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„Freiheit" als Bürgerpflicht Ein Beitrag zur Ermutigung demokratischer Gesellschaft | APuZ 32-33/1982 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 32-33/1982 Grenzen der Politik „Freiheit" als Bürgerpflicht Ein Beitrag zur Ermutigung demokratischer Gesellschaft Über das Altern revolutionärer Ideen. Materialien zum Übergang des Herzklopfens für das Wohl der Menschheit in den Weltlauf und der Versuch eines Resümees Aussteigermentalität und politische Apathie Jugendlicher. Eine zentrale Herausforderung für die politische Bildung der achtziger Jahre

„Freiheit" als Bürgerpflicht Ein Beitrag zur Ermutigung demokratischer Gesellschaft

Manfred Funke

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

ökonomische Instabilität und Wertzweifel gegenüber unserer politischen Kultur verlangen eine Neubegründung demokratischer „Freiheit" im Bürgerbewußtsein. Nur Freiheit macht fähig zur Selbstkorrektur und zur Beherrschung von Zukunft, deren Gestaltung in der ständigen Spannung von Versuch und Irrtum und grundsätzlich ohne Frageverbote erfolgen soll. Diese demokratische Praxis allein stärkt das Vertrauen in das individuelle und kollektive Freiheitsvermögen, macht es stark gegen die Propaganda diktierter Ziele. Weitere Vergeudung von Freiheit als Wahrnehmung streitbarer Demokratie hieße Verzicht auf Mitverantwortung in Selbstverantwortung. Reduktion auf Freiheit als bloße Selbstentfaltung des einzelnen Bürgers würde an der Tatsache scheitern, daß man nicht zugleich Freiheit vom Staat und einen freien Staat haben kann. Freiheit des Individuums und des Staates bedingen einander. Wer sich dieser wechselseitigen Fürsorge entzieht, überantwortet Freiheit dem Extremismus von links und rechts ebenso wie dem Extremismus jener „Mitte“, die Freiheit als Garanten persönlicher Vorteils-sicherung mißbraucht. Unsere Geschichte muß als Lernfeld reaktiviert werden, weil damit Freiheitsgefährdung durch Diktatur vorstellbar wird und die Größe der Bedrohung die Faszinationskraft politischer Diskussions-, Entscheidungs-und Handlungsfreiheit steigern muß. Diese drei Freiheiten allein bewahren uns vor Angst, d. h. vor der Flucht in politische Irrationalität.

I. Die Manko-Situation

Dieser Beitrag lehnt sich inhaltlich an den Vortrag des Verfassers über „Die Freiheit eines jeden und die Freiheit aller" im Rahmen der NRW-Hochschulwoche 1981 in Bad Meinberg an; vgl. „Ziele für die ^ukunft — Entscheidungen fürMorgen", hrsg. v.der Lendeszentrale für politische Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf, Köln 1982.

Sicherheit ist Abwesenheit von Gefährdung. Gefährdung prägt unsere geistige und politische Situation. Die Beschädigung des Bürger-Vertrauens zur eigenen Person, zum Mitmenschen, zum Fortbestand der Lebenswelt zeugt sich fort aus aktuellen Erfahrungsschüben im Bereich der Außenbeziehungen, der Wirtschaft und der politischen Kultur.

Dichter gerät die Bundesrepublik in die Schnittlinien des kalten Friedens zwischen Moskau und Washington. Kein Wandel ist von der Militärdoktrin des Ostblocks zu erwarten. Langfristig spricht er einem „imperialistischen Staat“ wie der Bundesrepublik das Recht auf den eigenen Weg, auf Sicherheit ab; verworfen wird die Theorie des Gleichgewichts der Kräfte als unerträgliche Gleichsetzung von Kapitalismus und Sozialismus Die somit notwendige Fortführung der westdeutschen Zwillingsstrategie von Rüstung plus Entspannung zwingt immer drückender die Bonner Regierung unter das Joch der Frage, wie künftig der für die Verteidigung aufzubringende Finanzbedarf zum Nachteil des sozialen Netzes, der Investitionen, des Konsums gedeckt werden kann, ohne die Binnenstruktur entscheidend zu schwächen. Die breite Bevölkerung schaut ohnehin, zwischen Entspannungsund Katastrophengewöhnung dümpelnd, eher fatalistisch auf die immer teureren neuen Waffensysteme, die zum Höchstzweck ihres Nichtgebrauchs eingeführt werden; hier als überflüssig, dort als unzureichend bewertet.

Eine andere Schere rückt ihre Klingen näher: Einerseits müssen die USA wichtigster Bundesgenosse und erste Schutzmacht bleiben, andererseits politisiert Washington den deutschen Außenhandel für diplomatische Offensiven gegen die UdSSR oder versucht die Reagan-Administration, den ökonomischen Konkurrenzdruck der Bundesrepublik zu zähmen. Hochzinspolitik der USA, ihre Sonderzölle für westdeutsche Stahlimporte, die Einflußnahme auf das Erdgas-Röhren-Geschäft der deutschen Industrie mit Moskau markieren unsere Rolle des Wirtschaftsriesen und machtpolitischen Juniorpartners. Auch das Maß, in dem EG-Mitglieder das „vereinte Europa“ den nationalen Sonderinteressen zuschalten, bestätigt einmal mehr das Wort von Clausewitz: „Niemals wird man sehen, daß ein Staat, der in der Sache eines anderen auftritt, diese so ernsthaft nimmt wie seine eigene."

Die Manko-Situation, die politische und ökonomische Herausforderung steigern naturgemäß im Bürger das Wert-Verlangen nach Ruhe, Ordnung, Sicherheit, wirken aber gleichsam kontraproduktiv auf die Wert-Gewißheit streitbarer Demokratie Die Parzellierung des Allgemeinwohls durch Gruppeninteressen, das offene und verdeckte Aussteigen, die von trauerrandiger Betriebsamkeit bestimmte „Angstgesellschaft" oder „entmu-tigte Republik" finden ihren Grund in der Analyse deutscher Wertorientierungen, den Helge Pross so kennzeichnet: „Die Vorstellungen von der wünschenswerten Zukunft sind hochgeschriebene Gegenwart, Hoffnungen auf einen Zustand, der nicht wirklich anders, sondern lediglich ein paar Nummern besser ist als der gegenwärtige — wohlhabender, sicherer, ungestörter, naturähnlicher als jetzt. Abgesehen davon gibt es keine Bilder einer erstrebenswerten Zukunft. In diesem Sinne besteht heute ein ideologisches und programmatisches Vakuum in der Bundesrepublik — wie bereits in den Jahren ihrer Gründung."

In der Tat kann materieller Wohlstand nicht erste Legitimation von Demokratie sein, wie fälschlicherweise immer noch verlangt wird. Ein Verlangen, das sich zeigt im Erfolg, mit dem resignative Wehleidigkeit die Faszinationskraft von „Freiheit" schwächt. Aber ohne die Freiheit zur offenen Diskussion, zur Entscheidung, zum Handeln verlieren wir im Entwurf der Zukunft unsere Fähigkeit zur Selbstkorrektur, zur Eigenverantwortung. Wer „Freiheit" nicht aktiv wahrnimmt, verzichtet auf die Chance, „die Dinge zum Besseren zu wenden" Wenn Bagehot darin Recht hat, daß die Menschen nicht von ihren Vorstellungen, sondern von der Schwäche ihrer Vorstellungen beherrscht werden dann gebietet die Situation, „Freiheit" zum konkreten Lernziel zu bestimmen. Nicht nur, um die politische Gefährdung durch politischen Extremismus abzuwenden, sondern um primär Werthandeln zu festigen und die hohe Zahl (20— 30 Prozent) der schier Indifferenten unter uns Bürgern abzuschmelzen.

II. Lernziel „Freiheit" als Pflicht des Bürgers

Hugo Preuß wird das Wort zugeschrieben: Eine Verfassung ist dann am besten, wenn sie kurzund unklarist. Nun ist unsere mit 146 Artikeln nicht kurz aus Sorge vor Unklarheit, aber doch noch unklar genug. Weshalb? Weil die Verfassungsväter gegenüber dem Verfassungsvolk der Entwicklung einer offenen Gesellschaft durch Vorwegnahme vermuteter Gestaltungswechsel mittels beschränkender Gebote und Verbote möglichstnicht begegnen wollten. Die Unklarheit einer Verfassung ist eben nicht primär Last, ist vor allem Chance. Ist Möglichkeit für die konkurrierenden Interessen von Staat, Gesellschaft, Individuen, offen um die Richtigkeit und Durchsetzung ihrer jeweiligen Auffassungen zu streiten, dem Unterlegenen Respektierung des Streitergebnisses abzugewinnen und ihm zugleich Schonung zu gewährleisten gemäß dem Gesetz. Wenn man zum Beispiel die Grundfreiheiten in Art. 1 bis 5 den Beschränkungen in 18— 19 GG gegenüberstellt, so verwickelt sich solche Antinomie nur scheinbar zum Knäuel, das stets höchster juristischer Spitzfindigkeit überantwortet werden muß. Die kontrollierenden Wi-derlager erlauben vielmehr, Gesetze nicht realitätsfeindlich starr anzuwenden, sondern in jeden Streit das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, der Güterabwägung, der gesellschaftlichen Situation einzubringen. Nicht eine einzige Wahrheit, sondern der Weg hin zur -Wahrheitsfindung im offenen Diskurs als primär rechtsschutzwürdig zu erachten, ist der Inbegriff von Freiheit, der bei uns so wenig selbstverständlich ist. Gerade der Verzicht auf letzte Heilsgewißheit bei der Einbringung unseres Freiheitsverständnisses ins Grundgesetz sollte Erziehungsimpuls gegen Law-and-Order-Denken, gegen Staats-oder Parteienallmacht sowie Untertanengeist sein. Eben um des Höchstmaßes an Freiheit willen wurde die Freiheit des Bürgers so weit als möglich, so eng als gerade notwendig in den Grundgesetz-artikeln zur Darstellung gebracht. Auf dieses Kern-Anliegen der Verfassungsväter ist jede Bewußtseinskorrektur zugunsten einer Wert-Steigerung von „Freiheit" des Bürgers auszurichten

Die in einer Diktatur jederzeit erfahrbare Aufhebung von Freiheiten hält dieselben in hoher Achtung der Bevölkerung. Bei uns aber, wo die Grundrechte sehr rasch bis zur Unkenntnis ihrer Inhalte selbstverständlich wurden, verlor Freiheit aufgrund nicht vorhandener Bedrohungsgefühle ihren zentralen Platz, wurde dieser im Bürgerbewußtsein gleichsam durch Geschäftigkeit ersetzt. Hermann Höcherls Wort, er könne nicht ständig mit dem Grundgesetz unterm Arm herumlaufen, blieb zunächst lebendig der Anekdote wegen, bald aber wegen des Skandalons. Als nämlich, gezündet durch „Terrorismus" -, „Extremistenbeschluß" -und „Berufsverbots'-Debatten, heftiger Streit darüber ausbrach, wie man verhindern könne, daß „Freiheit" zu Tode geschützt, daß Freiheit in der Politik zur Abschaffung der Freiheit mißbraucht werden könne. Das Niveau der Auseinandersetzung, hochgeputscht durch eine dem sogenannten gesunden Volks-empfinden schmeichelnde Regenbogen-Presse, unterstrich, wie wenig bis dahin Freiheit als natürliches Spannungsfeld zwischen Rechtsverbürgung und Rechtsbeschränkung kultiviert worden war.

III. Definition und Vergewisserung

Die nach der Erfahrung der Hitler-Herrschaft häufige Verweigerung jeglicher politischer überzeugungstreue in unserer Bevölkerung, die Vernachlässigung politischer Psychologie im ohnehin rudimentären Geschichtsunterricht sowie der rasche Verfall jener neu gewonnenen Kostbarkeit „Freiheit" zur bloßen Gewohnheit fesselten „Freiheit“ in Staatsfeiern, in pompöser Abstraktion. Um sie stärker in die Wirklichkeit des Alltags hereinzuholen, ist an den historischen Grund des Begriffs „Freiheit“ zu erinnern.

Zunächst ist „Freiheit" bestimmbar als Möglichkeit zur Möglichkeit im Augenblick je konkreter Wirklichkeit; sie ist reale Befähigung zur Wahl zwischen Tun und Unterlassen (Locke: „power to act"). Anders: Freiheit ist nur unter der Bedingung ihrer konkreten Beschränkung bewußt erfahrbar, d. h. im Kampf um Kompetenz, um Recht gegen Machtwillkür, um eine Ordnung, die Freiheiten sichert. „Frei“ ist auf das germanische „frija" zurückführbar und bedeutet „mit freiem Halse", im Unterschied zum Sklaven. Im deutschen Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm (10.Bd., Leipzig 1905, S.111) findet sich der Satz: „Der älteste und schönste Ausdruck für diesen begrif (der Freiheit) war der sinnliche freihals, collum liberum, ein hals, der kein Joch auf sich trägt“ Der Freie war nicht wie der Sklave der Willkür ausgesetzt, sondern er war Mitglied einer ihre Mitglieder schützenden Gemeinschaft „Frei“ war ein Rechtsbegriff, durch den die Glieder einer Bluts-oder Stammesgemeinschaft von Fremden und Nichtfreien abgehoben waren. Diese ursprüngliche Bedeutung wirkt bis heute in zweifacher Weise nach: Erstens bedeutet Freiheit Ledigsein von fremder Gewalt innerhalb der Gruppe oder des Bereichs, in denen Freiheit gewahrt ist; zweitens kann Freiheit nur bestehen, wenn sie durch eine eigene bzw. anerkannte, durchsetzbare Gewalt gegen Verletzung oder Unterdrückung durch fremde Gewalt geschützt ist Der Preis für den Schutz der individuellen Freiheit ist die Gemeinschaftspflichtigkeit dieser Freiheit

Diese Tatsache spiegelt sich mit unterschiedlichen Akzenten im Selbstverständnis unserer führenden Parteien wider. So steht im CDU-Grundsatzprogramm: „Wer Freiheit für sich fordert, muß die Freiheit des Mitmenschen anerkennen... Es gibt Abhängigkeiten, die den Menschen erniedrigen. Aber es gibt auch Bindungen, in denen Freiheit sich erst entfal-tet." Im Orientierungsrahmen '85 der SPD begrenzt sich Freiheit durch die Pflicht zur Gerechtigkeitund zur Solidarität. „In jedem dieser Maßstäbe und Postulate müssen die jeweils anderen mitgedacht werden." Ähnlich die FDP in den Freiburger Thesen. Danach setzt die Freiheitsidee der liberalen Tradition in erster Linie nicht bei der Gefahr gegenseitigen Totschlagens an, sondern bei der Annahme der Nützlichkeit gegenseitigen Austausches durch Verträge, in denen es zu einem Ausgleich unterschiedlicher Interessen kommt. Ein Interessensausgleich im freien Vertragsschluß sei aber dort nicht mehr möglich, wo relevante, gar strukturell verfestigte Ungleichgewichte der Machtposition bestehen. Hier sei die Idee der gleichen Freiheit nur aufrechtzuerhalten, wenn die Schwächeren geschützt werden

Ohne das rechte Maß zwischen Freiheit von und Freiheit für in der Theorie fixieren zu können, bleibt unbestreitbar: Die Freiheit eines jeden und die Freiheit aller sind komplementär; sie substituieren einander wie Teile ein Ganzes, bedingen einander wie Wurzel, Stamm, Ast und Frucht. Der Anspruch auf individuelleFreiheitlegitimiert sich folglich nur durch die Einsatzbereitschaft für die Freiheit des Gesellschaftssystems selbst. Nur „Idiot" und „Banause" — als aus der Antike reaktivierte Typen — hypostasieren ihre Freiheit zur Privatheit, zeigen sich nicht besorgt darüber, daß ihre Selbstbezogenheit einer Entwicklung Vorschub leistet, an deren Ende man nur wählen kann zwischen dem Verbotenen und dem Obligatorischen, wie Malaparte den Zustand totalitärer Herrschaft charakterisiert hat.

Demokratische Freiheit ist natürlich auch determiniert, aber ganz anders: Sie besteht im Gegensatz zur jederzeit kündbaren Almosen-Freiheit einer Diktatur gerade in dem Recht, die Determinanten sozialer Verfahrensregeln selbst zu determinieren und zu kontrollieren. Nur in der „alternativen Verstehensmöglichkeit erfährt der Mensch seine Freiheit als die Bedingung seines Lebens“

Sich für die öffentlichen Belange einzusetzen, liegt also im ureigenen Freiheitsinteresse. Das gesellschaftliche Wissen von der dialektischen Bindung des politischen Egoismus in Individuen, Parteien und Verbänden muß eine neue Sensibilitätfür Freiheit bewirken. Die historische Perspektive dieses Lernziels öffnet Hugo Grotius: „Der Mensch ist ein gemeinschaftsbezogenes und gemeinschaftsgebundenes Wesen, das die Entfaltung seiner Freiheit nur innerhalb der Gemeinschaft, die man gemeinhin Staat nennt, vorzunehmen vermag." In heutiger Formulierung: „Denn jedes Grundrecht setzt den Bestand der staatlichen Gemeinschaft voraus, durch die es gewährleistet wird.“ „Freiheit" muß deshalb heraus aus der Isolation staatsphilosophischer Betrachtung und muß hinein ins bürgerliche Entscheidungsbewußtsein. Wenn es auf Freiheit verzichtet als Recht zur Mitgestaltung und Machtkontrolle, fördert es Gewalt, Verrat, Korruption, Geheimhaltung und Propaganda als die klassischen Pathologien der Politik, wie sie Carl J. Friedrich in bildkräftiger Furchtbarkeit geschildert hat Seine Sensibilität für Freiheit schafft dem Bürger erst jene intellektuelle und moralische Würde, die ihre Gefährdung im Sehnen nach Vereinfachung hat. Die Abwehr solcher Versuchung durch monokausale Heilsgewißheit formuliert als weiteres Lernziel das streitbare Engagement gegen jene Gewaltbereitschaft in unserem Land, die auf eine Vernichtung unseres Systems und seines kohärenten Freiheitsbegriffs gerichtet ist. Diese Gefährdung geht aus vom Rechts-und Linksextremismus, begünstigt durch den „Extremismus der Mitte" und den „Extremismus der Aussteiger".

IV. Gefährdung durch Extremismus und Aussteigertum

In verfassungswidriger Weise operieren bei uns gegenwärtig rechts 75 Organisationen mit 19 800 Mitgliedern. Sie stiegen von 1979 bis 1980 um 14, 5 Prozent. Auch die Linke wuchs auf 43 200 Aktive in 191 Gruppen an. 1980 gingen 113 politische Gewaltakte auf das „rechte“ Konto, 77 aufs „linke". Die Anschläge im Jahr 1981 deuten zumindest auf eine Unterbrechung der Regenerations-und Planungsphase des Terrorismus hin

Welche Alternativen setzen Rechts-und Linksextremisten gegen unser politisches Freiheitsverständnis? Ich will in einem Merkmalsensemble zusammenfassen, was nach der Distanzierung von unserem Wertesystem, in der Verschränkung von Protest plus Gegen-ideologie zum Kampfprogramm gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerinnt. Der „Linke" glaubt, daß der Mensch von Natur aus gut und friedfertig sei und in diesen Zustand nach einer befristeten Despotie sozialistischer Vernunft überführt werden kann. Dieser Prozeß umfaßt die Vergesellschaftung der Produktionsverhältnisse, die Synthese von privaten und öffentlichen Bedürfnissen. Der pluralistische Anspruch auf rechtsschutzwürdige Interessenkonkurrenz zwischen Staat, Gesellschaft und Individuum wird in der Sozialisierung des privaten Glückstrebens aufgehoben. Die Konkordanz von Freiheit und Notwendigkeit erscheint herstellbar, weil dem sozialistischen Freiheitsverständnis die Gewißheit einbeschrieben ist, „die Gesetze der Gesellschaft“ wie die „Gesetze der Natur" erkannt zu haben

Gegen solche Fortschrittsgläubigkeit stellt der „Rechte“ ein Weltbild, das das Freund-Feind-Denken zur Maxime verabsolutiert, sich für alle Fälle und gegen jeden so stark als möglich zu machen. Denn in tiefen Krisen handle der Mensch letztlich nicht ethisch, sondern animalisch gemäß den Gesetzen der freien Wildbahn. Bodenständigkeit, völkisches Denken, militärische Symbolik bekunden, daß der Rechte zum Politischen kein rationales, sondern ein kultisches Verhältnis pflegt. Statt Parteienpluralismus und parlamentarischer Machtkontrolle befürwortet der „Rechte“ in der Regel einen nationalistischen, korporativen Führerstaat

Eine weitere Gefährdung der Einsatzbereitschaft für das Freiheitsverständnis unseres Grundgesetzes stellen die „Aussteiger" dar. Möglicherweise ist deren Abwendung von den Grundlagen und Realitäten unseres Staates noch bedenklicher als die Befürwortung einer revolutionären Gegenkultur aus dem Geiste Hitlers, Mussolinis, Francos oder Lenins, Stalins, Maos. Denn ihre Verfechter sind als Gegner unseres Systems im politischen Meinungskampf klar erkennbar. In diesem Sinne sind Aussteiger nicht zu „stellen". Handelt es sich doch um jene Mitmenschen, die meinen, daß im Grunde nichts mehr lohne, weder eine ideologische Grundüberzeugung noch überhaupt eine Art von Bekenntnis über den Tag hinaus. Ihr Protest äußert sich als aktionistisches Spiel. Man verschreibt sich keiner Parteidisziplin, unterwirft sich keiner gestrengen Hierarchie, hält sein Rückgrat so geschmeidig, daß keiner es zu brechen vermag. Argumentation erschöpft sich in Geistreicheleien wie „Du hast keine Chance, aber nutze sie“ oder „Wir sind genau die, die ihr nicht haben wollt!" Man engagiert sich punktuell, etwa bei Hausbesetzungen. Man sticht Geschwüre der Gesellschaft auf, ohne diese langfristig mit neuen Therapien heilen zu wollen. Man kämpft nicht gegen den Staat, sondern lebt in ihm neben allem her, kultiviert seine eigene Persönlichkeit, seinen Witz, existiert in spielerischer Eintracht mit undogmatischen Linken, Spontis, Aktionisten, Punkern und Müsli-Ideologen.

So bedenklich diese Entwicklung auch sein mag, so droht doch wohl größere Gefährdung von der wachsenden Neigung in der Bevölkerung, in einen Werte-Konflikt überhaupt nicht mehr mit Entschiedenheit einzutreten. Man will sich politisch nicht erklären, will die Abwehr des rechten und linken Extremismus der Administration übertragen. Man versucht, sich vorbehaltsreich so einzurichten, daß keine Leidensbereitschaft für Ideale des Demokratischen abverlangt wird. Dieser „Extremismus der Mitte" strebt nach der Mitte als dem Ort der geringsten politischen Turbolenz, damit klar im Kontrast zu unseren führenden Parteien stehend, die unter „Mitte" den Hort des rechten Maßes, der Vorbedingung aller Kompromiß-Kultur, verstehen. Vom Gebot aktiver und konsensfähiger Mitgestaltung der öffentlichen Interessen kauft sich der „Extremist der Mitte" frei durch Steuerzahlen und Botmäßigkeit, verlangt aber dafür, daß ihm Politik nicht ans Fenster klopft. Freiheit ist ihm nur kostbar als Selbstbestimmung, ist wohlfeil als Mitbestimmung. Dahinter steht als wahre Erfüllung politischer Freiheitssehnsucht, sich um Politik überhaupt nicht bekümmern zu müssen. Forciert gezeigtes Punkt-Interesse an Weltereignissen und Tagesaktualitäten er- möglicht ihm ein Sichfortstehlen ohne auffällige Schimpflichkeit.

Was ist zu tun, zur Abwehr solcher Freiheitsbedrohung und zur stärkeren Vergewisserung unserer Freiheit als Ursprung einer kollektiven politischen Sittlichkeit, eines Bekenntnisses zur Gestaltung unseres Daseins aus Versuch und Irrtum ohne Frageverbote?

V. Freiheit als Grund offener Gesellschaft

Die Antwort gelingt durch Veranschaulichung von Freiheitsgefährdung, indem man die Kerneigenschaften der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, wie sie das Bundesverfassungsgericht betimmt hat, mit einem Kontrastfilter versieht. Die Kerneigenschaften sind:

1. die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung;

2. die Volkssouveränität;

3. die Gewaltenteilung;

4. die Verantwortlichkeit der Regierung;

5. die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung;

6. die Unabhängigkeit der Gerichte;

7. das Mehrparteienprinzip;

8. die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.

Diese Merkmale sollten vor dem Selbstverständnis der rechten und linken Gegenideologien verteidigenswerte Attraktivität gewinnen, wie bereits ein knapper Vergleich anzeigt. zu 1. Faschist und Kommunist negieren diese Grundrechte. Der einzelne hat gegen den Staat keine Freiräume zu beanspruchen. Er kann sich nur im Staat und für den Staat verwirklichen, der das kollektivistische Lebensprinzip über das individualistische stellt. zu 2. Volkssouveränität kann im faschistischen bzw. kommunistischen Staat nur in der Akklamation, nicht in der Negation Ausdruck finden.

zu 3. Gewaltenteilung wird von Faschisten und Kommunisten nicht zugelassen. Die höchste Macht kann sich nur selbst kontrollieren. Was dem Staat nützt und was allein als nützlich von der Herrschaftsspitze bezeichnet wird, ist entscheidend, nicht ein rechtliches Gebot Die „Führung" kann Legislative, Exekutive und Jurisdiktion monopolisieren.

zu 4. Die Verantwortlichkeit der Regierung besteht nach faschistischer und kommunistischer Auffassung nicht in der Unterwerfung des höchsten Machthabers unter parlamentarisch oder juristisch geübte Kontrolle mittels freier und geheimer Wahlen. Die Verantwortlichkeit ist mangels zugelassener Opposition auf mehr oder minder freiwillige Selbstkritik beschränkt. Die Diktatur bestimmt das Maß der Sanktionen gegen ihre Herrschaft selbst.

zu 5. Die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung währt, solange dies der politischen Führung opportun erscheint. Der Wille der Führung ist im Prinzip höchstes Gesetz. Sie kann letztlich über die Anwendung von Norm oder Sondermaßnahme verfügen.

zu 6. In einem faschistischen oder kommunistischen Staat gibt es keine unabhängigen Gerichte.

Auch die Richter sind Kommunisten oder Faschisten, müssen zumindest im Sinne oder im Interesse der politischen Führung entscheiden.

Gerichte und Gesetze stehen dem politischen Machthaber zumeist zur Disposition.

zu 7. Das Mehrparteienprinzip wird von Faschisten und Kommunisten zugunsten der Einheitspartei abgelehnt. Einfalt statt Vielfalt, heißt die lautlose Devise. Die der Führung ergebene, allein zugelassene Massenpartei hat keine Konkurrenz zu fürchten. Minderheiten-Parteien, die der Führung gänzlich ungefährlich sind, werden zuweilen geduldet. Sie können als demokratisches Alibi gegenüber dem Ausland nützlich sein.

zu 8. Im faschistischen oder kommunistischen Staat existiert kein Recht auf Opposition. Wer opponiert, ist Volksschädling, Querulant, ist psychisch defekt

Um Freiheit als Grund offener Gesellschaft abwehrbereit gegen den Anspruch und Zugriff geschlossener Systeme zu machen, sind nachfolgende Einsichten zu festigen: 1. Unsere Auseinandersetzung mit Kommunismus und Faschismus muß zu einer politischen Anthropologie hinführen, die auf der Einsicht aufbaut, daß politische Systeme und Ideologien nie besser sind als die Menschen, die sie „vor Ort" konkret verfechten. Nazis linderten die Not des Volkes und vernichteten Teile desselben, Sozialisten taten gleiches. Zur höheren Ehre Gottes töteten Christen Christen. Warum wurde so oft zwecks Verschleierung der Kommunikationspathologie zwischen Utopisten und Utopie, zwischen Programmatiker und Programm, zwischen Lehrer und Lehre der Dialog mit dem Zweifler und Gegner auf dessen Vernichtung verkürzt? Warum versagten bisher alle großen General-pläne für weltweite Gerechtigkeit im Prozeß der Verwirklichung? Die bisherigen Erkenntnissperren gegen eine Biologie der Seele deuten an, daß der Mensch einfach nicht plan-und berechenbares Rationalisierungsobjekt eines kollektiven Glücks sein will. Ist uns zuweilen — und wenn ja, wann genau? — die Jagd selbst wichtiger als die Beute? Was bewegt uns dazu, den Mitmenschen zum Zwangsobjekt unserer Sehnsucht nach Vereinfachung zu machen, obwohl doch erst „die Wahrheit den Menschen frei macht?" Nur die Freiheit, solche Fragen offenzuhalten, verbürgt die Revision „ewiger Wahrheiten“. 2. Mit hartnäckiger Argumentation ist dagegen anzukämpfen, wenn rechte und linke Heilsgewißheit glaubt, zur Beförderung einer neuen Humanität über Leichen gehen zu dürfen. Mehr als bisher sollte es, wie Hans Albert anregt, darauf ankommen, „Von der Situation her zu argumentieren, d. h. z. B.: tatsächlich vorliegende Schwächen unseres sozialinstitutionellen Gefüges, unserer Traditionen, Investitionen, Denkweisen und Methoden zu lokalisieren und einer Kritik im Lichte des vorhan-denen sozialen Wissens zu unterwerfen. Es ist ein Irrtum, anzunehmen, daß man sich zur Aufdeckung konkreter sozialer Übelstände an einem abstrakten Ideal einer vollkommenen Gesellschaft orientieren müsse.“

3. In der Auseinandersetzung mit der Epoche des Faschismus ist über dessen bloße Pflicht-verurteilung hinauszugehen. Aber nicht nur bei diesem Thema haben Jung und Alt ihre politisch-sittliche Haftungsgemeinschaft aktiv zu gestalten. Wir Älteren stehen gegenüber den Jüngeren in einer Auskunfts-und Rechtfertigungspflicht. junge Mensch Aber auch der prägt in seinem heutigen Sozialverhalten, im Maße seiner Verantwortungsbereitschaft die der auf ihn folgenden Generation. Die Zukunft feine Empfindung der Jugend für Gewalt und Unrecht deutet auf ein soziales Gewissen, dem soziales Wissen oft unzureichend komplementär ist, wie der moralische Rigorismus des lauten, kurzlebigen Protestaktionismus allzuoft unterstreicht. Wir müssen füreinander Klinge und Wetzstein sein, ohne daß eins von beiden zu Bruch geht.

4. Statt vom neuen Menschen politisch zu phantasieren, sollte lediglich das zäher praktiziert werden, was sich aus dem Subsidiaritätsbedürfnis vom freien Menschen und freien Gemeinwesen ergibt: eine zumindest von der politischen Vernunft gebotene kritische und zugleich selbstkritische „Solidarität", in der sich die Rationalität der Aufklärung und das Christengebot der Nächstenliebe wechselseitig zur Autorität politischen Handelns erheben. Nur so sind drei Maximen zu stützen: die Bereitschaft zu öffentlicher Verantwortung, das Recht auf Irrtum, das Prinzip Hoffnung. Sie sichern allein Freiheit als Befähigung zum bejahenswerten Entwurf unserer Zukunft, auch wenn dieser sich zumeist wieder gegen uns wendet.

VI. Freiheitsangst als Freiheitsgefährdung

Macht sich eigentlich Freiheit, so wäre hier endlich einzuflechten, nicht der Lebensuntauglichkeit verdächtig, wenn sie zur Wesens-bestimmung solch aufwendiger Abstraktion bedarf? Splittert nicht die „Freiheits" -Theorie, wenn sie an den scharfkantigen Alltag in der Schule, in der Familie, im Berufsleben gerät? Und in der Tat erscheint heute nicht als wichtigste Aufgabe, über „Freiheit" nur weiter zu diskutieren . Wichtiger ist vielmehr, „Freiheit“ zu gebrauchen zur Verwirklichung des als notwendig Erkannten und damit „Freiheit" zu ehren als elementare Ausstattung zum Streit über das Notwendige.

Die heute auffällige Freiheitsängstlichkeit würde denen als Perversion erscheinen, die 1789 in die große Deklaration hineinschrieben, der freie Gedankenaustausch sei „eines der kostbarsten Menschenrechte“ Gewiß mag das Gefühl der „unausgleichbaren Spannung zwischen Freiheit und Ohnmacht" der nicht in Werträngen aufhebbaren „Synthese kausaler und unkausaler Determination“ zur Freiheitsverachtung oder Freiheitsscheu verleiten. Nur, was wäre damit gewonnen? Der gebildete Freiheitsverächter und der freiheitsängstliche Spießer tragen nicht unsere politische Kultur. Sie werden von ihr mitgetragen. Ihr bleibt auch der Spötter, auch der Monomane rechtsschutzwürdig. Deshalb nämlich, weil Freiheit zu kostbar ist für Idealismus und Zynismus Wer Freiheit als Bedingungslosigkeit reserviert oder wer Mißtrauen gegen den Staat als Inhaber des physischen Gewaltmonopols zum religiösen Dogma stilisiert, stachelt die Institution Staat dazu auf, daß „Freiheiten wie Vorschriften gehandhabt werden und der Gebrauch von Freiheit anrüchig wird“

Woher rührt dieser Attraktivitätsverlust von Freiheit? Warum gelingt nicht eine bessere Vermittlung zwischen intellektuellem Problemwissen und demokratischem Gewissen? Warum ist man krank vor Objektivität, passiv angesichts des Freiheitsverfalls?

Wirwissen von uns: Der selbstlose Einsatz, um gewaltbestimmte Verhältnisse zu verbessern, um gerechter zu machen, befreit uns hier von Schuld, um uns dort neue aufzuerlegen: Eine nach Kräften konsequente Hilfe im Nord-Süd-Konflikt könnte zur Schuld am Zusammenbruch unseres gesamten eigenen Wirtschaftsgefüges führen. Ein konsequenter einseitiger Verzicht auf den Rüstungswettlauf könnte Schuld bedeuten, den Gegner zur Penetration oder Invasion eingeladen zu haben. Oder jenseits des Makrobereichs zwei Beispiele: Ein konsequent betriebenes Engagement in der Gewerkschaft, in der Erziehungs-und Sozial-arbeit kann zur Schuld daran werden, daß Ehe und Familie des so ernsthaft um mehr Gerechtigkeit Bemühten kaputtgehen. Der konsequente Einsatz eines Politikers für sein Land kann seine Gesundheit ruinieren, die damit nicht mehr in wünschenswerter Weise der Erziehung der eigenen Kinder zugute kommt.

Wir können uns nicht aus eigener Kraft aus Gewalt und Unrecht erlösen. Freiheit bleibt die Komplizin der Schuld. Wir wissen um die letzte Vergeblichkeit des Erkenntnisstrebens, durch die sich der Intellektuelle in seinem Selbstwert beschädigt fühlt und ihn zur Obstruktion demütigt Demütigt in seiner Angst, mit der Kritik an der Ideologie des Du oder Ich schließlich noch zum verlachten Opfer zu werden. Das Wissen, es nicht durchhalten zu können, immer „wesentlich" zu sein, knechtet den Bürger im Intellektuellen, im Lehrer, im Wissenschaftler und fördert eine verlegene Aggressivität gegen jene, die es wagen, vom Ethos der Freiheit zu sprechen. Gegen jene, die als Regisseure republikanisch-jakobinischer Entrüstungsshows uns allen die Wege morastiger Einsamkeit vom Schreibtisch und Katheder her aufzeigen, aber selbst nicht vorangehen — außer mit Maul und Feder. Freiheit als großes, verteidigungswertes Gut zu empfinden und zu schätzen, gelingt uns offenbar nur im Angesicht konkret spürbarer Freiheitsbedrohung. Erst die Furcht vor Ausweglosigkeit macht uns kampffähig für eine Selbstbefreiung zur unbedrohten Freiheit hin, um diese dann vermutlich wieder nach ihrer Rückgewinnung fahrlässig zu vernutzen. Ein Prozeß also wie jener, in dem erst der Hunger das Brot achtenswert macht oder in dem politisches Kabarett erst dann gut ist, wenn die Verhältnisse schlimm sind. Wenn uns heute mangels unmittelbarer Bedrohung kein Aufstandsgefühl mobilisiert, dann ist das nur für den Freiheitsfundamentalisten, für den Philosophen beklagenswert. Nicht aber für uns allgemein. Zeigt es doch an, daß wir durchaus noch in der Zone der aktiven Freiheitsvorsorge zur Verhinderung jenes Ereignisses stehen, hinter dem man schon einmal mitmachen mußte, „um Schlimmeres zu verhüten". Gegen diesen Rückfall kann nur die genaue Kenntnis der Geschichte der Diktaturen, des Kampfes um Menschenrechte, der Freiheitsverachtung geschlossener Ideologien wappnen. „Geschichte" ist politische Entwicklung der Menschheit auf Gegenwart, auf uns zu. Sie ist deshalb Ort zur Veranschaulichung und des Nachvollzugs aller Unterdrückung, die Menschen einander zuzufügen vermögen. Im Prisma der Geschichte wird die Vorstellung als Selbstbetrug entlarvt, Freiheit vom Staat besitzen und zugleich einen freien Staat haben zu können Freiheit als Summe von Freihei-ten, die zumeist einzeln mühsam errungen werden mußten, darf nicht im Vergessen dieser Tatsache zur Freiheitsvergeudung verkommen. . Jedes Grundrecht bedarf einer geistesgeschichtlichen Auseinandersetzung anhand seiner Geschichte und Tradition." Den Mut zur Geschichte, die Kraft zum praktischen Beispiel finden wir, wo wir noch reaktionsintensiv sind: in der Sorge um die eigene Zukunft, in der Liebe zu den Kindern. Ihre Existenz von Sinnleere freizuhalten, hat Freiheit zur Voraussetzung. Sie stellt die Bedingung, um nach der Wahrheit über uns und in uns zu suchen und uns in dieser Suche um Freiheit zu sorgen -In diesem Prozeß sorgender Suche entwickelt sich das Bekenntnis zu jener Selbstbegrenzung, in der Mensch und Freiheit einander würdigen

Diese Würde darf nicht wie bisher aus der Größe des Nettosozialprodukts abgeleitet werden, sondern daraus, daß in Freiheit Wege zu erkunden sind, die uns — im Wortsinn — fortschreiten lassen, ohne diktierte Ziele erreichen zu müssen. Empfinden wir dabei Angst, so hat nicht Freiheit, also die Vorbedingung der Aufklärung über uns selbst, diese Angst als Verzagen vor der Zukunft verschuldet. Schuld hat wohl eher das jahrelang gesteigerte Verlangen nach politischer und ästhetischer Autonomie gegen unseren Staat, ohne zugleich für ihn und damit für den Verfassungsentwurf offener Gesellschaft realitätspflichtig und kraftvoll einzutreten.

Dieser Vorwurf, Anlaß zur Mahnung und Selbstermahnung, geht jetzt vor allem an die politischen Meinungsbildner, an Journalisten, Lehrer, Wissenschaftler und Intellektuelle. Nie waren, wie ein Blick in die deutsche Geschichte bestätigt, Brot und persönliche Freiheit der Kritiker so ungefährdet wie heute. Dennoch reagieren viele von ihnen auf die wachsenden öffentlichen Besorgnisse mit pathetischem Schweigen, mit dem Privatismus gelehrten Bücherschreibens, mit der Reduktion demokratischer Lebensthemen zur Artistik des politischen Bonmots. Dialoge über solche Distanzen machen „Freiheit“ weniger zur Vertrauenssache als das Einstehen des Ich vor dem Du in direktem Wort und gemeinsamer Tat Neu ist dieses Aufgebot an kollektiver Ermahnung zu mehr praktisch-demokratischem Einsatz gewiß nicht Doch gilt: Sollte uns je wieder Freiheit genommen werden, kann keiner von uns aufstehen und sagen, er habe von Freiheitsgefährdung nichts gewußt, habe dagegen nichts tun können. Bonn ist nicht Weimar, doch die Abdankung des Bürgers muß nicht spektakulär erfolgen

Fussnoten

Fußnoten

  1. Belege bei Reinhard Mutz, „Sozialistische Landesverteidigung" und Abrüstung. Fragen zur Militär-doktrin der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 43/79.

  2. Carl von Clausewitz, Vom Kriege. Ungekürzter Text nach der Erstauflage 1832— 34, Frankfurt M. 1980, Ullstein Materialien Buch 35051, S. 671.

  3. Dazu grundlegend Eckhard Jesse, Streitbare Demokratie. Theorie, Praxis und Herausforderungen in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1980; Johannes Lameyer, Streitbare Demokratie. Eine verfassungshermeneutische Untersuchung, Berlin 1978; Walter Leisner, Demokratie. Selbstzerstörung einer Staatsform?, Berlin 1979; Heiner Flohr, Angst und Politik in der modernen parlamentarischen Demokratie, in: Heinz Wiesbrock (Hrsg.), Die politische und gesellschaftliche Rolle der Angst, Frankfurt/M. 1967.

  4. So Kurt Reumann, Unsere Angstgesellschaft, in: Frankfurter Allgemeine v. 5. 9. 1981.

  5. Hartmut von Hentig, Die entmutigte Republik, München 1980; vgl. auch Dieter Lattmann, Die Einsamkeit des Politikers, München 1977.

  6. Helge Pross, Was ist heute deutsch? Wertorientierungen in der Bundesrepublik, in: Hans Jochen Vogel, Helmut Simon und Adalbert Podlech (Hrsg.), Die Freiheit des anderen. Festschrift für Martin Hirsch, Baden-Baden 1981, S. 416— 417.

  7. Arnold J. Toynbee, Die Zukunft des Westens, München 1964, S. 14.

  8. Zitiert nach Bertrand Russell, Macht, Wien 1973, S. 194.

  9. Vgl. Hans-Adolf Jacobsen, Anmerkungen zum Problem der Kontinuität deutscher Außenpolitik im 20. Jahrhundert, in: Hütter-Meyers-Papenfuß (Hrsg.), Tradition und Neubeginn. Internationale Forschungen zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, Köln 1975, S. 17; vgl. auch Jesse, Anm. 3; bes. „Welche Demokratie wollen die Deutschen?', in: Martin und Sylvia Greiffenhagen, Ein schwieriges Vaterland. Zur politischen Kultur Deutschlands, München 1979, S. 102 ff.

  10. Generell Martin Kriele, Das demokratische Prinzip im Grundgesetz, in: ders., Legitimitätsprobleme der Bundesrepublik, München 1977; Georg Scholz, Staatsbürgerkunde oder Was geht der Staat den Bürger an?, Goldmann Juristischer Ratgeber 10808; Josef Simon (Hrsg.), Freiheit. Theoretische und praktische Aspekte des Problems, München 1977.

  11. Zitiert nach Wolfgang Bergsdorf, „Freiheit" in der Zerreißprobe. Aus der Geschichte eines politischen Großbegriffs, in: ders., Politik und Sprache, München 1978, S. 132 (Geschichte und Staat, Bd. 213).

  12. Vgl. „Freiheit" in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 425 ff. Vgl. bes. zur historischen Entwicklung des modernen Freiheitsbegriffs Ulrich Scheuner, Hegel und die deutsche Staatslehre des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Gesammelte Schriften „Staatstheorie und Staatsrecht", hrsg. v. Joseph Listl und Wolfgang Rüfner, Berlin 1978, bes. S. 84.

  13. Vgl. die Beiträge von Hanna-Renate Laurien, Heinz Rapp und Theo Schiller zum Thema „Freiheit", in: Martin Greiffenhagen (Hrsg.), Kampf um Wörter? Philosophische Begriffe im Meinungsstreit, München, Bonn 1980.

  14. Josef Simon, Freiheit und Erkenntnis, in: ders. (Hrsg.), a. a. O., S. 33. Grundlegend: Hermann Krings, „Freiheit", in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 2, München 1973.

  15. Georg Scholz, a. a. O., S. 33; zur Problemstellung vgl. Peter Graf Kielmansegg, Volkssouveränität. Eine Untersuchung der Bedingungen demokratischer Legitimität, Stuttgart 1977, bes. S. 100.

  16. Bundesverwaltungsgericht v. 15. 12. 1953, zit nach NJW 1954, S. 525, bei Scholz, a. a. O„ S. 34.

  17. Carl J. Friedrich, Pathologie der Politik, Frankfurt/M. 1973.

  18. Vgl. „Verfassungsschutz 1980", Bundesminister des Innern, Bonn 1981.

  19. Kleines Politisches Wörterbuch, Berlin (O) 19733, S. 235 f.

  20. Vgl. Heinz Stommeln, Neonazismus in der Bundesrepublik. Eine Bestandsaufnahme, Bonn 1979; Manfred Funke, Extremismus und offene Gesellschaft, in: ders. (Hrsg.), Extremismus im demokratischen Rechtsstaat, Bonn, Düsseldorf 1978, S. 28 f.

  21. Manfred Funke, Faschismus — Comeback für einen umstrittenen Begriff?, in: Außerschulische Bildung, H. 2, 1980. Ergänzend: Ernst Nolte, Despotismus — Totalitarismus — Freiheitliche Gesellschaft. Drei Grundbegriffe im westlichen Selbstverständnis, in: ders., Was ist bürgerlich? und andere Artikel, Abhandlungen, Auseinandersetzungen, Stuttgart 1979, S. 114 ff.

  22. Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst. Vorwort, Düsseldorf 1958, S. 143.

  23. Hans Albert, ökonomische Ideologie und politische Theorie, Göttingen 1972, S. 182.

  24. Rolf Schenda, Volk ohne Buch, München 1977, S. 231.

  25. Helmuth Plessner, über Menschenverachtung, in: ders„ Diesseits der Utopie, Frankfurt/M. 1974, S. 213.

  26. Reinhold Zippelius, „Freiheit“, in: Evangelisches Soziallexikon, Stuttgart 1975.

  27. Martin Greiffenhagen, Politik und/oder Moral, in: Vorwärts v. 23. 7. 1981.

  28. Adolf Muschg in seiner Rede im Rahmen der Frankfurter Römerberg-Gespräche, Frankfurter Rundschau v. 14. 6. 1980.

  29. Im Kontext Hans Maier, Die ältere deutsche Staats-und Verwaltungslehre, München 19803

  30. Ulrich Scheuner, Die institutioneilen Garantien des Grundgesetzes, in: a. a. O. (Anm. 12).

  31. Hierzu Arnold Brecht, Politische Theorie. Die Grundlagen politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Tübingen 19762, S. 376 ff, bes. S. 380, dort Anm. 10.

  32. Karl Dietrich Bracher, Menschenrechte und politische Verfassung. Ein Grundproblem der politischen Ideengeschichte, in: Zeitschrift für Politik, H. 2, 1979; grundlegend Hans Vorländer, Verfassung und Konsens. Der Streit um die Verfassung in der Grundlagen-und Gesetzesdiskussion der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1981.

  33. Vgl. Dolf Sternberger, Grund und Abgrund der Macht. Kritik der Rechtmäßigkeit heutiger Regierungen, Frankfurt/M. 1962, S. 211 ff.

Weitere Inhalte

Manfred Funke, Dr. phil., geb. 1939, Akademischer Oberrat und Lehrbeauftragter am Seminar für politische Wissenschaft der Universität Bonn; Redaktionsleiter der Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte; Mitherausgeber von „Demokratische Verantwortung". Verfasser bzw. Herausgeber folgender Veröffentlichungen u. a.: Sanktionen und Kanonen. Hitler, Mussolini und der internationale Abessinienkonflikt, Düsseldorf 19712, ital. Ausgabe Milano 1972; Friedensforschung — Entscheidungshilfe gegen Gewalt, Bonn, München 19782; Hitler, Deutschland und die Mächte — Materialien zur Außenpolitik des Dritten Reiches, Athenäum Droste Taschenbuch 7213; Terrorismus — Untersuchungen zur Strategie und Struktur revolutionärer Gewaltpolitik, Bonn 1977 und Athenäum Droste Taschenbücher 7205; Extremismus im demokratischen Rechtsstaat, Bonn, Düsseldorf 1978; Totalitarismus — Ein Studien-Reader zur Herrschaftsanalyse moderner Diktaturen, Düsseldorf 1978.