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Bürger und Justiz | APuZ 27/1982 | bpb.de

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APuZ 27/1982 Justiz nach Weimar und Hitler Entwicklungen und Tendenzen in der Bundesrepublik Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland Liberalität und Rechtsstaat Bürger und Justiz Verwaltungsskandale

Bürger und Justiz

Inge Donnepp

/ 15 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Frei von Spannungen kann das Verhältnis von Bürger und Justiz nicht sein. Der verurteilte Straftäter wird für die Justiz ebensowenig Sympathie empfinden wie der Unterlegene im Zivilprozeß. Die Justiz hat Streit zu schlichten, sie muß — falls nötig — bestrafen. Eine undankbare, wenige beneidenswerte Aufgabe. Diese Einschätzung wird durch Umfrageergebnisse und Beiträge eines in Nordrhein-Westfalen veranstalteten Schülerwettbewerbs bestätigt. Das Bild, das Kinder und Jugendliche von der Justiz zeichnen, ist folglich durchweg kritisch bis negativ. Die Justiz darf diese zuweilen bohrende Kritik nicht stillschweigend übergehen, auch wenn viele Bemerkungen und Befürchtungen nicht auf persönlichen Erfahrungen, sondern auf Eindrücken beruhen, die eindeutig dem Medium Fernsehen mit seinen ausländischen Krimiserien zuzuordnen sind. Die Justiz in einem demokratischen Rechtsstaat ist auf Vertrauen angewiesen. Mehr Vertrauen kann sie aber nur gewinnen, wenn sie sich dem Bürger gegenüber öffnet. Er muß vor allem den Eindruck gewinnen, daß die Justiz für ihn da ist — und nicht umgekehrt. Heute bemühen sich Tausende von Richtern und Justizbediensteten, von Anwälten und Staatsanwälten um eine dem Bürger verständliche Rechtsprechung. Die Justiz hat sich aber auch zu einem bürokratischen Gesetzmäßigkeiten unterliegenden Dienstleistungsbetrieb entwikkelt. Es sind die damit verbundenen Gefahren, die das Idealbild eines unabhängigen, menschlichen, gesellschaftsverbundenen Richters in Frage stellen. Die Anonymität nimmt zu, der Richter wird zum Rädchen im Getriebe. Rechtsgewährung im Schalterbetrieb: Ist das die Entwicklung, die sich vollzieht?

Meinungen über die Justiz

„Die Prozesse würden in erschreckender Weise zunehmen, wenn die Leute keine Angst vor den Gerichten hätten ... Ich befehle daher, daß alle, die sich an die Gerichte wenden, ohne Mitleid behandelt werden, so daß sie jede Freude an der Justiz verlieren."

So lautete ein Dekret aus dem Kaiserlichen China des 17. Jahrhunderts. Steigende Geschäftszahlen in allen Gerichtszweigen bei knapper werdenden Mitteln sind auch hier und heute ein aktuelles Problem. Und offenbar haben zudem viele, insbesondere jüngere Bürger in unserem Land den Eindruck, ein derartiges Dekret sei auch hierzulande noch in Kraft. Dies jedenfalls ist ein Ergebnis der Auswertung von knapp 1 000 Aufsätzen, Gedichten und Bildern, die nordrhein-westfälische Schüler bei einem Wettbewerb der vom Kultusminister herausgegebenen Zeitschrift „S wie Schule" zum Thema „Justiz, Recht und Gerechtigkeit" eingesandt hatten.

Nach einer Umfrage empfindet fast ein Drittel aller erwachsenen Bürger den Gang zum Gericht in einer Zivilsache mindestens ebenso unangenehm wie den Weg zum Zahnarzt. Wenn derart viele Bürger die schwarze Robe des Zivilrichters genauso fürchten wie den weißen Kittel des Zahnarztes, dann ist dies für die Justiz schmerzhaft, bedeutet es doch, daß viele Bürger lieber Unrecht hinnehmen, als sich an ein Gericht zu wenden. Denn hier waren ja nicht die Strafgerichte gemeint, sondern z. B. Streitigkeiten über Mietverträge oder Schadensersatz.

Zu viele Bürger empfinden die Justiz leider immer noch als einen recht anonymen, abweisenden, ja sogar unheimlichen Apparat, geschaffen, ihnen das Leben schwer zu machen. Man beklagt die lange Prozeßdauer, die Ungewißheit des Prozeßausgangs und die einschüchternde Atmosphäre in den Gängen und Sälen der Gerichte und schreckt vor der unverständlichen Juristensprache zurück. Auch Begriffe wie „Klassenjustiz", „autoritäres Gehabe" oder „Arroganz" finden sich im Meinungsbild vieler Bürger von der Justiz wieder.

Dieses offensichtliche Mißtrauen gibt Anlaß zur Aufmerksamkeit, auch wenn die Umfragen belegen, daß das Ansehen der deutschen Justiz in den vergangenen Jahren gestiegen ist. Insbesondere wer mit der Justiz auf die eine oder andere Weise in Berührung gekommen war, bewertete diese Erfahrungen eher positiv. Der nordrhein-westfälische Schülerwettbewerb gab Gelegenheit zu erfahren, welches Bild Kinder und Jugendliche von der Justiz haben. Die überwiegende Zahl der Einsendungen bestätigt das Ergebnis eines vor drei Jahren in Bayern durchgeführten Malwettbewerbs: Der Richter wird als drohende und hart strafende Gestalt, das Gericht als gefühllose und eiskalt funktionierende Maschinerie und der Strafvollzug als mittelalterliches Sühneinstrument dargestellt. Die große Mehrzahl der Schüler hatte weder jemals an einer Gerichtsverhandlung als Zuhörer oder Beteiligter teilgenommen noch waren ihnen Grundkenntnisse durch rechtskundlichen Unterricht vermittelt worden.

Nun ist Nordrhein-Westfalen unter den Bundesländern in bezug auf den Rechtskundeunterricht führend. Er ist ein geeignetes Mittel, der Rechtsfremdheit entgegenzuwirken und leistet darüber hinaus einen Beitrag zur Erziehung der Schüler zum mündigen Bürger. Der Rechtskundeunterricht hat in Nordrhein-Westfalen gute Tradition, ist in den letzten Jahren verstärkt worden und wird seit Jahren auch an Hauptschulen in Form von Arbeitsgemeinschaften angeboten. Im Schuljahr 1980/1981 unterrichteten mehr als 700 Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte an fast 700 Schulen in Nordrhein-Westfalen. Dies trägt sicherlich dazu bei, den Jugendlichen Grundinformationen über unser Rechtswesen zu vermitteln und auch mancherlei Vorurteile gegenüber der Justiz abzubauen. Die Mehrzahl der eingesandten Wettbewerbsbeiträge war davon jedoch unberührt, zumal die Arbeitsgemeinschaften ausschließlich in den 10. Klassen angeboten werden.

Woher aber stammen die Informationen und Meinungen, Befürchtungen und Hoffnungen unserer jungen Bürger über die Justiz?

Informationen über die Justiz?

Sicherlich vermitteln auch Fächer wie Gemeinschaftskunde, Politik und Geschichte Kenntnisse über unser Rechtswesen. Einige Beiträge, vornehmlich der älteren Schülerinnen und Schüler, bezogen sich so z. B. auf die Epoche von 1933 bis 1945, die ja dem Ansehen der deutschen Justiz nicht gerade förderlich war. Im Religionsunterricht werden offenbar auch Probleme der Straffälligkeit, des Strafvollzuges und der Situation der Haftentlassenen besprochen.

Die ganz überwiegende Zahl der Wettbewerbsarbeiten jedoch enthielt Eindrücke und Informationen, die eindeutig dem Medium Fernsehen zuzuordnen sind — konkret: aus amerikanischen bzw. angelsächsischen Krimiserien. Dieses Fernsehmuster ist unseren Schülern geläufiger, als es Elemente deutscher Justiz aus unseren Gerichtssälen sind. Dementsprechend kommen fast ausschließlich Strafrichter vor, die häufig genug die obligaten Perücken tragen. Über Schuld und Unschuld entscheiden Geschworene; Angeklagte und Zeugen werden ständig Kreuzverhören unterzogen und schneidige Anwälte verteidigen Unschuldige. Die in den Fernsehserien zur Last gelegten Straftaten gehören fast ausschließlich zu den schweren Delikten wie Raub, Totschlag und Mord. Kriminalität ist hier nahezu ausschließlich Gewalt.

Der Einfluß der modernen Massenmedien auf die Vorstellungen über unser Gerichtswesen ist nicht zu unterschätzen. Dies zu behaupten, heißt nicht, einen „Schuldigen" für das eher negative Bild von der Justiz zu suchen. Schließlich ist dieses Bild nicht erst im Televisionszeitalter entstanden. Es ist vielmehr daran zu erinnern, daß in den ersten Jahren nach dem Krieg noch ganze Gerichtsverhandlungen durch den Rundfunk übertragen wurden. Man erkannte aber u. a., daß der Wortungewandte dadurch erheblich benachteiligt wurde. Die Aufnahmeerlaubnis wurde deshalb auf das Verlesen des Eröffnungsbeschlusses, die Verkündung der Urteilsformel und die Urteilsbegründung beschränkt. Schließlich wurde auch dieser Rest von Direktübertragung vom Gesetzgeber gestrichen. An die Stelle der direkten Berichterstattung ist seitdem die indirekte getreten.

Nur eine Minderheit in der Bevölkerung kommt nach Umfragen mit unseren Gerichten in unmittelbare Berührung: 15% waren schon einmal als Zeuge geladen, 7% haben bereits einmal eine Klage eingereicht und 4% sind verklagt worden. Außerdem waren nach einer repräsentativen Umfrage 13% der Befragten schon einmal als Zuschauer bei einer Gerichtsverhandlung. Ein solcher Besuch — zumeist sind es ja Schulklassen — ist bei entsprechender Vor-und Nachbereitung gut geeignet, Verständnis für die Rechtsprechung zu vermitteln und Ängste vor dem Gericht zu nehmen. Allerdings sollte es sich dabei nicht immer nur um Strafverfahren handeln — im Gerichtsalltag spielen sie zwar eine besondere Rolle, jedoch nur knapp ein Drittel aller Richter sind Strafrichter.

Von Paragraphen und Palästen

Es ist natürlich auch Aufgabe der Justiz selbst, vermeidbare Hemmnisse zu beseitigen, unnötige Kommunikationsschwierigkeiten abzubauen, bürgernah Recht zu sprechen. Die Justiz muß sich immer wieder aufs neue bemühen, auch bei dem, was sie sagt, den Bürgern näherzukommen, für die sie ja da sein soll und da sein will. Ihre Sprache darf nicht zu einer unüberwindlichen Schranke werden. Eine größere Natürlichkeit der Gerichtssprache würde insbesondere denen helfen, die sonst nur schwer in der Lage sind, ihr Recht wahrzunehmen. Daß dies insbesondere auch für die Vielzahl der bei uns lebenden ausländischen Arbeitnehmer und ihre Angehörigen gilt, braucht nicht näher dargelegt zu werden. Ein solcher Appell richtet sich ebenfalls an den Gesetzgeber und an die ministerialen Verfasser von Erlassen. Eine Juristensprache, die nur denen geläufig ist, die vom Fach sind, bleibt Fremdsprache im eigenen Land.

Die Gerichtskommunikation, das Gespräch zwischen Richtern und Rechtsuchenden, wird immer eine schwierige Angelegenheit bleiben. Dem Richter fällt dabei eine komplizierte Rolle zu. Anders als in der Alltagskommunikation, wo ein gemeinsames Wissen und gemeinsame Wertvorstellungen vorausgesetzt werden, muß der Richter ein Geschehen steuern, beobachten, bewerten, interpretieren, kommentieren und schließlich Recht spre30 chen; eine Aufgabe, um die ihn viele Wettbewerbsteilnehmer nicht beneiden und die ihnen kaum lösbar erscheint. Der Satz „Ich selbst möchte kein Richter sein" findet sich deshalb in den Beiträgen der Jugendlichen immer wieder. Zur ebenfalls kritisch beurteilten Atmosphäre vor Gericht gehört auch das äußere Erscheinungsbild der Justiz. Justizpaläste aus dem vergangenen Jahrhundert bis weit in unser Jahrhundert hinein gleichen in den Augen vieler Bürger furchterregenden Burgen, die das bereits bestehende Gefühl der Unsicherheit noch verstärken: „Von weitem sah das Gerichtsgebäude sehr mächtig aus, und wenn man erst auf der Treppe stand und an den Säulen hochschaute, da bekam man ein richtig ehrfürchtiges Gefühl. Man kam sich ganz klein vor. Kein Wunder, bei so großen Säulen" — schrieb eine 16jährige Schülerin.

Die Veränderung, der Ersatz der manchmal drohend und einschüchternd wirkenden alten Justizgebäude durch freundliche und funktional ausgestaltete ist eine kostspielige Angelegenheit. In Zeiten sparsamer Haushaltsführung wird es deshalb noch einige Zeit dauern, bis wir nur noch Justizgebäude haben, bei deren Gestaltung der Mensch im Vordergrund steht. Denn auch im Gerichtsgebäude muß der Bürger das Gefühl haben, daß Menschen um ihn sind, und nicht irgendwelche dunklen Mächte mit ihm ein böses Spiel treiben.

Kritik am Strafvollzug

Es gibt die alten Gemäuer auch noch im Strafvollzug. Sie stammen teilweise aus Zeiten, wo der arme Sünder in sich gehen sollte und die Fenster, wie auf den meisten Zeichnungen des Wettbewerbs, hoch droben angebracht waren, um ihm den Blick in die Welt draußen zu verwehren. Moderner Strafvollzug ist in den vorhandenen älteren, zu einem großen Teil aus dem vergangenen Jahrhundert stammenden Vollzugseinrichtungen kaum zu „vollziehen". Auch hier sind Neubauten vonnöten, auch hier ist die Kritik berechtigt. Ein Wohngruppenvollzug, wie er z. B. in modernen Anstalten praktiziert werden kann, ist sonst nicht durchführbar. Der Strafvollzug gehört zu den Materien, bei denen die geäußerte Kritik auch deshalb nicht widerlegt werden kann, weil es zu den unerfreulichen Erkenntnissen gehört, daß eine Gesellschaft nicht darauf verzichten kann, sich vor Rechtsbrechern zu schützen. Doch die Zeit sinnlosen Einsperrens muß der Vergangenheit angehören. Die Entwicklung eines humanen Behandlungsvollzuges ist ohne die engagierte Mitarbeit aller Vollzugsbediensteten undurchführbar. Die Bediensteten aller Sparten des Strafvollzuges, gestützt durch vielfältige Maßnahmen der Aus-und Fortbildung, werden den steigenden Anforderungen im wachsenden Maße gerecht.

Der eingeleitete Wandel im Strafvollzug ist noch in Gang, er ist langwierig und mühevoll. Um erfolgreich zu sein, bedarf ein auf Resozialisierung ausgerichteter Strafvollzug der Mithilfe der Bürger. Die Beiträge unserer Schüler und Schülerinnen zu diesem Thema sind ermutigend; starkes soziales Engagement ist erkennbar und der Wille, dem Gestrauchelten eine Chance zu geben.

Dies ist deshalb ermutigend, weil nach einer noch nicht lange zurückliegenden Umfrage nicht einmal jeder fünfte erwachsene Bürger bereit war, Strafentlassenen zu helfen; drei Viertel lehnten freundschaftliche oder familiäre Kontakte mit Strafentlassenen ab; fast die Hälfte wollte mit Strafentlassenen nicht in der selben Siedlung wohnen; knapp die Hälfte der Bevölkerung mochte keinen Haftentlassenen zum Arbeitskollegen haben. Von daher kann es kaum überraschen, daß nach der Auffassung vieler Betroffener die schlimmste Strafe häufig erst mit der Entlassung aus dem Strafvollzug beginnt. Viele Einsender haben deutlich erkannt, daß diese „Privatstrafen" häufig genug zu erneuter Straffälligkeit und damit auch zurück in den Strafvollzug führen. Damit schließt sich ein Teufelskreis, der vom unmittelbaren Opfer, vom Täter und auch vom steuerzahlenden Bürger teuer — und dies auch im materiellen Sinn — bezahlt werden muß.

Bemühungen

Es ist verständlich, daß die Justiz, die ja überwiegend dann tätig wird, wenn Konflikte gelöst werden müssen, sich nicht gerade beson-derer Beliebtheit erfreuen kann. Der Straftäter, der sein Urteil entgegennehmen muß, empfindet für die Justiz ebensowenig Sympa31 thie wie derjenige, der einen Zivilprozeß verliert Die Justiz hat Streit zu schlichten. Sie muß — falls nötig — bestrafen. Eine undankbare Aufgabe also.

Ein zu großes Mißtrauen der Bürger gegenüber der Justiz gibt jedoch zur Sorge Anlaß. Schließlich ist die Justiz einer der tragenden Pfeiler unserer rechtsstaatlichen Ordnung. Der Bürger muß ihr vertrauen können, die Justiz ist auf sein Vertrauen angewiesen. Mehr Vertrauen kann die Justiz aber nur erringen, wenn sie sich dem Bürger gegenüber öffnet. Einige Voraussetzungen dafür sind vorhanden. Viele Bürger wirken ganz unmittelbar in unserer Rechtspflege mit; als rechtliche Laien haben sie die Möglichkeit der Mitarbeit seit Jahren genutzt und ehrenamtliche Aufgaben in der Justiz übernommen. An den Gerichten stehen tagtäglich Tausende von Laienrichtern den Berufsrichtern in den Verhandlungen und bei der Urteilsfindung zur Seite. In den Erzählungen, in den Aufsätzen und Gedichten der Schüler wie auch auf ihren bildlichen Darstellungen kommen sie jedoch überhaupt nicht vor. Ihre Tätigkeit stärker herauszustellen, wird eine Aufgabe sein, denn die ehrenamtliche Mitarbeit rechtlicher Laien ist nicht wegzudenken, wenn die Justiz bürgernah sein will.

In Nordrhein-Westfalen soll jetzt der Tätigkeitsbereich der Schiedsmänner erweitert werden, um mehr außergerichtliche Konfliktbeilegungen zu ermöglichen. Nach einer vom nordrhein-westfälischen Justizministerium in Auftrag gegebenen Umfrage würde eine Mehrheit der Bevölkerung lieber zu einer solchen außergerichtlichen Einigungsstelle gehen, als eine rechtliche Auseinandersetzung unbedingt von einem Gericht entscheiden zu lassen. Dies ist aber nicht unbedingt ein Zeichen des Mißtrauens gegenüber der Justiz, sondern die Suche nach einer Konfliktlösung ohne „Sieg oder Niederlage“. Zudem arbeiten die Schiedsmänner meist schneller als die Gerichte, und die Gebühren sind erheblich niedriger.

Die Dauer der Verfahren und die Vorstellung, daß man mit Geld bei der Justiz mehr erreichen kann, sind dann auch weitere Kritikpunkte, nicht nur bei unseren jungen Mitbürgern. Natürlich ist es von besonderer Bedeutung, wie lange man darauf warten muß, bis einem sein Recht auch zugesprochen wird. Die angeblich zu lange Dauer der Verfahren ist denn auch ein häufiges Ziel von Angriffen. Wie steht es damit?

Drei Viertel aller Zivilprozesse vor den Amtsgerichten werden innerhalb eines halben Jahres abgeschlossen. Strafsachen werden noch zügiger entschieden. Geht ein Prozeß jedoch durch zwei oder drei Instanzen, verlängert sich die Verfahrensdauer naturgemäß. Das falsche Bild wird durch die Publikationen bei bestimmten Verfahren geprägt: von umfangreichen Wirtschaftsstrafprozessen und NS-Verfahren. In den Augen der Bevölkerung — dies wiederum belegten Umfragen — dauert ein gewöhnlicher Zivilprozeß nach Ansicht von nur 15% der Befragten bis zu einem halben Jahr.

Die tatsächliche durchschnittliche Verfahrensdauer entspricht fast exakt den Idealvorstellungen der Bürger. Die Öffentlichkeit ist in diesem Punkte einfach falsch informiert. Es gibt allerdings Bereiche, wo es nicht so günstig aussieht. Hier ist trotz aller Personalvermehrungen der letzten Jahre vor allem an die Finanz-und Verwaltungsgerichtsbarkeit zu denken. Wirksamer Rechtsschutz ist aber nur rechtzeitiger Rechtsschutz. Jedes Verfahren, das wegen Überlastung der Gerichte zu lange dauert, ist für den beteiligten Bürger und den Rechtsstaat nur schwer hinzunehmen.

Zu Beginn des letzten Jahres ist das alte Armenrecht abgeschafft und durch die Prozeßkostenhilfe ersetzt worden. Neu geschaffen worden ist die Beratungshilfe. Jeder, der die Kosten für eine Beratung oder einen Prozeß nicht oder nur teilweise aufbringen kann, hat Anspruch darauf, ganz oder teilweise kostenlos Rechtsrat und auch Vertretung durch einen Rechtsanwalt zu bekommen. Eine Reihe von kritischen Beiträgen weist darauf hin, daß die Gerichte von bestimmten Personengruppen besonders stark in Anspruch genommen werden, während noch zu viele auf ihr Recht verzichten, weil ihnen alles undurchschaubar bleibt und der Prozeßausgang zu ungewiß erscheint. Die Justiz darf diese Kritik nicht stillschweigend übergehen. Ihre Pflicht ist es, dem Bürger bei der Durchsetzung seiner Rechte behilflich zu sein. Ihre Aufgabe besteht nicht darin, als Dritte Gewalt im Staat Macht und Herrlichkeit um ihrer selbst willen zu demonstrieren. In unserer heutigen Gesellschaft bilden Recht und Gesetz eine Klammer. Ohne Recht gibt es keine Freiheit und keine soziale Sicherheit Beides ist gleichermaßen wichtig, zur Garantie des Sozialstaates. Wenn gerade heute unter jungen Menschen Rechtsverstöße, die sich aus gewissen sozialen Erscheinungen ergeben, für legitim angesehen werden, ist dies eines Rechtsstaates unwürdig. Es ist Sache der Parlamente, Änderungen herbeizuführen, wenn ein Gesetz der sozialen Wirklichkeit nicht mehr genügt. Diese Änderungen können dann jedoch nur auf Mehrheitsentscheidungen der entsprechenden Gremien beruhen. Die zuweilen bohrende Kritik unserer jungen Mitbürger ist daher als Antrieb zu verstehen und auch von ihnen so zu begreifen.

Im Jahre 1784 erließ Friedrich II. eine Verordnung, in der es hieß: „Eine Privatperson ist nicht berechtigt, über Handlungen, Gesetze und Anordnungen der Souveräne, ihrer Staatsbediensteten und Gerichtshöfe öffentlich, sogar tadelnde Urteile zu fällen oder davon Nachrichten durch den Druck zu verbreiten." Eine Begründung für das Verbot wurde gleich mitgeliefert: „Eine Privatperson ist auch zu deren Beurteilung gar nicht fähig, da es ihr an der vollständigen Kenntnis der Umstände und Motive fehlt." Diese Zeiten sind vorbei.

Das heutige Bemühen, Informationen und Einsichten zu vermitteln, ist unverkennbar; auch das Bestreben, Richter, Staatsanwälte und alle bei der Justiz Tätigen mit den besonderen Problemen der Rechtsuchenden, aber auch der Zeugen, vertraut zu machen. Dem dienen Fort-bildungsveranstaltungen, die sich z. B. mit folgenden Problemen befassen:

— Die Behandlung des Publikums auf der Rechtsantragstelle, — Verständlichkeit juristischer Argumentation,

— Sprache als Problem und Werkzeug des Juristen, — Psychologie der Zeugenaussage, — der ältere Mensch vor Gericht, — psychologische Aspekte der Gesprächsführung mit Jugendlichen im Gerichtsverfahren, — Ursachen von Kommunikationsstörungen zwischen Richtern und Rechtsuchenden.

In vielen Darstellungen der Jugendlichen kehrt auch der richterliche „Thron" zur Kennzeichnung der Distanz zwischen Richter und Bürger wieder. Das Leitbild des „Richterkönigs", der in würdevoller Enthaltsamkeit über den Verfahrensbeteiligten thront, beherrschte eine Zeitlang nicht nur die Vorstellungen junger Bürger. Dies war auch das Ideal eines bestimmten Richtertyps. Die Erwartungen an den Richter in unserer Zeit sehen anders aus.

Viele Bürger stellen sich den Richter eher streng und abweisend vor. Daß er auch menschlich, gesprächsbereit und verständnisvoll sein könnte — diese Vorstellung hat sich noch nicht durchgesetzt. In einem Gemeinwesen jedoch, in dem die Justiz ein hochdifferenziertes Instrument gesellschaftsbezogener Dienstleistungen darstellt, kann der Richter nicht der einsame Rechtsgelehrte sein, der den Streit der Prozeßbeteiligten mit unbewegter Miene beobachtet und sodann seinen Spruch fällt. Gefordert ist vielmehr der Jurist, der sich auf den Bürger als Menschen einläßt — der sich nicht als bloßer Diener eines abstrakten Rechtssystems begreift, sondern als Dienstleistender für die rechtsuchenden Bürger, deren Rechtsstreitigkeiten er zu entscheiden hat.

Das klingt so, als würde hierbei nur an die Zivil-, Verwaltungs-und Finanzrichter gedacht und dabei das wichtige Gebiet des Strafrechts ausgeklammert. Aber gerade hier muß ein Mißverständnis ausgeräumt werden: Der Richter und der Angeklagte sind beide Bürger eines Gemeinwesens, wenn auch der Richter mit Entscheidungsgewalt ausgestattet ist. Das schließt Rangdünkel ebenso aus wie Kumpanei.

Gerade der letzte Punkt muß betont werden, denn nicht selten wird das Postulat einer menschlichen Justiz dahin mißverstanden, der Richter müsse sich mit dem Bürger identifizieren. Das aber ist nicht seine Aufgabe: Der Richter soll und muß dabei im Einzelfall auch Erwartungen enttäuschen. Worum es bei Veränderungen geht, das ist die Art und Weise, in der der Entscheidungsprozeß ausgestaltet ist: Hier muß nach mehr Menschlichkeit gesucht werden. Der Richter als Gesprächspartner mag mancher traditionsverhafteten Auffassung von der Rolle der Justiz im Rechtsfindungsprozeß fremd erscheinen: Im sozialen Rechtsstaat kommt ihm prägende Bedeutung zu. Erst der Richter, der sich auf das Gespräch mit dem Bürger einläßt, der zuhörend Geduld übt und sich unter Umständen auch aus der sicheren Distanz des Rechtskundigen herausbegibt, vermag die Rolle des Richters heute glaubwürdig zu vertreten.

Eine weitere Forderung an den Juristen ist die Offenheit für die soziale Wirklichkeit. Der Richter soll nicht zum „Sozialingenieur" werden, aber er darf sich auch nicht mehr in seinen Elfenbeinturm zurückziehen, sondern muß systematisch bereits in der Ausbildung auf den Umgang mit der Wirklichkeit vorbereitet werden. Bisher wurde z. B. die Arbeits33 und Sozialgerichtsbarkeit in der Juristenausbildung vernachlässigt. Hier bringt die Verlängerung der Referendarausbildung eine Verbesserung. Der Jurist in unserer heutigen Zeit muß nicht nur die juristische Methode beherrschen, sondern auch die Fähigkeit zur zutreffenden Beurteilung sozialer Entwicklungen oder wirtschaftlicher Sachverhalte besitzen.

Entwicklungen

Dem Richter wird heute zunehmend die Aufgabe überlassen, die Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderungen auf das geltende Recht im Einzelfall zu konkretisieren. Dabei ist die Rechtsprechung niemals eine automatisch-wertfreie Anwendung vorgegebener Normen. Indem der Richter ein Gesetz interpretiert, ist er bereits Mitwirkender an der Rechtschöpfung. Mit der Auslegung der Normen gestaltet er sie und bestimmt mit über die Entwicklung der rechtlichen Ordnung.

Gerade weil dies so ist, kommt es entscheidend darauf an, daß der Richter mitten im Leben steht, mit wachem Sinne für die gesellschaftlichen Wandlungen unserer Zeit.

Es gibt in der Bundesrepublik rd. 20 000 Berufsrichter und Staatsanwälte. Die Justiz hat sich zu einem bürokratischen Gesetzmäßigkeiten unterliegenden Dienstleistungsbetrieb entwickelt. Tausende von Richtern, von Anwälten und Staatsanwälten sind damit beschäftigt, den Apparat der Rechtsfindung in Gang zu halten. Ihr Mechanismus ist als ganzes von niemandem mehr zu überschauen. Es sind die mit der Bürokratisierung verbundenen Gefahren, die das entworfene Idealbild des unabhängigen, zuhörenden und gesellschaftsverbundenen Richters in Frage stellen. Die Anonymität nimmt zu, der Richter wird zum Rädchen im Getriebe. Rechtsgewährung im Schalterbetrieb: Ist das die Entwicklung, die sich vollzieht?

Einen Dorfrichter Adam wird es in einem modernen Gemeinwesen ebensowenig geben können wie den zuständigen Stadtteilrichter vor Ort. Als staatlicher Dienstleistungsbetrieb kann sich die Justiz den Anforderungen einer zeitgemäßen Organisation nicht entziehen. Und doch kann in der ständigen Vermehrung des Justizpersonals keine dauerhafte Lösung des Rechtsgewährungsproblems gesehen werden.

Auch mit der schulterzuckenden Feststellung, das Bürokratieproblem sei nun einmal der Preis eines sozialen Rechtsstaates, und: man habe es ja nicht anders gewollt, ist es nicht getan. Der Versuch, den sozialen gegen den freiheitlichen Rechtsstaat auszuspielen, geht fehl. Wir haben allen Anlaß, uns zu dem Ausbau unseres Gemeinwesens zu einem sozialen Rechtsstaat zu bekennen. Das Bewußtsein, nicht bitten zu müssen, sondern einen Anspruch zu haben, der notfalls mit Hilfe der Gerichte durchsetzbar ist, gehört zur Verwirklichung des Sozialstaatsgebots im freiheitlichen Rechtsstaat. Dabei bleibt es auch in Zeiten knapper werdender Ressourcen.

Der Weg, dem Richter die Voraussetzung für innere Unabhängigkeit, für seine Bereitschaft und Fähigkeit zur vertrauensschaffenden Bürgernähe zu sichern, kann weder in der Suche nach der Idylle noch im Abbau des Rechtsstaates bestehen: Es kann nur um seine inhaltliche Ausgestaltung gehen. Wir müssen beispielsweise Lösungen finden, mit denen das Prozessieren „um jeden Preis" vermieden werden kann. Wir müssen die Bereitschaft zur vor-und außergerichtlichen Konfliktregelung stärken, das Bewußtsein dafür, daß Rechtsstreitigkeiten auch ohne Anrufung der Gerichte friedlich beigelegt werden können.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Inge Donnepp, geb. 1918; Rechtsanwältin, Fachanwältin für Steuerrecht, Richterin am Sozialgericht; 1975 bis 1978 Minister für Bundesangelegenheiten, seit Februar 1978 Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen; Landesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen seit 1973, Mitglied des Parteivorstandes der SPD seit 1979.