung. Selbst unsere Hausfrauen können ihr altes Hausgerät nicht mehr leiden'.“^. a. O., S. 28)
Auf der bürgerlichen Gesellschaft, die sich Bahn gebrochen, während der Feudalismus in Trümmer fiel, ruhen die Hoffnungen. Sie braucht einen neuen politischen überbau.
Die politischen Ziele Graf Mirabeau. Die FREIHEIT, „abgöttisch angebetet von den starken Seelen“. Sie ist „Keim zu jedem Glück und jeder Tugend". Konkret ist sie „Freiheit des Denkens, des Schreibens" (und der Presse), die „Freiheit der Arbeit und des Handels", „das Reich des Eigentums... und der gegenseitigen Hilfe".
Man beseitige das korrupte Steuersystem „und überlasse es der Industrie und dem Handel, die nun dem Regiment der Freiheit anvertraut sind, die Wunden der Fiskalität zu heilen“. Man wird sehen, „was binnen fünfzehn Jahren aus dem konstituierten französischen Reich geworden ist“. Es wird werden, „wozu es die Natur gemacht hat: die größte Macht des Universums“. Die Generalstände als versammelte Nation müssen, wie in England, zu einem wirklichen Parlament mit Steuerbewilligungsrecht werden. (Briefe, I. Bd., S. 7, 15, 58, 64, 69 f., 83, 105, 119, 127)
Robespierre. Inzwischen hat man ja gesehen, wohin ein konstitutionelles Regime nach Art des Grafen Mirabeau — der im übrigen ein Verräter war — geführt hat. Die Apologeten der englischen Verfassung machen „den Egoismus zum System, ... aus der Revolution ein Handelsgeschäft“. Wir aber „wollen in unserem Lande den Egoismus durch die Moral ersetzen, ...den Geldhunger durch die edle Ruhmsucht“... „Welches ist nun das Grundprinzip der demokratischen und Volksregierung, d. h. die wesentliche Kraft, die sich trägt und die sie in Bewegung setzt? Die Tugend ist es." (Reden, S. 321 ff., 328, 354, 362 f.)
Enthusiasmus und Anzeichen des Weltlaufs Camille Desmoulins. Die Revolution bereitet unvorstellbare Freude. „Ich will entflammen, andere und mich selbst." — „Wir wollen die grüne Farbe tragen, die Farbe der Hoffnung!“ ruft er am 16. Juli 1789, zwei Tage nach dem Bastillensturm seiner 6 OOOköpfigen Zuhörerschaft zu. Seine Pamphlete haben Erfolg. Er ist Römer: Lucius Sulpicius Camillus. Sein Ruhm wächst. Er trinkt bei Mirabeau besseren Bordeaux, als einem volkstümlichen Revolutionär eigentlich zuträglich. Die feinen Damen der Revolution bitten ihn in ihre Salons.
Ruhm wiegt Geld auf. „Diese entzückende Lucile ..., ihre Eltern geben sie mir endlich, und sie sagt nicht nein." Der Vater weist nicht nur einen Nebenbuhler ab, der 100 000 Francs schwer; er steckt Camille sogar 100 000 Francs zu, dazu die Hälfte seines silbernen Tafelgeschirrs. Die Assignaten stehen allerdings schlecht. „Ich habe nicht aufgehört, meinem Schwiegervater und meiner Frau in diesen zwei Jahren zu sagen, daß der Bankrott unvermeidlich sei; ... daß es ... das Beste wäre, ihre Stadtanleihen gegen Nationalgüter umzutauschen."
Den Generalsekretär des Justizdepartments beschleicht der konterrevolutionäre Gedanke, ob die vielen Hinrichtungen eigentlich notwendig sind, die Republik zu retten. „Ich kann mir nicht verwehren, immerzu daran zu denken, daß diese Menschen, die man zu Tausenden umbringt, Kinder haben, auch ihre Väter haben." (Briefe, I. Bd., S. 145, 148, 159, 164, 166 ff., 173 f., 182)
Weltlauf Camille an Lucile, aus dem Gefängnis des Luxembourg.„Ich hatte von einer Republik ge25 träumt, vor der jeder Mensch gekniet wäre. Ich konnte nicht glauben, daß die Menschen so wild und ungerecht sind." — „Ich sehe wohl, daß die Macht alle Menschen berauscht... (Briefe, I. Bd„ S. 189 f.)
Georg Forster. War es sinnvoll zu hoffen, die Revolution werde das Glück der Franzosen mehren? Eine verkehrte Sichtweise! „Die Natur oder das Schicksal fragt nicht nach dieser besondern Art von Glück.“ Es geht allein um Schmerz und Freude, die Wirkungen und Gegenwirkungen verursachen. Nichts geschieht ohne Leidenschaften. Sie sind die wahren Triebfedern der Revolution. Die alte Verfassung hat das Wechselspiel der Leidenschaften behindert. Sie mußte hinweggefegt werden.
Welche Bedeutung haben in diesem Chaos der sittlichen Leidenschaften die Maßstäbe? Sie gehen den einzelnen an, er kann daran festhalten, mit ihrer Hilfe weshalb Revolution die „mit allen ... Übeln und Greueln" auch sittlich geboten war. Doch in einer Gesellschaft Tugend - und Sittlichkeit nie mals verwirklicht werden. Praktische Politik, die sich danach richten wollte, würde nur „eine Szene des unermeßlichsten Elends und das Grab einer Freiheit bewirken". (Briefe ... II. Bd., S. 240, 242, 248 ff., 255 f., 270 ff., 275 f.)
Forsters letzter Brief an seine Familie: „Die Revolution ist ein Orkan, wer kann ihn hemmen? Ein Mensch, durch sie in Tätigkeit gesetzt, kann Dinge tun, die man in der Nachwelt nicht vor Entsetzlichkeit begreift. Aber der Gesichtspunkt der Gerechtigkeit ist hier für Sterbliche zu hoch ... Meine Lieben, ich kann jetzt nicht weiter vor Erschöpfung ... Gott erhalte Euch, meine Einzigen.“ (Briefe, II. Bd., S. 285)
Der Maulwurf der Revolution. Nie hat eine Fanfare der Revolution heller geklungen: „Wirhaben uns dreiFragen vorzulegen. 1. Was ist der dritte Stand? Alles. 2. Was ist er bisjetzt in der staatlichen Ordnung gewesen? Nichts. 3. Was verlangt er? Etwas darin zu werden.“ (Sieyes, Was ist der dritte Stand?)
Die Revolution hat in den Augen des Abbe Sieys eine bürgerliche Revolution zu sein. Frauen, und wer in abhängiger Arbeit steht, sind keine Bürger. Die bürgerliche Gesellschaft beruht auf freiem Warenaustausch. Wer ihn beschränkt, behindert die Entfaltung der gesellschaftlichen Lebenskräfte und den wirtschaftlichen Fortschritt. Die Bürger herrschen nicht selbst, sondern durch ihre parlamentarischen Vertreter.
Diese Maximen sind der Kompaß, nach dem Sieys in stürmischen Zeiten seinen Kurs beharrlich bestimmt. Die großen Konventsreden überläßt er Leuten wie Danton und Robespierre. Wenn es geht, bleibt er zu Hause und schreibt Notizen für die Schublade. „Niemand sagt: Er ist weitsichtiger als wir'. Sie sagen alle: Er sieht es anders, deshalb ist er gefährlich usw. ’." Dann werde man aufgefordert, seine Gedanken zu publizieren. In Wirklichkeit wolle niemand belehrt werden. Auch wissenschaftliche Argumente gälten als potentieller Verrat. Später über seine Haltung in der Periode der „terreur" befragt, gab er die klassische Antwort:, Jai vcu."
Der Prozeß gegen Ludwig XVI. zwingt ihn, sich zu offenbaren. Seine politische Theorie verlangt nicht den Tod des Königs. Ein Teil der Gironde, Condorcet, Brissot, spricht sich dagegen aus. Im Konvent zur Abstimmung abgerufen, sagt er die hinein ein in gespannte Stille einziges Wort: la mort. Langatmige Erklärungen, die andere Abgeordnete unvorsichtiger-weise abgeben, vermeidet er.
Sieys sieht Robespierre fallen, tut aber nichts, um dessen Sturz zu beschleunigen.
Er wird in den Untersuchungsausschuß, der die Umtriebe der Jakobiner untersuchen soll, gewählt. Er geht nicht zu den Sitzungen, wird deswegen öffentlich angegriffen. Nach dem Sturz der Jakobiner soll eine neue Verfassung beraten werden. Er wird in die Verfassungskommission gewählt und demissioniert sogleich. In diesen gefährlichen Zeiten bloß keine Verantwortung übernehmen! Dabei ist es seine Lieblingsbeschäftigung, sich Verfassungen auszudenken.
In der Außenpolitik findet Sieys ein weniger gefährliches Betätigungsfeld. Er konzipiert die Politik der Absicherung Frankreichs durch einen cordon sanitaire von Satellitenstaaten. Zu erneutem Ruhm gekommen, kann er sich der Wahl ins Direktorium nicht entziehen. Frankreich befindet sich in einer Dauerkrise. Ein Teil des revolutionären Bürgertums hat sich bereichert und interessiert sich nur dafür, reich zu bleiben. „Die Masse jener, die weder Verfolger noch Verfolgte sind", meinte Ma-dame de Stael, „möchte vor allem seine Ruhe haben. Landwirtschaft, Handel, Staatsverschuldung, Steuern, Krieg und Frieden, das beschäftigt sie, weil sie nur noch ihre Bequemlichkeit und Ruhe wünscht ... Gibt man ihr diese Ruhe nicht auf Dauer, so wird sie unruhig und unzufrieden." Eine neue Verfassung, so Sieys, könnte diese ruhigen Verhältnisse schaffen. Sie müßte ein kunstvolles gewaltenteiliges Repräsentativsystem sein, das Partikularinteressen weitgehend herausfiltert. Ein Senat, das College de Conservateurs, fungiert als Hüter der Verfassung. Ein Staatspräsident, Le Grand Electeur, personifiziert Frankreich. Er ernennt und entläßt die Mitglieder der Regierung.
Nach Sieyes'Vorstellung soll Bonaparte diese Verfassung realisieren. Dieser hört seinem Vortrag amüsiert zu. Bekanntlich hält er nichts von Ideologen. Wenn er schon ins politische Geschäft einsteigen soll, dann als Erster Konsul mit diktatorischen Vollmachten. Dem düpierten Sieys fällt das Amt des Senatspräsidenten zu. 1808 wird er in den Grafenstand erhoben. Nach der Restauration trifft ihn die späte Rache für sein Votum für die Hinrichtung des Königs: Er wird verbannt. Die Juli-Revolution von 1830 ermöglicht seine Rückkehr nach Paris, wo er 1836, 88jährig, stirbt.
II. Die Abenteuer des Junghegelianismus
„Werft sie weg, die Illusionen! Es ist keine Schande, in einer Selbsttäuschung gelebt zu haben! Aber die abgelebte und erkannte Illusion lestzuhalten, ist Tödtlich.“ (Bruno Bauer, Parteikämpfe in Deutschland, S. 4)
Die Mißstände Die Not der einfachen Leute kümmert die Junghegelianer weniger, wenn man von dem Redakteur der Rheinischen Zeitung, Karl Heinrich Marx, absieht. Um so mehr erregte sie Preußens politische Rückständigkeit. Die preußischen Könige mißachteten fortwährend das Verfassungsversprechen des Jahres 1815. Die Vorherrschaft des Adels und das Privilegienwesen blieben ungebrochen. Immerhin protegierten Friedrich Wilhelm III. und sein Kultusminister Altenstein Hegel und seine Schüler, so daß auch auf den linken, ungebärdigen Teil der Hegelianer ein Abglanz des rechten philosophischen Glaubens fiel. Fehlende Pressefreiheit und kleinliche Zensur behinderten jedoch die Geistesakrobatik der gelernten Dialektiker unerträglich.
Dabei waren so gut wie alle Junghegelianer glühende Verehrer Preußens. Carl Friedrich Köppen veröffentlichte im Jahre 1840 ein Buch mit dem Titel „Friedrich der Große und seine Widersacher. Eine Jubelschrift", das er seinem „Freunde Karl Heinrich Marx aus Trier“ widmete. Hatte nicht der Philosophen-könig aus disparaten Elementen den Vernunftstaat Preußen und das „lebendige Staatsbewußtsein“ seiner Bürger geschaffen? Hieran, und an den „stein-hardenbergschen Geist“, so Ruge im Jahre 1841, hätte der Thronfolger Friedrich Wilhelm IV. anknüpfen sollen. In den junghegelianischen Pamphleten schwingt auch verschmähte Liebe.
Liberalismus /Konstitutionalismus versus freier Staat Ruge. Dem Hegelianer sind die liberalen Postulate keine bloßen Kampfparolen gegen das alte Regime. Ihre Substanz ist der fortschreitende, sich im Volk verwirklichende Geist. Der Staat, so heißt es im Leitartikel der Hallisehen Jahrbücher zum Jahrgang 1841, sei „die prozessierende Existenz unseres Selbstbewußtseins ..., das geordnete und in allgemeinen oder vernünftigen Formen sich selbst bestimmende Volk". Es leuchte sogleich ein, „daß die Formen der Vertretung, der Öffentlichkeit, der Pressefreiheit, der Geschworenengerichte, der Nationalvertheidigung etc., welche der Liberalismus eingeführt oder aufgenommen hat, keine zufällige, sondern Begriffsformen, entsprechende Bildungen der Freiheit oder des freien Geistes selbst sind.“
Auch die Partei hat in diesem System ihren Platz. Ihr Prinzip ist die Negation. Doch sie „negiert nicht ins Blaue hinein“, sondern aus einem „vernünftigen, entschiedenen Willen" heraus. So schlägt das Negative durch „Geltendmachen der Vernunft" ins Positive um. Aller Fortschritt kommt so zustande.
Der freie Staat. Dem liberalen Konstitutionalismus hielten die „Freien" — der entschiedenste Flügel der Junghegelianer um Bruno und Edgar Bauer; auch Engels gehörte ihnen an — ihre „consequente Staatsansicht" entgegen. Sie ist durch einen vagen Rousseauismus charakterisiert: Der Wille der einzelnen muß so weit wie möglich mit dem Gesamtwillen übereinstimmen; an die Stelle der Repräsentation im liberalen Sinne tritt, daß jeder den anderen und zugleich das Ganze vertreten kann. „In dem wahrhaften Staate, da ist es das bürgerliche Bewußtsein, das Bewußtsein zu einer allgemeinen menschlichen Gesellschaft, welche vernünftige menschliche Zwecke verfolgt, zu gehören, welches jedem Einzelnen seine Weihe gibt. Daßich der organische Theil eines Ganzen bin, welchesin seinerfreien Lebendigkeit den Einzelnen anregt, adelt, erhebt und ihn seiner Selbstsucht entkleidet, daß ich, für mich handelnd, zugleich für ein Ganzes handele, das ist es, was mir den Charakter des wahren Bürgers gibt. Der Staat, das ist der Himmel, wo in harmonischem EinklängeAlles ineinandergreift und alle einzelnen Töne zu einem Loblied für das Allgemeine der Gesellschaftzusammenklingen." (Edgar Bauer, Bruno Bauer, und seine Gegner, S. 26, 8)
Wirklicher „Revolutionair" ist nur, wer die Begriffe, die das alte und auch das liberale Regime kennzeichnen, in radikaler Kritik auflöst, „verflüssigt“, auch wenn ein positives Ziel nicht sichtbar wird. Bruno Bauer, so Ruge in einem Brief an Fleischer vom 12. Dezember 1842, „heftete mir die lächerlichsten Dinge auf die Nase, z. E.der Staat und die Religion müßten im Begriff aufgelöst werden, das Eigenthum und die Familie dazu, was positiv zu machen wäre, wisse man nicht, man wisse nur, daß alles zu negieren sei, d. h. die Negativität derfrivolen Welt zum Princip machen undalle Bestimmtheit, alle Begeisterung für die historische Aufgabe der Menschheit, die man sich nie anders alspositivdenken kann und die das wahrhaft Positive wirklich sind, aufheben.“
Die kritische Kritik kritisiert so lange, bis sie unversehens den Weltlauf akzeptiert Die Verfechter des „freien Staates“, so Edgar Bauer selbstkritisch in der Allgemeinen Literatur-Zeitung vom Juli 1844, hätten sich abstrakt gegen jede Bestimmtheit gewandt: ..... das bestimmte Recht, das bestimmte Gesetz, diese bestimmte Staatsform waren in seinen (sc.des freien Staates) Augen der Benennung Recht, Gesetz, Staat unwerth“. Dieser abstrakte Gestus habe nicht durchgehalten werden können: „Die radicale Kritik sah alles Recht auf Seiten des Volkes, allen Widerspruch auf Seiten der bevormundenden Regierung ... fhre ganze Weisheit... bestanddarin, sich zu einerRegierungim Gegensatzzu wissen, die eigene Klugheit an die Handlungen dieser Regierung zu legen und dieselben nach ihren Kategorien: Volk, Freiheit, Parthei, zu messen. Die beste Art, wie diese radicale Kritik kritisiert werden konnte, war die gewaltsame Reaction, welche durch das Verbot der Rheinischen Zeitung und ähnlicher Blätter erfolgte. Die Regierung bewies damit, daß ihre Kraft ungeschwächt sei und vorAllem, daß sie in dem regierten Volke immer noch denselben Hinterhalt habe wie sonst.“
Der Gestus, der „das Bestehende verflüchtigte, ... in dem er eine gewisse Altklugheit, ein Gefühl des Fertigseins und den Hochmuth, die Lösung aller Fragen in der Tasche zu haben, verbreitete", kann die Sache der reinen Kritik nicht sein. Sie will künftighin „Nichts, als die Dinge kennenlernen“.
„Was ist jetzt der Gegenstand der Kritik?“, fragt Bruno Bauer, ebenfalls in der Allgemeinen Literatur-Zeitung. Paradoxien von der Art des „freien Staates" kann sie jedenfalls nicht mehr ertragen. Deren Ursache war, daß sie sich in politische Auseinandersetzungen hat ziehen lassen. Nunmehr gilt es klar zu erkennen, daß bestimmte politische Konstruktionen unmöglich sind. Die französische Revolution z. B. wollte eine neue menschliche Ordnung stiften. Doch ihre Ideen „führten ... über den Zustand, den sie mit Gewalt aufheben wollte, nicht hinaus“. Robespierres und St Justs „kolossale Idee, ein .freies Volk'zu bilden, welches nur nach den Regeln der . Gerechtigkeit und Tugend'lebt. ... konnte sich nur durch den Schrecken für einige Zeit halten und war ein Widerspruch, gegen welchen die allgemeinen und selbstsüchtigen Elemente des Volkswesens in der feigen und heimtückischen Weise reagierten, die von ihnen nur zu erwarten war.“
Ebenso unmöglich ist die Idee des Sozialismus. Ihr geht es um die Organisation des Proletariats — der Masse, die „aus der Neutralisation der feudalistischen Gegensätze“ in der Revolution hervorgegangen ist Doch nach Auflösung des Feudalismus ist die Masse „der Verfall der Gattung in die Menge der einzelnen Atome...; sie ist ein bloß elementarischer Stoff, der Niederschlag einer zersetzten organischen Gestalt“. Zudem ist das sozialistische Programm widersprüchlich. „Das Radikalmittel besteht darin, daß alles außer derMasse dernützlichen Arbeiter negiert und durch seine Negation ersetzt wird. An die Stelle des Staats tritt durchweg der Nicht-Staat, an die Stelle der Regierung die Regierungslosigkeit, und die Einheit, Bruderliebe, Freiheit und Gleichheit treten an die Stelle der amputierten Unterschiede, abernurfüreinen Augenblick, nur als Chimäre, denn diese rohe Negation ist gezwungen, sich zugleich ebensoroh wiederaufzuheben und diese Heilmethode als erfolglos bloßzustellen. Die Masse von freien Brüdern kann ihre Freiheit und Gleichheit nur durch eine Verfassung sichern, die , dem Prinzip nach alle Fragen entscheidet, welche die Nahrung, Kleidung, Wohnung, Ehe, Familie, Arbeit betreffen'— kurz, durch eine Verfassung, die die Freiheit auch in den kleinsten Dingen aufhebt." (Bruno Bauer, Feldzüge der reinen Kritik, S. 204, 208 ff., 214 ff., 222)
Technokratischer Konservativismus avant la lettre Der Machtantritt Napoleons III. signalisiert nach Bruno Bauer eine Ära cäsaristischer Herrscherfiguren. Sie wird zum endgültigen Zusammenbruch metaphysischer Staatsideen führen. Dies deshalb, weil unter cäsaristischen Systemen die wirtschaftliche Sphäre — die Welt der Unternehmer, der Arbeit und der Technik — sich ungehindert entfalten kann. „Die gesellschaftliche Stellung der Wissenschaft in der Gesellschaft und der nächsten Zukunft" wird sich entsprechend verändern. Denn „Reichthum und Macht, das Ziel, dem die Staaten wie die Glieder der bürgerlichen Gesellschaft zustreben, sind auch das Ziel gewesen, das die Bearbeiter der Wissenschaft von jeher im Auge gehabt haben“. Der „speculative Geist“ ist nutzlos. Er kann nicht mehr damit rechnen, daß man ihn bezahlt:
Die Völker, die mit der Unterwerfung derNatur endlich zu Stande kommen wollen, brauchen nur den Ingenieur, der industrielle Anstalten auf neuen und folgenreichen Principien gründet,... — das ist der Mann, dem die Völker in ihrem praktischen Kampfmit Raum und Zeit ihr Vertrauen schenken; aber sie haben weder Zeit noch Lust dazu, auf den Streit der Philosophen über den Begriff von Raum und Zeit zu hören..."
Bauer wird zum Apologeten des positiven Zeitgeistes. Dieser schlägt sich auch im Bereich der gesellschaftlichen und politischen Institutionen nieder. Die politischen Ideen werden für tot erklärt. Bauer liefert die antiparlamentarischen Stichworte, die bis heute wirken: Die Parteien tragen sinnlose Kämpfe aus; jede würde bedenkenlos die Gesellschaft ihren Theorien opfern. „Im Gezänke der parlamentarischen Fractionen“ kann sich ein „ehrenvolles Bewußtseyn" nicht mehr vertreten finden. Liberalismus, „Theilung der Gewalten“, sind nichts als „Constitutionsheuchelei". Betrachten die Völker nicht „ihre constitutioneile Vertretung mit Gleichgültigkeit?"
Der tiefste Grund der Obsoleszens politischer Mythen liegt darin, daß ihr Wesenskern in den modernen Staaten bereits realisiert worden ist. Die Freiheit vom Staat, welche die extremste Demokratie forderte, existiert bereits. Die Freiräume, die zur Entfaltung der Wirtschaftsund Arbeitsbeziehungen erforderlich, stehen bereit. Die modernen Regierungen müssen dies erkennen. Sie müssen sich von den ideologischen Einflüsterungen von Parlaments-männern wie Thiers, Guizot, Geppert oder Riedel, erst recht von sozialistischen Illusionen, radikal freimachen. Es geht allein darum, „vollständig das höchste (sc. zu) gewähren, was ein Staat gewähren und leisten kann — Sicherheit ... Das Bedürfnis nach Sicherheit ist gegenwärtig so mächtiggeworden, daß esjene Illusionen und Reminiscenzen überwältigen wird."
Die politische Form der modernen Staaten ist das napoleonische Kaisertum als Cäsarentum. Kennzeichen des Cäsarentums ist seine Vereinbarkeit mit der Volkssouveränität. Es geht Bauer nicht um eine Rückkehr zum Absolutismus (den die Völker auch gar nicht wollen). Das moderne Kaisertum vermag den gesellschaftlichen, nunmehr von allen politischen Ideologien gereinigten Bereich auszugrenzen, dessen Freiheitsspielräume mit Anarchie und „äußerster Consequenz der Demokratie" vergleichbar sind. „ Wodurch gründet sich... die Freiheit derpersönlichen Bewegung? Darauf nur, daß sie durch keine politischen Privilegien, durch keine politischen Klassen und Eigenthumsvorrechte mehr gehindert wird. Eigenthum undArbeit haben in derPolitik nichts mehrzu thun." „Verzicht leisten auf jeden Anspruch, auf geistige Suprematie — Verzichtleistung auf jedes gesetzgeberische Eingreifen in die geistige und industrielle Arbeit des Volkes — Verzichtleistung auf alle Experimente, die in die Domäne der Intelligenz und Moral doch nur vergeblich eingreifen — Einhaltung der Ordnung und Sicherheit und Nichts als diese Erhaltung, das ist Aufgabe und Attribut der modernen Gewalt, die auch da schon längst kaiserlich geworden ist, wo sie noch ihren früheren Namen behalten hat.“
Dem Kaiser, der keinem dieser modernen Stände, weder dem des Eigentums noch dem der Arbeit, angehört, kommt die Funktion zu, zu nivellieren (d. h. auszugleichen) und zu garantieren. Er wird nicht übermächtig werden. Und zwar verhindert dies nicht das obsolete Prinzip der Gewaltenteilung, sondern das Prinzip der „Theilung der Arbeit“. Reales Ge29 gengewicht zum Kaiser ist nicht das Parlament, sondern „Industrie, Kunst, Wissenschaften", die „lebenskräftige(n) Lebensmächte der neuern Zeit".
Eine schillernde, facettenreiche, bedeutsame Analyse. Sie findet sich in Bauers Schrift „Rußland und das Germanentum" aus dem Jahre 1853 (vgl. insbes. S. 47 ff., 71 ff.. 90 ff.). Proudhon läßt von ferne grüßen. Beziehungen bestehen zu den positivistischen zeitgenössischen Strömungen, zum französischen Konservativismus vom Typ des Ordre Nouveau, zu Positionen Max Webers und zum „Staat der Industriegesellschaft" Forsthoffs. Etatismus und Absage an soziale Bewegungen weisen Bauer als Konservativen aus. Hinweise auf die Souveränität von Eigentum und Arbeit, die „sich selbst ihr Gesetz" schüfen, die Rede von der „Verzichtleistung auf jedes gesetzgeberische Eingreifen in die geistige und industrielle Arbeit des Volkes" können verstanden werden, als denke Bauer an Organisationsformen der Selbstverwaltung; auch eine Interpretation im Sinne eines Ständestaates ist möglich. Jedenfalls verbieten sich eindimensionale Deutungen dieses originellen Denkens.
Epilog Die oft kommentierte konservative Wende vieler Junghegelianer darf nicht immer als schlichtes „Rechtsum!" verstanden werden. Bruno Bauer verhielt sich gegenüber Bismarck reserviert. Freilich hat er in der „Kreuzzeitung“ und in anderen Publikationen geschrieben. Er mußte von seiner Schriftstellerei leben. Ruge schloß nach der Gründung des Norddeutschen Bundes seinen Frieden mit Bismarck. Er interpretierte ihn als ersten Schritt zur deutschen Nationalrepräsentation. 1877 nahm er von Bismarck einen Ehrensold an. Bismarckianer ist er aber nie geworden.
III. Tucholsky und die Weltbühne
Die Misere von Weimar Die Autoren der Weltbühne setzten große Hoffnungen auf die Revolution. Die Enttäuschungen folgten Schlag auf Schlag. Proteste des Auswärtigen Amtes gegen Eisners Akten-veröffentlichungen zur Kriegsschuldfrage. Der fortdauernde Einfluß der Offiziers-und Beamtehkaste. Die Pensionen für Reaktionäre. In den Schulen die alte Volksverhetzung. Die Moralapostel und Sittlichkeitsfanatiker. Die skandalös einäugige Justiz: blind gegen die Umtriebe auf der Rechten, ihre Schandurteile gegen links. Die Unterdrückung der Freiheit der Kunst. Die kaum geahndeten Fememorde. Die Schwarze Reichswehr und die völkerrechtswidrige Aufrüstung: Wer die Machenschaften aufdeckt, wird, wie v. Ossietzky, wegen Landesverrates verurteilt. Der Antisemitismus. Die Reichsexekution gegen Sachsen. Nicht einmal der 8-Stunden-Tag, die populärste Errungenschaft der Revolution, kann beibehalten werden. Die SPD agitiert im Wahlkampf gegen den Bau des Panzerkreuzers A — das Kabinett Müller (SPD) beschließt den Panzerkreuzerbau am Beginn seiner Amtszeit. Der Berliner Polizeipräsident Zörgiebel (SPD) läßt am 1. Mai 1929 auf Kommunisten schießen, die das Demonstrationsverbot mißachten. Hindenburg als Reichspräsident. Die Tolerierungspolitik. Der allgemeine Marasmus der Linken.
Für diese Misere ist nach Auffassung der Weltbühne vor allem die Sozialdemokratie verantwortlich: „Ihre agilsten Männer, die Noske, Landsberg, Heine waren nur die Platzhalter und Wegbereiter für Militarismus und Kapitalismus, und selbst ihr wohlwollendstes Regierungsmitglied, Wissell, travestierte mit dem gewerkschaftsbürokratischen Projekt seiner Planwirtschaft nur die wirkliche Sozialisierung" (H. Ströbel, 2. Hbj. 1919 S. 61). Kein Vernünftiger hätte eine sozialistische Umgestaltung im ersten Anlauf, wie von den Kommunisten propagiert, erwarten können. Aber, als die Macht noch bei den Sozialdemokraten lag: Hätte nicht wenigstens ein Heer aus zuverlässigen Gewerkschaftern gebildet, hätten nicht wenigstens die „allerschlimmsten Säulen des alten Regimes" aus dem „großen Verwaltungsapparat" entfernt werden können? (Ignaz Wrobel, 1. Hbj. 1920 S. 241). Doch: „Skatbrüder sind wir, die den Marx gelesen, Wir sind noch nie so weit entfernt gewesen von jener Bahn, die uns geführt Lassalle.'(Theobald Tiger, 2. Hbj. 1921 S. 312).
Der „Verräter Ebert". Die „Hilferdinge". Der „Damenschneider Breitscheid". Eine dauerhafte, gründliche Abneigung. Noch in der Emigration schreibt Tucholsky: „Eine Geißelung so einer Schießbudenfigur wie Breitscheid oder Hilferding ... — das ist ja Leichenschändung“ (Ausgewählte Briefe, S. 336). In dieser zur Karrikatur gewordenen Republik — nicht mehr unsere, sondern „eure" — kommt es auf die Stimmenverhältnisse nicht mehr an. , Dein Geschick, Deutschland, machen Industrien Banken und die Schiffahrtskompagnien... Reg dich auf und reg dich ab im Grimme! Wähle, wähle! Doch des Volkes Stimme is ja janz ejal!.. (Theobald Tiger, 1. Hbj. 1928, S. 752)
Nach dem sozialdemokratischen Erfolg in den Reichstagswahlen des Jahres 1928 riet v. Ossietzky von der Bildung einer großen Koalition ab. Nur in der Opposition könnten dem sozialistischen Lager neue Kräfte erwachsen. Bekanntlich kam die große Koalition unter Führung des Reichskanzlers Müller (SPD) trotzdem zustande; sie scheiterte spektakulär. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! „Sozialismus bei den Sozialdemokraten suchen, nein, das hieße, von einem Brombeerbusch Bananen verlangen! (v. Ossietzky, 1. Hbj. 1929, S. 769).
Die Analysen der Weltbühne sind nicht immer zwingend. Sie verkennen reale Restriktionen linker Politik. Die einzig wirklich republikanische Partei hätte kaum anders gekonnt, als nach einem Wahlsieg die Regierungsverantwortung zu übernehmen. Andererseits — wer konnte nach allem, was vorgefallen, noch Vertrauen in die sozialdemokratische Politik haben? Sozialdemokraten mit Apparatinteressen, selbstverständlich. Gewerkschaftsorientierte Mitglieder der älteren Generation, die den Stand der Dinge, insbesondere auf dem Gebiet der Sozialpolitik und der Arbeitsbeziehungen, für einen Fortschritt hielten, verglichen mit den Verhältnissen im Kaiserreich. Schließlich Parteiintellektuelle vom Typus David, Hilferding, Breitscheid, Keil usw., die die Mechanismen des parlamentarischen Systems und damit die Politik des Kompromisses und des kleineren Übels bewußt bejahten. Der Parteijugend und den linksbürgerlichen, idealistisch denkenden sympathisierenden Kreisen war der Sinn dieser Politik kaum verständlich zu machen.
Tucholskys Flirt mit der KPD Die Weltbühne verfolgte den Kurs des prinzipiellen Republikanismus. Definiert wurde er negativ: Zu attackieren war alles manifest und versteckt Antirepublikanische. Bei Begründungen, und Argumentationen herrschte Pluralismus — sie reichten vom linken Liberalismus bis zu offen kommunistischen Positionen.
Der skeptische Moralist Tucholsky, der publizistische Star der Weltbühne, verachtete den Wilheiminismus, den Militarismus, das Mukkertum; er fühlte mit den Nöten der kleinen Leute. Deshalb trat er an die Seite der Arbeiterbewegung; bald unterstützte er immer entschiedener ihren kommunistischen Flügel. „Ich halte einen Zusammenschluß der radikalen Intellektuellen mit der KPD für einen Segen und für ein Glück", schreibt er 1928 (2. Hbj., S. 811). Nur bei zwei Mächten in Europa ist „tapfre Unbedingtheit", die Voraussetzung des politischen Erfolgs, zu finden: beim „Fascismus" und bei „den Russen". Deshalb „braucht man die alte sozialdemokratische Taktik und eure Toleranz nicht“, sondern „den revolutionären, unnachgiebigen, intoleranten und klassenkämpferischen Erfolg". Nur er kann die Jugend mitreißen (1926, 1. Hbj., S. 242, 2 Hbj., S. 391).
Dem Moralisten Tucholsky ging es weniger um konkrete politische Inhalte als ums Prinzipielle, um die Haltung. Der Marxismus vermag vielleicht Interrelationen von Ökonomie und Sozialstrukturen zu erklären, aber jene prinzipiellen Dinge, Haltung, Mut, Entschiedenheit, kaum. „Der Mensch ist eben nicht ein homo oeconomicus und nichts als das", heißt es später in einem Brief aus der Emigration (Ausgew. Briefe, S. 303). „Realpolitik" gehört für Tucholsky zu den schlimmsten Unbegriffen. Aber genau das treibt die Sowjetunion, und, in ihrem Nachtrab, die Führung der KPD (besser, sie glauben, „richtige Politik“ zu treiben — welch ein Aberglaube!). Selbst in seiner eigentlichen Domäne versagt der Marxismus. „Es ist die Aufgabe des historischen Materialismus, zu zeigen, wie alles kommen muß — und wenn es nicht so kommt, zu zeigen, warum es nicht so kommen konnte", ließ er 1932 als „Schnipsel" in der Weltbühne abdrucken (2. Hbj., S. 205). Es handelt sich um eine der letzten Äußerungen Tucholsky in dieser Zeitschrift. Er hat sich bereits innerlich vom Marxismus und den deutschen politischen Verhältnissen abgewandt.
Die Suche nach der Alternative Die Briefe aus der Emigration zeigen, daß Tucholsky mit dem Marxismus und der Kommunistischen Partei radikal gebrochen hatte. Der Marxismus beruht auf vorschnellen Verallge31 meinerungen. „Aus dieser pseudowissenschaftlichen Geschichtsklitterei ist entsetzliches Unheil entstanden — der Marxismus registrierte eigentlich nur einen gesetzmäßigen Ablauf, und nun wundern sich alle furchtbar. Das Bürgertum ist mobil, brutal und munter undgemein — eigentlich und wissenschaftlich betrachtet ist es ja tot..
Der Marxismus ist ein gigantischer Glaube — doch „wenn schon Moskau — dann Rom" (Aus-gew. Briefe, S. 257). — „Wer einmal marxistisch gelernt hat, der kann überhaupt nicht mehr denken und ist verdorben." Er selbst werde erst wieder schreiben können, wenn er „erst ganz über den ganzen, Links-Quatsch hinweg" sei (Briefe aus dem Schweigen, S. 78, 101).
Weit überzeugender als den Marxismus — den er freilich hauptsächlich in seiner soge-nannten vulgären Form kennengelernt hat — findet er nunmehr die Lehre Paretos von den Residuen als Antriebskern und den Derivationen als begleitende Sinngebungen der Antriebe. Er hat etwas Soziologie gelesen, „etwas in der Richtung Pareto", schreibt er 1934 an Hasenclever (Ausgew. Briefe, S. 288). „Bei Pareto steht das, was ich immer gefühlt und nie auszudrücken gewagt habe. Daß der tiefste Urgrund der menschlichen Handlungen alogisch (nicht unlogisch) ist, und daß die Menschen sich dessen schämen und, , une chre Operation', immer das logische Etikett aufkleben“ (Q-Tagebücher, S. 47). Bei Marx und Pguy lasse sich nachweisen, daß „hinter ihnen zunächst das Sentiment und Ressentiment" stehe (Schweigen, S. 244). Deswegen ist „die gesamte des politischen Terminologie Kampfes ... falsch“ (a. a. O., S. 122). Marxisten wie Radek können „das Lebendige nicht mehr “.sehen Mit einem solchen „nach Bocksleder riechenden Verstand“ könne man nicht einmal Dampfmaschinen konstruieren, kommen „denn die aus der Intuition" (Ausgew. Briefe, S. 294).
Die definitive Abrechnung mit dem Marxismus bewirkte zunächst Erschöpfung und geistige Leere. „Ich weiß gewiß keine Lösung, will auch keine, sondern möchte in Ruhe gelassen werden" (Schweigen, S. 121). „Gäbe es irgendwo eine Gruppe junger Menschen, die antifaschistisch sind, so wollte ich wohl mit tun. Aber mit der alten Equipe niemals" (Ausgew. Briefe, S. 251).
Insgeheim hofft Tucholsky, solche Gruppierungen doch gefunden zu haben: die Kreise um zwei französische Zeitschriften, „L'Esprit" und „Ordre Nouveau". Diese vertraten einen politischen Katholizismus, der sich nur schwer in das traditionelle Links-Rechts-Muster einordnen läßt (und vermutlich gerade deshalb für Tucholsky attraktiv). Lon Bloy, Charles Peguy mit ihrem fundamentalen, entschieden kompromißlosen Katholizismus waren die ideologischen Ahnherren. Tucholsky vertieft sich in ihre Schriften. Er ist begeistert und erschüttert. Peguy ist ein Seher! Bei Lon Bloy stehen Sachen, „daß man sich auf den Arsch setzt“ (Ausgew. Briefe, S. 207, Schweigen, S. 105, 143, 114).
Bei näherer Betrachtung kommt Tucholskys Konversion zu politischen Positionen eines Fundamentalkatholizismus nicht überraschend. Bereits im Jahre 1926 hatte er in der Weltbühne über den Antiparlamentarismus der rechtsgerichteten französischen Jugend berichtet, den er — bei aller Ablehnung der chaotisch militanten faschistischen „Action Francaise" — akzeptiert: „Das Parlament in seiner gegenwärtigen Form ist ein Anachronismus." Gleichfalls 1926 stellt er den „sauberen und klaren Versuch" eines gedanklichen Neuansatzes in „L'Esprit" dar (1926, 1. Hbj., S. 9; 2. Hbj., S. 389L). Es braucht deshalb nicht zu erstaunen, daß er den Stichworten der führenden Leute von „L’Esprit“ und „Ordre Nouveau", Mounier, Dandieu, Robert Aron, Denis de Rougemont, zustimmt. Stichworte, die bereits von Bloy und Pguy formuliert worden sind (und mit der Position Sorels, den Tucholsky in jener Zeit gleichfalls gelesen hat, direkt verwandt sind): Gegen den Parlamentarismus der bürgerlichen Welt. Gegen die Dominanz privatwirtschaftlicher Interessen. Gegen die des Geldes". Gegen Utilitarismus und Individualismus. Gegen den Sozialismus, der von Ideen hoffnungslos infiziert ist. Militanz für die unbedingte Idee; gegen den schlappen Pazifismus der bürgerlich-liberalen, sozialistisch-reformistischen Demokratie.
Tucholsky zögert nicht, die neu gewonnenen Einsichten politisch zu aktualisieren. Stimmrecht und „diese sog. .demokratischen'Einrichtungen" sind heute sinnlos geworden. Die Entscheidungen fallen sowieso in Finanzklüngeln. Sollte der Völkerbund untergehen, so wäre dies nicht schade. In ihm geben sowieso die miesen kaufmännischen Interessen den Ton an, denen daran liegt, mit Hitler ins reine zu kommen (Schweigen, S. 205, Q-Tagebücher, S. lOOL, Ausgew. Briefe, S. 291).
Tucholsky bejaht auch mit vorsichtiger Skepsis das antizentralistisch-föderalistische Programm des „Ordre Nouveau", das von Proudhon inspiriert worden ist. „Natürlich hat die Lehre ein Loch. Es ist die optimistische Überschätzung der menschlichen Natur... Da haben sie z. B. einen . Conseil Economique Federal'und einen . Conseil Administrativ Föderal'. Cut und recht. Aber wenn diese Räte sich so eingebürgert haben, daß sie CEF und CAFheißen, und wenn sich CEF und CAF mit dem Conseil Supräme herumstänkern, der sich übrigens durch reine Adaption ergänzen soll.. dann wird das alles wiederso laufen, wie es eben läuft.“ überhaupt der Weltlauf. „Ich erkenne immer mehr die tiefe Weisheit des seligen Ringelnatz, der gesagt hat: . Wenn ich so reich wäre und so mächtig, daß ich alles ändern könnte — dann ließe ich alles so, wie es ist'" (Schweigen, S. 99, 173, Q-Tagebücher, S. 339 f., 266).
Fatal freilich die unübersehbaren Berührungspunkte von „Ordre Nouveau“ und Faschismus. Hat er nicht geschrieben, daß dem Faschismus „ein Element von Gesundheit" innewohne; und hat nicht Denis de Rougemont, einer Einladung folgend, im faschistischen Italien einen Vortrag gehalten? (Schweigen, S. 269).
Tucholsky weiß: Er ist „nicht der Mann, der eine neue Doktrin bauen kann“ (Ausgew. Briefe, S. 338). Er lebt in der langen Nacht des Exils. Er ist krank. Am 21. Dezember 1935 hat er den Wirrungen ein Ende gesetzt.
IV. Die Studentenbewegung
Das System Es ist verkehrt und verrückt und verblendet viele Menschen so, daß sie die Verkehrtheit der Verhältnisse nicht sehen können. Diese zeigt sich in allen Bereichen von Politik und Gesellschaft. Im äußersten Bereich des universalen politisch-gesellschaftlichen Zusammenhangs als Imperialismus. In seinen Krisenzonen Vietnam, Iran, Lateinamerika offenbart er seinen inhumanen Unterdrückungscharakter. Innerstaatlich äußert sich die Verkehrtheit der Verhältnisse in der Zerrüttung der politischen Institutionen. Der Parlamentarismus hat die Funktionen, die ihm von der frühbürgerlichen Theorie zugewiesen worden sind, fast gänzlich verloren — das Parlament ist nicht mehr der Ort, wo soziale Interessen vertreten werden; vielmehr vertreten dort die Herrschenden ihre Interessen gegenüber den Bürgern. Auch die Parteien sind in diesem Herrschaftsmechanismus, der den gesellschaftlichen Status quo schützt, einbezogen. Kern des Status quo aber ist das Privateigentum an Produktionsmitteln. Es wird von den etablierten politischen Kräften prinzipiell nicht mehr in Frage gestellt. Daher ist der Pluralismus, auf den die Herrschenden zu ihrer Legitimation gerne verweisen, Schein; eher kann man von der „Verwirklichung des faschistischen Ideals der . Volkgsgemeinschaff in seiner friedfertigen Form" sprechen (Parlamentarismusdebatte, S. 6).
Das Prinzip dieser verkehrten Verhältnisse, das von ihnen zugleich lebt und sie immer wieder neu erzeugt, ist das Kapital. Kapitalverwertung heißt Ausbeutung, die früher, bei geringerer Gebrauchswertproduktivität, fortdauerndes materielles Elend der Arbeiterklasse bewirkte. Wer offen ausgebeutet wird, macht sich keine Illusionen über seine Lage, organisiert nach Kräften Widerstand und kämpft um Änderung. Heute, bei gestiegener Gebrauchswertproduktivität, wovon auch die Arbeiterklasse profitiert, ist Ausbeutung weniger fühlbar. Die Arbeiterklasse besitzt daher, durchschnittlich genommen, kein kollektives Bewußtsein von der Notwendigkeit einer radikalen Veränderung ihrer Lage.
Kapitalverwertung heißt Profitmaximierung. Sie erfordert eine beständige Umwälzung der Produktionstechniken und -formen wie die entsprechende Anpassung der gesellschaftlichen und politischen Normen und Institutionen. Daher der Zug zur „autoritären Leistungsgesellschaft". Er spart auch die Universitäten nicht aus. Sie werden technokratisch-funktionalistisch formiert; der Rest des alten humboldtschen Geistes wird dabei ausgetrieben.
Ein Vorgang von fundamentaler Bedeutung für das Entstehen der Studentenbewegung. Sie sprach sich die Sensibilität zu, die Unterdrükkung geistiger Entfaltungsmöglichkeiten, die die funktionalistische Organisation der Universität bewirkte, zu erkennen und sich zu wehren. Die daraus entspringenden Abwehrkämpfe und die entsprechende repressive Reaktion des Staates erhellen schlaglichtartig die politische Szenerie. Der bürgerliche Staat enthüllt sich als Repressionsmaschine, seine manifest gewordene Gewalt, die er gegen die neu erstandene Fundamentalopposition einsetzt, als im Kem faschistisch. Er unterdrückt antiimperialistische Strömungen, also ist er auch imperialistisch. Zudem befindet sich der Kapitalismus in einer Krise. Er sieht die Gefahr, daß die Arbeiterbewegung wieder klassenkämpferisch werden könnte. Deshalb werden die Notstandsgesetze als Unterdrükkungsinstrumente prophylaktisch bereitgestellt Kurz: Die gegenwärtige Gesellschaft, in ihrer Einbettung in eine vom Imperialismus geprägte Weltsituation, erweist sich als „Totalität" von eingeschliffenen Verhaltensmustern, Normen und Institutionen, die den Kapitalismus absichern und oppositionelle Kräfte, notfalls mit Gewalt, unterdrücken und eliminieren. Es gilt, aus diesem fatalen Zirkel auszubrechen, um ihn schließlich zerbrechen zu können.
Das Ziel ^Ja, die Revolution, die wir wollen, ist die Revolution, die die Selbsttätigkeit der Massen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens weckt... Wenn wir sagen außerparlamentarisch, soll das heißen, daß wir ein System von direkterDemokratie anzielen — und zwar von Rätedemokratie, die es den Menschen erlaubt, ihre zeitweiligen Vertreter direkt zu wählen undabzuwählen... Dann würde sich die Herrschaft von Menschen über Menschen auf das kleinstmögliche Maß reduzieren. Ich denke, daß diese Gesellschaft im Laufe eines langen Prozesses der Bewußtwerdung von vielen und immer mehr werdenden Menschen tatsächlich das Stadium erreicht, da die Menschen das Schicksal in die Hand nehmen können, nicht mehr bewußtlos als unpolitische Objekte von oben durch die Demokratie, durch das Parlament oder durch was auch immer manipuliert werden ... Der biblische Garten Eden ist die phantastische Erfüllung des uralten Traums der Menschheit. Aber noch nie in der Geschichte war die Möglichkeit der Realisierung so groß. Rüstung, unnütze Verwaltung und Demokratie, unausgenutzte Industriekapazitäten, Reklame, bedeuten eine systematische Kapitalvernichtung. Die wiederum macht es unmöglich, den Garten Eden historisch zu verwirklichen.“ (Dutschke, Mein langer
Marsch, S. 12 f.)
Im Kursbuch 14 findet sich ein Gespräch Enzensbergers mit Dutschke, Rabehl und Semmler über „die Zukunft". In dessen Verlauf hielt Enzensberger seinen Gesprächspartnern vor, sie seien weder in der Lage noch willens, einen reinen Zukunftsentwurf auszubreiten, sie redeten bloß von „Transformationsprozessen". Diesen Vorwurf wollten jene nicht auf sich sitzen lassen. Sie ließen ihrer Phantasie die Zügel schießen. Die Gesellschaft müsse eine große Universität werden. Die erforderlichen Finanzmittel könnten durch Abschaffung der überflüssigen Bürokratie freigesetzt werden. Hauptgegenstand der universitären Ausbildung ist der Polytechnische Unterricht, und zwar nicht nur für alle Bevölkerungsgruppen, sondern auch veranstaltet von allen Bevölkerungsgruppen. Am besten sollten Schule, Fabrik und Universität in eins fließen. Den alten Menschen wird als Ratgeber eine ganz neue Rolle zufallen. Die Stadt wird sich in viele einzelne Kollektive von jeweils drei-bis fünftausend Menschen aufgliedern, die sich um eine Fabrik zentrieren. Ein oberster Städterat, gebildet von jederzeit wähl-und abwählbaren Räten, „wirdden Wirtschaltslaulkontrollieren, und zwar ohne disziplinierende Anweisungen zu geben... Sie (sc. die Räte) werden dafürsorgen, daß Wirtschaftspläne und städtebauliche Projekte ausgearbeitet werden. Dabei wirddie neue Technologie ihre positive Seite zeigen. Man nimmt Computerzu Hilfe, um zu berechnen, was gebaut werden muß, wie die Pläne aussehen müssen, welche Gefahren auftauchen“(S. 167). Hauptziel ist die „Befreiung von Arbeit innerhalb des gesamten Systems. D. h., nicht die Frage der Kosten spielt bei den einzelnen Betrieben die Hauptrolle, sondern die optimale Einsetzung von Technologie als Mittel zur Befreiung von repressiver Arbeit“.
Die Arbeitszeit kann so weit reduziert werden, daß jeder zum Politiker und Künstler werden kann. Soweit Spezialisten erforderlich, „müssen (sc. sie) sich rechtfertigen". Doch in der neuen Gesellschaft werden „neue Menschen" entstehen, so daß die Gefahr des Spezialistentums vermeidbar ist. „Wir müssen also Autonomie, und zwar radikale menschliche und produktive Autonomie mit Zentralismus und Planung verbinden" (a. a. O., S. 168 f.).
Der Weg Er führt zunächst über Nahziele wie Schaffung von Aktionszentren an den Universitäten, von kritischen Gegenuniversitäten in der Universität. Sie dienen der weiteren Mobilisierung der Studenten. Provokation und ständige Revolte an der Universität sind notwendig, desgleichen ständige, wirksame plebiszitäre Kontrolle des Wissenschaftsbetriebes, verstanden als Antizipation einer wirksamen Kontrolle von unten „im rätesystematischen Sinn" (Krahl, S. 72).
Fernziel ist, daß die Bewegung auch auf andere Bevölkerungsschichten, vor allem auf die Arbeiterschaft, übergreift. Freilich gilt es zu erkennen, daß sie als marxistische Annahme vom notwendigen Emanzipationskampf der Arbeiterklasse nicht mehr zutrifft. „Da aber die gegenwärtige, sozioökonomische Entwicklung diese emanzipierende Tendenz nicht mehr in sich trägt, verändert sich völlig das Gewicht dersubjektiven Tätigkeit des Einzelnen. Davon bin ich ausgegangen, damit ist genannt eine neue Bestimmung des Voluntarismus. Wir können nicht mehr einfach sagen, Wille ist falsch, denn unter den Bedingungen, bei denen Tendenz qua Tendenzen nicht mehr antizipierend, geschichtlich vorangehen, wird die praktische Tätigkeit der gegenwärtigen Periode von entscheidender Bedeutung für unsere Zukunft und darum neue Bestimmung dersubjektiven Tätigkeit, darum , sich-wenden gegen einen Optimismus, der weiterhin vertraut aufeinen emanzipatorischen Prozeß, der sich naturwüchsig durchsetzt.“ Volontarismus bedeutet auch, „daß die etablierten Spielregeln dieser vernünftigen Demokratie nicht unsere Spielregeln sind, daß Ausgangspunkt der Politisierung der Studentenschaft die bewußte Durchbrechung dieser etablierten Spielregeln durch uns sein muß“ (Dutschke, Bedingungen und Organisation des Widerstandes, S. 93; 80).
Die leninistisch-maoistischen Gruppierungen setzten auf die Rekonstruktion des revolutionären Proletariats und seiner revolutionären kommunistischen Partei gemäß den historischen Vorbildern, die in den Texten der Klassiker und der kommunistischen Vorkämpfer in der heroischen Zeit der kommunistischen Bewegung dargestellt sind. Dieser Rekonstruktionsversuch ist ein intellektueller Vorgang, offen allen hermeneutischen Problemen und scholastischen Spitzfindigkeiten; sein Resultat ein Kunstprodukt, das für die Realität ausgegeben wird. Realitätsverlust, überdimensionierte Bedeutung von Positionsbestimmungen durch Exegese der Heiligen Schriften, Spaltungen bei theoretischen Divergenzen, waren so vorprogrammiert.
Der Dogmatismus räumte die Realität beiseite und baute die Bühne der Klassengesellschaft auf, auf der wir uns jetzt noch um die nchtigen Kulissen streiten... Die soziale Realität wurde aufgelöst in ein Feld von Haupt-undNebenwidersprüchen. Die politische Realität erstarrte zunächst in unserem Kopf und dann erstarrten wir”(Hartung, in: Kursbuch 48, S. 17 f.).
Es wurden Texte produziert und demonstrative Verhaltensformen entwickelt, die ihre eigene Parodie sind. „Am 28. 729. Januar führte das Soldaten-und Reservisten-Komitee (SRK) Südostniedersachsen gemeinsam mit dem SRK Westberlin ein Manöver im Harz durch. Ca. 230 Freunde und Genossen beteiligten sich unter dem Motto . Arbeiter, Bauern undSoldaten gemeinsam gegen Imperialismus und Reaktion, für Demokratie und Sozialismus'— an den Aktionen des Harzmanövers... Platzkonzerte, Agitation und Umzüge wurden in Hahausen, Echte und Lautenthai durchgeführt“ (Militärzeitung „Volksmiliz“ des KBW, Jg. I, Nr. 1, abgedr. im Göttinger Tageblatt vom 11. /12. März 1978).
Der Realitätsverlust und seine Opfer Der Kampf gegen Vietnamkrieg und die Unterdrückungspolitik des amerikanischen Imperialismus ist und war geboten; der Kampf gegen die technokratische Funktionalisierung der Universität teilweise gerechtfertigt und im Interesse der Studenten liegend; der Kampf gegen die politischen Institutionen und bestimmte Normen des Regierungssystems der Bundesrepublik, z. B. gegen die Notstandsgesetze, in seiner Motivation verständlich (obwohl sich damals wie heute der Repressionsgrad in der Bundesrepublik im internationalen Vergleich bescheiden ausnimmt). Warum aber die revolutionäre Überhöhung dieser Kämpfe, ihre Legitimierung durch utopische Endzeitvisionen? Krahl hat darauf aufmerksam gemacht, daß das antiautoritäre Bewußtsein ein Verfallprodukt des bürgerlichen Individualismus sei. Die richtig diagnostizierte Enttäuschung vieler Bürgertöchter und -söhne darüber, daß bisher die bürgerlichen Ideale nur mangelhaft realisiert worden sind, hat diese nur in Ausnahmen dazu gebracht, sich tätig mit dem wirklichen Proletariat zu solidarisieren. Sie erzeugte viel eher, auf dem logischen Status der Reflexivität verharrend, theoretische Kunstprodukte, in denen dem Proletariat ein bestimmter Stellenwert zugewiesen wurde. Typischerweise führte sie zu hilflosen Versuchen zur Wiederherstellung des bürgerlichen Subjektivismus, der das Fichtesche Prinzip „Ich bin Ich" wieder aufgriff und sich in wildwuchernden Autono35 miekonzeptionen — von der Räteidee über Freiräume in der Universität und besetzten Häusern bis zum antiautoritären Kinderladen — niederschlug, w.. wir Deutschen (sc. sind) ein hochgradig ideologisches Volk", sagte Horst Mahler in seinem spektakulären Spiegel-Interview des Jahres 1979. „Wir wollen unsere Ideale auf kürzestem Wege verwirklichen ... Realistische Resultate, die sich aus einem unbefangenen Denkprozeß hätten ergeben können, waren nicht erwünscht" (S. 40).
Die Negativität, die mit der Unbedingtheit des bürgerlichen Subjektivismus dem Bestehenden entgegengesetzt wurde, zog offenbar Menschen an, deren Psyche durch bestimmte Lebensschicksale beschädigt und deren negative Haltungen und Einstellungen von den früheren hypermoralischen Legitimiationsmustern völlig frei waren. Als Opfer der Gesellschaft sind sie mit offenen Armen aufgenommen worden. So auch „Bommi" Baumann, dessen pyromanische Neigungen und Gewalt-phantasien in der im Entstehen begriffenen Terrorismusszene plötzlich ungeahnte, revolutionär legitimierte Anwendungsfelder erhielten. Baumann stellt sich in seinen — im rotzigen Stil von Illustriertenreportagen geschriebenen — Geschichten als coolen Typ dar, der in bedenkenlosem Machismo zwei junge Frauen in seine Brandstiftereien gezogen hat. Wozu die kopflastigen Theoriekonstrukte, wenn die Negativität unmittelbar sinnlich auftreten kann: „Zerschlagt den Staat mit dem Joint in der Hand" — „Pig ist Pig ... Pig muß Putt”. Werden die Muster hypermoralischer Legitimation der Negativität, die die APO-Opas noch in Begründungszwänge gebracht hatten, völlig abgebaut, so bleibt die Negativität des „Null Bock auf Nix". „Viele alternde Linke blicken deshalb mit gemischten Gefühlen aufdie . Bewegung derJüngeren . . mit der Ahnung, daß der Schritt von der fröhlichen und militanten Utopie zur Perspektive einer realen Verelendung oder Verzweiflung immer kürzer werden könnte." (Matthias Horx, Kursbuch 65, S. 105).
Realitätsgewinn und unverkrampfter Blick auf den Weltlauf Von dem Schwergewicht des trivialen Umstandes, daß ein 68er Revolutionär leben und seine Familie ernähren muß, wozu ihn am besten ein seinen Studien entsprechender Beruf befähigt, und daß man als Berufstätiger manches anders sieht, soll hier nicht gesprochen werden. Es geht vielmehr um die Aufarbeitung von Erfahrungen, die das Weltbild von einst in Frage stellen. Eine wichtige Rolle hat dabei die Entwicklung gespielt, die die siegreichen Freiheitsbewegungen in der Dritten Welt genommen haben: in Kuba, China, Vietnam, Kambodscha, Iran usw. Nur rechtgläubige Maoisten und Sowjetmarxisten versuchen noch zu behaupten, in diesen Ländern werde der wahre Sozialismus aufgebaut. „Ich meine Kuba, China, Vietnam usw. als Beispiele dafür, daß der Sozialismus etwas anderes sein kann, als der sog. . real existierende’ uns vorgemachte: Argumente für die hiesige Argumentation, vielleicht sogar Vorbilder für uns — was ja nur möglich war, weil man nicht so viel darüber gewußt hat, oder, wies vorhin anklang nicht viel wissen wollte über Vorgänge in diesen Ländern ... Und wir haben uns getäuscht bezüglich dessen, was an Macht freigesetzt wird in zusammenhang mit einer siegreichen Revolution, daß da auf einmal ein in Ansätzen neues imperialistisches Zentralkomittee die Herrschaft in diesem Raum anzutreten hat", heißt es in einem Gespräch zwischen Daniel Cohn-Bendit, Joschka Fischer, Ruppert von Plottnitz, Reimut Reiche und Dietrich Wetzel, das im Kursbuch 57 abgedruckt ist (S. 212 ff.).
Dieses Gespräch drehte sich vor allem um zwei Fragen: Erstens: wie konnte es zu den Illusionen der leichten Veränderbarkeit des Kapitalismus und der Vorbildlichkeit der Befreiungsbewegungen kommen, und zweitens: welche Konsequenzen sollten aus dieser Selbsttäuschung gezogen werden? Zugrunde hätten Bedürfnisse gelegen; es habe sich um intrapsychische Zustände gehandelt, die zur Auswahl von Mythen führten, „die dann auch im Kopf entsprechend begründet und verankert" werden (ein Sachverhalt, der mit der oben erwähnten Pareto-These interpretierbar wäre). Wenn an dieser psychischen Konstellation etwas produktiv gewesen sei, dann nicht die „Kopfebene"; da sei sie „unendlich unproduktiv“, „unendlich wiederkäuend" gewesen. Und, ein besonders beunruhigender Widerspruch: „Unsere Existenzform wäre unter den Bedingungen des kämpfenden realen Sozialismus sofort negiert, eliminiert worden, physisch, weil wir als Störenfriede aufgetreten wären" (S. 218).
Daniel Cohn-Bendit zog die radikale Konsequenz: „Von den real existierenden sozialistischen Ländern und den real kämpfenden Parteien erwarte ich mir nur eine reale Unterdrückung aufgrund der geschichtlichen Erfahrung, die wir gemacht haben. Auch wenn sie im heroischen Kamplgegen den Imperialismus bestehen."
Zwischen Unterdrückungsherrschaften zu wählen und dabei die Solidarität mit den Opfern zu vergessen, sei sinnlos. Es gehe um „eine moralische Position, die nicht mehr selektiv ist". Die Macht an sich muß negiert werden. „Die Verhältnisse ändern heißt aufgrund der Geschichte, die wir gelernt haben: Macht zersetzen, Macht verunmöglichen; sich aber auch selber der Macht verweigern. Wenn etwas geschichtlich entscheidend verändert wird, dann durch Auflösung von Macht und nicht durch die taktischen Winkelzüge einer Gegenmacht; durch eine radikale Verweigerung der Macht" (S. 219L).
Cohn-Bendit zieht aus der Einsicht, daß es keine politische Herrschaft ohne Machtausübung gibt und daß auch Freiheitsbewegungen notwendig in Machtsystemen enden, den Schluß, daß man sich der Macht radikal verweigern müsse. Eine bedenkenswerte, respektable Position, die ich gleichwohl für falsch, weil nicht verallgemeinerbar, halte. Die Verweigerer leben von systemerhaltenen Leistungen der Nichtverweigerer. Sodann habe ich den Eindruck, daß die Formen der Machtverweigerung starke Ähnlichkeit mit denen der institutionalisierten Machtausübung haben. Das Problem der Machtkontrolle greift Cohn-Bendit nicht auf. Dies würde ihn auch auf den Weg zur Bejahung des westlichen Systems führen, was er gerade ausschließen möchte (vgl. a. a. O., S. 320).
Horst Mahler hat diesen Schritt vollzogen: „Das moderne Gemeinwesen existiert nur als Staat, durch die Menschen, die in diesem Staat leben, die sich mit ihm identifizieren. Der Staat ist so präsent in jedem Einzelnen. Wir sind der Staat — und zugleich Individuen als unterschieden vom Staat. Der Gegensatz von Staat und Einzelnem geht durch jeden von uns hindurch: es ist unsere Aulgabe, ihn durch unser politisches Handeln, das eine Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen einschließt, zu einer lebendigen Einheit zu versöhnen",heißt es in dem erwähnten Spiegel-Interview vom Dezember 1979, offenbar unter dem Eindruck einer intensiven und affirmativen Hegel-Lektüre. Die gesellschaftlichen Grundfragen sowie ökologische und ökonomische Krisen seien nur lösbar, „wenn die junge Generation mit anpackt, doch die läuft dem Staat in Scharen davon. So gehen wir auch als Gemeinwesen zugrunde. Aus der Verweigerung kommt nicht irgendeine Revolution, sondern soziales Siechtum und Verfall.“
Der Staat aber müsse die politische Form entwickeln, die derartige Partizipation auch zuläßt: „Staat und Parteien müssen sich den Bürgerinitiativen öffnen, ihnen den Rang und den Schutz von Verfassung und Institutionen einräumen, sie zur Mitwirkung am staatlichen Entscheidungsprozeßzulassen. Hierliegen die Chancen für eine gelungene Zukunft.“
V. Resümee
In der „Heiligen Familie" vergleicht Marx die Jakobiner mit der liberalen Bourgeoisie des Jahres 1830. Dieser sei es gelungen, den „konstitutionellen Repräsentativstaat... als den offiziellen Ausdruck ihrer ausschließlichen Macht" durchzusetzen (Marx/Engels, Werke, Bd. 2, S. 131). Die Jakobiner in ihrer Realitätsferne, die sich als Nachfahren der römischen Republikaner sahen und eine Tugendrepublik schaffen wollten, mußten scheitern, weil die bürgerliche Gesellschaft die Tugend als politisches Realprinzip nicht ertragen kann.
Der extreme, abstrakte Subjektivismus Bruno Bauers, der jeden Halt in der Realität aufgegeben hatte, ist binnen weniger Jahre in sich zusammengefallen. Es hat den Anschein, als sei dieser Subjektivismus in sein Gegenteil, eine platte Affirmation des Bestehenden, umgeschlagen. Dies wäre ein Fehlurteil. Bauers „technokratischer Konservativismus“ ist abstrakt geblieben, weil er den politischen Bereich, in dem die ideologischen Fassungen der sozialen Interessen sich aneinander abarbeiten, negierte. Bauers alter Kontrahent Marx hat sich dagegen bemüht, seine revolutionären Vorstellungen als notwendiges Ziel der Arbeiterbewegung zu formulieren. Soweit sie die konkreten Interessen der Lohnabhängigen in sich aufnahmen, sind sie teilweise realisiert oder als legitime Forderung anerkannt worden (Verkürzung der Arbeitszeit, tendenzielle Aufhebung von Entfremdung, politische Formen der Lohnfindung zur Abmilderung von Ausbeutung). Tucholskys Ziel war vor allem — wenn man von seinem Flirt mit dem Sowjetkommunismus absieht — eine wirkliche Republik. Bei anderen Literaten der Weimarer Zeit, etwa bei expressionistischen Schriftstellern, wäre das Umschlagen von hochgesteilten Visionen der Menschheitsversöhnung in schlichten Lustspielbetrieb zu zeigen gewesen. Die Forderung einer Republik, die ihrem Begriff entspricht, kann freilich nicht gerade als idealistisch überhöht bezeichnet werden. Doch es fällt auf, daß es Tucholsky bei der Forderung beließ und für die Niederungen des politischen Kampfes, wozu auch Irrtümer und Niederlagen gehören, nur Hohn und Spott übrig hatte. So gesehen wird der Übergang von einer abstrakten Negation der korrupten Republik in die gleichfalls abstrakte rigorose Moralität einer eher konservativen Konzeption erklärbar, aber auch, angesichts deren Realitätsferne, die letztlich resignierte Anerkennung des Weltlaufs.
Der Subjektivismus revolutionärer Attitüden ist nirgendwo geistreicher analysiert worden als in Hegels „Phänomenologie". Abstrakte Vorstellungen von Gerechtigkeit, die das sittlich empörte Gemüt entwickelt und den herrschenden Normen entgegengesetzt, können nicht von deren Druck befreien, denn, zur Macht gekommen, würden sie selbst herrschen und bedrücken. Deshalb wehren sich jene, die diese Gerechtigkeitsvorstellungen nicht teilen, gegen Verwirklichungsversuche. Gehen diese gewaltsam vor, so werden sie an der Staatsmacht scheitern und als Nebeneffekt eine Steigerung der patriotischen Gesinnung bewirken. Und — als Gipfel der Ironie — die Gerechtigkeitsfanatiker werden schließlich einsehen lernen, daß sich Ungerechtigkeit im kleinen nicht vermeiden läßt, wenn Gerechtigkeit im großen herrschen soll; so werden sie zu Bürgern, deren Patriotismus durch überstandenen Zweifel um so gefestigter dasteht.
Freilich ist der Weltlauf, zu dem sich auch die aufmüpfigen Intellektuellen schließlich bekennen müssen, eine trügerische Kategorie. Als immer wieder in Frage gestelltes und sich immer wieder herstellendes Resultat der egoistischen Bestrebungen der einzelnen Vorteilssucher, die den anderen und das Allgemeine zu überlisten trachten, bleibt sein letztlich positiver Effekt, der durchschnittliche Nutzen aller, prekär. Er kann eigentlich nur erwartet werden, wenn im Gewimmel der Egoisten keiner ein definitives Übergewicht besitzt.
Die Voraussetzungen dieses altliberalen Modells sind heute weniger denn je gegeben. Große Aggregate von Kapital, in denen wirtschaftliche und staatliche Interessen symbiotisch vereint sind, Aggregate, die in Anspruch nehmen, daß von ihrer ungehinderten Aktivität nicht nur das Wohlleben, sondern das überleben überhaupt abhängen, bilden eine gesellschaftliche Macht, gegen die die einzelnen kaum noch ankommen. Die Situation wird dramatisch, wenn begründet argumentiert werden kann, gerade jene großen Aggregate, die von sich behaupten, sie allein garantierten Wohlleben und überleben, untergrüben im Gegenteil die Voraussetzungen des überlebens der Menschheit.
Alle diese Fragen können nur in politischen Formen angegangen werden. Damit meine ich das Ringen um politische Entscheidungen, die auf Mehrheiten beruhen müssen, in den Institutionen oder den rechtlich ausgegrenzten Freiräumen. Hierzu gibt es keine erfolgversprechende Alternative. Dies bedeutet keine Desavouierung utopischen Denkens, dessen Visionen den bestehenden Verhältnissen Gegenbilder einer besseren Welt entgegenhält. Denn anders ist jene Sensibilisierung, die das Erstarren des Status quo hindert, nicht zu erreichen. Doch das unbedingte Andere, die utopische oder revolutionäre Konzeption, die der Wirklichkeit entgegengesetzt wird, muß sich an wirklichen, nicht an erdachten Gegenständen abarbeiten. Sonst bleibt die reine Negativtät, die in Resignation oder tragischem (wenn nicht tödlichem) Scheitern endet. Ausgewählte Literatur Zu I Briefe aus der Französischen Revolution, ausgewählt, übersetzt und erläutert von Gustav Landauer, 2 Bde., Berlin 1919.
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