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Der deutsche Südwesten und die Entwicklung der parlamentarischen Demokratie in Mitteleuropa | APuZ 31/1982 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 31/1982 Parlamentarisches System und bundesstaatliche Ordnung Der deutsche Südwesten und die Entwicklung der parlamentarischen Demokratie in Mitteleuropa

Der deutsche Südwesten und die Entwicklung der parlamentarischen Demokratie in Mitteleuropa

Lothar Gall

/ 14 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Baden-Württemberg gehört zu den wenigen deutschen Ländern, bei denen das Bemühen, die eigene staatliche Existenz tiefer in Geschichte und Tradition zu begründen, zugleich den Blick freigibt auf eine gemeinsame kontinuierliche Entwicklung der inneren Liberalisierung und der Ausweitung der demokratischen Willensbildung. An ihrem Anfang stehen in Baden wie in Württemberg die modernen Repräsentativverfassungen, die beiden Ländern bald nach der eigentlichen Staatsgründung zu Beginn des 19. Jahrhunderts primär als Instrumente der Vereinheitlichung gegeben worden waren. Von ihnen ausgehend konnte das parlamentarisch-demokratische System im deutschen Südwesten ganz organisch wachsen und seinen noch heute spezifischen Charakter gewinnen: die allmähliche Gewöhnung an die Formen politischer Willensbildung im repräsentativen Verfassungsstaat, die es ermöglichte. die gesellschaftliche Dynamik in klar fixierten Bahnen zu halten und explosive Zuspitzungen zu vermeiden; die hohe politische Anteilnahme der Bevölkerung und eine außergewöhnliche Personenbezogenheit der Politik; der Übergang zur parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung, bei dem Baden eine Vorreiterrolle in Mitteleuropa spielte; schließlich auch jenes Modell einer Zusammenarbeit von Zentrum, Sozialdemokratie und Liberalen, auf das sich dann die Weimarer Republik gründete und stützte.

Am 31. März und am 7. April 1933 verkündete die Regierung Hitler auf der Grundlage des eben beschlossenen Ermächtigungsgesetzes die zwei Gesetze „zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich". Die Länder, so dokumentierten diese Gesetze, bildeten ein Haupthindernis für den totalitären Machtanspruch der jetzt zur Herrschaft gelangten Kräfte, ein letztes Bollwerk ihrer Gegner und damit der Freiheit überhaupt Die Beseitigung des föderalistischen Prinzips der Weimarer Verfassung durch die Nationalsozialisten bewirkte nach 1945 in Gegenreaktion eine Art demokratische Heiligsprechung des Föderalismus.

In Artikel 20 Abs. 1 des Grundgesetzes ist die Festlegung des bundesstaatlichen Charakters des neuzugründenden Staates dann positiv aufgenommen worden, und der Artikel 79 Abs. 3 enthält dazu eine verfassungsrechtliche Garantie, die in der Welt wohl einmalig ist, wenn er lapidar bestimmt: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“

Historische Aspekte des Föderalismus

Der hohe Rang, der hier dem föderalistischen Prinzip eingeräumt wurde, hat eine Diskussion weitgehend abgeschnitten, die bis 1933 durchaus kein klares Ergebnis gehabt hatte: die Diskussion eben um die Frage, ob der historisch begründete bundesstaatliche Charakter des 1871 geschaffenen deutschen Staates der inneren Liberalisierung des Gemeinwesens und seiner Weiterentwicklung im demokratischen Sinne förderlich gewesen sei oder ob man im Gegenteil in ihm einen der Gründe dafür suchen müsse, daß die innere Entwicklung in Deutschland hinter der der westlichen Staaten zurückblieb.

Daß das eigentliche Erbübel der Deutschen der mit Absolutismus und sozialer Vorherrschaft des Adels verbündete Partikularismus sei, dieser Gedanke war im 19. Jahrhundert und noch tief hinein in die erste Hälfte unseres Jahrhunderts im Lager der damaligen politischen Mitte und Linken weit verbreitet. Das Übergewicht Preußens in dem kleindeutschen Nationalstaat von 1871 hat der Frage einen besonderen Akzent gegeben, sie gleichzeitig aber auch zusätzlich verschärft: Neben das Festvortrag in der Feierstunde des Baden-Württembergischen Landtags am 25. April 1982 aus Anlaß des dreißigjährigen Bestehens des Landes. gleichsam natürliche Spannungsverhältnis zwischen Gliedstaaten und Zentralstaat trat ein gesteigertes Spannungsverhältnis zwischen den nach Verfassung und innerer Struktur sehr unterschiedlichen Gliedstaaten untereinander, bei dem der Zentralstaat, das Reich, aufgrund des Übergewichts Preußens sehr weitgehend Partei schien. Das aber erzeugte, wollte man das Reich aktionsfähig erhalten und es nicht zu politischen Zerreißproben kommen lassen, eine Tendenz zum Immobilismus, zum Festschreiben der bestehenden, jeweils historisch gewachsenen Verhältnisse, die das Reich innerlich erstarren ließen. Wie sollte sich, fragten die Kritiker, ein Gemeinwesen organisch entwickeln, dessen Teile so wenig homogen waren wie beispielsweise das in Verfassung und Sozialstruktur noch halb mittelalterliche Mecklenburg und das vielbeschworene „liberale Musterland''Baden, dessen spezifische bundesstaatliche Struktur die Erhaltung dieser Unterschiede geradezu garantierte? Das föderalistische, das bundesstaatliche Prinzip erschien hier also nicht als eine wesentliche Garantie einer liberalen und demokratischen politischen Ordnung, sondern als Grundlage eines noch vielfach antiliberal und antidemokratisch akzentuierten Immobilis-B mus. Es gehört zu den heute vielfach vergessenen oder verdrängten Bedingungen für den Erfolg des Nationalsozialismus, daß er sich auch hier einer starken Strömung weitverbreiteter Meinungen bedienen konnte, die freilich auf etwas ganz anderes zielten.

Dieses historische Föderalismusproblem ist heute, was die gegenwärtigen Verhältnisse angeht, ausgestanden. Die historischen Umstände — die Auflösung Preußens, die Teilung Deutschlands, die Neugründung der Länder in überwiegend anderer Form — haben hier eine ganz neue Situation geschaffen. Die Homogenität der heutigen Länder nach innerer Struktur und Verfassung geht sehr weit; an ihrer Bundestreue ist im Unterschied zu den Verhältnissen in der Weimarer Republik ein vernünftiger Zweifel ebenso wenig möglich wie an ihrem demokratischen Charakter; ihre Grenzen wie ihr innerer Zusammenhalt sind unumstritten. Wir können also von einer Art historischer Entlastung des Föderalismus sprechen, die seine Normierung als demokratisches und verfassungsstaatliches Prinzip im Sinne der vertikalen Gewaltenteilung (Hesse) nach 1949 zusätzlich begünstigt hat. Eine solche historische Entlastung des Föderalismus hatte freilich auch ihren Preis. Sie bedrohte den Föderalismus mit Substanzverlust. Denn sie enthielt die Gefahr, daß sich die Länder zu bloßen Verwaltungseinheiten entwickelten wie einst die französischen Departements nach Auflösung der alten, historischen Provinzen im Zuge der Französischen Revolution.

Ob sich diese Tendenzen nicht bereits sehr viel stärker durchgesetzt hätten, wenn der Gesamtstaat Bundesrepublik nicht aus den bekannten Gründen auf seinem Provisoriums-Charakter beharrt hätte, sei hier dahingestellt. Daß jedoch derartige Tendenzen eine Gefahr für einen lebendigen Föderalismus, für Lebenskraft und Eigenständigkeit der Länder auch jenseits der Institutionen darstellen, steht außer Frage. Diese Einsicht hat gerade in den letzten Jahren in fast allen Bundesländern Bestrebungen begünstigt, die eigene staatliche Existenz tiefer in Geschichte und Tradition zu begründen, als dies in den meisten Fällen in der unmittelbaren Entstehungsgeschichte nach 1945 angelegt war — auf eine ungebrochene staatliche bzw. territoriale Identität kann ja außer den beiden Hansestädten Hamburg und Bremen von den heutigen Bundesländern nur Bayern zurückblicken. Solche Bestrebungen enthalten freilich nicht selten etwas Künstliches — ich will darauf verzichten, hier Beispiele zu nennen — und sie sind gelegentlich auch nicht unproblematisch, wenn sie, fraglos ohne böse Absicht, Traditionen beschwören, die die historische Entwicklung in Deutschland eher belastet haben. Nur ganz wenige Bundesländer — man könnte es noch zuspitzender formulieren — sind in der glücklichen Lage, daß sie der Versuch der historischen Selbstvergewisserung zugleich unmittelbar an die Ursprünge ihrer heutigen Existenz als ein liberal und demokratisch fundiertes Gemeinwesen führt. Baden-Württemberg gehört ohne Frage dazu.

Die Verfassungen — Instrumente der Einheit

Sowohl Baden als auch Württemberg, die beiden 1952 über eine Volksabstimmung mit der preußischen Exklave Hohenzollern zum heutigen Bundesland zusammengefügten Territorien, verdankten ihre staatliche Identität wie auch ihren spezifischen Charakter sehr wesentlich einem fortschreitenden Prozeß der inneren Liberalisierung und der Ausweitung demokratischer Willensbildung seit der eigentlichen Staatsgründung zu Beginn des 19. Jahrhunderts, einem Prozeß, für den es in Mitteleuropa kaum vergleichbare Beispiele gibt. Die Entwicklung knüpfte dabei in Württemberg zugleich an die hier im Unterschied zu den meisten anderen Territorien des Heiligen Römischen Reichs niemals ganz abgerissene ständische Tradition an. Mit Stolz wiederholte man hier das ganze 19. Jahrhundert hindurch das Diktum des liberalen englischen Unterhausabgeordneten Charles James Fox aus dem 18. Jahrhundert, er kenne nur zwei Länder in Europa, die eine Verfassung hätten, die diesen Namen verdiene: das Vereinigte Königreich und das Herzogtum Württemberg. Aber im Kern war das, was seit Beginn des 19. Jahrhunderts in Gang kam, doch etwas ganz Neues. Der überraschende Gleichtakt, in dem Baden und Württemberg sich seither entwickelten, macht das sehr deutlich.

Am Anfang stand hier wie dort ein Prozeß der Vereinheitlichung der Gebiete, die man im Zuge der territorialen Neuordnung in der Zeit der französischen Vorherrschaft neu erworben hatte, einer Vereinheitlichung in verwaltungsmäßiger, rechtlicher, kirchlicher, kulturpolitischer, wirtschaftlicher und in begrenztem Maße auch sozialer Hinsicht, alles wesentlich mit bürokratischen Mitteln. Diejenigen, die diesen Prozeß von Seiten der monarchischen Exekutive vorantrieben, wurden sich allerdings schon bald bewußt, daß eine rein bürokratische Zusammenfassung der nach Tradition und Struktur, nach Herrschaftsordnung und bisheriger politischer Kultur sehr unterschiedlichen Gebiete nicht ausreiche, um dem neugeschaffenen Staat den nötigen inneren Zusammenhalt und vor allem auch nach außen eine Einheit zu geben, die durch die ehemaligen Besitzer der Gebiete — man denke etwa nur an die jetzt badischen Teile der ehemals bayerischen Pfalz — nicht mehr aufbrechbar sein würde. Das konnte — und dies war in der gegebenen Situation, in einem streng monarchisch, absolutistisch aufgebauten Staat, ein überaus kühner, ja, revolutionärer Gedanke — nur gelingen, wenn man die Untertanen unmittelbar am Staat und an der staatlichen Willensbildung beteiligte, und zwar in einem Ausmaß, das weit über alles hinausging, was bisher in dieser Hinsicht im deutschen Südwesten bekannt war.

Es waren also Motive nüchternster Staatsräson, die wenige Jahre später zu der badischen Verfassung von 1818 und der württembergisehen von 1819 führten, zwei modernen Repräsentativverfassungen auf der Grundlage eines überständischen, im Laufe des 19. Jahrhunderts immer weiter ausgedehnten Wahlrechts und mit Steuerbewilligungs-und Gesetzgebungsrecht der Volksvertretung, Verfassungen, die zu den fortschrittlichsten im damaligen Europa zählten. Ihr Ziel haben diese Verfassungen in vollem Umfang erreicht, und sie haben auch in dieser Hinsicht dann Schule gemacht. Schon Ende 1818 nannte Karl von Rotteck, einer der geistigen und parlamentarischen Führer des süddeutschen Liberalismus in den folgenden Jahrzehnten, die badische Verfassung „die Geburtsurkunde des badischen Volkes"; sie habe aus Breisgauern, Durlächern und Markgräflern eine neue und höhere Einheit werden lassen, aus einer „Summe von Untertanen" ein „lebendiges Ganzes". Und der Württemberger Robert Mohl, einer der ersten Vertreter des neuen, des konstitutionellen Staatsrechts und wie Rotteck schon bald einer der führenden liberalen Politiker der Zeit, sekundierte ihm: Was Württemberg in den letzten zwei Jahrzehnten, nicht immer mit den feinsten Mitteln, zusammengebracht habe, sei durch die Verfassung erst wirklich zu einem Teil Württembergs geworden. Von Instrumenten der Einheit, als die sie konzipiert waren, wurden die Verfassungen damit zugleich zu deren Symbolen — das Verfassungsdenkmal in Karlsruhe, der Obelisk, ist dafür ein Stein gewordenes Zeugnis. Die Institutionen dieser Verfassungen, vorab die Volksvertretung, repräsentierten das Gemeinwesen und das, was man heute gern seine Identität nennt, fortan ebenso wie der Monarch und der bürokratisch-anstaltsstaatliche Apparat.

Das war in der Geschichte der europäischen Staaten etwas durchaus Neues. Überall anders gab es eine vorkonstitutionelle staatliche Identität, auf die sich diejenigen beziehen konnten, die dem Prozeß der fortschreitenden Liberalisierung und der Veränderung im demokratischen Sinne kritisch bis ablehnend gegenüberstanden. In Baden wie in Württemberg aber beruhte die Identität wesentlich auf der Verfassung. Ihre Preisgabe hätte also jene in Frage gestellt. Sie ist denn auch niemals, auch nicht nach der gescheiterten Revolution von 1848/49, im Zeichen einer gesamteuropäischen Reaktionsphase, ernsthaft erwogen, geschweige denn praktisch versucht worden. Auf der anderen Seite, und das hat die Kritiker der süddeutschen Verfassungen aus den Jahren nach 1815 bald zu Nachahmern werden lassen, gewöhnten diese frühen Verfassungen auch die schärfsten Gegner der bestehenden Verhältnisse in Gesellschaft und Wirtschaft, in Justiz und Verwaltung, in Kirche und Schule an die Modalitäten des parlamentarischen Verfahrens, an die Formen der politischen Willensbildung und die Artikulierung dieses Willens im repräsentativen Verfassungsstaat. Sie banden sie ein in einen wenn auch nicht auf den Konsens, so doch auf den Kompromiß gerichteten Prozeß und verhinderten so, indem sie der Dynamik in klar fixierten Bahnen Raum gewährten, jene Zuspitzungen, die anderswo im 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vielfach die Entwicklung bestimmten. Die Art, wie sich etwa 1918/19 im deutschen Südwesten der innenpolitische Machtwechsel und der Über-gang von der Monarchie zur Republik vollzo27 gen, zeigt, welche tiefen Wurzeln das parlamentarisch-konstitutionelle System hier geschlagen hatte und mit welcher Selbstver-ständlichkeit sich auch die entschiedensten Kräfte in seinem Rahmen bewegten und seine Bedingungen anerkannten.

Das parlamentarische System — ein Vehikel der Reform

Das fiel ihnen insofern leicht, als sich dieses System ungeachtet der oft tiefgehenden Konflikte über den jeweils konkret einzuschlagenden Weg seit seiner Errichtung zu Beginn des 19. Jahrhunderts sowohl in Baden als auch in Württemberg als ein Vehikel der Reform erwiesen hatte. Zu einem Instrument der bloßen Kanalisierung, der Stillegung der gesellschaftlichen Kräfte, wie das mancher auf Regierungsseite zu Beginn des Verfassungslebens gehofft hatte, taugte es nicht. Seine Lebensbedingung war es vielmehr, gesellschaftliche Bewegung in politisches Handeln und die Neuformulierung der Normen und seiner Rahmenbedingungen umzusetzen.

Mit der Verfassung hatten die beiden süd-westdeutschen Staaten, so zeigte sich, eine spezifische Dynamik zu ihrem Lebensprinzip gemacht, eine Dynamik, deren zentrales Organ nicht, wie Max Weber gemeint hat, die Bürokratie — diese Meinung ist wohl unausrottbar —, sondern das Parlament war. Diese Dynamik fand ihren Ausdruck in dem, was man heute abstrakt hohe politische Mobilisierung nennt und was konkret hieß, daß die Anteilnahme am politischen Leben, an den Geschikken des Gemeinwesens und an den einzelnen politischen Entscheidungen schon bald sehr ausgeprägtwar, Entscheidungen, die man über das Wahlrecht und über im Vergleich zu heute vielfach sehr viel engere Kontakte mit den einzelnen Abgeordneten in der unmittelbaren Reichweite sah. Die Breite des politischen oder doch vielfach politisch akzentuierten Vereinswesens, der Zulauf zu Versammlungen bis hin zu Volksversammlungen noch heute bemerkenswerten Umfanges, die Verbreitung von Presseorganen und Flugschriften, die enorme Popularität bekannter parlamentarischer Führer — dies alles reflektiert eine Lebendigkeit des politischen Lebens, die heute nicht selten hinter historischen Klischees von einem ständigen Wechsel zwischen Revolution und Klassenherrschaft zu verschwinden droht. Solche Lebendigkeit war, wie es nicht anders sein konnte, eine Lebendigkeit der Gegensätze, der Spannungen, oft mit großer Leidenschaft ausgefochtener Kontroversen. Neben der Sache und der Grundanschauung, um die es ging, standen als Verkörperung, als Repräsentanten zunächst die Personen und die Gemeinschaften, die diese in den beiden Parlamenten eingingen, und das personenbezogene Element blieb auch nach der Ausbildung moderner parteipolitischer Organisationsformen, die hier in Mitteleuropa im übrigen mit am frühesten erfolgte, im deutschen Südwesten sehr stark; ganze Parlamentarierdynastien sind auf dieser Basis entstanden und haben dem parlamentarischen System ein zusätzliches Element der Kontinuität und damit der inneren Lebenskraft verliehen.

Diese Personenbezogenheit auf der parlamentarischen und parteipolitischen Ebene und somit des öffentlichen Lebens überhaupt spiegelt nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie die Überschaubarkeit der Verhältnisse in zwei, wie man es früher genannt hat, Mittel-staaten wider. Sie ist vielmehr, so wird man sagen können, ein Ausdruck der Unmittelbarkeit der politischen Willensbildung und der Direktheit der politischen Beziehungen, die für die politische Kultur im deutschen Südwesten prägend gewesen sind. Sie haben eine politische Mentalität hervorgebracht, die Württembergern und Badenern in der Reichspolitik, sei es als Abgeordnete, sei es als Minister und hohe Beamte, jenseits aller „Stammeseigentümlichkeiten" stets ein scharfes politisches Profil verliehen hat und dies wohl bis heute tut. Und sie haben vor allem die innere Geschichte beider Länder auf jene Politik der Mitte hin bestimmt, die über alle Gegensätze und Umbrüche ihre Kontinuität ausmacht und die Dauerhaftigkeit ihrer Institutionen bewirkte.

Die Ausbildung des parlamentarischen Regierungssystems

Die Basis, das Forum und der Hauptbezugspunkt dieser Politik war seit Bestehen der Verfassung und damit praktisch seit dem Zeitpunkt, an dem Baden und Württemberg vor mehr als 160 Jahren ihre moderne staatliche Form erlangten, das Parlament. Man hat in beiden Ländern, gestützt vor allem auf das große Vorbild des englischen Parlaments im 17. und 18. Jahrhundert, rasch gelernt, daß man über den Haushalt und über die Gesetzgebung Regierung und Verwaltung zur Kooperation zwingen konnte, auch wenn man über die Personen zunächst noch nicht zu bestimmen vermochte, Personalentscheidungen noch allein Sache des Monarchen waren. Und ebenso rasch kam man zu der Einsicht, daß dies zugleich eine ständige Abstimmung untereinander, den Ausgleich und Kompromiß im Parlament selber voraussetzte und der Erfolg von dem festen Zusammenwirken in Fraktionen von klaren und bestimmten Verfahrensregeln abhing.

So ist das parlamentarische System im deutschen Südwesten ganz organisch gewachsen, und es war dann zwar ein aufsehenerregender, aber durchaus auf der Linie der bisherigen Entwicklung liegender Schritt, als der badische Großherzog im Frühjahr 1860, in einer Zeit, in der der Konflikt zwischen Parlament und Regierung in Preußen, der sogenannte Verfassungskonflikt, seinem Höhepunkt zustrebte, nach einer Abstimmungsniederlage seiner bisherigen Regierung erstmals offiziell die Führer der siegreichen Parlamentsopposition mit der Bildung eines neuen Kabinetts beauftragte — „der erste Fall dieser Art, den man in Deutschland erlebt hatte“, wie ein Zeitgenosse zu Recht betonte. Der württembergische König ist wenig später diesem Beispiel gefolgt, und seither bildeten beide Staaten das oft beschworene Vorbild für eine entsprechende Reform der Verhältnisse in Preußen und im wenig später gegründeten Deutschen Reich. Dieses Vorbild hat sich hier wie dort bis 1918 bekanntlich nicht durchgesetzt. Beide Staaten blieben Obrigkeitsstaaten, wie man im Süden sagte, mit all den tiefen, unausgetragenen Spannungen, mit denen ein solches System der, wie man es beschönigend nannte, „Regierung über den Parteien" gemeinhin verbunden ist. Es ist dabei viel von der mangelnden politischen Reife der Deutschen im allgemeinen und der deutschen Parteien im besonderen die Rede gewesen.

Bismarck vor allem hat damit immer wieder begründet, warum das Reich zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt einem solchen Vorbild noch nicht folgen könne: „Keiner wirkt für das Ganze", so hat er den Parteipolitikern immer wieder vorgeworfen, „jeder stopft nur an seiner Fraktionsmatratze"; wenn die Parteien „ans Ruder kämen“, werde daher „alles wieder auseinanderfallen". Noch in seinen Lebenserinnerungen sucht er das parlamentarische System im deutschen Südwesten als Folge fragwürdiger Popularitätshascherei der dortigen Monarchen abzutun. „Der regierende Herr", so höhnte er über den badischen Großherzog, „war in dem Herkommen aufgewachsen, daß das Streben nach Popularität und das . Rechnung tragen jeder Regung der öffentlichen Meinung gegenüber das Fundament der modernen Regierungskunst sei". Dabei zeigte gerade die politische Praxis im deutschen Südwesten, daß die Perspektive der realen Verantwortung, die Chance, über kurz oder lang an der Regierungsmacht beteiligt zu werden, das Verhältnis der Parteien untereinander wie zu der jeweiligen Regierung auf eine ganz andere Ebene hob, jene Kräfte begünstigte, die, unbeschadet fester Grundsätze und klarer politischer Überzeugungen, sich stets einer Politik des Ausgleichs und des Kompromisses offenhielten. Daß, wie Robert Mohl im Vorfeld der Parlamentarisierung Badens und Württembergs werbend hervorhob, auch die Opposition „bei diesem System auf dem Boden der Regierungsmöglichkeit bleiben" muß, erwies sich als ein ganz entscheidender Faktor. Es hat nicht zuletzt bewirkt, daß sich nach den katholischen Parteien auch die Arbeiterbewegung, die im Reich und in Preußen — aus verständlichen Gründen — zu prinzipieller Obstruktion neigte, nach ihrem Eintritt in die Landtage zu Beginn der neunziger Jahre mehr und mehr an der parlamentarischen Kooperation beteiligte. So ist im deutschen Südwesten zuerst das Modell einer Zusammenarbeit zwischen Zentrum, Sozialdemokraten und einem Teil der Liberalen entstanden, auf das sich dann die Weimarer Republik gründen und in ihren erfolgreichsten Phasen stützen sollte. Und es ist kein Zufall, daß Württemberger und Badener wie Payer, Haußmann oder der nachmalige Reichsfinanzminister Heinrich Köhler bei der Vermittlung und der Ausgestaltung dieser Verbindung eine hervorragende Rolle spielten. Sie brachten das in die Reichspolitik ein, was in ihren Ländern seit Jahrzehnten Grundlage parlamentarischen und politischen Erfolgs war: die Fähigkeit, zwischen dem Wünschbaren und dem Möglichen zu unterscheiden, die Bereitschaft zum Gespräch über die politischen und weltanschaulichen Gräben und Fronten hinweg und nicht zuletzt die Ablehnung jeder Staatsmetaphysik — auch wenn Hegel ein Landsmann war.

Das alles war wenige Jahre später nicht mehr gefragt, und es wäre Schönfärberei, wenn man behaupten wollte, daß die Tendenzen, die zum 30. Januar 1933 führten, nicht auch den deutschen Südwesten erfaßt hätten. Aber man kann doch guten Gewissens sagen, daß der Neuanfang nach 1945 hier stärker als in vielen anderen Gebieten Deutschlands zugleich ein Wiederanknüpfen an das gewesen ist, was tiefe und genuine Wurzeln in der eigenen geschichtlichen Vergangenheit besaß. Dem entsprach es, daß bei der Neugründung zunächst eher künstlich zusammengesetzer Territorien — Nordwürttemberg-Nordbadens, Südwürttemberg-Hohenzollerns, Südbadens — und dann des heutigen Bundeslandes Baden-Württemberg die Parlamente und der parlamentarische Gedanke eine ganz zentrale Rolle spielten und daß es fast durch die Bank Männer mit parlamentarischer Erfahrung und Tradition waren, die die Dinge vorantrieben und die teilweise sehr scharfen Gegensätze schließlich erfolgreich überbrückten. Am Ende stand, in durchaus symbolhafter, der historischen Entwicklung entsprechender Form, als Vollzug und Besiegelung der Staatsgründung der Akt der parlamentarischen Regierungsbildung am 25. April 1952. „Von unserem Lande", so hatte Reinhold Maier sechs Jahre vorher, im Juni 1946, erklärt, „muß die deutsche Demokratie ... neu geboren werden. Denn hierzulande stoßen wir nach Beseitigung des nationalsozialistischen Mörtels nicht auf politisch reaktionäres Mauerwerk, sondern auf festgewachsenen, urdemokratischen Mutterboden." Das war sehr selbstbewußt formuliert, aber es war, wie im Rückblick auf die letzten zwei Jahrhunderte der Geschichte dieses Landes deutlich wird, nicht unbegründet.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Lothar Gall, Dr. phil., geb. 1936; 1967 Privatdozent an der Universität Köln; 1968— 1972 o. Professor für neuere Geschichte an der Universität Gießen; 1972— 1975 an der Freien Universität Berlin; seit 1975 an der Universität Frankfurt a. M. Wichtigste Veröffentlichungen: Benjamin Constant. Seine politische Ideenwelt und der deutsche Vormärz, 1963; Der Liberalismus als regierende Partei, 1968; Bismarck. Der weiße Revolutionär, 5. Aufl. 1981.