I. Einleitung
„Die NSZZ . Solidarnosc’ ist aus der Streikbewegung des Jahres 1980 entstanden, der stärksten Massenbewegung in der Geschichte Polens. Diese Bewegung, die unter den Arbeitern der großen Betriebe in verschiedenen Regionen unseres Landes entstand, fand ihren historischen Wendepunkt im August 1980 in den Küstengebieten. Sie erfaßte im Laufe des Jahres alle Bereiche der Arbeitswelt: die Arbeiter und die Bauern, die Intelligenz und die Handwerker ...
Es ging uns gleichermaßen um Gerechtigkeit, Demokratie, Wahrheit, Gesetzlichkeit, Menschenwürde, Meinungsfreiheit, um die Verbesserung der Republik, nicht dagegen nur um Brot, Butter und Wurst...
Dieser gesellschaftliche und moralische Protest entstand nicht von heute auf morgen. In ihm ist das Vermächtnis des im Jahr 1956 in Posen und im Dezember 1970 in den Küstengebieten vergossenen Arbeiterblutes, der Studentenrevolte des Jahres 1968, der Leiden in Radom und Ursus während des Jahres 1976 enthalten. In ihm ist das Vermächtnis der selbständigen Aktivitäten der Arbeiter, der Intelligenz und der Jugend, der Bemühungen der Kirche um die Bewahrung der Werte, das Vermächtnis sämtlicher Kämpfe für die Würde der Menschen in unserem Land enthalten. Unsere Gewerkschaft ging aus diesen Kämpfen hervor und bleibt ihnen treu.
Wir bilden eine Organisation, die in sich die Merkmale einer Gewerkschaft und einer umfassenden gesellschaftlichen Bewegung vereinigt. Die Vereinigung dieser Merkmale macht die Stärke unserer Bewegung und unsere Rolle im Leben des gesamten Volkes aus. Dank der Entstehung einer kraftvollen gewerkschaftlichen Organisation überwand die polnische Gesellschaft ihre Zersplitterung, Desorganisierung und Verlorenheit: Vereinigt unter der Losung der Solidarität erlangte man Kraft und Hoffnung. Die Bedingungen für eine wirkliche Wiedergeburt des Volkes sind geschaffen worden. Unsere Gewerkschaft, die breiteste Vertretung der arbeitenden Bevölkerung in Polen, will und wird die tätige Kraft für die Wiedergeburt sein.
Die NSZZ . SolidarnoÄt'vereinigt in sich viele gesellschaftliche Strömungen, vereint Menschen mit unterschiedlichen Weltanschauungen und unterschiedlichen politischen und religiösen Überzeugungen, unabhängig von der nationalen Herkunft. Uns verband der Protest gegen die Ungerechtigkeit, gegen den Mißbrauch der Macht und die Monopolisierung des Rechts darauf, das Tun des gesamten Volkes ausdrücken und bestimmen zu wollen. Uns verband der Protest dagegen, daß der Bürger durch den Staat wie sein Eigentum behandelt wurde, daß die arbeitende Bevölkerung im Konflikt der authentischen Interessenvertretung beraubt war; uns verband der Protest gegen die Selbstgefälligkeit der Regierenden, besser wissen zu wollen, wieviel Freiheit den von ihnen Regierten zuzuteilen ist, gegen die Belohnung eines unbedingten politischen Gehorsams anstelle von Eigeninitiative und der Selbsttätigkeit im Handeln. Uns verband die Ablehnung der Lüge im öffentlichen Leben, die Unzufriedenheit über die Verschwendung der Ergebnisse der schweren und geduldigen Arbeit des Volkes.
Wir sind jedoch nicht nur eine zum Protest befähigte Kraft, sondern eine Kraft, die ein für alle gerechtes Polen aufbauen will, eine Kraft, die sich auf gemeiname menschliche Werte be-
isolidarno schöpft zur Bestimmung ihres Handelns aus den Werten der christlichen Ethik, aus unseren nationalen Traditionen sowie aus der Arbeitertradition und der demokatischen Tradition der Arbeitswelt.. " fangs — vor dem Zurückdrehen der Entwicklung durch die Parteiführung — eine entschiedene Unterstützung bei Mitgliedern der Betriebsparteiorganisationen, Parteisekretären und einfachen Parteimitgliedern fand Nach einer gesetzlichen Regelung durch das Arbeiterrätegesetz vom 19. November 1956 waren in der ersten Hälfte des Jahres 1957 in 90, 5 Prozent der Betriebe mit über 2 000 Beschäftigten Arbeiterräte entstanden. Der Arbeiterrat erhielt nach dem Gesetz von 1956 gegenüber dem Betrieb und gegenüber der kompromittierten Gewerkschaft eine autonome, starke politische und wirtschaftliche Stellung Die Position der parteigelenkten Gewerkschaften, die im Verständnis der Arbeiterräte nach 1944 die sozialen Arbeiterinteressen gegenüber dem Staat hatten vertreten sollen, während sie selbst die Interessen der Arbeiter gegenüber dem Betrieb repräsentieren wollten, war 1956/57 angesichts des politischen Anspruchs und der politischen Stellung der Arbeiterräte in den Betrieben weitergehend in Frage gestellt als unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. So wurde beispielsweise die wirtschaftliche und sozialpolitische Kontrollfunktion ausdrücklich an den Arbeiterrat und nicht an den gewerkschaftseigenen Betriebsrat übertragen
In enger Verbindung mit der Konzeption der Arbeiterräte wurde in der ordnungspolitischen Diskussion die Bedeutung des Betriebs als autonome, selbständig wirtschaftende Einheit in einem System von Marktbeziehungen hervorgehoben. Der Wirtschaftswissenschaftler Oskar Lange wurde mit seiner sozialistischen Marktwirtschaftskonzeption zu einem Motor der Reformbemühungen. Aus der Entwicklung der Arbeiterräte und aus der Diskussion über eine grundlegende Reform des polnischen Wirtschaftssystems mußten sich zwangsläufig Konsequenzen für das zentralistische und monolithische Herrschaftssystem der Partei und des von ihr verwalteten Staates mit weitreichenden politisch-ideologischen Folgen ergeben. In dem Wechselspiel von systemsprengenden Ansprüchen der Arbeiter-räte und hinhaltender Taktik der Staats-u Parteiorgane machte sich eine Dynamik b merkbar, die nicht nur bestimmte Organis tionsprinzipien im Bereich der Arbeitswelt z Disposition stellte, sondern sich gegen d ganze geltende Sozialismusmodell der PZF wandte. Schon ein Vierteljahrhundert vor d Gründung von „Solidarno" war die Frage a tuell, ob das herrschende System eine selb« begrenzte Revolution von unten verkrafte kann und ob die Arbeiterschaft und die mit il solidarischen gesellschaftlichen Kräfte (Inte ligenz, Bauern) sich zu einer Selbstbeschrä kung bei ihren Forderungen durchringen köi nen
Außer der herrschaftspolitischen Brisar führte die kurzsichtige, da gesamtwirtschaf lieh nachteilige Interessenpolitik der Arbe terräte zugunsten der Arbeiter (Lohnpoliti dazu, daß die Arbeiterräte sukzessiv in ihre Rechten beschnitten wurden Sie unterstr chen ihre Forderungen bis weit in das Jai 1957 und vereinzelt bis Ende 1958 durch di Ausrufung von Streiks. In diesem Zusammei hang und mit Blick auf die Ereignisse von 197 und 1980/81 ist es von Interesse, daß die humi nistische Inteligencja und die neue technisch Inteligencja in Verwaltung und Betrieben di Streiks unterstützten. Die bereits im Jahr 1956 anzutreffende Solidarität der Intelligen mit der Arbeiterschaft hatte ihre Ursachen! deren gesellschaftlichen Homogenität, vei bunden mit tradierten kulturellen Verhalten: mustern und in der darin begründeten Opp sition gegenüber der in den fünfziger Jahre herrschenden Ordnung in Polen, die wit derum staatliche Repressalien zur Folge hatt Von den Streiks erhoffte sich die in der Stalin stischen Periode 1949— 1955 gesellschaftlic und politisch degradierte Intelligenz auc eine Besserung ihrer eigenen Lage.
Unter dem Druck der Arbeiterrätebewegun sahen sich die seit der Gleichschaltung End der vierziger Jahre kompromittierten & werkschaften gezwungen, die Streiks al Kampfmittel der Arbeiter zu akzeptieren. J denfalls hatte Ignacy oga-Sowiski, ein G mulka-Freund, der Wiktor Klosiewicz, den E ponenten der konservativ-orthodoxen „Nati lin" -Gruppe in der PZPR, als Vorsitzender de Zentralrats der Gewerkschaften abgel
und Mit-bzw. Selbstverwaltung der Arbeiter auf Betriebs-bzw. Landesebene erwuchs seit 1976 eine Arbeiteropposition, die sich schließlich im Sommer 1980 mit gesamtgesellschaftlicher Unterstützung eine neue nationale Repräsentation der Arbeiterschaft in Gestalt der „Solidarnosc" schuf. Die 1944/45 entstandenen Arbeiterräte, die meist aus Parteilosen und politisch gebundenen Nichtkommunisten bestanden, wurden von den Kommunisten als eine Übergangslösung bei der Transformierung Polens von einem politischen System mit pluralistischen und demokratischen Strukturen in ein zentralistisch organisiertes System mit dem Herrschaftsmonopol der kommunistischen Partei — der Polnischen Arbeiterpartei (Polska Par-tia Robotnicza = PPR) — später der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza = PZPR) — und der von ihr direkt gelenkten oder abhängigen Massenorganisationen angesehen Die Arbeiterräte, die meist noch vor den Gewerkschaften ins Leben gerufen worden waren, wurden mit der zunehmenden Festigung der nach 1944 unter den wachsenden Einfluß der PPR geratenen Gewerkschaften allmählich verdrängt. Von den Gewerkschaften wurden die Betriebsräte in den Vordergrund gerückt, die im Sinne der PPR eher manipulierbar waren als die nichtkommunistischen, sozialistisch orientierten Arbeiterräte (Beschluß des ZK-Sekretariats der PPR „zur Tätigkeit der Parteiorganisation in der Zentralkommission der Gewerkschaften“ vom 9. Juni 1945). Dieser Prozeß war zu Beginn des 1. Gewerkschaftskongresses vom 18. bis 21. Dezember 1945 beendet. Die Unterordnung der Betriebsräte unter die mit der PPR gleichgeschaltete Gewerkschaftsbewegung wurde mit einem Dekret vom 16. Januar 1947 auch rechtlich sanktioniert. Die Betriebsräte waren nun in die Organisationspyramide eingebaute Organe der Gewerkschaften. Diese festigten in immer stärkerem Maße ihre Rolle als Transmissionsriemen der offiziellen Parteipolitik. Voraussetzung dafür war die Zentralisierung der ursprünglich von den sozialistischen Parteien beeinflußten Gewerkschaften. Bis zum Jahre 1946 waren 36 zentralisierte Einheitsgewerkschaften geschaffen worden, denen bis September 1948 87 Prozent aller Beschäftigten angehörten. Mit
dem Anfang 1950 in Kraft getretenen Gewerkschaftsstatut wurde die Anpassungsphase der Gewerkschaften abgeschlossen, die parallel zu der Gleichschaltung der Polnischen Sozialistischen Partei (Polska Partia Socjalistyczna = PPS) mit der PPR zur PZPR (1948) vollzogen worden war Die Funktion der Betriebsräte wurde im wesentlichen auf die Wahrnehmung von Aufgaben im Sozialbereich der Unternehmen beschränkt. Von der Mitentscheidung im betrieblichen Bereich waren sie ausgeschlossen — die Rechte waren nur noch symbolisch. Ausschlaggebend war für die PZPR die politische Mobilisierungsfunktion der Betriebsräte. Die gleichgeschalteten Einheitsgewerkschaften und mit ihnen die Betriebsräte verloren in den Jahren von 1950 bis 1956 ihre Rolle als Vertreter von Arbeiterinteressen völlig. Sie wurden den Intentionen und Interessen von Partei und Staat untergeordnet und vollzogen deren Bürokratisierung und Entfremdung von der Arbeiterschaft mit. Sie waren zu Transmissionsriemen der Partei degradiert. Begünstigt wurde die Erstarrung der Gewerkschaften und der Abbau der Arbeiter-Mit-und Selbstverwaltung durch die Industrialisierung und Verstädterung des Landes, die bis 1955 eine beträchtliche Bevölkerungswanderung verursachte. Diese Wanderungsbewegungen hatten eine desintegrierende Wirkung auf die überkommenen Gesellschaftsgruppen der Arbeiter und der Inteligencja. Die Ausbreitung bäuerlicher Denkund Verhaltensmuster beeinträchtigte das Klassenbewußtsein und die Klassen-solidarität und förderte die Festigung der Macht der bürokratischen Partei-und Gewerkschaftsstrukturen in der Arbeitswelt Nicht von ungefähr brachen die Unruhen im Juni 1956 in den Posener Cegielski-Werken aus, wo die Klassenidentität der hier schon früher als kämpferisch bekannten Arbeiterschaft noch intakt war. Von hier aus breiteten sich spontan und ohne offizielle Rückendekkung die Arbeiterräte vor allem in den alten Industriegebieten und in alten größeren Betrieben als authentische Interessenvertretungen der Arbeiterschaft aus. Sie orientierten sich an den 1944/45 herausgebildeten Mitbestimmungsformen der Arbeiterräte. Mit gestärkten Betriebsräten allein waren die Arbeiter nicht mehr zufriedenzustellen, da die Gewerkschaften sich zu sehr diskreditiert hatten. Bemerkenswert ist, daß die Rätebewegung an-fangs — vor dem Zurückdrehen der Entwicklung durch die Parteiführung — eine entschiedene Unterstützung bei Mitgliedern der Betriebsparteiorganisationen, Parteisekretären und einfachen Parteimitgliedern fand 5). Nach einer gesetzlichen Regelung durch das Arbeiterrätegesetz vom 19. November 1956 waren in der ersten Hälfte des Jahres 1957 in 90, 5 Prozent der Betriebe mit über 2 000 Beschäftigten Arbeiterräte entstanden. Der Arbeiterrat erhielt nach dem Gesetz Nach einer gesetzlichen Regelung durch das Arbeiterrätegesetz vom 19. November 1956 waren in der ersten Hälfte des Jahres 1957 in 90, 5 Prozent der Betriebe mit über 2 000 Beschäftigten Arbeiterräte entstanden. Der Arbeiterrat erhielt nach dem Gesetz von 1956 gegenüber dem Betrieb und gegenüber der kompromittierten Gewerkschaft eine autonome, starke politische und wirtschaftliche Stellung Die Position der parteigelenkten Gewerkschaften, die im Verständnis der Arbeiterräte nach 1944 die sozialen Arbeiterinteressen gegenüber dem Staat hatten vertreten sollen, während sie selbst die Interessen der Arbeiter gegenüber dem Betrieb repräsentieren wollten, war 1956/57 angesichts des politischen Anspruchs und der politischen Stellung der Arbeiterräte in den Betrieben weitergehend in Frage gestellt als unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. So wurde beispielsweise die wirtschaftliche und sozialpolitische Kontrollfunktion ausdrücklich an den Arbeiterrat und nicht an den gewerkschaftseigenen Betriebsrat übertragen
In enger Verbindung mit der Konzeption der Arbeiterräte wurde in der ordnungspolitischen Diskussion die Bedeutung des Betriebs als autonome, selbständig wirtschaftende Einheit in einem System von Marktbeziehungen hervorgehoben. Der Wirtschaftswissenschaftler Oskar Lange wurde mit seiner sozialistischen Marktwirtschaftskonzeption zu einem Motor der Reformbemühungen. Aus der Entwicklung der Arbeiterräte und aus der Diskussion über eine grundlegende Reform des polnischen Wirtschaftssystems mußten sich zwangsläufig Konsequenzen für das zentralistische und monolithische Herrschaftssystem der Partei und des von ihr verwalteten Staates mit weitreichenden politisch-ideologischen Folgen ergeben. In dem Wechselspiel von systemsprengenden Ansprüchen der Arbeiter-räte und hinhaltender Taktik der Staats-und Parteiorgane machte sich eine Dynamik bemerkbar, die nicht nur bestimmte Organisationsprinzipien im Bereich der Arbeitswelt zur Disposition stellte, sondern sich gegen das ganze geltende Sozialismusmodell der PZPR wandte. Schon ein Vierteljahrhundert vor der Gründung von „Solidarnosc" war die Frage aktuell, ob das herrschende System eine selbst-begrenzte Revolution von unten verkraften kann und ob die Arbeiterschaft und die mit ihr solidarischen gesellschaftlichen Kräfte (Intelligenz, Bauern) sich zu einer Selbstbeschränkung bei ihren Forderungen durchringen können 8).
Außer der herrschaftspolitischen Brisanz führte die kurzsichtige, da gesamtwirtschaftlich nachteilige Interessenpolitik der Arbeiterräte zugunsten der Arbeiter (Lohnpolitik)
dazu, daß die Arbeiterräte sukzessiv in ihren Rechten beschnitten wurden 9). Sie unterstrichen ihre Forderungen bis weit in das Jahr 1957 und vereinzelt bis Ende 1958 durch die Ausrufung von Streiks. In diesem Zusammenhang und mit Blick auf die Ereignisse von 1976 und 1980/81 ist es von Interesse, daß die huma-
nistische Inteligencja und die neue technische Inteligencja in Verwaltung und Betrieben die Streiks unterstützten. Die bereits im Jahre 1956 anzutreffende Solidarität der Intelligenz, mit der Arbeiterschaft hatte ihre Ursachen in deren gesellschaftlichen Homogenität, ver-1 bunden mit tradierten kulturellen Verhaltens-mustern und in der darin begründeten Opposition gegenüber der in den fünfziger Jahren herrschenden Ordnung in Polen, die wiederum staatliche Repressalien zur Folge hatte. Von den Streiks erhoffte sich die in der stalinistischen Periode 1949— 1955 gesellschaftlich und politisch degradierte Intelligenz auch 5 eine Besserung ihrer eigenen Lage.
Unter dem Druck der Arbeiterrätebewegung sahen sich die seit der Gleichschaltung Ende der vierziger Jahre kompromittierten Ge-s werkschaften gezwungen, die Streiks alsl Kampfmittel der Arbeiter zu akzeptieren. Jedenfalls hatte Ignacy Loga-Sowinski, ein Go-mulka-Freund, der Wiktor Klosiewicz, den Exponenten der konservativ-orthodoxen „Natolin" -Gruppe in der PZPR, als Vorsitzender des Zentralrats der Gewerkschaften 10) abgelöst hatte, die Unterstützung der Gewerkschaften für Streiks von Arbeitern zur Erringung von höheren Löhnen zugesagt. Bereits im April 1957 sah sich die Partei jedoch veranlaßt, eine „politische Offensive“ gegen die Ungeduld, Streiktendenzen sowie die Verselbständigungstendenzen der Gewerkschaften zu starten -Da die folgenden Streiks trotz der Warnungen aus der Partei offen gegen die PZPR und ihre Politik gerichtet waren, erging an die Parteimitglieder die Weisung, weder mit Streiks zu sympathisieren noch an Streiks teilzunehmen, andernfalls sie ihre Mitgliedschaft aufs Spiel setzten
Der IV. Gewerkschaftskongreß von Mitte 1958 leitete das Ende der seit Herbst 1956 andauernden liberalen Phase im Verhältnis zwischen der Partei und der wieder zunehmend unter den Einfluß der PZPR geratenden Gewerkschaften auf der einen Seite und den das Prinzip der Selbstverwaltung hochhaltenden Arbeiterräten ein. Schon das IX. ZK-Plenum der PZPR (Mai 1957) hatte das Ende der Geduld angekündigt: Die Aufgaben der Arbeiter-räte wurden von ihm als innerbetriebliche Pflichten in der Produktionssphäre in Unterscheidung zu den Pflichten der noch vorhandenen Betriebsräte der Gewerkschaften in der sozialen Sphäre des Betriebs formuliert. Die Arbeiter sollten erneut der Kontrolle der wieder parteitreu gewordenen Gewerkschaften und damit dem Willen der Partei unterworfen werden Das sollte u. a. dadurch geschehen, . daß die Schiedskommissionen, welche Konflikte zwischen den Räten und Behörden schlichten sollten, die Instruktion erhielten, mit den Gewerkschaften zusammenzuarbeiten. Diese sollten auch die Vorsitzenden dieser Kommissionen stellen.“
Am 20. Dezember 1958 wurde ein Gesetz über die Arbeiterselbstverwaltung erlassen das eine neue Phase der Zurückdrängung der Arbeiterräte einleitete und die Gleichschaltung und bürokratische Entfremdung der Gewerkschaften von den Arbeiterinteressen in rechtliche Bahnen lenkte. Nach seinen Bestimmungen mußte dem Arbeiterrat von Amts wegen der Vorsitzende der Betriebs-oder Abteilungsleitung der Gewerkschaften und der PZPR angehören und durfte der ehedem als Leitungsorgan tätige Arbeiterrat an der Verwaltung des Betriebs nur noch mitwirken. Eine neu konzipierte Konferenz der Arbeiter-selbstverwaltung (KSR) unter Beteiligung des Betriebsdirektors wurde als Trägerin der bisher allein vom Arbeiterrat wahrgenommenen Arbeiterselbstverwaltung eingesetzt. In der KSR wurden die Parteigrundorganisation und der gewerkschaftliche Betriebsrat dem Arbeiterrat gegenüber gleichberechtigt, so daß dieser in eine Minderheitenposition geriet „Die Gewerkschaften erhielten eine allgemeine Aufsichtsfunktion. Dadurch wurden die Arbeiterräte unter das einseitige, wieder vom Parteiinteresse bestimmte Patronat der Gewerkschaften gestellt ohne daß man sie allerdings konzeptionell den Gewerkschaften unterordnete." Wesentlich gestärkt wurde die Position des vom Staat abhängigen und zugleich dem Betrieb verpflichteten Betriebsdirektors: „Bei Meinungsverschiedenheiten des Arbeiterrats mit der KSR oder der Direktion verfügte der Arbeiterrat über keinerlei institutionalisierte Garantien zur Durchsetzung seiner Konzeptionen." Die Arbeiterschaft resignierte allmählich, und die Überzeugung setzte sich durch, das gegen „die da oben“: den mächtigen Direktor, die Partei(grundorganisation) und den Betriebsrat (der Gewerkschaft), nichts auszurichten sei. Der zunehmende Gegensatz zwischen Arbeiterschaft und Partei fiel mit einer bedeutenden sozial-kulturellen Umwälzung zusammen: einer verbesserten Schulund Berufsausbildung der Arbeiter und der Herausbildung eines neuen Klassenbewußtseins unter Zurückdrängung des „Ver-bäuerlichungsprozesses“ in der Arbeiterschaft
In den späten sechziger Jahren wurden die Gewerkschaften wie die Arbeiterräte (in der KSR) ausdrücklich als Vollzugsorgane der Partei-und Staatspolitik eingesetzt. Regierung und Partei spannten sie in die Kampagne einer Politik der Minderung des Beschäftigungsstands und Arbeitsnormen-Neufestsetzung (= Einkommenskürzung) ein Damit wurde die konzeptionelle Gleichschaltung von Gewerkschaften und Arbeiterräten in den KSR, die sich erfolglos dagegen wehrten, offen deklariert. Eine Folge aller dieser politischen und gesellschaftlichen Probleme sowie der von einer verfehlten Wirtschaftspolitik der Regierung verursachten Wirtschaftskrise waren die Arbeiterproteste vom Dezember 1970 und in den ersten Monaten des Jahres 1971. Da die Gewerkschaften, die KSR und die machtlosen Arbeiterräte ihrer Aufgabe, die Arbeiterinteressen bei der Entscheidung über betriebliche, überbetriebliche und allgemein wirtschaftspolitische Fragen wirksam zu vertreten, nicht nachgekommen waren — im Gegenteil die Re-gierungs-und Parteipolitik in den Betrieben mit durchsetzten —, wurden in bestreikten Fabriken und in anderen Unternehmungen spontan neue Arbeiterräte gewählt, die in Anlehnung an den Vorkriegssprachgebrauch Delegierte genannt wurden. Sie empfanden sich weniger als Träger des Selbstverwaltungsgedankens, um den es auf dieser Stufe des Konflikts nicht primär ging, sondern sahen sich vordringlich als Verhandlungspartner mit den vorgesetzten Instanzen
Bezeichnend für die neue Verhaltens-und Bewußtseinslage in den gesellschaftlichen Gruppen war der Ausbruch der Streiks und Unruhen erstmals in Gebieten, in denen sich ein Klassenbewußtsein und -verhalten erst allmählich herausgebildet hatte. „Dies ist ein wichtiger Hinweis auf die nicht nur gesellschaftliche, sondern auch allgemeinpolitische Bedeutung der mittlerweile eingetretenen sozialen Veränderungen und Reifeprozesse in Polen.“ Eine “ weitere Folge dieser Prozesse war die Zurückhaltung der Inteligencja gegenüber den Protesten der Arbeiter. Deren stark zugenommene „Verbäuerlichung" und gestiegene Parteibindung führte zu einer wachsenden Distanz zur Arbeiterschaft. Die Distanz von Teilen der Inteligencja mag auch als verspäteter Reflex auf die Passivität der Arbeiter im Frühjahr 1968 verstanden werden, als die
Inteligencja politische und kulturelle Frei-heitsforderungen aufgestellt hatte und einer Repressionspolitik der staatlichen Organe ausgesetzt war
Von der Gewerkschafts-und Parteiführung wurden die neugewählten Arbeiterräte akzeptiert, um die aufgestauten Spannungen zu ent-laden. Man deklarierte die Notwendigkeit einer Neuorientierung der Gewerkschaften und der Arbeiterselbstverwaltung. Dabei ging es weniger um neue Institutionen und Modelle, sondern eher um die liberalere Auslegung vorhandener Richtlinien und um „patriotischsoziale Mobilisierungs-und Aktivierungsbemühungen mit Hilfe von Aufrufen und subjektiven Beschwörungen" (Strobel). Ausgehend von dem in erster Linie verbalen Pragmatismus, der schon 1956/57 von der Partei-und Gewerkschaftsführung angewendet worden war und schließlich zu den Deformationen im Verhältnis zwischen Arbeitervertretungen und Arbeiterschaft führte, die wiederum die Unruhen von 1970/71 zur Folge hatten, wurden unmittelbare Konsultationen der Parteiführung mit den Arbeitern aufgenommen Während einer neunstündigen Diskussion zwischen dem neuen Parteichef Edward Gierek und anderen Mitgliedern des Politbüros auf der einen Seite und der Belegschaft der Stettiner Warski-Werft auf der anderen Seite erhoben die Arbeiter am Januar 1971 weitreichende Forderungen: Neuwahl der Gewerkschaftsleitungen und der Arbeiterräte, in den Parteiorganisationen demokratische Wahlen, objektive Informationen über die wirtschaftliche Situation der Werft und des gesamten Landes, seitens der Sicherheitsorgane Beendigung der Einschüchterungen und Verhaftungen, Delegation von Belegschaftsvertretern in politische Organe, Anwendung des Rotationsprinzips 24). Wie schon 1956/57 führte die Eigendynamik der Diskussion unter den Arbeitern von wirtschaftlichen und sozialen Forderungen zu allgemeinpolitischen Erörterungen über die Demokratisierung politischer Strukturen. Allerdings waren die diesbezüglichen Forderungen im Winter 1970/71 weitaus begrenzter und weniger bedrohlich für den Partei-und Staatsapparat als die gesellschaftspolitischen Forderungen aus den Reihen der unabhängigen Gewerkschaft „Solidarno" zehn Jahre später. Die im Dezember 1971 in Frage gestellte Parteiherrschaft wurde in den darauffolgenden Jahren durch ein Einfrieren der Preise, Einkommenszuwächse und verstärkte Lebensmittelimporte stabilisiert. Die politische Konsolidierung wurde durch den „Dialog“ der Parteiführung mit der Arbeiterschaft gefördert. Nicht erfüllt wurden die zentralen Forderungen der Arbeiter von 1970/71 wie demokratische Wahlen, unabhängige Gewerkschaften, Streikrecht und authentische Arbeiterräte. Spätenstens mit dem Gewerkschaftskongreß von 1972 war die Diskussion über die Arbeiterselbstverwaltung schon wieder ausgelaufen. Die Folge waren neue Streiks im Oktober 1972 in Danzig und Gdingen, aber auch in anderen Teilen Polens, in denen neben Forderungen nach Lohnerhöhungen und einer gerechten Prämienverteilung auch wieder politische Petita standen (Demokratisierung der anstehenden Parteiwahlen). Die punktuellen Streiks des Jahres 1972 konnten jedoch die im Laufe des Jahres 1971 eingetretene Konsolidierung der Stellung der PZPR und der Staats-
gewerkschaften nicht ernstlich in Frage stellen. Polen befand sich noch mitten in der Phase eines wirtschaftlichen Aufschwungs Nach den Dezember-Unruhen 1970 hatte es zwar auf den mittleren und unteren Ebenen der Gewerkschaften erhebliche Umbesetzungen gegeben, aber der neue Gewerkschaftsvorsitzende Wladyslaw Kruczek, Mitglied des Politbüros der PZPR wie sein Vorgänger, galt als konservativ-orthodoxer Kommunist. Damit war er schwerlich ein glaubhafter Vertreter der Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung in Polen. Das Streikrecht wurde in das 1975 neu kodifizierte Arbeitsrecht nicht aufgenommen. Das Beharrungsvermögen des Partei-, Regierungs-und Gewerkschaftsapparates sowie des Managements verhinderte eine Erneuerung der Institutionen und der Rechte der Arbeitervertretung gegenüber den Betrieben und dem staatlichen Wirtschaftsapparat sowie der Parteibürokratie (vom Betrieb bis zur Zentrale in Warschau). Die Gewerkschaften blieben Transmissionsriemen des Partei-willens und Vertreter der Interessen des Staats-und Wirtschaftsapparates zu Lasten der Interessen der Arbeiter. Von den Arbeitern wurde auch anläßlich der Unruhen im Juni 1976, die nach der Ankündigung der Erhöhung von Grundnahrungsmittelpreisen (Fleisch, Fisch, Butter, Zucker u. a.) aufflammten und in der sich jährlich verschärfenden Wirtschaftskrise keine Veränderung der Position der Gewerkschaften zugunsten der Arbeiterschaft festgestellt, obwohl sie doch in der Produktion und als Konsumenten mit ihren Familien die Hauptleidtragenden der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen der späten siebziger Jahre waren
Trotz der Ablehnung und Verachtung der Gewerkschaften sind die Arbeiter bis Sommer 1980 Mitglieder ihrer jeweiligen Branchengewerkschaft geblieben. Unmittelbar vor dem Ausbruch der August-Streiks 1980 hatten die 23 Einzelgewerkschaften des Zentralrats der Gewerkschaften über 13 Millionen Mitglieder, die von 1, 5 Millionen hauptamtlichen Funktionären verwaltet wurden Die Gründe für eine Mitgliedschaft in den Staatsgewerkschaften waren vielfältig. Ein Austritt wäre mit großen finanziellen Risiken und sozialen Nachteilen verbunden gewesen, gewährten die Gewerkschaften doch Familienbeihilfen, organisierten Urlaubsaufenthalte in Gewerkschaftsferienheimen, betätigten sich als Bauträger, verteilten Wohnungen, gaben Kredite und verfügten über Bezugsscheine für rationierte Güter.
III. Die Unruhen 1976 und die Folgen: Die neue Arbeiteropposition
Die Arbeiterschaft war offiziell in den Gewerkschaften organisiert. Zugleich fühlten die Arbeiter sich vereinzelt und machtlos. So war die Chance für einen Wandel der Situation ge-ning, wie die abgebrochenen Versuche einer Reform der Organisation der Arbeiterschaft von 1956/57 und 1970/71 gezeigt hatten. Nach der Zerschlagung und Demoralisierung der Streikbewegung des Juni 1976 sollte sich die Geschichte nicht mehrwiederholen. Unmittelbar nach den Juni-Ereignissen begannen Wissenschaftler und Künstler mit der Untersu-chung und Dokumentierung der Polizeiaktionen und brachten sie an die Öffentlichkeit Der angesehene Schriftsteller Jerzy Andrzejewski richtete am 23. September 1976 einen Brief an den Sejm mit der Aufforderung, die Strafverfahren gegen die Teilnehmer an den Unruhen im Juni niederzuschlagen, die bereits Verurteilten zu amnestieren und die entlassenen Arbeiter wieder einzustellen. Gleichzeitig gab er die Gründung eines „Komitees zur Verteidigung der Arbeiter" (Komitet Obrony Ro-botniköw = KOR) bekannt. Folgende Ziele setzte sich das Komitee, dessen Mitglieder Intellektuelle waren, die zum Teil bereits seit längerer Zeit der Opposition angehörten: Untersuchungen über die Arbeiterunruhen, die Unterdrückung und Verfolgung durch Polizei und Justiz; Sammlung, Verwaltung und Verteilung von Sach-und Geldmitteln zur Unterstützung der Opfer der staatlichen Repression, denn: „Die Opfer der gegenwärtigen Repressalien können auf keinerlei Hilfe oder Schutz von den dazu berufenen Institutionen hoffen, wie zum Beispiel den Gewerkschaften, deren Rolle kläglich ist.... Unter diesen Umständen muß die Gesellschaft diese Rolle übernehmen, in deren Interesse die Verfolgten gehandelt haben. Die Gesellschaft hat nämlich keine andere Methode, sich vor Gesetzlosigkeit zu schützen, als Solidarität und gegenseitige Hilfe."
Die Aufrufe und die Tätigkeit des KOR wirkten ermutigend und veranlaßten zu wachsenden Protesten gegen als Unrecht empfundene Maßnahmen des Staates. Am 4. November 1976 forderten 889 Arbeiter der Ursus-Fabrik bei Warschau in einem Brief an die Regierung: „... die Rehabilitierung aller Kollegen, die im Zusammenhang mit dem Streik und den Demonstrationen am 25. 6. entlassen wurden ... Wir sind überzeugt, erst dann werden wir zusammen mit allen Polen imstande sein, die schwierige wirtschaftliche Lage, in die unser Vaterland geraten ist, zu bewältigen." Die gesellschaftlichen Proteste veranlaßten die Staatsorgane im Jahre 1977 zu einer Amnestie der im Zusammenhang mit den Juni-Ereignissen 1976 Verurteilten und zur allmählichen Wiedereinstellung der entlassenen Arbeiter Eine Untersuchung der blutigen Auseinandersetzungen zwischen Staatsmacht und Arbeitern 1976 gehörte 1980/81 zu den Forderungen der unabhängigen Gewerkschaft „Soli-darnosc". Sie wurde bis zur Suspendierung ihrer Tätigkeit am 13. Dezember 1981 nicht zur Zufriedenheit der Gewerkschaft abgeschlossen. Mit der Gründung und Tätigkeit des KOR wurde eine Ausbreitung der gesellschaftlichen Selbstorganisation und Solidarisierung über soziale Schichtungen hinweg initiiert Im Rückblick erweist sich das KOR, das sich im Jahre 1977 in „Komitee für gesellschaftliche Selbstverteidigung (Komitet Samoobrony Spolecznej = KSS) — , KOR’ “ umbenannte und damit seine ausgeweitete Zielsetzung andeutete, als wichtigster Kristallisationspunkt für unabhängige gesellschaftliche, insbesondere Arbeitergruppierungen. Mit der Herausgabe der in mehreren zehntausend Exemplaren erschienenen Zeitung „Robotnik“ (Der Arbeiter) und weiterer regionaler Zeitungen suchte das KSS-„KOR" selbst die Verbindung mit der Arbeiterschaft. Inspiriert vom „Robotnik" und mit der solidarischen Unterstützung des Komitees entstanden mehrere Gründungskomitees freier Gewerkschaften: 1977 in Radom, im Mai 1978 in Danzig (Gdahsk) für die Ostseeküste, 1978/79 in Kattowitz (Katowice) für Schlesien im Oktober 1979 in Stettin (Szczecin) für Westpommern Aus diesen freien Gewerkschaftskomitees formierte sich im Sommer 1980 die unabhängige Gewerkschaft „Solidar-no". Mit der Gründung freier Gewerkschaften hatten die Arbeiter nach den weitgehend fehlgeschlagenen Anläufen 1956/57 und 1970/71 den Versuch aufgegeben, eine Reform des Systems „von innen“ zu erreichen. Ein historischer Schritt in der Geschichte der Arbeiterbewegung im sozialistischen Polen war getan Der Staat und die Staatsgöwefkschaften wurden nicht mehr um die Erneuerung der Arbeitervertretungen gebeten, man gründete eigene Gewerkschaften.
Die Programmatik und das Vorgehen der freien Arbeiterorganisationen ergaben sieb aus dem Bedürfnis nach Selbständigkeit und Unabhängigkeit gegenüber Staat und Partei. Dabei wurde nicht außer acht gelassen, daß es bestimmte Einschränkungen der inneren Souveränität der Volksrepublik Polen gab, die sich aus der Zugehörigkeit des Landes zur sozialistischen Staatengemeinschaft ergaben. Die Möglichkeiten und Grenzen einer Ofr nung des Systems wurden 1977 von einem der bekanntesten Aktivisten des KSS-„KOR“, Ja cek Kuroh, in seinen „Gedanken zu einem Aktionsprogramm“ erwogen. Der Autor befaßte sich in seinen „Gedanken" mit den Fragen von Totalitarismus und Souveränität, den Zielen der Opposition, Gewissens-und Religionsfreiheit, Freiheit der Arbeit, Rede-und Informationsfreiheit, Freiheit der Forschung, der politischen Opposition und der Drohung einer Einmischung von außen
In der Deklaration des „Gründungskomitees Freier Gewerkschaften des Küstengebietes" vom 29. April 1978 drückte sich das Selbstverständnis der neuen Gewerkschaftsbewegung aus. In der Erklärung hieß es u. a.: „Die Gewerkschaftsbewegung in Polen hat vor 30 Jahren aufgehört zu existieren. Die Liquidierung der PPS (= Polnische Sozialistische Partei), der PSL (= Polnische Volkspartei) und anderer unabhängiger gesellschaftlicher Vertretungen führte, zusammen mit der Umgestaltung der Gewerkschaften, zur Vertretung eines monopolistischen Arbeitgebers und nicht der Arbeitnehmer. Die Vereinigte Polnische Arbeiterpartei machte aus der Gewerkschaftsarbeit eine Verlängerung ihrer eigenen Struktur und ein gehorsames Werkzeug der organisierten Ausbeutung aller Gesellschaftsschichten. Die Gesellschaft, der natürlichen und unentbehrlichen Formen ihrer Selbstverteidigung beraubt, konnte sich nur auf elementare Weise verteidigen. Die gewaltsamen Ausbrüche sozialer Unzufriedenheit zogen immer den drohenden Ausbruch einer Revolution mit unkalkulierbarem Verlauf und Folgen nach sich: Posen 1956, März 1968, die Küste 1970, Juni 1976. Die Regierung wich manchmal zurück (Juni 1976) oder vollzog taktische Wendungen (1956, Dezember 1970), zeigte sich aber unfähig, das gesellschaftliche Leben zu demokratisieren. Diese Unfähigkeit führte zu einer sich von Tag zu Tag vertiefenden ökonomischen und sozialen Krise und damit zu einer Krise des Staates. Eine breite Demokratisierung ist heute eine absolute Notwendigkeit Die Gesellschaft muß sich das Recht erkämpfen, daß ihr Staat auf demokratische Weise geleitet wird. Alle Gesellschaftsschichten müssen die Möglichkeit erhalten, sich selbst zu organisieren und gesellschaftliche Institutionen zu schaffen, die ihre Rechte verwirklichen. Nur authentische Gewerkschaften und gesellschaftliche Assoziationen können den Staat retten, denn nur über eine Demokratisierung führt der Weg einer Vereinigung der Interessen und des guten Willens der Bürger mit den Interessen und der Stärke des Staates. Diese Aufgaben verwirklichen schon heute solche
Institutionen wie das Komitee für Gesellschaftliche Selbstverteidigung , KOR‘, die Bewegung zur Verteidigung der Menschen-und Bürgerrechte, die Gesellschaft für wissenschaftliche Kurse oder die studentischen Solidaritätskomitees."
Zugleich festigte die katholische Kirche ihr Ansehen, ihre moralische und nationale Autorität. Mit der Wahl des Krakauer Erzbischofs Karol Wojtyla zum Papst (Oktober 1978) und seiner triumphalen Reise durch Polen (Juni 1979) wurde die Kirche zu einem nicht mehr angreifbaren Machtfaktor und Kristallisationspunkt eines individuellen und kollektiven Selbstbewußtseins, das sich direkt auf die Oppositionsbewegung in der Arbeiterschaft und in den anderen gesellschaftlichen Schichten auswirkte. Insbesondere die junge Generation quer durch alle Schichten wurde von der Aufbruchstimmung erfaßt.
Die Brüchigkeit der alten Herrschaftsstrukturen wurde schließlich auch dadurch evident, daß in der PZPR selbst sich — wenn auch zahlenmäßig geringer — Widerstand gegen die Partei-und Staatspolitik bemerkbar machte, über die nach dem August 1980 behauptete Opposition in der Partei gegen den Kurs der Parteiführung in den siebziger Jahren ist bis heute nicht viel bekannt geworden. Die Konflikte existieren jedoch praktisch von Anbeginn an, d. h.seit dem Jahr 1948. Das zeigte der „Offene Brief“ von 14 ehemaligen hohen Funktionären der PZPR, u. a.des ehemaligen Partei-chefs und nachmaligen Staatsratsvorsitzenden Edward Ochab Bekannt wurden auch die Enqueten des Diskussionsforums „Erfahrung und Zukunft" (Dowiadczenie i PrzyszloSc = DiP), in denen sich unabhängige Wissenschaftler, Intellektuelle und Persönlichkeiten, die Regierungskreisen nahe standen, Gedanken über den Zustand der Republik und einen Ausweg aus der Krise machten
Im Laufe des Jahres 1979 gewannen die oppositionellen Bewegungen weiter an Gewicht und traten mit öffentlichen Aktionen hervor. Von besonderer Bedeutung für die freie Gewerkschaftsbewegung war die Veröffentlichung einer „Charta der Arbeiterrechte" am 1. September 1979, dem 40. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen. Das Dokument trug u. a. die Unterschrift von Lech Walesa. Die Ge-werkschaftsbewegung faßte in der Charta die Erfahrungen der letzten Jahre zusammen und formulierte die Ziele und Aufgaben im Kampf um gerechtere Löhne, Arbeitszeitregelung, Arbeitssicherheit, Abbau von Privilegien bestimmter Gruppen, Gewissensfreiheit, die Novellierung des Arbeitsgesetzes von 1975 und die Erneuerung der Betriebsräte
Die letzten Monate des Jahres 1979, die Wochen unmittelbar vor dem VIII. Parteitag der PZPR (Februar 1980) und das Frühjahr 1980 waren voll von Zeichen der Erosion des bisherigen Systems politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Machtausübung sowie gesellschaftlicher Unzufriedenheit mit dem Bestehenden. Zu wirksamer Repression waren die Staatsorgane nicht mehr in der Lage; die innere Aushöhlung der Autorität und Legiti. mität der Machtorgane war zu offensichtlich Im Sommer 1980 bedurfte es nur noch eines geeigneten Anlasses, um der allgemeinen Unzufriedenheit und zugleich dem Orga-nisationsgrad der gesellschaftlichen, insbeson.dere der Arbeiterselbstorganisation Ausdruck zu verleihen. Zum Anlaß wurde die vorher nicht angekündigte Äussortierung einer Reihe von Fleischsorten aus den staatlichen Läden und ihr Verkauf ab sofort nur noch in sogenannten kommerziellen Läden, in denen die Preise bis zu über 100 Prozent über den subventionierten Staatspreisen lagen. Die Preiserhöhung trat am 1. Juli 1980 in Kraft.
IV. Sommer 1980: Die Streikbewegung und die Gründung der „Solidarno"
Höhepunkt der Streikbewegung, die Anfang Juli 1980 im Südosten Polens (Lublin, Swidnik) ihren Ausgang nahm und bis zur ersten Augusthälfte mit wechselnder Intensität über das Land hinwegzog, wurde der Streik der Werft-und Hafenarbeiter an der Ostseeküste, insbesondere in der Region von Danzig (Gdansk) und Stettin (Szczecin) Bis zu diesem Zeitpunkt wurden bei den Streiks in der Regel nur sozialpolitische Forderungen gestellt, die auch regelmäßig erfüllt wurden. Der Streik an der Ostseeküste brachte erstmals Forderungen auf, die neben sozial-und wirtschaftspolitischen auch systempolitische Wirkungen nach sich ziehen mußten. In den großen Industriezentren an der Küste bildeten sich überbetriebliche Streikkomitees (MKS), von denen das Danziger MKS durch seine Organisation wie durch seine Forderungen „in eine Pilot-funktion hineinwuchs" (Strobel). Vorsitzender des Danziger Streikkomitees war Lech Wa-sa
Wasa arbeitete als Elektromonteur auf der Danziger Lenin-Werft, wo er im Dezember 1970 dem Streikkomitee angehörte -Er war Delegierter für das Treffen mit dem neuen Parteichef Gierek am 24. 725. Januar 1971. 1976 wurde er entlassen und arbeitete danach in zwei anderen Betrieben. Wegen seiner Beteili-gung an der Gründung freier Gewerkschaften verlor er wieder seinen Arbeitsplatz. Seit 1978 gehörte er der Redaktion der illegal erscheinenden Zeitung „Robotnik Wybrzeza" (Arbeiter des Küstengebietes) an. Walesa und andere Streikführer des Jahres 1980 gehörten 1978 zu den Unterzeichnern der „Charta der Arbeiter-rechte". „Die Beziehungen der Streikführer zum KSS KOR waren offensichtlich und besonders eng." Seine ganz besondere Legitimation erhielt das Danziger Überbetriebliche Streikkomitee durch den Tatbestand, daß es auch von Belegschaften der nicht bestreikten Betriebe ausdrücklich bevollmächtigt wurde, in den Verhandlungen mit der Regierungsdelegation auch für sie zu sprechen Die kurz vor Abschluß der Verhandlungen an der Ost-seeküste aufkommenden Streiks im allgemein als ruhig und zufrieden geltenden oberschlesischen Kohlerevier — Polens Katanga —, die die exportorientierte Kohleproduktion nahezu lahmlegten und auch nach der Einigung in Danzig (Gdaösk) und Stettin (Szcezecin) andauerten, wurden für die Warschauer Führung zum untrüglichen Zeichen dafür, daß in Polen ein landesweiter Generalstreik kurz bevorstand. Sie unterstrichen, daß die Verhandlungsergebnisse Ostseeküste nach von der dem Willen der Arbeiter für ganz Polen Gültigkeit haben sollten. Der Konsens der polnischen Arbeiter über geographische Entfernungen hinweg und die Unterstützung durch alle Gesellschaftsschichten unterstrichen die Vorreiterrolle des Danziger MKS.
Vom überbetrieblichen Streikkomitee (MKS) in Danzig wurden zuerst 16 Forderungen aufgestellt, die einen eindeutigen Schwerpunkt im sozialen und wirtschaftlichen Bereich hatten, ohne daß sie die Grundlagen der politischen Ordnung in Frage stellten, obwohl ihre Erfüllung praktische Konsequenzen für das System haben mußte Der Katalog wurde bei Aufnahme der Verhandlungen mit der Regierungsdelegation auf 21 Forderungen erweitert Es wurden weitere wirtschaftliche und soziale Forderungen gestellt, ergänzt durch ein Postulat, das wegen seiner politischen Sprengkraft für das monopolistische Herrschaftssystem als unannehmbar die Regierung erscheinen mußte: die erstmals so deutlich formulierte nach von Forderung Partei unabhängigen und Arbeitgebern freien Gewerkschaften. Die anderen Forderungen betrafen: die Beteiligung Öffentlichkeit an der einem Wirtschaftsreformprogramm; Aufhebung von Funktionärsprivilegien; allgemeine, direkte und gleiche Lohnerhöhungen; bessere Marktversorgung und Einschränkung des Exports; Freilassung aller politischen Gefangenen (vor allem KSS-„KOR" -Mitglieder); Zugang der Kirche zu den Massenmedien; Aufhebung der Zensur; Streikrecht; Sicherheit für die Streikenden; Veröffentlichung autorisierter Berichte über den Streik; Wiedereinsetzung aller Menschen, die wegen Teilnahme an den Unruhen und Streiks 1970 und 1976 benachteiligt worden waren, in ihre ursprünglichen Rechte; Senkung des allgemeinen Rentenalters um fünf Jahre; Erhöhung der Zahl der Plätze in Kinderkrippen, Kinderhorten und Kindergärten zur Entlastung arbeitender Mütter-, Einführung eines bezahlten Mutterschaftsurlaubs von drei Jahren; Verbesserung des Gesundheitsdienstes; Verkürzung der Wartezeit auf Wohnungen; Anhebung der Tagegelder bei Dienstfahrten um 150 Prozent und Einführung von arbeitsfreien Samstagen für Arbeiter im Schichtdienst.
Der Forderungskatalog des Danziger MKS wich vom Katalog des Stettiner Streikkomitees ab. Zwar herrschte Übereinstimmung in den zentralen Fragen, aber: „Das Stettiner überbetriebliche Streikkomitee setzte für eine Reihe in Danzig sehr flexibel gehandhabter Forderungen feste Zeitlimits ... Auch die Äußerungen des Stettiner Verhandlungsführers der offiziellen Delegation, Barcikowski, deuten darauf hin, daß die Verhandlungen dort trotz der Pilotfunktion Danzigs unversöhnlicher, kompromißloser und härter als in Danzig geführt worden sind." So wurde beispielsweise in Stettin auch die erneute Veröffentlichung der KSZE-Schlußakte und der UN-Menschenrechtscharta verlangt und zugestanden. Ein Vergleich der Danziger und Stettiner Forderungen mit den Postulaten der verschiedenen dissidenten Gruppen und die personelle Zusammensetzung der Streikkomitees führt zu dem Schluß, daß eine enge Verflechtung mit dem KSS-„KOR" betont werden muß Allerdings ist hervorzuheben, daß die das bisherige System sprengende Forderung nach neuen oder reformierten und selbständigen auch von anderen Gewerkschaften Gruppen erhoben wurde. Das gilt für die 14 PZPR-Funk-tionäre, die im Oktober 1977 den „Offenen Brief" an Edward Gierek gerichtet hatten, wie für den Kreis um den Diskussionsclub „Erfahrung und Zukunft". Die Vorstellung einer unabhängigen authentischen Gewerkschaft scheint in allen Kreisen der Gesellschaft das Resultat von Überlegungen über die notwendige Erneuerung Polens gewesen zu sein.
Ein Vergleich der Konfliktformen zwischen Arbeitern und Staatsmacht in den Jahren 1956, 1970, 1976 und 1980 macht einen Lernprozeß deutlich, der 1980 dazu führte, daß auf der Seite der Arbeiter sich der Protest in einer bewundernswerten Disziplin und Würde äußerte — ein Ergebnis der Erfahrungen mit Straßendemonstrationen und blutigen Krawallen 1956, 1970 und 1976, die man mit dem Mittel des Besetzungsstreiks 1980 verhindern konnte. Man ließ sich nicht auf die Straße lok-ken Während der Lernprozeß auf Seiten der Arbeiter durch die politische Diskussion in den oppositionellen Gruppierungen gefördert worden war, wurde der Lernprozeß auf Seiten der Partei-und Staatsorgane durch die Überlegung geprägt, daß es sich im Sommer 1980 im Vergleich zu den Aktionen 1956, 1970 und 1976 um eine solidarische Manifestation der Unzufriedenheit auf einer qualitativ höheren Stufe an Organisiertheit und Geschlossenheit handelte, der sich zu widersetzen einen Bürgerkrieg provoziert hätte.
Obwohl in Stettin der Verhandlungsabschluß zwischen dem MKS und der Regierungsdelegation bereits am 30. August 1980 gelang, kam analog zu den Forderungen den Danziger Verhandlungsergebnissen die größere Bedeutung zu. Das Danziger Verhandlungsprotokoll vom 31. August 1980 war ein Kompromiß. In verschiedenen Punkten mußten sich die Arbeiter mit Teillösungen oder vagen Zusagen von Überprüfungen bestimmter Probleme innerhalb bestimmter Zeiträume zufrieden geben. Dennoch stimmten sie den Vereinbarungen mit der Regierung zu, weil sie in entscheidenden politischen Fragen einen Durchbruch erzielen konnten. In der erkämpften unabhängigen Gewerkschaft sahen sie ein wirksames Mittel, mit dessen Hilfe man noch nicht erfüllte Forderungen stellen konnte. Der wichtigste Inhalt des Danziger Abkommens war: das Recht zur Bildung unabhängiger, selbst-verwalteter Gewerkschaften. (Aus den Streik-komitees und aus diesem Recht entstand an der Ostseeküste im September 1980 die Unabhängige Selbstverwaltete Gewerkschaft „Solidarnoät".) Das Streikrecht wurde zugestanden: die Zensur sollte begrenzt und der Zugang zu den Massenmedien erweitert werden. Volle Meinungsfreiheit im öffentlichen und beruflichen Leben wurde gewährt. Führungskräfte sollten nach Qualifikation — nicht nach Parteibuch — ausgewählt werden.
Die Stettiner Vereinbarung war kürzer gehalten als die Danziger. Hervorzuheben sind die Ergebnisse, die über die Danziger Bestimmungen hinausgehen, wie die Zusage der erneuten Veröffentlichung der UN-Menschen-rechtscharta und der KSZE-Schlußakte von Helsinki in hoher Auflage und der Versetzung von leitenden Beschäftigten, die sich nicht be. währt haben, auf niedrigere Posten In dem am 3. September mit den Bergleuten in Oberschlesien abgeschlossenen Abkommen wurden vor allem bergbauspezifische Forderungen erfüllt, z. B. Abschaffung des Vier-Schich. ten-Systems, Verbesserung der Sicherheitsvorkehrungen in den Bergwerken und die Senkung des Rentenalters von 55 auf 50 Jahre für die unter Tage arbeitenden Kumpel
Bis Ende September 1980 wurden bereits mehrere hundert Vereinbarungen zwischen Vertretern von Streikkomitees und Abgeordneten von staatlichen und wirtschaftlichen Verwaltungsorganen unterzeichnet Allein, das Protokoll der Vereinbarungen von Danzig wurde in der Folgezeit zum Bezugsrahmen der sich im Lande immer weiter ausbreitenden Gewerkschaftsbewegung. Es ist daran zu erinnern, daß an eine landesweite Ausdehnung der Gewerkschaft „Solidarno" zunächst nicht gedacht war (siehe Unterpunkt 4 zu Punkt 1 der Vereinbarung: w.. oder sich zu einem größeren Verband für den ganzen Küstenraum zusammenschließen" Es war der Wille der Arbeiterschaft in ganz Polen, der über die nationale Ausbreitung der neuen Gewerkschaft entschied. Die Danziger Vereinbarung wurde in Polen allmählich als eine Art „Gesellschaftsvertrag“ anerkannt, der das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Machtorganen auf neue Weise regeln sollte. In der Rechtswissenschaft wurde die Danziger Vereinbarung (Po-rozumienie Gdahskie) später als ein „gesellschaftlich-staatliches Abkommen" bezeichnet das mehr sei als ein nur politisches Abkommen, da es für sich (same przez sie) unmittelbar verbindlich sei für die Staatsorgane, aber we nigerals ein normativer Akt, da die Regierung und das Streikkomitee durch die Verfassung nicht als rechtsschöpferische Subjekte vorgesehen seien
V. Solidarnosc 1980/81 -Gewerkschaft und gesellschaftliche Bewegung
Sofort nach Abschluß der Vereinbarungen setzte ein Massenandrang in die neue Gewerkschaft ein. Bis November 1980 waren von den 16 Millionen Beschäftigten Polens rund 10Millionen der „SolidarnoSc" beigetreten — eine Zahl, die bis zur Suspendierung der Gewerkschaft durch das Kriegsrecht weder wesentlich über-noch unterschritten wurde. Unter den Mitgliedern waren auch über eine Million Mitglieder der PZPR. Loyalitätskonflikte waren hier bereits vorprogrammiert, war doch eine von der Partei unabhängige Gewerkschaftsorganisation im marxistisch-leninistischen Herrschaftsmodell nicht vorgesehen.
Der einst so mächtige Zentralrat der Gewerkschaften beriet nach der Unterzeichnung der Vereinbarungen von Stettin, Danzig und Jastr-zebie die neue Lage. Er adressierte eine „Deklaration" an alle arbeitenden Menschen und Mitglieder des Gewerkschaftsaktivs, in der dazu aufgerufen wurde, in alle Gewerkschaftsgremien Personen zu wählen, die das Vertrauen der Mehrheit hätten Jetzt befürwortete auch die Führung der „alten" Gewerkschaften mit dem im August 1980 neugewählten Vorsitzenden Romuald Jankowski an der Spitze das Streikrecht Aber diese späte Kehrtwendung konnte den Zentralrat nicht mehr retten. Im Herbst 1980 traten alle Zentral 23 Branchengewerkschaften aus dem -rat aus und erklärten sich nach dem Vorbild der „SolidarnoSC" als „unabhängig, sich selbst-verwaltend". Daraufhin beschloß der Zentral-rat am 5. Dezember 1980 seine Selbstauflösung zum 31. Dezember des Jahres Die nun offiziell selbständigen und unabhängigen Bran -chengewerkschaften blieben der bevorzugte Partner der Regierung, wenn sich die War-schauer Führung auch darauf einstellte, daß ihr wichtigster gewerkschaftlicher Verhandlungspartner die „Solidarnosc" geworden war. Schließlich vertraten die Branchengewerkschaften nur noch zwei bis drei Millionen Arbeitnehmer; ungefähr zehn Millionen Werktätige hatten sie an die „Solidarnosc" verloren. Ihren Platz suchten die Branchengewerkschaften zu behaupten, indem sie einerseits die Regierung aufforderten, die Bevorzugung der „SolidarnoSö" zu beenden; andererseits spielten sie als Trumpfkarte die immer noch zum Teil fortbestehende Verfügungsmacht über das Sachvermögen der alten Einheitsgewerkschaft, vor allem die Sozialeinrichtungen, aus
Die jüngste Gewerkschaftsvereinigung im polnischen Gewerkschaftspluralismus war die „Konföderation der Autonomen Gewerkschaften". Sie hatte eigenen Angaben zufolge Anfang 1981 ungefähr 600000 bis 800000 Mitglieder Von den Autonomen hörte man recht wenig. Ihre Mitglieder gehörten vorwiegend qualifizierten Berufsgruppen an. Damit waren die autonomen Gewerkschaften eine Art Angestelltengewerkschaft
In den Strukturen und Methoden der „Solidarnosc" spiegelte sich die Ablehnung der Arbeit der Staatsgewerkschaften wider, in denen 23 landesweite Branchengewerkschaften zusammengeschlossen waren. Die neue Gewerkschaft wählte dagegen einen Aufbau nach dem Territorial-und Produktionsprinzip (Statut, § 8) Es wurden starke Regionalverbände angestrebt, um ein Gegengewicht gegen die staatliche Verwaltung in den Wojewodschaften bilden zu können Man sah in der regionalen Struktur das ideale die Instrument, da Werktätigen in allen Branchen den gleichen Arbeitgeber, nämlich den Staat, und in haben Konfliktfällen mit den Regionalbehörden zu verhandeln war. Zugleich kam dadurch der Grundgedanke der Gewerkschaftsbewegung, die Solidarität des Handelns unter den Beschäftigten Ausdruck. Branchen, wirksam zum Das Aufbauschema der „SolidarnoSc" sieht drei Ebenen vor: eine betriebliche, eine regionale und eine nationale Die Handhabung des einzigen wirksamen Machtmittels der Gewerkschaft, des Streiks, war sehr differenziert festgelegt (Statut, § 33) Die Streikarten reichten vom Warnstreik über den eigentlichen Streik (vom Betriebs-bis zum Regionalstreik) bis zum Solidaritätsstreik. Anfangs war ein Verzicht auf einen nationalen Dachverband der „Solidarnosc" geplant gewesen. Die Regionen sollten ihre Gewerkschaftsarbeit völlig selbständig leisten. Die Beratungen zu dieser Frage erbrachten aber den Beschluß, auch auf nationaler Ebene tätig zu werden. Gerade die gesellschaftspolitischen Fragen mußten mit der Regierung verhandelt werden. Hierzu erschien eine Dachorganisation als geeignetes Pendant. Danzig wurde zum Sitz des „Landeskoordinationsausschusses“, der nach dem 1. Landeskongreß der Gewerkschaft „Landesausschuß" bezeichnet wurde. Dazu wurde ein neunköpfiges Präsidium gewählt, das kurzfristig wichtige Entscheidungen für die Verbandspolitik fällen konnte. Dennoch ist es ein Wesenszug der „Solidar-no" bis zur Suspendierung ihrer Tätigkeit gewesen, daß die Regionalverbände sehr stark waren und der Dachverband nur beschränkte Möglichkeiten der Einflußnahme hatte. Hierin waren im Jahre 1981 mehrere innergewerkschaftliche Konflikte begründet. 1. Erste Konflikte zwischen Regierung und neuer Gewerkschaft Mehrere große Konflikte zwischen „Solidar-no" und Regierung/Partei in den zwölf Monaten zwischen der Unterzeichnung der Vereinbarungen von Stettin, Danzig und Jastrze-bie und dem 1. Landeskongreß der Gewerkschaft im September/Oktober 1981 machten deutlich, daß sich die Staats-und Parteiorgane noch keineswegs mit der Rolle einer von ihnen unabhängigen Gewerkschaft abgefunden hatten und daß auf der anderen Seite die Gewerkschaftsmitglieder ihr abgrundtiefes Mißtrauen gegenüber „denen da oben" nicht abbauten, vielmehr in ihrer reservierten Haltung durch verschiedene Maßnahmen der Behörden auf allen Ebenen ihrer Aktivitäten bestärkt wurden.
• Die größeren Auseinandersetzungen begannen bereits Mitte Oktober 1980 mit der Verzögerung der Registrierung des am 22. September eingereichten Statuts der Gewerkschaft „Solidarnosö“. Erst am 24. Oktober 1980 gab die erste Instanz des Warschauer Bezirksgerichts die Registrierung bekannt, hatte aber einseitig einige Änderungen hinsichtlich des Streikrechts vorgenommen und einige Passagen über die „führende Rolle der Partei" in den Text eingefügt. Die Gewerkschaft reagierte empört, legte Berufung ein und drohte mit einem Generalstreik. Der für den 10. November angekündigte Entscheid des obersten Gerichts fiel für die „Solidarnosc" günstig aus. Das Statut wurde wie beantragt registriert. Die Gewerkschaft mußte sich aber damit abfinden, daß dem Statut ein Anhang beigefügt wurde, in dem die Passage der Danziger Vereinbarung wiederholt wurde, in der die neue Gewerkschaft die „führende Rolle der Partei im Staat" anerkannte Für die Partei-und
Staatsführung war diese Anerkennung unabdingbare Voraussetzung für die Unterzeichnung des „Gesellschaftsvertrages" gewesen. Es liegt eine gewisse Ironie der Geschichte darin, daß die „Solidarnosc" mit Berufung auf die Freiheit ihrer gesellschaftlichen Betätigung die „führende Rolle der Partei im Staate" akzeptierte, während die Opposition gegen die Verfassungsreform von 1976 gerade zu verhindern trachtete, die PZPR als konstitutives Element des Staatsaufbaus festzuschreiben, und insofern Erfolg hatte, als die Partei in der Verfassungsreform als „die leitende politische Kraft der Gesellschaft beim Aufbau des Sozialismus" (Art. 31) bezeichnet wurde, ihre leitende Rolle im Staat aber nicht verfassungsmäßig anerkannt worden war
Ein weiterer Streitpunkt zwischen Regierung und „Solidarnosc" war Anfang des Jahres 1981 der Kampf um die Fünftagewoche. Im Danziger Abkommen war festgeschrieben worden, daß von der Regierung bis zum 31. Dezember 1980 ein Programm vorgelegt werden sollte, das den Samstag arbeitsfrei machen würde. Ohne Rücksprache mit der Gewerkschaft war erst am 2. Januar 1981 von der Regierung bestimmt worden, daß nur jeder zweite Samstag arbeitsfrei sein sollte. Die Begründung wurde erst später und bruchstückhaft nachgereicht Nach der Drohung eines Generalstreiks für den 3. Februar kam es am 30. Januar 1981 zu einer Vereinbarung mit dem Ergebnis, daß die Regierung die Fünftagewoche grundsätzlich anerkannte, die „Solidarnosc" sich aber mit der Übergangslösung von drei freien Samstage» pro Monat einverstanden erklärte. Bei der Auseinandersetzung um die freien Samstage ging es mehr um die Anerkennung der Gewerkschaft als gleichberechtigten Verhandlungspartner der Regierung als um die sofortige Durchsetzung der Fünftagewoche. Allerdings gab sich die „Solidarnosc" mit ihrem Verhalten angesichts der katastrophalen . Wirtschaftslage eine propagandistisch auswertbare Blöße. War dies so gewollt?
Folge dieses Konflikts war der wachsende Verlust der Autorität der Regierung und ein gesteigertes Mißtrauen der „SolidarnoSc", vor allem auch der Basis, gegenüber allen Vorhaben der Regierung, da man sich immer der Gefahr ausgesetzt sah, von den Behörden „übers Ohr gehauen'1 zu werden. Es hatte den Anschein, daß die Staatsorgane nur unter Androhung der mit der Zeit natürlich stumpfer werdenden Streikwaffe bereit waren, die einzelnen Punkte der Vereinbarungen von 1980 zu realisieren.
Sechs Wochen später sorgte ein Zwischenfall in Bromberg (Bydgoszcz) für die ernsteste Auseinandersetzung zwischen Staatsmacht und . SolidarnoSc“ zwischen Sommer 1980 und Herbst 1981 überhaupt. In der Wojewodschaft Bromberg war ein unabhängiger Agrarzirkel entstanden, der am 16. März 1981 einen Sitzstreik im Büro der Blockpartei „Vereinigte Volkspartei" begann, die von den polnischen Bauern nicht als ihre Interessenvertretung anerkannt wird. Als am 19. März der Bromberger Nationalrat in Anwesenheit von geladenen „Solidarno" -Vertretern und Bauern die Forderungen der Landwirte erörtern wollte, wurde die Sitzung vor Behandlung des betreffenden Tagesordnungspunkts geschlossen. Die anwesenden Zuhörer kamen der Aufforderung, den Saal zu räumen, nicht nach und diskutierten mit fünf verbliebenen Ratsmitgliedern weiter. Daraufhin wurde das Gebäude von 200 Milizionären geräumt. Es gab mehrere Verletzte; drei Gewerkschaftsmitglieder mußten in Krankenhäuser eingeliefert werden.
Wegen des Vorfalls und der entstellenden Berichterstattung darüber rief die „SolidarnosC" für den 24. März zu einem Warnstreik auf und drohte, ab 31. März einen unbefristeten Generalstreik auszurufen, falls ihre Forderung nach Aufklärung der Vorfälle und Bestrafung der Verantwortlichen nicht erfüllt würde. Nach dramatischen Tagen einigten sich der stellvertretende Ministerpräsident Rakowski und Ge-
werkschaftsführer Wasa in Verhandlungen am 30. März 1981 auf einen Kompromiß. Der Generalstreik wurde abgesagt. Die Regierung sicherte Disziplinarmaßnahmen bzw. strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen zu Die Zusagen wurden von der Regierung später nicht eingehalten.
Unter dem Eindruck der Drohung eines Generalstreiks und einer blutigen Auseinandersetzung versuchte die katholische Kirche, sei es die Hierarchie oder seien es Vertreter der katholischen Laienbewegung, bei grundsätzlicher Sympathie für die Gewerkschaft mäßigend auf die „Solidarno" einzuwirken und die ausgleichende Politik Wasas gegen radikalere Strömungen zu verteidigen. Der Chefredakteur der katholischen Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny" (Allgemeine Wochen-zeitung), Jerzy Turowicz, schrieb: „Die gesamte polnische Gesellschaft ist ganz auf der Seite der . Solidarität'im Kampfe um eine bessere Republik engagiert. Aber die Gesellschaft erwartet in ihrer überwältigenden Mehrheit, daß die . Solidarität'Maß und Vernunft beibehält, so wie sie es bisher getan hat Das war eine Position, die die Kirche seit Beginn der Erneuerungsbewegung im Sommer 1980 einnahm
Von Anfang an war die Forderung nach Zugang zu den Massenmedien eines der sensibelsten Petita für die polnische Führung.
Nachdem durch die Schaffung einer unabhän-
* gigen Gewerkschaft das Organisationsmonopol der PZPR entscheidend durchbrochen war, bestand nun die Gefahr, daß sie auch das Informationsmonopol ganz verlieren würde. Zwar wurde durch den Druck der „Solidarno" eine Liberalisierung der Zensur und das Zugeständnis einer eigenen Gewerkschaftspresse erreicht. Am 3. April 1981 erschien das erste Mal die Wochenzeitung „Tygodnik Solidar-
no" in einer Auflage von 500000 Exemplaren, womit sie die bisher auflagenstärkste politische Wochenzeitung „Polityka“ (Auflage 470000) übertraf. Aber eine dauernde und institutionalisierte Mitgestaltung des Radio-und Fernsehprogamms blieb der Gewerkschaft verwehrt. Sie hatte lediglich die all-sonntägliche Radioübertragung eines katholischen Gottesdienstes durchsetzen können. Einen Kulminationspunkt erreichten die anhaltenden Auseinandersetzungen um den Zugang zu Radio und Fernsehen bei der Frage Die Handhabung des einzigen wirksamen Machtmittels der Gewerkschaft, des Streiks, war sehr differenziert festgelegt (Statut, § 33) Die Streikarten reichten vom Warnstreik über den eigentlichen Streik (vom Betriebs-bis zum Regionalstreik) bis zum Solidaritätsstreik. Anfangs war ein Verzicht auf einen nationalen Dachverband der „SolidarnoSC" geplant gewesen. Die Regionen sollten ihre Gewerkschaftsarbeit völlig selbständig leisten. Die Beratungen zu dieser Frage erbrachten aber den Beschluß, auch auf nationaler Ebene tätig zu werden. Gerade die gesellschaftspolitischen Fragen mußten mit der Regierung verhandelt werden. Hierzu erschien eine Dachorganisation als geeignetes Pendant. Danzig wurde zum Sitz des „Landeskoordinationsausschusses", der nach dem 1. Landeskongreß der Gewerkschaft „Landesausschuß" bezeichnet wurde. Dazu wurde ein neunköpfiges Präsidium gewählt, das kurzfristig wichtige Entscheidungen für die Verbandspolitik fällen konnte. Dennoch ist es ein Wesenszug der „Solidarno" bis zur Suspendierung ihrer Tätigkeit gewesen, daß die Regionalverbände sehr stark waren und der Dachverband nur beschränkte Möglichkeiten der Einflußnahme hatte. Hierin waren im Jahre 1981 mehrere innergewerkschaftliche Konflikte begründet. 1. Erste Konflikte zwischen Regierung und neuer Gewerkschaft Mehrere große Konflikte zwischen „Solidarno" und Regierung/Partei in den zwölf Monaten zwischen der Unterzeichnung der Vereinbarungen von Stettin, Danzig und Jastrzebie und dem 1. Landeskongreß der Gewerkschaft im September/Oktober 1981 machten deutlich, daß sich die Staats-und Parteiorgane noch keineswegs mit der Rolle einer von ihnen unabhängigen Gewerkschaft abgefunden hatten und daß auf der anderen Seite die Gewerkschaftsmitglieder ihr abgrundtiefes Mißtrauen gegenüber „denen da oben“ nicht abbauten, vielmehr in ihrer reservierten Haltung durch verschiedene Maßnahmen der Behörden auf allen Ebenen ihrer Aktivitäten bestärkt wurden.
• Die größeren Auseinandersetzungen begannen bereits Mitte Oktober 1980 mit der Verzögerung der Registrierung des am 22. September eingereichten Statuts der Gewerkschaft „Solidarno". Erst am 24. Oktober 1980 gab die erste Instanz des Warschauer Bezirksgerich die Registrierung bekannt, hatte aber einseiti einige Änderungen hinsichtlich des Streil rechts vorgenommen und einige Passage über die „führende Rolle der Partei“ in de Text eingefügt. Die Gewerkschaft reagiert empört, legte Berufung ein und drohte mit ei nem Generalstreik. Der für den 10. Novembe angekündigte Entscheid des obersten Ge richts fiel für die „Solidarnosc“ günstig aus. Da Statut wurde wie beantragt registriert. Die Ge werkschaft mußte sich aber damit abfinden daß dem Statut ein Anhang beigefügt wurde in dem die Passage der Danziger Vereinba rung wiederholt wurde, in der die neue Ge werkschaft die „führende Rolle der Partei in Staat" anerkannte Für die Partei-um Staatsführung war diese Anerkennung unab dingbare Voraussetzung für die Unterzeich nung des „Gesellschaftsvertrages" gewesen. Es liegt eine gewisse Ironie der Geschichte darin, daß die „Solidarno" mit Berufung auf die Freiheit ihrer gesellschaftlichen Betätigung die „führende Rolle der Partei im Staate" akzeptierte, während die Opposition gegen die Verfassungsreform von 1976 gerade zu verhindern trachtete, die PZPR als konstitutives Element des Staatsaufbaus festzuschreiben, und insofern Erfolg hatte, als die Partei in der Verfassungsreform als „die leitende politische Kraft der Gesellschaft beim Aufbau des Sozialismus" (Art. 31) bezeichnet wurde, ihre leitende Rolle im Staat aber nicht verfassungsmäßig anerkannt worden war
Ein weiterer Streitpunkt zwischen Regierung und „Solidarnost“ war Anfang des Jahres 1981 der Kampf um die Fünftagewoche. Im Danziger Abkommen war festgeschrieben worden, daß von der Regierung bis zum 31. Dezember 1980 ein Programm vorgelegt werden sollte, das den Samstag arbeitsfrei machen würde Ohne Rücksprache mit der Gewerkschaft war erst am 2. Januar 1981 von der Regierung bestimmt worden, daß nur jeder zweite Samstag arbeitsfrei sein sollte. Die Begründung wurde erst später und bruchstückhaft nachgereicht Nach der Drohung eines Generalstreiks für den 3. Februar kam es am 30. Januar 1981 zu einer Vereinbarung mit dem Ergebnis, daß die Regierung die Fünftagewoche grundsätzlich anerkannte, die „SolidarnoSt“ sich aber mit da Übergangslösung von drei freien Samstagen pro Monat einverstanden erklärte. Bei der Auseinandersetzung um die freien Samstage ging es mehr um die Anerkennung der Gewerkschaft als gleichberechtigten Verhandlungspartner der Regierung als um die sofortige Durchsetzung der Fünftagewoche. Allerdings gab sich die „Solidarno" mit ihrem Verhalten angesichts der katastrophalen . Wirtschaftslage eine propagandistisch auswertbare Blöße. War dies so gewollt?
Folge dieses Konflikts war der wachsende Verlust der Autorität der Regierung und ein gesteigertes Mißtrauen der „Solidarno", vor allem auch der Basis, gegenüber allen Vorhaben der Regierung, da man sich immer der Gefahr ausgesetzt sah, von den Behörden „übers Ohr gehauen" zu werden. Es hatte den Anschein, daß die Staatsorgane nur unter Androhung der mit der Zeit natürlich stumpfer werdenden Streikwaffe bereit waren, die einzelnen Punkte der Vereinbarungen von 1980 zu realisieren.
Sechs Wochen später sorgte ein Zwischenfall in Bromberg (Bydgoszcz) für die ernsteste Auseinandersetzung zwischen Staatsmacht und „Solidarno" zwischen Sommer 1980 und Herbst 1981 überhaupt. In der Wojewodschaft Bromberg war ein unabhängiger Agrarzirkel entstanden, der am 16. März 1981 einen Sitzstreik im Büro der Blockpartei „Vereinigte Volkspartei" begann, die von den polnischen Bauern nicht als ihre Interessenvertretung anerkannt wird. Als am 19. März der Bromberger Nationalrat in Anwesenheit von geladenen „Solidarno" -Vertretern und Bauern die Forderungen der Landwirte erörtern wollte, wurde die Sitzung vor Behandlung des betreffenden Tagesordnungspunkts geschlossen. Die anwesenden Zuhörer kamen der Aufforderung, den Saal zu räumen, nicht nach und diskutierten mit fünf verbliebenen Ratsmitgliedern weiter. Daraufhin wurde das Gebäude von 200 Milizionären geräumt. Es gab mehrere Verletzte; drei Gewerkschaftsmitglieder mußten in Krankenhäuser eingeliefert werden.
Wegen des Vorfalls und der entstellenden Berichterstattung darüber rief die „Solidarnost" für den 24. März zu einem Warnstreik auf und drohte, ab 31. März einen unbefristeten Generalstreik auszurufen, falls ihre Forderung nach Aufklärung der Vorfälle und Bestrafung der Verantwortlichen nicht erfüllt würde. Nach dramatischen Tagen einigten sich der stellvertretende Ministerpräsident Rakowski und Gewerkschaftsführer Wasa in Verhandlungen am 30. März 1981 auf einen Kompromiß. Der Generalstreik wurde abgesagt. Die Regierung sicherte Disziplinarmaßnahmen bzw. strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen zu Die Zusagen wurden von der Regierung später nicht eingehalten.
Unter dem Eindruck der Drohung eines Generalstreiks und einer blutigen Auseinandersetzung versuchte die katholische Kirche, sei es die Hierarchie oder seien es Vertreter der katholischen Laienbewegung, bei grundsätzlicher Sympathie für die Gewerkschaft mäßigend auf die „Solidarno" einzuwirken und die ausgleichende Politik Wasas gegen radikalere Strömungen zu verteidigen. Der Chefredakteur der katholischen Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny" (Allgemeine Wochen-zeitung), Jerzy Turowicz, schrieb: „Die gesamte polnische Gesellschaft ist ganz'auf der Seite der . Solidarität’ im Kampfe um eine bessere Republik engagiert. Aber die Gesellschaft erwartet in ihrer überwältigenden Mehrheit, daß die . Solidarität’ Maß und Vernunft beibehält, so wie sie es bisher getan hat” Das war eine Position, die die Kirche seit Beginn der Erneuerungsbewegung im Sommer 1980 einnahm
Von Anfang an war die Forderung nach Zugang zu den Massenmedien eines der sensibelsten Petita für die polnische Führung. Nachdem durch die Schaffung einer unabhängigen Gewerkschaft das Organisationsmonopol der PZPR entscheidend durchbrochen war, bestand nun die Gefahr, daß sie auch das Informationsmonopol ganz verlieren würde. Zwar wurde durch den Druck der „Solidarno" eine Liberalisierung der Zensur und das Zugeständnis einer eigenen Gewerkschaftspresse erreicht. Am 3. April 1981 erschien das erste Mal die Wochenzeitung „Tygodnik Solidarno" in einer Auflage von 500000 Exemplaren, womit sie die bisher auflagenstärkste politische Wochenzeitung „Polityka“ (Auflage 470000) übertraf. Aber eine dauernde und institutionalisierte Mitgestaltung des Radio-und Fernsehprogamms blieb der Gewerkschaft verwehrt. Sie hatte lediglich die all-sonntägliche Radioübertragung eines katholischen Gottesdienstes durchsetzen können. Einen Kulminationspunkt erreichten die anhaltenden Auseinandersetzungen um den Zugang zu Radio und Fernsehen bei der Frage der Berichterstattung über den bevorstehenden ersten Gewerkschaftskongreß. Die „Soli-darno" hatte der Regierung zwei Kompromißvorschläge unterbreitet, die beide abgelehnt wurden. Die Parteiführung benutzte die Massenmedien zu einer verstärkten Kampagne gegen die Gewerkschaft. Der Druck auf die Journalisten wurde offensichtlich größer. Der Polnische Journalistenverband (SDP) wiederum unterstützte das Anliegen der „Solidarno" und warf der Regierung vor, die „größte Kampagne an Desinformation seit August 1980" zu führen. Das einzige Ergebnis der langen Auseinandersetzung um eine eigene Redaktion der Berichterstattung über den Gewerkschaftskongreß war das Zugeständnis des Radio-und Fernsehkomitees an die „Solidar-no", am 1. September 1981 eine eigene Fern-sehdisküssion zu gestalten • Am Informationsmonopol bei Rundfunk und Fernsehen hielten Partei und Regierung bis zuletzt fest. 2. Die Situation vor dem ersten Gewerkschaftskongreß
Innerhalb weniger Monate war von der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung in Polen ein Umbruch eingeleitet worden, der den „Fortbestand des politischen Systems der Volksrepublik Polen in Frage gestellt" hatte ♦ Dies war auch von den Aktivisten der freien Gewerkschaftsbewegung nicht vorhergesehen worden. Von „SolidarnoSC" und nicht mehr allein von der Partei hing in einem entscheidenden Maße die Zukunft Polens ab. Anders als es ein Teil der polnischen Massenmedien und die sozialistischen Nachbarn behaupteten, wollte aber bis September 1981 unter den entscheidenden Führern der Gewerkschaft und ihren Beratern „subjektiv niemand" die fundamentale Umwälzung des kommunistischen Herrschaftssystems in Polen und die daraus erwachsenden potentiellen Folgewirkungen für das internationale System in Europa. Vielmehr war es der allgemeine Zustand der PZPR und des Systems selbst, der die objektive Ursache dafür bildete, daß auch zunächst begrenzte Veränderungen Erschütterungen der gesamten Herrschaftsstruktur nach sich zogen Es sei nur darauf hingewiesen, daß die Parteimitglieder von der PZPR aufgefordert wurden, in die „Solidarno" einzutreten, um für den „sozialistischen Charakter" der Gewerkschaft zu sorgen Das Ergebnis war, daß die Partei-basis von den demokratischen Strukturen an der Gewerkschaftsbasis so angetan war, daß sie daraufhin in der Partei selbst die Demokratisierung von unten forderte und praktisch das Prinzip des „demokratischen Zentralismus“ in Frage stellte.
Wenn auch die „Solidarno" als der jüngere Partner naturgemäß fürchtete, von Regierung und Partei gespalten, vereinnahmt, unterwandert oder in eine Sündenbockrolle hineingedrängt zu werden, erkannten Wasa und andere Führer der Gewerkschaft im Sommer 1981 die Notwendigkeit, wirtschaftspolitische Punkte der drei Vereinbarungen von 1980 im Lichte der seitherigen Wirtschaftsentwicklung auf ihre Erfüllbarkeit zu überprüfen Die Experten der „SolidarnoSc" arbeiteten konkrete Vorschläge aus (betr. Grundnahrungsmittelpreise, Kohleförderung u. a.). Da aber das Klima des Vertrauens auf beiden Seiten fehlte, gestalteten sich die Verhandlungen über konkrete Maßnahmen schwierig. Erschwerend kamen die inneren Auseinandersetzungen in der „Solidarnosc" um Ziele und Taktik der Gewerkschaft hinzu. Wasa forderte nach den Bromberger Ereignissen immer deutlicher die Einschränkung der allzu starken Ausrichtung der Gewerkschaftsarbeit auf politische Probleme. Die Gewerkschaft solle sich auf die Aufgaben des Gewerkschaftsalltags konzentrieren und eine arbeitsfähige Organisationsstruktur entwickeln Aber gerade die von „Bromberg" ausgelöste Märzkrise 1981 setzte eine Identitätskrise der Gewerkschaft in Gang, in der sich die „Solidar-
no" -Mitglieder bewußt wurden, daß sie außer dem Streik kein gesellschaftlich wirksames Sanktionsinstrumentarium besaßen. Die Folge war das Gegenteil dessen, was der Gewerkschaftsführer vorschlug, nämlich eine Ausweitung und nicht Einschränkung der Tätigkeit im gesellschaftlich-politischen Bereich. Die kritische wissenschaftliche Begleiterin und „Solidarnost'-Mitglied, die Soziologin Jadwiga Staniszkis, beschrieb die Etappen der Gewerkschaftsentwicklung bis zum ersten Landeskongreß wie folgt: „Die erste dauerte ungefähr bis März, bis zum Warschauer Übereinkommen. Für diese Zeit können politische Handlungen namentlich nicht bezeichnet werden, es war eine Atmosphäre des Schweigens entwickelt worden, wir bildeten uns ein, ausschließlich eine Gewerkschaft zu sein. Das wesentliche Element jener Situation war ... das große Bedürfnis nach innergewerkschaftlicher Demokratie. Diese erste Etappe endete im März ... Die zweite Etappe kann man unter dem Begriff der . Identitätskrise'oder mit der Formulierung sich selbst begrenzende Revolu-tion zusammenfassen. Man stellte fest, daß Solidarno zwar eine große politische Kraft besaß, aber keinerlei ökonomische Macht inne-hatte. Wären wir zur Taktik des Abwartens übergegangen, hätten die Herrschenden nichts getan, wir hätten uns selbst lahmgelegt. Wir hätten keine eigene Ideologie ausarbeiten können, weil wir uns weiterhin vormachten, einzig und allein eine Gewerkschaft sein zu wollen. Diese Etappe endete vor, zum Teil erst während der ersten Sitzungsperiode des Gewerkschaftskongresses, während der offen anerkannt wurde, daß wir eine gesellschaftliche Bewegung sind, und auf der dann geradewegs die Sprengung unserer ideologischen Konzeptionen angegangen wurde."
Seit der Gründung der Gewerkschaft war erkennbar, daß es in dem Führungsorgan der „Solidarno", dem Landeskoordinationsausschuß (KKP), in dem die zentralen und die regionalpolitischen Interessen der Gewerkschaft aufeinandertrafen, heftige Auseinandersetzungen über Strategie und Taktik der neuen Gewerkschaft gab. Sie resultierten aus drei Faktoren, die gegenseitig aufeinander einwirkten: 1.der Struktur und Funktionsweise der Gewerkschaft, 2. sozialstrukturellen Problemen und 3.der politischen Heterogenität und ideologischen Bandbreite ihrer Mitglieder und Berater.
Als strukturelle und funktionale Probleme der »Solidamoät" nannte J. Staniszkis
1. die Spannungen, die sich aus der Selbstbegrenzung der Revolution ergaben. Der „Radikalismus staatsbürgerlichen Strebens" sprengte den Rahmen der gewerkschaftlichen Form; (s. Stanizkis weiter oben);
2. die Struktur und Funktionsweise der „Solidarno". Sie spiegelten „gewissermaßen durch einen Zerrspiegel einige Eigenschaften der Partei und des Staates" wider; 3. „eindeutige Anzeichen von Manipulation in der Leitungstätigkeit innerhalb des KKP ... Die (oben aufgezeigten) Merkmale in der Arbeit des KKP verursachen bei seinen Mitgliedern Enttäuschungen; sie werden nach der Rückkehr in ihre MKZ [= überbetriebliche Belegschaftskomitees — D. B. ] oft wegen der Art der Repräsentation der Gewerkschaftsmitglieder, dem Fehlen von Radikalität oder der Abstimmungsweisen kritisiert" (S. 22);
4. die sehr komplizierte Rechtslage. „In dieser Situation findet die Realisierung von Belegschaftsforderungen in Anlehnung an die soge-nannte materielle Legalität statt — in Anlehnung an das in Krisenzeiten ausgeprägte allgemeine Gerechtigkeitsempfinden, das vom so-genannten formalen Recht abweicht" (S. 22/23);
5. das symbolische Politikmachen. Handlungen in diesem Sinne „haben einen gemeinsamen Nenner: Sie verstärken die Tendenzen zur Polarisierung. Denn der angegriffene Apparat sucht Schutz bei den zentralen Behörden, die in dieser Situation übrigens keine gute Wahlmöglichkeit haben: Wenn sie die Angegriffenen verteidigen, senken sie ihre eigene Autorität; wenn sie sie dagegen opfern, setzen sie ihre eigenen Entscheidungen der Sabotage durch den Apparat aus, und — auf längere Sicht — auch dem Verlust der Autorität" (S. 24);
6. „das Fehlen einer'vermittelnden Instanz zwischen dem MKZ-Präsidium und den Betriebs-kommissionen in jenen Regionen, wo es keine langdauernden Streiks und Verhandlungen gab und wo es zu keiner Gründung eines MKZ-Plenums kam“ (S. 24).
Die sozialstrukturellen Probleme der Gewerkschaft wurzelten in den nach Alter, Ausbildungsstand und Herkunftsregion unterschiedlichen Erfahrungshorizonten. Hierdurch auftretende Spannungen konnten nicht ohne weiteres durch Diskussionen überwunden werden. Persönlichkeiten wie Wasa oder auch Kurön kannten die vielfältigen Möglichkeiten, die den Staatsorganen zu Gebote standen, aus eigener Erfahrung. Ein Großteil der Gewerkschaftsmitglieder war aber so jung, daß er selbst die Arbeitererschießungen im Dezember 1970 bestenfalls als Kinder oder Jugendliche in ihre Erinnerung aufgenommen hatte. Da die jungen Gewerkschaftsmitglieder während des „technokratischen Liberalismus" der Ära Gierek eigene Erfahrungen mit dem Repressionsapparat des Staates höchstens oberflächlich und vorübergehend machen konn-ten, gaben sie sich „in diesen revolutionären Zeiten" besonders kompromißlos
Die politische Heterogenität und ideologische Vielfalt in den Reihen der „SolidarnoSc" ergab sich aus dem Umstand, daß die neue Gewerkschaft die einflußreichste soziale Bewegung. in Polen wurde — mit einer Zehn-Millionen-Anhängerschaft, die selbstverständlich nicht eine politische Meinung vertrat. Zu einem Entscheidungsproblem wurde die ideologische Vielfalt jedoch in den offiziellen Organen der „SolidarnoSC", insbesondere auf Landesebene. Im Landeskoordinationsausschuß (KKP) und im Kreis der Berater und Experten trafen sich Ansichten, die in der Gewerkschaft eher eine sozial-und wirtschaftspolitisch orientierte Arbeitnehmerorganisation sahen (z. B. Vertreter des Episkopats) mit Vorstellungen, die „Soli-darno" eher als eine gesellschaftliche Bewegung mit einer demokratischen Mission für Polen verstanden (z. B. KSS-Berater und katholische Intellektuelle mit unterschiedlichen Vorstellungen über den Endpunkt der Entwicklung). Es waren mehr die Eigengesetzlichkeiten der Dynamik einer Revolution, weniger die „Einflüsterungen“ der Berater der Gewerkschaft, die dazu führten, daß die zweite Vorstellung sich als realistischer erwies. 3. Vom Danziger Doppelkongreß zum Kriegszustand Ein Jahr nach der Unterzeichnung der Vereinbarungen von Danzig, Stettin und Jastrzebie traten in Oliva bei Danzig am 5. September • 1981 912 Delegierte aus allen Regionen Polens, die 9 447 000 Mitglieder der „Solidarno" repräsentierten, zum 1. Landeskongreß der unabhängigen Gewerkschaft zusammen. Der Kongreß wurde von Primas Glemp mit einem Hochamt in der Kathedrale von Oliva eröffnet. Als Beratungsgegenstände für die erste Kongreßhälfte waren vor allem Programm-und Statutenänderungen sowie Änderungen der territorialen Aufgliederung der Gewerkschaft vorgesehen Ein Zeichen für den im August 1980 noch unvorstellbaren Grad der Etablierung der Gewerkschaft im Sein und Bewußtsein der Polen war die Teilnahme fast der gesamten geistigen Elite des Landes an dem Kongreß. Gäste aus dem westlichen Ausland wurden begrüßt Gewerkschaftsdelegationen aus den sozialistischen Bruderländern blieben dem Landeskongreß fern.
Vom Minister für Gewerkschaftsfragen, Cio.
sek, wurde eine Botschaft der Regierung verlesen, in welcher die „Solidarnofit“ ermahnt wurde, nicht die Rolle einer politischen Partei anzusteuern • In seinem Rechenschaftsbericht trug der Gewerkschaftsführer Wasa eine Analyse der bisherigen Konflikte mit der Regierung vor.
Sie seien alle nach dem gleichen Muster verlaufen. Zuerst sei ein Problem aufgekommen, dann habe die Staatsgewalt keine oder eine unangemessene Reaktion gezeigt, infolgedessen sei es zu Streiks, Gebäudebesetzungen oder anderen Protesten gekommen. Dann seien Verhandlungen in gespannter Atmosphäre aufgenommen worden, die schließlich zu einer Übereinkunft geführt hätten. — Die Regierung wurde für die aufgetretenen Konflikte verantwortlich gemacht. Sie habe die Vereinbarungen von 1980 nicht eingehalten, i Die „Solidarno" habe die Streikwaffe dennoch nur sparsam und schonend eingesetzt Durch die Streiks der vergangenen zwölf Monate sei weniger als ein Arbeitstag verloren gegangen. Die katastrophale Wirtschaftslage wurde der Regierung angelastet, die sich unfähig zu Reformen gezeigt habe. Nun werde die Gewerkschaft eine eigene Strategie zur Rettung der Wirtschaft ausarbeiten — Mit dieser Ankündigung setzte sich die Gewerkschaft in den nächsten Monaten dem Vorwurf aus, sie wolle dem Staat die Wirtschafts-und Verteilungspolitik aus der Hand nehmen und selbst staatliche Aufgaben übernehmen.
Eine Änderung im Statut der Gewerkschaft bekräftigte noch einmal, daß die „Solidarnosc mehr als eine „normale“ Gewerkschaft war und als Hoffnung der ganzen Bevölkerung zusätzlich gesellschaftlich-politische Aufgaben wahrnahm: Den Mitgliedern stand zukünftig nicht nur Hilfe bei der Verteidigung der Arbeiterrechte, sondern auch ihrer Bürgerrechte zu
Größtes Aufsehen erregte eine Botschaft des Kongresses an die Arbeiter in den sozialistischen Bruderstaaten, in der den Arbeitern der Sowjetunion, der DDR, Albaniens, Bulgariens, der ÖSSR, Ungarns und Rumäniens die Solidarität der polnischen Arbeiter zugesichert wurde. Dieser Aufruf erfuhr schärfsten Widerspruch in der polnischen Parteipresse und in den Massenmedien der sozialistischen Verbündeten Polens Nach der Beendigung des ersten Teils des 1. Landeskongresses der „Solidarno" (10. 9.) war mit dem Brief an die osteuropäischen Arbeiter und mit der Forderung nach freien Parlamentswahlen mit unabhängigen Kandidaten — womit von der Gewerkschaft die „führende Rolle der Partei im Staate" in Frage gestellt wurde — eine neue kritische Phase in den Be-Ziehungen zwischen unabhängiger Gewerkschaft und Staatsmacht eingetreten. Das Politbüro der PZPR drohte am 16. September mit derAufkündigung der „gesellschaftlichen Vereinbarungen" vom Sommer 1980 Am 24. September 1981 deutete Premier Wojciech Jaruzelski erstmals konkret die Möglichkeit des Einsatzes der Armee „zum Schutz des Sozialismus" an
Mit der Belastung des Vorwurfs, die Vereinbarungen von 1980 gebrochen zu haben, und dem Wissen um eine immer weniger kompromißbereite Haltung der Regierung ging der 1. Landeskongreß der „SolidarnoSC“ am 26. September 1981 in die zweite Runde. Einen Tag vor Wiederaufnahme der Kongreßberatungen hatte der Sejm die beiden umstrittenen Gesetze über die staatlichen Betriebe und die Arbeiterselbstverwaltung verabschiedet, die am 1. Oktober 1981 in Kraft treten sollten So standen heftige Kontroversen über das vom Parlament beschlossene Gesetz über die Arbeiterselbstverwaltung im Vordergrund der ersten Kongreßdiskussionen. Gegen radikalere Delegierte betonten der Sekretär des Landesausschusses, Andrzej Celiski, und andere Delegierte, daß die verabschiedete Version des Gesetzes ein Erfolg der Gewerkschaft auf gesetzgeberischem Gebiet sei. Schließlich hatte das Präsidium der „SolidarnoSC" mit dem zuständigen Parlamentsausschuß einen Kompromißentwurf des Selbstverwaltungsgesetzes ausgehandelt, der Beschlußbasis für das verabschiedete Sejmgesetz geworden war. Es wurde betont, daß ohne Mitwirkung der Gewerkschaft künftig kein Betriebsdirektor mehr ernannt werden könne. Das Gesetz sei ein Schritt vorwärts in Richtung Verwirklichung der Selbstverwaltung. Wasa hielt Widerstand gegen das Gesetz im Augenblick für unangebracht. Allein die Praxis werde bestimmen, ob man mit ihm leben könne Am Ende des 2. Teils des Landeskongresses wurde das Gesetz schließlich von der Mehrheit der Delegierten als Verhandlungsgrundlage anerkannt. , Wichtigster Tagesordnungspunkt der zweiten Kongreßhälfte war die Diskussion und Verabschiedung des Programms der „Solidarno". Seit der Vorlage der Programmrichtlinien am 17. April 1981 war die Programmdiskussion in den Reihen der Gewerkschaft nicht abgebrochen. In fast allen Fragen, die in dem unter Federführung des unabhängigen katholischen Professors Bronislaw Geremek erarbeiteten Entwurf behandelt wurden, lieferten sich die Vertreter eines gemäßigten und eines harten Kurses heftige Rede-und Abstimmungsschlachten. Die wichtigsten und teilweise systempolitisch brisanten Forderungen in der vom Kongreß beschlossenen Fassung des Programms der „Solidarnoäc“ das auf 37 Thesen fußt, waren (bei ausdrücklicher Anerkennung der Kräfteverhältnisse in Europa und der von Polen geschlossenen Bündnisse [Kap. II]):
— „die Durchführung einer selbstverwalteten und demokratischen Reform auf allen Ebenen der Verwaltung, einer neuen gesellschaftlich-wirtschaftlichen Ordnung, die Plan, Selbstverwaltung und Markt miteinander verbindet“; — „gemeinschaftliche Gegenmaßnahmen gegen die rückläufige Produktion";
— ein „glaubwürdiges Anti-Krisen-Pro-gramm“ und ökonomische Reform unter gesellschaftlicher Kontrolle;
— eine selbstverwaltete Republik mit weltanschaulichem, gesellschaftlichem, politischem und kulturellem Pluralismus;
— eine authentische Arbeiterselbstverwaltung;
— „die rechtlich, organisatorisch und finanziell selbständige territoriale Selbstverwaltung" mit freien Wahlen zu den Nationalräten (erstmals 1982 abzuhalten auf der Basis einer neuen Wahlordnung);
— freie Wahlen zum Sejm und Einrichtung einer zweiten, sozialökonomischen Kammer; — Garantie der bürgerlichen Grundfreiheiten;
— Unabhängigkeit des Gerichtswesens;
— die Personen zur Rechenschaft zu ziehen, die für die Unterdrückungen 1956, 1968, 1970 und 1976 und für den Niedergang des Landes (1970— 1980) schuldig sind; — die Selbstverwaltung in Kultur und Erziehung;
— freie wissenschaftliche Forschung;
— Vergesellschaftung der Massenkommunikationsmittel;
— unmittelbare Demokratie in der „SolidarnoSC"; Kontrolle und Kritik der gewerkschaftlichen Instanzen von unten;
— ein neues gesellschaftliches Übereinkommen über die Bewältigung der Krise, die Wirtschaftsreform und eine selbstverwaltete Republik.
Die Forderungen und Thesen des Programms unterstrichen nochmals die Rolle der „SolidarnoSC“ als gesellschaftliche Kraft der ganzen Nation, die sich zwar ausdrücklich nicht als politische Partei definierte (These 19, 4), aber faktisch eine politische und ideologische Gegenmacht der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei darstellte.
Die Wahlen zu den Leitungsgremien der Gewerkschaft brachten im ersten Wahlgang eine absolute 55, 2 Mehrheit von Prozent der abgegebenen Stimmen für Lech Wasa als Kandidaten für den Vorsitz der Landeskommission. Zu Stellvertretern Wasas wurden Stanislaw Wadolowski (Stettin) und Miroslaw Krupinski (Allenstein/Olsztyn) gewählt -
Die im Gewerkschaftsprogramm ausgesprochene Aufforderung zu Verhandlungen über ein neues gesellschaftliches Übereinkommen wurde von der Warschauer Führung zunächst weder abgelehnt noch angenommen. Nach längerem Abwarten verlegte sich die Regierung auf eine Doppelstrategie. Zum einen wurden Verhandlungen mit der „Solidarno" geführt, zum anderen gingen die Vorbereitungen auf eine Konfrontation mit der Gewerkschaft weiter.
Am 18. Oktober 1981 übernahm Ministerpräsi.dent und Verteidigungsminister Jaruzelski von Stanislaw Kania auch das Amt des Erster. Sekretärs des ZK der PZPR Führende Parteigenossen traten demonstrativ aus der „Soli, darno" aus. Die Parteiführung forderte die Parteimitglieder auf, sich zwischen der Gewerkschaft und der Partei zu entscheiden. Im. mer offener wurde von der Parteiführung mit einem gesetzlichen Streikverbot gedroht Im Programm und in den Aktivitäten der unabhängigen Gewerkschaft sah die PZPR eine Herausforderung, der sie politisch nicht mehr gewachsen war. Während die Gewerkschaft einen ständig wachsenden Einfluß auf das öffentliche Leben in Polen gewann, stand die Partei vor dem Zerfall Das politische Klima verschärfte sich in den Novemberwochen zusehends. In einer Erklärung des ZK-Sekretariats vom 24. November 1981 wurde die Gewerkschaft beschuldigt, die Partei aus den großen Betrieben des Landes zu verdrängen. Da-gegen wurden Maßnahmen angekündigt 99 November Am 28. beschloß das VI. ZK-Ple-num der PZPR, die PZPR-Abgeordnetengruppe im Sejm zu beauftragen, ein Gesetz über außerordentliche Maßnahmen im Interesse des Schutzes von Bürgern und Staat im Parlament einzubringen Daraufhin gab das Präsidium der „SolidarnoSC“ einen Generalstreik für den Fall von Sondervollmachten für die Regierung bekannt (3. 12.). Am 12. Dezember kündigte die Gewerkschaft für den 17. Dezember 1981 einen nationalen Protesttag an und verlangte eine Volksabstimmung über das Vertrauen in die Regierung. Einen Tag später wurden das Kriegsrecht über Polen verhängt die Tätigkeit der Unabhängigen Selbstverwalteten Gewerkschaft „SolidarnofiC“ suspendiert die meisten Solidaritätsführer interniert.
VI. Rückblick und Ausblick
1. Rückblick Mit der Anerkennung einer von der PZPR unabhängigen und selbstverwalteten Gewerkschaft im Herbst 1980 durch Partei, Regierung und Gerichte war der entscheidende Schritt zur Aufgabe des Organisationsmonopols über die Arbeiterschaft getan. Innerhalb weniger Wochen verlor die Partei die direkte Kontrolle über mehr als 90 Prozent der organisier-ten Arbeiterschaft und damit ihre Legitimationsbasis als „führende Kraft" beim Aufbau des Sozialismus in Polen, ein präzedenzloser Zustand in einem Land des „real existierenden 92 Sozialismus", der weder 1956, noch 1970/71 oder 1976 zur Diskussion stand. Zugleich wurde in der selbstbeschränkten Revolution von 1980 von der „SolidarnoSc" die „führende Rolle" der Partei im Staate pro forma anerkannt. Seit September 1980 stellte sich für die PZPR die Frage, ob sie den „Gesellschaftsvertrag" von Danzig, Stettin und Jastrzebie einhalten werde, der die Gesellschaft bzw. die Arbeiterschaft zum anerkannten gleichberechtigten Vertragspartner gemacht hatte, oder ob die Anerkennung von unabhängigen gesellschaftlichen Kräften nur ein Ausdruck momentaner Schwäche war, die — da im Zustand der Erpreßbarkeit vollzogen — bei günstigerer Lage für die Partei und die Staatsorgane wieder rückgängig gemacht werden konnte bzw. mußte Ebenso blieb nach dem September 1980 offen, ob die unabhängigen gesellschaftlichen Kräfte bereit sein würden, die Fassade des staatlichen Machtanspruchs der PZPR anzuerkennen, wie es die verantwortlichen Repräsentanten dieser Kräfte anfangs forderten. Dies sollte aber nicht zuletzt wiederum von der Reformfähigkeit und -Willigkeit der regierenden Partei abhängen.
Im Herbst 1980 war vorübergehend „eine Mischform aus zwei Systemen“ (E. -M. Bader) entstanden. Auf der einen Seite stand hier die Parteioligarchie, der das alleinige Recht zur Regierungsausübung und die „führende Rolle im Staate" durch die größte gesellschaftliche Gegenkraft auf der anderen Seite, der Gewerkschaftsbewegung „Solidarno", ausdrücklich zugestanden worden war. Diese Gewerkschaft, die von Beginn an in Anbetracht der auf ihr ruhenden, oft widersprüchlichen Erwartungen von der Mehrheit der polnischen Gesellschaft nicht als eine „normale" Gewerkschaft angesehen worden war und die sich schließlich auf dem Gewerkschaftskongreß im September/Oktober 1981 selbst auch als „gesellschaftliche Bewegung" definierte, diese Gewerkschaft erfüllte — teilweise mit ausdrücklicher Zustimmung der Regierung — die Funktion eines „Parlaments" und einer „Opposition" gegenüber Regierung und Partei. Konstitutiv für das in Polen ca. 15 Monate existierende Mischsystem waren aber das schließlich dieses Übergangssystem paralysierende Moment des Fehlens eines gesamtstaatlichen Grundkonsenses zwischen der Regierung und der sie kontrollierenden „Solidarnosc" sowie der Umstand, daß ein Wechsel zwischen Regierung und „Opposition" ausgeschlossen war
Das einzige Sanktionsinstrument, das die „SolidarnoSö" in diesem völlig labilen Übergangssystem besaß, war das Streikrecht. Daneben gab es praktisch keine autoritativen Regelungsmechanismen, die von außen auf die beiden Seiten Regierung/Partei und „Solidarnosc" einwirken konnten, die wie zwei feindliche, im Waffenstillstand befindliche Mächte miteinander verhandelten und dem jeweiligen Gegenüber das für ein Funktionieren des Systems notwendige Minimum an Vertrauen vorenthielten. In diesem System war ein Streikverbot, das im Herbst 1981 von Partei und Regierung mehrmals angedroht worden war, „von ähnlicher Dimension wie die Ausset-zung'des Wahlrechts in den Systemen, für die Wahlen die Rolle der politischen Sanktion spielen; es kommt einem Staatsstreich auf Zeit gleich"
Das polnische Übergangssystem scheiterte letztendlich wohl an der Brüchigkeit der Fiktion von der „führenden Rolle" der Partei, die von dieser in 15 Monaten nicht glaubwürdig ausgefüllt werden konnte, da sie mehrere miteinander nicht vereinbare Rollen gleichzeitig hätten spielen müssen: die Rolle einer abgewirtschafteten und abgelösten Regierungspartei, die Rolle einer erneuerten, an die Regierung gekommenen Partei und die Rolle einer (vor allem nach außen) Kontinuität versprechenden Partei Die von der „Solidarnosc“ abgegebene Regierungsgarantie für die PZPR hätte allein dann eine gewisse Dauerhaftigkeit versprechen können, wenn sich die PZPR glaubwürdig (wiarygodny) — der Begriff der Glaubwürdigkeit ist ein Schlüsselwort in der Erneuerungsphase gewesen — als reformfähige und reformwillige Partei erwiesen hätte. Dies ist sie bis zuletzt nicht und in den letzten Monaten vor der Verhängung des Kriegs-rechts immer deutlicher nicht gewesen.
Die Fiktion der „führenden Rolle" der Partei war für die „Solidarno" im Laufe der Zeit immer weniger akzeptabel geworden; unter dem Druck ihrer immer ungeduldiger und frustier23 ter werdenden Basis und der ganzen jungen Generation in Polen war sie im Spätherbst 1981 gezwungen, die Aufkündigung der Regie-rungs-und Systemgarantie für die PZPR anzudrohen, die im Herbst 1980 unter der stillschweigenden Bedingung der Einhaltung des „Gesellschaftsvertrages" gegeben worden war. Dieser Gesellschaftsvertrag war spätestens mit dem 19. März 1981 von der Macht demonstrativ gebrochen worden (Bromberger Ereignisse), ohne daß die Verletzung geahndet worden wäre. Seitdem wurden die das polnische Übergangssystem sprengenden Kräfte in der Gesellschaft mehrfach herausgefordert und von Monat zu Monat mit neuen Argumenten versehen. Hinzu kamen die Unsicherheiten auf beiden Seiten, eigentlich wo die Grenzen dieses „Mischsystems" lagen.
„SolidarnoSC:" war in der Geschichte der polnischen Arbeiter-und Gewerkschaftsbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue gesellschaftliche Erscheinung, die eine weitaus radikalere Umwandlung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Prinzipien des „real existierenden Sozialismus" in Polen verlangte, als dies die Vorgängerinnen der Arbeiterbewegung von 1980/81 in den Umbruchjahren 1956, 1970 und 1976 getan hatten. „SolidarnoSc“ und die mit ihr verbündeten gesellschaftlich relevanten Kräfte (Bauern, Inteligencja) waren angetreten, die Grundprinzipien der bürgerlichen Revolution unter dem Motto: Freiheit, Gleichheit, Solidarität, und die soziale Revolution im Sinne einer authentischen Arbeiter-Selbst-und Mitverwaltung in der sozialistischen Volksrepublik Polen zu vollenden. 2. Ein Blick in die unsichere Zukunft Die oft gestellte Frage nach der Zukunft der Gewerkschaften in Polen läßt sich heute kaum beantworten. Ohne Zweifel war es das Ziel des „Militärrats der nationalen Errettung", unter dem Schirm des Kriegsrechts die „Solidarno" als unabhängige selbstverwaltete gesellschaftliche Bewegung zu liquidieren. Das heißt, zugleich mit der faktischen Ausschaltung der Gewerkschaft soll dem Prinzip der Solidarität aller gesellschaftlichen Kräfte Polens, insbesondere dem Zusammenwirken von Arbeitern und Inteligencja (Wissenschaftler, junge Akademiker, Journalisten), ein Ende gesetzt werden. Dieses Prinzip Solidarität hatte die im „real existierenden Sozialismus" beispiellose Schlagkraft der autonomen gesellschaftlichen Kräfte bewirkt. Durch Pressekampagnen wird seit Monaten versucht, einen Keil zwischen Intellektuelle (z. B. „Solidarno" -Berater) und die Arbeiter und neuerdings zwischen Schul-und studentische Jugend sowie die Arbeiterschaft zu treiben. Ziel dieser Politik ist die gesellschaftliche Zersplitterung. Die gesellschaftliche Selbstbewußtwerdung und Organisation sollen rückgängig gemacht werden, um die für die Ausfüllung der „führenden Rolle'der Machtoligarchie notwendige Atomisierung der Gesellschaft herbeizuführen.
Das bisherige Vorgehen des Kriegsrechtsregimes deutet eher darauf hin, was es in Polen zukünftig nicht mehr geben soll, läßt jedoch eine positive Konzeption über Deklamationen des guten Willens hinaus vermissen. Der Kampf der Gruppen in der Partei-und Militärführung geht weiter. Er verhindert die eindeutige Entscheidung für ein neues „Modell" der politischen und gesellschaftlichen Ordnung. Entscheidungen werden vertagt. Man läßt diskutieren — eine Fortsetzung der Politik der „Macht“ aus der Zeit der Erneuerung 1980/81 unter den veränderten Bedingungen des Kriegsrechts. Der Militärrat und seine zivilen Berater glauben anscheinend daran, mit Diskussionen Zeit gewinnen zu können, tatsächlich verlieren sie wertvolle Monate, und das gesellschaftliche Klima verschlechtert sich von Tag zu Tag. Die zahlreichen Diskussionen in den Massenmedien über die Zukunft der Gewerkschaften in Polen, an denen die Aktivisten der „SolidarnoSC" nicht teilnehmen können, sind ein Beispiel — wahrscheinlich das bedenklichste Beispiel — für den Versuch der Regierung, in der Schlüsselfrage für die Zukunft Polens, nämlich dem Problem des neuen gesellschaftlichen und politischen „Modells, Zeit zu gewinnen und Entscheidungen zu vertagen. In den Zeitungen kommen nach einer bestimmten Regie Gesellschaftswissenschaftler und Funktionäre der Partei, einfache Parteimitglieder aus den Betrieben und parteilose Arbeiter zu Wort, die sich für und gegen eine Wiederzulassung der „SolidarnoSC" aussprechen. Es gibt Stimmen, die sich für einen Gewerkschaftspluralismus („SolidarnosC“, Branchengewerkschaften u. a.) stark machen, andere fordern eine Einheitsgewerkschaft. Aus der gelenkten Gewerkschaftsdiskussion geht hervor, daß eine möglicherweise wieder zugelassene „SolidarnosC" nur noch „rein" gewerkschaftliche Aufgaben übernehmen dürfte. Das bedeutete faktisch die Zerstörung der unabhängigen Gewerkschaft, wie sie vor dem 13. Dezember 1981 bestand. Denn schon durch die Unterschrift unter die gesellschaftlichen Vereinbarungen im August/September 1980 hatten Regierung und Partei anerkannt, daß sich die unabhängige Gewerkschaft für die gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen freier Gewerkschaftsarbeit eingesetzt hatte und weiterhin einsetzen würde; daß die „SolidarnoSC" also mehr war als eine „reine“ Gewerkschaft. Diese Aktivitäten würden ihr in Zukunft verwehrt bleiben. Damit würden die Verbindung und Solidarität von Arbeitern und Inteligencja ihrer Funktionsgrundlage beraubt. Was sich aus den Diskussionen heute ebenfalls herausdestilliert, ist das Zugeständnis, daß die Gewerkschaften in Polen auch zukünftig „von Regierung und Arbeitgebern unabhängig" und selbstverwaltet sein sollen. Da dieses Konzept auch von den Branchengewerkschaften seit Herbst 1980 vertreten wurde, erübrigte sich faktisch die weitere Existenz der „Solidarnosc".
Den „zentristischen" Kräften um Jaruzelski und seine zivilen Berater könnte allein unter dem Gesichtspunkt an einer weiteren Diskussion über die „SolidarnoSC" und an einer Wiederzulassung einer Gewerkschaft unter diesem Namen gelegen sein, um angesichts der trotz — oder gerade wegen — monatelanger Kampagnen gegen die „Solidarno" -Führung und ihre Experten faszinierenden Ausstrahlung der Gewerkschaft die eigene Bevölkerung und die internationale Öffentlichkeit zu besänftigen und ein gesellschaftliches Übereinkommen nicht von vornherein unmöglich zu machen. Da die Gewerkschaftsfrage und alle anderen gesellschaftspolitischen Probleme jedoch weiterhin in der Schwebe bleiben und man sich allein auf die groß angekündigte Wirtschaftsreform konzentriert, die die Lösung der gesellschaftlichen Probleme später erleichtern soll, wird der zu erwartende Erfolg des Spielens auf Zeit immer fraglicher. Denn die Arbeiter erwarten, daß es keine Gesundung der Wirtschaft ohne ehrliche und substantielle Angebote der Regierung an die Arbeiterschaft und die in Verbitterung verharrenden anderen gesellschaftlich relevanteh Kräfte geben kann.
Die Gefahr von größeren Manifestationen des Widerstands, die die im Untergrund wirkenden „Solidarnost'-Funktionäre nicht mehr beeinflussen können, da die jugendliche Basis der Gewerkschaft die Perspektive der Geduld für erfolglos hält, steigt. Faktisch schwächt die Militärregierung mit ihrer Hinhaltetaktik die besonnenen Kreise des Untergrunds. Der Erfolg einer solchen Politik könnte für die Regierung durchaus zweifelhaft sein. Den Verlust der Autorität der Gewerkschaftsführer im Untergrund oder in der Internierung, der die Geschlossenheit und Schlagkraft der Gewerkschaftsbewegung weiter schwächen würde, wäre mit der Gefahr zunehmender und von keinem mehr, weder der Regierung noch .der Kirche oder gemäßigten „SolidarnoäC:" -
Führern, kontrollierbaren gesellschaftlichen Explosionen erkauft. Es ist niederschmetternd, wie die Führung in Warschau derzeit den Weg für eine Aussicht auf einen gesellschaftlichen Frieden oder Waffenstillstand in Polen, für eine Perspektive, die nicht nur von einer verzweifelten Hoffnung getragen, sondern auch realistisch wäre, versperrt. Ob sich die polnische Regierung anläßlich des polnischen Nationalfeiertags, des 22. Juli, zu einer demonstrativen Geste des guten Willens gegenüber der suspendierten Gewerkschaft „Solidarnosc:“ entschließen kann?