Zusammensetzung und Ziele der Friedensbewegung in der Bundesrepublik Deutschland
Wilfried von Bredow
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Zusammenfassung
Die Friedensbewegung in der Bundesrepublik Deutschland, die seit den Debatten über die Neutronenwaffe in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre und dem NATO-Doppelbeschluß vom Jahresende 1979 neuen Auftrieb bekommen hat, besitzt eine bis in die Gründungszeit der Bundesrepublik zurückreichende Tradition. Die heftigen Auseinandersetzungen um die Wiederbewaffnung, später um die Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen und die Ostermarschbewegung bilden die Wellenkämme einer zyklisch ins Licht tretenden Opposition. Sie wird auch durch personale Kontinuität von Führungsfiguren (z. B. Martin Niemöller) und durch thematische Kontinuität (z. B. die Verbindung der Sicherheitsfrage mit der nationalen Frage) gekennzeichnet. Die neue Friedensbewegung ist aber zugleich breiter angelegt und heterogener als ihre Vorgängerinnen. In ihr verbinden sich lose herkömmliche pazifistische Strömungen (mit einem starken protestantischen Vorzeichen) mit undogmatisch-sozialistischen, ökologisch orientierten und kommunistischen Vorstellungen. Neu ist auch die Intensität der internationalen Kontakte der westeuropäischen Friedensbewegungen. Die in-und ausländische Resonanz auf die Friedensbewegung ist zwiespältig und bestätigt in der Regel nicht das Selbstbild ihrer Repräsentanten, wonach die Friedensbewegung eine rationale Alternative zur Sicherheitspolitik der westlichen Regierungen vorzuweisen habe. Als Indikator für künftige Umschwünge der Politik der Bundesrepublik Deutschland kann man die Friedensbewegung nicht ansehen. Indes könnte sie, durchaus gegen die Absichten vieler ihrer Anführer, unter ungünstigen Bedingungen Kristallisationspunkte für einen gesamtdeutschen Neonationalismus mit antiwestlichen Akzenten schaffen. Eine Versachlichung der sicherheitspolitischen Diskussion durch Beiträge auch aus der Friedensbewegung wäre demgegenüber eine wünschbare Perspektive.
Die folgenden Überlegungen sollen den sozialen und politischen Hintergrund der im In-und Ausland viel beachteten und häufig mißverstandenen Friedensbewegung in der Bundesrepublik Deutschland ein wenig erhellen. Die meisten dieser Mißverständnisse resultieren aus der politischen Brisanz, welche die seit Beginn der achtziger Jahre mit neuer Dynamik erfüllte Bewegung zu besitzen scheint — und zwar im nationalen wie im internationalen Rahmen. Immer, wenn eine Person, ein politisches Zielprogramm oder eine politische Gruppierung im Zentrum heftiger politischer Auseinandersetzungen steht, wächst die Ungeduld aller Beteiligten, zu einem schnellen Urteil zu kommen, verkümmert die Lust zu differenzieren, kurz: das ist dann die Stunde der Schwarz-weiß-Malerei. Diesem Hang soll hier so gut es geht widerstanden werden — Beschreibung und Analyse des gewählten Untersuchungsgegenstandes sollen so erfolgen, als läge eine große zeitliche und geistige Distanz zwischen ihm und dem Autor.
Ein typischer Hinweis auf die Umstrittenheit der Friedensbewegung findet sich bereits in ihrem Namen — es ist ein selbstgewählter Name, der zugleich ein Zielprogramm ausdrückt, aber auch, daß dieses Zielprogramm in anderen sozialen und politischen Kontexten oder mit anderen Instrumenten, als hier verwendet, nicht oder zumindest nicht so gut zu verwirklichen ist Nun gehört es auch in den inneren Kern des Selbstverständnisses der NATO-Streitkräfte und also auch der Bundeswehr, daß ihr Vorhandensein und ihr Wirken im Rahmen der offiziellen westlichen Politik den Frieden aufrechterhalten wollen und dies in den zurückliegenden Jahren auch erfolgreich getan haben. Aus der Sicht der gegenwärtigen Bundesregierung, die sich in diesem Punkt von der gegenwärtigen Opposition im Bundestag nicht um ein Jota unterscheidet würden aber die politischen Vorstellungen der Friedensbewegung, falls in die Tat umgesetzt gerade nicht den Frieden sichern oder gar verbessern. Friedensbewegung als Bezeichnung für die im folgenden zu untersuchende soziale Bewegung darf also, will man nicht bestimmte Urteile dieser Bewegung unbewußt übernehmen, zunächst einmal nur als „Selbst-Verständnis-Begriff" angesehen werden (etwa analog zur Verwendung des Begriffes Demokratie für höchst unterschiedliche politische Systeme).
Die Friedensbewegung ist eine soziale Bewegung. Darunter soll eine Form öffentlichen Protestes gegen einen sozialen oder politischen Stein des Anstoßes'verstanden werden. Dieser Protest wird von einer Vielzahl von einzelnen oder Gruppierungen aus verschiedenen sozialen Schichten getragen, ohne daß es zu einer formalen Organisation (wie z B. einer Partei) kommt Im Verlauf des Protestes. zumal dann, wenn er von den Beteiligten und der Öffentlichkeit als „erfolgreich“ perzipiert wird kann es zu Erweiterungen und Amalgamierungen von Zielprogrammen kommen. Wie wir sehen werden, ist gerade die Friedensbewegung dafür ein gutes Beispiel.
Für den Aufbau dieser Studie erscheint es sinnvoll, sich zunächst etwas eingehender mit der Geschichte der Friedensbewegung in der Bundesrepublik Deutschland zu befassen; denn allzu oft wird übersehen, daß die gegenwärtige Friedensbewegung auf einer ihre Resonanz miterklärenden Tradition beruht. Zweitens soll dann anhand der Friedensdemonstration im Oktober 1981 in Bonn das Zielprogramm der Bewegung im einzelnen näher beschrieben werden; Überlegungen zum „Erfolg" dieser Demonstration schließen sich an. Im dritten Teil werden die wichtigsten der in der Friedensbewegung erkennbaren geistigen Strömungen untersucht und im vierten ihre politische Wirkungsfähigkeit, über die in-und ausländische Resonanz auf die Friedensbewegung konnten aus Platzgründen nur einige wenige Anmerkungen gemacht werden. Aber es ist zu vermuten, daß ein Ergebnis dieser Analyse die selbstverschuldete Kläglichkeit der öffentlichen Gegenargumentation der Friedensbewegung gegenüber wäre
I. Zur Geschichte antimilitärischer Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland
Die Kriegspolitik des Nationalsozialismus endete 1945 in der „totalen Niederlage" Deutschlands. Weil aber der auch schon in den kooperativeren Zeiten der Anti-Hitler-Koalition immer schon virulente Tatbestand des Struktur-konflikts zwischen (verkürzt so bezeichnet) Ost und West sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Kalter Krieg zu manifestieren begann, waren die Deutschen alsbald nicht mehr nur noch die „Besiegten von 1945" sondern auch wieder potentielle Verbündete in der sich anbahnenden großen sicherheitspolitischen Konfrontation. Deutschland war aber geteilt: Einige Teile waren — vorgesehen bis zum Abschluß eines Friedensvertrages — anderen Staaten zugeschlagen worden, ein Teil gehörte als sowjetisch besetzte Zone und später als Deutsche Demokratische Republik in das „sozialistische Lager“, ein Teil gehörte als Westzone und später als Bundesrepublik Deutschland zum Westen.
Diese Konstellation hat sich bis heute nicht geändert, und niemand kann vorhersagen, wann sie sich ändern wird. Durch sie wurde die „nationale Option", also die Wiedervereinigung Deutschlands, aus dem Bereich des Möglichen zunächst einmal ausgesperrt. Aus der Sicht des wichtigsten Verbündeten der Bundesrepublik Deutschland, den Vereinigten Staaten von Amerika, sollte dieser 1949 gegründete, demokratisch verfaßte Staat nun möglichst rasch zur Stärkung der militärischen Kraft des Westens beitragen. Aus der Sicht des ersten Bundeskanzlers, Dr. Konrad Adenauer, sollten die unbedingte Westintegration der Bundesrepublik und ihre Wieder-bewaffnung im Rahmen des westlichen Bündnisses politische Gleichwertigkeit und wirtschaftliche Prosperität erbringen.
Westintegration und Wiederbewaffnung — nicht beliebig kombinierbare Elemente Adenauerscher Politik, sondern untrennbar miteinander verbunden — sollten darüber hinaus ein vernünftiges Mittel für zwei andere politische Ziele mit höchster Priorität sein: für die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit und für die (militärische) Sicherung von Territorium, Menschen und sozialer Ordnung. Genau über die Frage, ob Adenauers Politik diese beiden Ziele optimal angestrebt oder letztlich verfehlt hat, ist in der Bundesrepublik seit ihrer Gründung in Abständen immer wieder heftig gestritten worden. Auch und insbesondere die sicherheitspolitische Debatte wurde von dieser Doppelfrage überschattet. Und weil die Konstruktion der Bundeswehr, die ja nicht zufällig in den fünfziger Jahren als westdeut scher Wehrbeitrag bezeichnet wurde, zuvörderst aus westalliierter Perspektive erfolgte kann es auch kaum verwundern, daß in der Bundesrepublik Deutschland ein großer Teil der Grundkontroversen über politische, soziale, ja auch wirtschaftliche Fragen bis heute so geführt werden, daß die Streitkräfte und ihr Auftrag mit in ihrem Zentrum stehen. Eine Weichenstellung mit nachhaltigen Konsequenzen erfolgte übrigens 1954, als sich zeigte, daß sich die westdeutschen Integrations-und die französischen Kontrollinteressen über ihren östlichen Nachbarn nicht in einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) synthetisieren ließen. 1. Der Kampf um die Wiederbewaffnung Die Auseinandersetzung um die Wiederbewaffnung Westdeutschlands hatte ihren Ur-sprung, wie auch anderes, nicht in Deutschland, sondern in den Büros alliierter Planer und Stäbe In den Westzonen Deutschlands begann sie als öffentliche Debatte 1948. Diese öffentliche Debatte wurde hoch-emotional geführt. Die Bevölkerung war in der Frage eines westdeutschen Wehrbeitrages „tief gespalten Man kann für die Jahre 1949 bis 1955, dem Jahr der Einrichtung der Bundeswehr, drei „außerparlamentarische Mobilisierungskampagnen mit Massenbasis" ausmachen. Die Träger dieser Kampagnen setzten sich aus Repräsentanten verschiedenster Gruppen zusammen; oft hatten sie kaum mehr miteinander gemein als ihre Ablehnung der Wiederbewaffnung. Diese drei Kampagnen waren:
— die 1950 einsetzende „Ohne-mich-Bewe-gung" in der sich bildungsbürgerliche Motive des Aussteigens aus der Geschichte (als Reaktion auf den Schock des Dritten Reiches), linke Befürchtungen vor einem erneuerten preußisch-deutschen Militarismus (oder was man dafür hielt) und schließlich auch nationale Motive sowie solche der persönlichen und kollektiven Ehre bei ehemaligen Soldaten der Reichswehr/Wehrmacht vermischten, — die „Volksbefragungs-Bewegung“ von 1951/52, in der pazifistische, neutralistische und kommunistische Strömungen den Ton angaben und das Ziel verfolgten, statt der Wiederaufrüstung einen Friedensvertrag auf der Grundlage staatlicher Einheit und militärischer Neutralität durchzusetzen und — die unter sozialdemokratisch-gewerkschaftlicher Führung organisierte „Paulskirchen-Bewegung“ gegen die Militärverträge 1955
Bezeichnend für die beiden zuletzt genannten Kampagnen war, daß ihre Anhänger kaum sicherheitspolitische Argumente vorbrachten. Das Schwergewicht ihrer Oppositionshaltung lag auf der nationalen Frage. So lauten z. B. die Kernsätze des „Deutschen Manifests" vom 29. Januar 1955: „Die Antwort auf die deutsche Schicksalsfrage der Gegenwart — ob unser Volk in Frieden und Freiheit wiedervereinigt werden kann oder ob es in dem unnatürlichen Zustand der staatlichen Aufspaltung und in einer fortschreitenden menschlichen Entfremdung leben muß — hängt heute in erster Linie von der Entscheidung über die Pariser Verträge ab. Die Aufstellung deutscher Streitkräfte in der Bundesrepublik und in der Sowjetzone muß die Chancen der Wiedervereinigung auf unabsehbare Zeit auslöschen .. ," Mit dieser Prognose sollten die Anhänger des „Deutschen Manifests” zwar recht behalten. Was sie allerdings übersahen, war, daß der tiefere Grund für diese Entwicklung nicht in der Entscheidung Adenauers zur Wiederbewaffnung lag, sondern in der jede realistische Alternative dazu austrocknenden Konstellation des globalen Ost-West-Konflikts.
War am Ende der vierziger Jahre der Teil der Bevölkerung, der der Wiederbewaffnung mit Mißtrauen bis Ablehnung gegenüberstand, noch sehr hoch, so nahm er doch in den fünfziger Jahren stetig ab. Dafür dürfte weniger die Ausbreitung sachkundiger sicherheitspolitischer Grundüberzeugungen als vielmehr die auf anderen Feldern, insbesondere dem der Ökonomie, rasch wachsende Zustimmung zur Person und Politik des Bundeskanzlers Adenauer verantwortlich sein. Diejenige Institution, die sich am leidenschaftlichsten und tiefschürfendsten mit dem Sinn von deutschen Streitkräften auseinandersetzte, war die Evan-gelische Kirche. Hier gibt es in der Gegenwart deutlich eine parallele Entwicklung. 2. Die Auseinandersetzung um die Atombewaffnung der Bundeswehr Die Verstärkung der NATO-Streitkräfte durch die Aufstellung der Bundeswehr reichte nach Ansicht führender westlicher Experten nicht aus, die Abschreckungskraft des Bündnisses in dem benötigten Umfang zu erhöhen. Seit Ende 1956 wurde deshalb erwogen, auch die Bundeswehr mit amerikanischen taktischen Atomwaffen auszurüsten, mit denen das Übergewicht des Warschauer Pakts an konventioneller Bewaffnung ausgeglichen werden könnte.
Die Aussicht, gut ein Jahrzehnt nach der totalen Niederlage des Dritten Reichs deutsche Militärverbände nuklear auszurüsten, ließ nicht nur in Osteuropa verständliche und propagandistisch weit überhöhte Ängste entstehen, sondern erschreckte auch in der Bundesrepublik viele Bürger. Große Aufmerksamkeit fand z. B.der Appell von 18 westdeutschen Atomwissenschaftlern für den Verzicht der Bundesrepublik Deutschland auf Atomwaffen vom 12. April 1957. In der Auseinandersetzung zwischen Regierung und SPD-Opposition im Bundestag spielte dieses Thema eine wichtige Rolle. Die Sozialdemokratie, aber auch die FDP und der Deutsche Gewerkschaftsbund unterstützten die sich rasch entwickelnde Bewegung „Kampf dem Atomtod", in der sich auch viele Wissenschaftler, Künstler und Intellektuelle engagierten. Diese Bewegung führte zahlreiche Kundgebungen und Demonstrationen durch. Aber viele Spuren hat sie in der Sicherheitspolitik der Bundesrepublik nicht hinterlassen. Nachdem das Bundesverfassungsgericht im Juli 1958 eine allgemeine Volksbefragung zur Atombewaffnung für grundgesetzwidrig erklärt hatte, nach dem „Berlin-Ultimatum" der UdSSR vom November 1958 und schließlich nach dem Berliner Studentenkongreß gegen Atomrüstung im Januar 1959, in dessen Verlauf die Repräsentanten der SPD von linken Kräften überstimmt wurden, zogen sich die Sozialdemokratie und der Gewerkschaftsbund aus der Bewegung zurück. Damit aber hatte diese ihre politische Bedeutung weitgehend eingebüßt 3. Die Ostermarsch-Bewegung, die Kriegsdienstverweigerung und der Krieg in Vietnam In der ersten Hälfte der sechziger Jahre bildete die von England her inspirierte, zunächst noch sehr kleine Ostermarsch-Bewegung die einzige in der Öffentlichkeit sich artikulierende sicherheitspolitische Alternativ-Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland. Sie wuchs später mit Teilen der Jugend-und Studentenprotestbewegung zusammen, die sich allerdings kaum intensiv mit der militärpolitischen Situation in Europa auseinandersetzte. Diese Protestwelle und ihre linkssozialistischen Wortführer an den Universitäten fanden ihre „positiven Helden" in den Guerilla-Anführern der Dritten Welt. Guevara-Poster schmückten so manche . Studentenbude', und nicht wenige Söhne des wohlhabenden Klein-bürgertums wünschten sich an die Stelle von Rgis Debray, der „um zu lernen" in den bolivianischen Untergrund ging.
Ein zunächst noch nicht unmittelbar die NATO und die Bundeswehr in Mitleidenschaft ziehendes, weit verbreitetes negatives Image begann sich in den sechziger Jahren in vielen meinungsbildenden Kreisen der Bundesrepublik über die USA zu entwickeln. Unter Kennedy galten die USA als glänzende Demokratie, aber der Krieg in Vietnam ließ diesen Glanz verschwinden. Es ist sehr wahrscheinlich, daß ein Teil jener Stimmung, die sich innerhalb der gegenwärtigen Friedensbewegung als Vorbehalt gegen die USA äußert, damals langsam aufgebaut wurde
Die Bundeswehr stand am Ende der sechziger Jahre auch nicht unerhebliche Schwierigkeiten durch. Der dramatische Anstieg der Zahlen von Kriegsdienstverweigerern signalisierte eine leichte Legitimitätskrise, die durch organisationsinterne und Integrationsprobleme der Streitkräfte noch verschärft wurde. Hier konnten indes jene Reformen (z. B.des Bildungs-und Ausbildungssektors mit der Einführung des obligatorischen Hochschulstudiums für Öffiziere), die der damalige Verteidigungsminister Schmidt in einem beachtlichen Kraftakt verwirklichte, weitere Auswirkungen verhindern -Interessant ist, daß sich damals innenpolitische und internationale Aspekte der Bundeswehr-Probleme fast gar nicht berührten. Die zu jener Zeit von Vertretern der Friedens-und Konfliktforschung formulierte Kritik an der Abschreckung fand ein akademisches Publikum, mündete aber durchaus nicht in irgendeiner Art von Friedensbewegung. 4. Kontinuität der Friedensbewegungen)
seit 1949?
Der Blick auf die verschiedenen antimilitärischen Kampagnen in der Bundesrepublik Deutschland legt den Schluß nahe, daß es in diesem Land eine Kontinuität der Friedensbewegung gegeben hat, die allenfalls dadurch geschmälert wurde, daß die verschiedenen Strömungen sich von Zeit zu Zeit um ein neues Thema neu gruppieren mußten. Dieser Schluß ist überwiegend richtig. Ein ganz wichtiges Element dieser Kontinuität liegt auch in der spezifischen geographischen und politischen Lage der beiden deutschen Staaten begründet: jede Sicherheits-und Verteidigungspolitik der Bundesrepublik muß auch eine Antwort auf die Frage nach der (wie langfristig auch immer anzulegenden) Überwindung der Teilung Deutschlands parat haben.
Allerdings darf man die Vorstellungen von der Kontinuität der westdeutschen Friedensbewegung(en) auch nicht überstrapazieren. Insbesondere am Ende der siebziger und Beginn der achtziger Jahre verbinden sich mit den herkömmlichen (pazifistischen, neutralistischen, sozialistischen usw.) Strömungen in der Friedensbewegung auch neuartige Gruppierungen, z. B. aus der Ökologiebewegung oder aus der Frauenbewegung. Damit ist der Friedensbewegung insgesamt eine neue Dynamik zugewachsen, die zahlreiche Beobachter überrascht haben mag. Ein weiteres antreibendes Moment für die gegenwärtige Friedensbewegung besteht in ihrer die westeuropäischen Grenzen überschreitenden Ausdehnung. Zwar verbleibt, wie rasch erkennbar wird, der Großteil der Argumente, welche die Friedensbewegung gegen die Sicherheitspolitik der Regierungen hervorbringt, zutiefst national eingefärbt. Allein der Tatbestand jedoch, daß z. B. im Herbst 1981 in mehreren Großstädten Westeuropas zugleich große Demonstrationen veranstaltet werden konnten, zeigt die (wenn auch regional beschränkte) Internationalität der Bewegung.
II. Herbst-Demonstrationen in Westeuropa
Abbildung 2
2. Westeuropäischer Pazifismus? Die Bonner Demonstration stand am Anfang einer Reihe von ähnlichen Veranstaltungen in den Hauptstädten Westeuropas. Eine erste Übersicht mit (je nach Quelle) schwankenden Teilnehmerzahlen sieht so aus: Tabelle 1: Friedensdemonstrationen in West-europa, Herbst 1981 24. 10. 1981 24. 10. 1981 25. 10. 1981 28. 10. 1981 15. 11. 1981 15. 11. 1981 21. 11. 1981 Rom London Paris Helsinki Madrid Athen Amsterdam 150 000 70 000 50 000 150 000 500 000 300 000 350 000 Datum Ort Teilnehmer
2. Westeuropäischer Pazifismus? Die Bonner Demonstration stand am Anfang einer Reihe von ähnlichen Veranstaltungen in den Hauptstädten Westeuropas. Eine erste Übersicht mit (je nach Quelle) schwankenden Teilnehmerzahlen sieht so aus: Tabelle 1: Friedensdemonstrationen in West-europa, Herbst 1981 24. 10. 1981 24. 10. 1981 25. 10. 1981 28. 10. 1981 15. 11. 1981 15. 11. 1981 21. 11. 1981 Rom London Paris Helsinki Madrid Athen Amsterdam 150 000 70 000 50 000 150 000 500 000 300 000 350 000 Datum Ort Teilnehmer
1. Die Bonner Demonstration vom 10. Oktober 1981
Im Vorwort eines handlichen, etwas mehr als 200 Seiten Text und Fotographien enthaltenden Buches über die Bonner Demonstration vom 10. Oktober 1981 äußern die selbstgewissen Herausgeber die Vermutung, daß diese Demonstration in späteren Rückblicken „als Wendepunkt der europäischen Friedenspolitik betrachtet werden" wird. „Sie war der Ausgangspunkt von Demonstrationen gegen die nukleare Aufrüstung in ganz Westeuropa. Millionen von Menschen haben sich an diesen Demonstrationen beteiligt... Die Demonstrationen zeigen, daß wachsende Teile der Bevölkerung Westeuropas dem Rüstungswettlauf Einhalt bieten wollen und werden."
Nun gehört ein Ton der Selbstgewißheit immer in das Repertoire der Manager von sozialen Bewegungen. Aber selbst, wenn man dies in Rechnung stellt, fällt die angesichts der politischen Realitäten schwer nachvollziehbare Zuversicht auf, mit der die Veranstalter der Bonner Demonstration die vier großen Ziele ihrer Bewegung durchzusetzen hoffen:
„— Wir wehren uns gegen neue Atomwaffen in Europa.
— Wir fordern die Regierungen der Mitgliedsländer der NATO auf, ihre Zustimmung zum Beschluß über die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen zurückzuziehen. Damit soll der Weg für die Verringerung der Atomwaffen in West-und Osteuropa geöffnet werden mit dem Ziel, einen wechselseitigen umfassenden Abrüstungsprozeß in Gang zu setzen.
— Wir treten ein für ein atomwaffenfreies Europa, in dem Atomwaffen weder hergestellt, noch gelagert oder verwendet werden. Dies gilt auch für andere Massenvernichtungswaffen. — Unsere Regierungen müssen eigene Initiativen für wirksame Abrüstungsverhandlungen und zur Fortsetzung der Entspannungspolitik ergreifen."
Diese vier Forderungen aus dem Aufruf zur Demonstration in Bonn gehen in erster Linie auf inhaltliche und organisatorische Vereinbarungen zwischen dem Innerkirchlichen Friedensrat (IKV) der Niederlande und der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste (ASF) zurück. Schon in den Auseinandersetzungen um die Einführung der Neutronenwaffe in der Mitte der siebziger Jahre waren es holländische Gruppierungen, die die Initiative ergriffen und entsprechende Aktionen gegen die Neutronenwaffe in der Bundesrepublik inspirierten. Die Hauptstoßrichtung der in den Niederlanden seit 1967 jährlich wiederholten „Friedenswochenarbeit" richtet sich gegen Atomwaffen in Europa. So war es kaum verwunderlich, daß der „Doppelbeschluß" des NATO-Rats vom Dezember 1979 über die mögliche „Nachrüstung" der in Westeuropa stationierten nuklearen Waffensysteme den unmittelbaren Anlaß für eine neue Protestwelle abgab.
Eine große Zahl von Faktoren, die allesamt innerhalb des „magischen Dreiecks" von Wissenschaft, Moral und Politik angesiedelt sind, haben in der Zeit zwischen dem NATO-Ratsbeschluß und der Bonner Demonstration auf diese eingewirkt und sie Protestwelle dabei meist verstärkt, selbst wenn das auf den ersten Blick nicht so schien. Einige der wichtigsten dieser Faktoren waren:
— Die jahrzehntelang unterbliebene öffentliche Debatte über die Militärstrategie der NATO und ihre Konsequenzen für die Bundesrepublik ist in den siebziger Jahren durch Arbeiten von Afheldt und anderen neu oder erstmals breit entfacht worden; die Verbindung solcher seriösen strategiekritischen Beiträge mit den politischen Impulsen der Friedensbewegung ergab eine heftige, im allgemeinen ziemlich dilettantische öffentliche Strategiediskussion in der Bundesrepublik — Viele Bürger der Bundesrepublik betrachteten den Amtsantritt von US-Präsident Reagan mit höchst gemischten Gefühlen; in den deutsch-amerikanischen Beziehungen hatte sich ohnehin in den ganzen letzten Jahren die Perzeption gegenseitigen Mißverstehens ausgebreitet; scheinbar oder wirklich widersprüchliche Signale aus der Reagan-Administration über den neuen Kurs der amerikanischen Sicherheitspolitik wirkten weiter beunruhigend. — Der sowjetische Einmarsch in Afghanistan um die Jahreswende 1979/80 und der dramatische Legitimitätsverfall des Regimes in Polen haben die Friedensbewegung zwar irritiert und werden auf längere Sicht den Zusammenhalt ihrer verschiedenen Strömungen stark erschweren; das in vielerlei Beziehung unerfreuliche westliche Echo auf diese Ereignisse hat jene Irritationen jedoch gedämpft.
— Die innergesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Friedensbewegung scheint bei allen Beteiligten oft nur ein diffuses Unbehagen aneinander zu erzeugen; Klärungsprozesse sind kaum auszumachen.
— Von links bis weit ins konservativ wählende Bürgertum hinein hat sich in der Bundesrepublik eine eigentümliche Unsicherheit über die eigene (individuelle wie kollektive) Zukunft ausgebreitet, für welche die „Atomangst" sich als demonstrative Rationalisierung geradezu aufdrängte.
Dieses zuletzt genannte Phänomen war es besonders, das die gesellschaftliche Resonanz der zur Demonstration am 10. Oktober 1981 in Bonn aufrufenden Gruppen verstärkte. Als ein wichtiger Resonanzboden wirkte in diesem Falle die Institution des Evangelischen Kirchentags Mitte Juni 1981 in Hamburg
Wenn auch die Angaben über die Zahl der Demonstrationsteilnehmer schwanken (zwischen 200 000 und 300 000), läßt sich kaum bezweifeln, daß es sich um eine der größten, eindrucksvollsten und bestorganisierten Demonstrationen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gehandelt hat. Eine Analyse der Aufrufe, Reden usw., welche diese Demonstrationen thematisch kennzeichneten, ergibt neben einer Reihe von Gemeinsamkeiten (worunter ein emotional geschürter Anti-Amerikanismus am auffälligsten ist) vor allem aber auch, daß die Motivationsgeflechte der Teilnehmer von Land zu Land unterschiedlich geknüpft sind. Weder kann man von der Teilnehmerzahl in jedem Fall auf die Stärke der nationalen Friedensbewegungen schließen, noch läßt sich trotz aller transnationalen Querverbindungen gegenwärtig schon der Umriß eines gemeinsamen westeuropäischen Pazifismus oder, aus anderer Sichtweite, die allgemeine Ausbreitung des „Geistes von München“ konstatieren.
Diesem zuletzt genannten Schlagwort, in dem auf die westliche Appeasement-Politik gegenüber Hitler kurz vor dessen Entfesselung des Zweiten Weltkriegs angespielt wird, konnte man im Herbst 1981 häufig in französischen Kommentaren zur Friedensbewegung in Westeuropa und insbesondere in der Bundesrepublik begegnen. In der Tat ist das französiche Echo auf letztere hochinteressant.
In Frankreich selbst, wo die Friedensbewegung in viel stärkerem Maße als anderswo im Westen kommunistisch geprägt ist, blieb dieser ein spektakulärer innenpolitischer Erfolg im Herbst 1981 versagt Das hat nicht zuletzt mit der politischen Konstellation nach dem Wahlsieg des Sozialisten Mitterrand zu tun, der in den Ost-West-Beziehungen anders als sein Vorgänger Giscard eine (vor allem, aber nicht nur rhetorisch) „harte Linie" bevorzugt.
In den französischen Medien aller politischen Couleurs ist diese Linie fast ausnahmslos unbestritten. Dennoch gab es im Herbst 1981 eine heftige öffentliche Debatte über die Friedensbewegung — aber nicht über die eigene, sondern über die des östlichen Nachbarn. Das Echo auf die Bonner Demonstration war dabei in der Regel von Mißbehagen, leichtem Erschrecken, zuweilen (allerdings selten, nicht so wie bei der amerikanischen Berichterstattung) auch von schlagartig aufgedeckter, tief-sitzender Beunruhigung gekennzeichnet. Nur die kommunistische „Humanit" freute sich über die „friedlichen Deutschen" (denen sie sonst dieses Adjektiv lieber vorenthält); für die meisten anderen Journalisten und Kommentatoren verbirgt sich hinter der westdeutschen Friedensbewegung ein neu erstandener Politirrationalismus, der in Verbindung mit ökonomischen Schwierigkeiten zu unvorhergesehenen Eruptionen und möglicherweise zur Zerstörung der Nachkriegsstrukturen in Europa führen könnte.
Die klügste Analyse, sie stammt vom früheren französischen Außenminister Francois-Poncet, die als Antwort auf manche übertriebenen und übertreibenden Befürchtungen in Frankreich erschienen ist, rückt zwar die Dimensionen wieder zurecht größeren Widerhall haben jedoch andere Stimmen gefunden, so daß in der französischen Öffentlichkeit, soweit sie sich für derlei Phänomene interessiert, ein in nationaler Optik gebrochenes Bild von den Zielen und der Zusammensetzung der Friedensbewegung jenseits des Rheins besteht. Solche Perzeptionsverschiebungen werfen ein bezeichnendes Licht auf den Stand der westeuropäischen Integration. Aber, und das ist in diesem Zusammenhang wichtiger, sie machen auch deutlich, daß die westeuropäischen Friedensbewegungen zunächst einmal nationale Phänomene sind, gespeist aus den jeweiligen historischen, sozialen, politischen und spirituellen Gegebenheiten, übergeordnete Bewußtseinsinhalte gibt es allenfalls in negativer Form; der Alptraum oder (aus anderer Sichtweise) die Illusion eines „europäischen Neutralismus" sind in der Tat nichts als das: Alptraum oder Illusion.
III. Geistige und politische Strömungen in der neuen Friedensbewegung in der Bundesrepublik Deutschland
Abbildung 3
Tabelle 2: Umfrageergebnisse zu Kernthemen der Friedensbewegung Frage: Mögen Sie eigentlich die Amerikaner, oder mögen Sie sie nicht besonders? (Antworten in %) Mag sie nicht besonders unentschieden keine Einstellung Frage: Wenn jemand sagt, ein Angriff aus dem Osten kann am besten durch Abschreckung verhindert werden, wenn der Westen selbst ausreichend gerüstet ist. Würden Sie dem zustimmen oder nicht zustimmen? (Antworten in %) Zustimmen Nicht zustimmen Unentschieden, kein Urteil 37 24 18 21 58 23 19 54 1늈ޔ=
Tabelle 2: Umfrageergebnisse zu Kernthemen der Friedensbewegung Frage: Mögen Sie eigentlich die Amerikaner, oder mögen Sie sie nicht besonders? (Antworten in %) Mag sie nicht besonders unentschieden keine Einstellung Frage: Wenn jemand sagt, ein Angriff aus dem Osten kann am besten durch Abschreckung verhindert werden, wenn der Westen selbst ausreichend gerüstet ist. Würden Sie dem zustimmen oder nicht zustimmen? (Antworten in %) Zustimmen Nicht zustimmen Unentschieden, kein Urteil 37 24 18 21 58 23 19 54 1늈ޔ=
1. Christlicher und humanistischer Pazifismus
Unterhalb der Oberfläche der politischen Kultur hat es seit der Jahrhundertwende, seit Bertha von Suttner und Ludwig Quidde, auch eine (linksbürgerliche) pazifistische Tradition in Deutschland gegeben. Ihre Verbindung mit einem rigorosen, sich auf das „Versagen" der Amtskirchen im Dritten Reich beziehenden Protestantismus hat im Nachkriegsdeutschland erkennbare Auswirkungen auf die politische Gestalt der Bundesrepublik und auf ihr moralisch-spirituelles Klima gehabt. Einer der geistigen Anführer dieses protestantischen Pazifismus war Martin Niemöller, von dem auf der Bonner Demonstration ein Text verlesen wurde, den er wegen seines hohen Alters nicht mehr selbst vortragen konnte Zwar gibt es auch einige katholische pazifistische Gruppierungen, aber das Bild des westdeutschen Pazifismus ist vom Protestantismus bestimmt, einer zuweilen etwas pharisäerhaften, zuweilen ganz unpolitischen Haltung, die sich, wie der Verlauf des Hamburger Kirchentages zeigte, gerade bei vielen Jugendlichen großer Anziehungskraft erfreut. Repräsentanten des politischen Systems wie etwa Minister Apel oder auch dem Bundeskanzler war es bei ihren Auftritten auf dem Kirchentag kaum möglich, sich und ihre Politik verständlich zu machen. 2. Okologismus Aus der allgemein gewachsenen Sensibilität für umweltzerstörerische Nebenfolgen des industriellen Wachstums ist in den siebziger Jahren, ähnlich wie in anderen westlichen Gesellschaften, eine Ökologie-Bewegung entstanden, die sich zunächst sehr schwer tat, regionale Unzufriedenheit über Einzelmaßnahmen wie z, B.den Bau einer Autobahn und ideologische Naturvorstellungen kleinerer Randgruppen zu verschmelzen. In größerem Umfange gelang das erst bei dem Thema , Bau von Kernkraftwerken'. Die intensive Gegnerschaft gegenüber der zivilen Verwendung von Kernenergie (die es übrigens in der „Kampfdem-Atomtod" -Bewegung der späten fünfziger Jahre überhaupt nicht gab) setzte sich logisch fort in der Unterstützung der Friedensbewegung, zu der sich die neu gegründete Ökologie-Partei, „Die Grünen", inzwischen tatkräftig bekennt. Über diesen institutionellen Kanal sind nicht nur viele Intellektuelle zur Friedensbewegung gelangt, sondern auch Teile der sich nach einem Adressaten in der Praxis umsehenden . kritischen Friedensforschung'in der Bundesrepublik, insbesondere die Anhänger einer Konzeption der „sozialen Verteidigung" und des (gewaltfreien) „zivilen Ungehorsams". Wieder einmal läßt sich hier erkennen, wie eine auf einer Welle breiten, vagen Unbehagens schwimmende Bewegung dadurch, daß sie diesem Unbehagen einige Themen als Kristallisationspunkte vorgibt, zu einer zielgerichteten politischen Wirkung gelangt.
3. Undogmatischer Sozialismus
Die heftigste „theoretische" Beschäftigung in der Friedensbewegung findet in den Reihen der undogmatischen Sozialisten statt. Mit dem selbstgewählten Adjektiv meinen die Vertreter dieser Richtung, daß ihre politischen Vorstellungen in mindestens ebenso großem Ab-stand zur Sowjetunion und ihren Verbündeten wie zum westlichen Kapitalismus angesiedelt sind. Sammelpunkte der undogmatischen Sozialisten sind die unter dem Einfluß des DDR-Emigranten Rudolf Bahro eingerichtete „Sozialistische Konferenz“ und das „Komitee für Grundrechte und Demokratie" Von hier aus wirkt eine nicht unbeträchtliche Anziehungskraft in die Hochschulen, in Teile der Gewerkschaften, aber auch in Randbereiche der Regierungsparteien, besonders in deren Jugendorganisationen. Als viel beachteter Anstoß für linke Strategiedebatten in diesem Rahmen hat das etwas verschrobene Konzept eines modernen Industriegesellschaften in Ost und West inhärenten „Exterminismus" des britischen Historikers E. P. Thompson gewirkt 4. Kommunismus An Wahltagen hat sich bisher in der Bundesrepublik immer wieder herausgestellt, daß der politische Einfluß der hiesigen kommunistischen Partei (DKP) minimal ist. Demgegenüber unterstreichen die jährlichen Berichte des Verfassungsschutzes und Stellungnahmen aus ähnlichen Kreisen häufig die Fähigkeit der Kommunisten, in bestimmten Organisationen wie z. B. in Teilen der Gewerkschaften einen überproportionalen Einfluß gewinnen zu können. Auch in der Friedensbewegung sind Kommunisten vertreten. Das „Komitee für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit" wird immer wieder als eine Organisation genannt, in der Kommunisten, wiewohl nicht im Vordergrund stehend, die wichtigsten Entscheidungen kontrollieren. Dieses Komitee ist federführend bei der Unterschriftensammlung für den „Krefelder Appell" tätig gewesen, den bis heute mehr als zwei Millionen Bürger der Bundesrepublik unterschrieben haben sollen Wenn sich auch politischer Einfluß von dieser Richtung her auf die Friedensbewegung nicht leugnen läßt, so ist er doch längst nicht so stark, wie in der Auseinandersetzung um die Friedensbewegung von ihren Gegnern behauptet wird. Der sowjetische Einmarsch in Afghanistan sowie der katastrophale Niedergang der Parteiherrschaft in Polen haben diesen Einfluß weiter eingedämmt.
Zusammenfassend muß man feststellen, daß sich in der Friedensbewegung sehr heterogene Strömungen getroffen haben, was auch innnere Spannungen zur Folge gehabt hat. Dennoch haben sich bis jetzt die gemeinsamen Ziele als stärker erwiesen. Es ist allerdings fraglich, ob dieser Zusammenhalt über einen längeren Zeitraum anhalten kann.
IV. Die politische Wirkungsfähigkeit der neuen Friedensbewegung
Auf die Frage nach der politischen Wirkungsfähigkeit der neuen Friedensbewegung eine möglichst präzise Antwort zu geben, fällt deshalb besonders schwer, weil von allen möglichen „interessierten Seiten" solche Antworten schon vorliegen und diese wegen der dort häufig erkennbaren Verwechslung von Wunschbild und Wirklichkeit wenig ermutigend sind. Gewiß muß man verstehen, daß Äußerungen zur Friedensbewegung aus Politikermund oftmals von der jeweiligen Taktik bestimmt sind. Indes wird dabei häufig übersehen, daß bestimmte Etikettierungen sich auch verselbständigen können. So ist, machiavellistisch gesehen, die Bezeichnung einer Protestbewegung als „kommunistisch unterwandert" möglicherweise ganz nützlich, wenn man dieser Bewegung Attraktivität nehmen will. Hat diese Bewegung jedoch bereits in sich selbst und in der Öffentlichkeit ein Image ausgeprägt, das diesen Vorwurf desavouiert, dann wirkt er ganz anders — nämlich als Integrationsinstrument für die kommunistischen Mitglieder der Bewegung, die auf diese Weise besonders demonstrativ in ihr verankert werden. Das Eti-kett „kommunistisch unterwandert" hat damit seine politische Kraft weitgehend eingebüßt. Pointiert gesagt: Die Friedensbewegung wird in ihrer Wirkungsfähigkeit zugleich unterschätzt und überschätzt, und zwar von den verschiedensten Seiten. 1. Neutralismus Sowohl die Hoffnungen in Moskau als auch die Befürchtungen in Paris, London und Washington bezüglich eines durch die Friedensbewegung in der Bundesrepublik Deutschland neu erweckten und sich weiterentwickelnden Neutralismuskonzepts scheinen die Wirkungsfähigkeit der Friedensbewegung erheblich zu überschätzen. Die Friedensbewegung selbst ist nicht in der Lage, ein über ihre Ablehnung von allgemeiner und spezieller Aufrüstung hinausgehendes politisches Konzept zu entwerfen; dies wird sich in Zukunft auch nicht ändern. Die Resonanz auf das Auftreten der Friedensbewegung in der Öffentlichkeit aber, soweit sie Umfrageergebnisse eruiert haben blieb bislang insgesamt gering. Dies soll anhand zweier Antwortreihen auf entsprechende Fragen, die das renommierte Demoskopische Institut Allensbach vorgelegt hat, erhärtet werden.
Diese und weitere Daten interpretiert Elisabeth Noelle-Neumann als „Standfestigkeit" der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Anti-Amerikanismus und Neutralismus Diese Interpretation, wenn sie auch an manchen Stellen vertieft werden müßte, dürfte richtig sein 2. Gesamtdeutscher Nationalismus Sehr viel problematischer für die nationale Entwicklung der Bundesrepublik und die internationale Entwicklung in Europa könnte die Ausbildung eines linke wie rechte politische Gruppierungen integrierenden Neo-Nationalismus werden, den man gegenwärtig in Spuren sowohl bei den ökologisten als auch bei den unorthodoxen Sozialisten in der Friedensbewegung ausmachen kann. Solchen z. T. irrwitzigen Polit-Träumereien von einem dem Coca-Cola-wie dem Wodka-Imperialismus gleichermaßen widerstehenden (mal links, mal rechts eingefärbten) Deutschtum wird durch die Hilflosigkeit, mit der die staatstragenden Parteien und Verbände auf die Friedensbewegung bisher überwiegend reagiert haben, Vorschub geleistet. Gewiß erscheint es gegenwärtig mehr als unwahrscheinlich, daß es über die Verschmelzung der Themenbereiche Deutschlandpolitik und Verteidigungspolitik zu einer die ideologischen Marginalitäten übersteigenden Brisanz eines gesamtdeutschen Nationalismus kommt. Auf längere Sicht jedoch und unter der Perspektive, daß sich die Ost-West-Politik im Rüstungswettlauf und politischen Immobilismus erschöpft könnten hier Folgewirkungen der gegenwärtigen Friedensbewegung vermutet werden.
V. Zusammenfassung
Antimilitärische Bewegungen hat es in der Geschichte der Bundesrepublik immer wieder gegeben. Zumeist sind sie nach einiger Zeit in sich zusammengefallen. Die neue Friedensbewegung, deren Nahziel die Anullierung der im Dezember 1979 von der NATO beschlossenen „eurostrategischen" Nachrüstung ist, unterscheidet sich von früheren Kampagnen vor allem in zwei Punkten: sie ist Teil einer internationalen westeuropäischen Bewegung und sie ist in sich breiter gegliedert, dadurch aber auch heterogener. Auch richtet sie sich kaum direkt gegen die Streitkräfte, vielmehr vor allem gegen deren politischen und militärischen Auftrag im Bündnis.
Eines der wichtigsten dynamisierenden Elemente der Friedensbewegung ist ein in der Bundesrepublik Deutschland und ihrer politischen Kultur sich seit Mitte der siebziger Jahre ausbreitendes, vages Gefühl der Unsicherheit und Unzufriedenheit, das sich an den verschiedensten Erscheinungen der modernen Zivilisation festmacht Ein handfester Einfluß der Friedensbewegung auf die außen-und sicherheitspolitischen Entscheidungen des politischen Systems ist nicht zu erkennen. Keine der drei im Bundestag vertretenen Parteien, gerade auch die Sozialdemokratie nicht, denkt ernsthaft an eine Lockerung der Westintegration der Bundesrepublik.
Günstigenfalls wird sich aus der jetzigen Konstellation eine sachkundige Debatte über die Möglichkeiten zur Verbesserung der Verteidigung Westeuropas und der Bundesrepublik entwickeln. Das ist aber wenig wahrscheinlich.
Ungünstigenfalls wird der jetzige Zustand bis weit in die achtzigerJahre perpetuiert: der Zustand einer zwar nicht unüberwindlichen, aber breiten Verständnislücke zwischen dem politischen System der Bundesrepublik und einer beachtlichen außerparlamentarischen Minderheit, zwischen der Bundesregierung und der Regierung der USA und schließlich zwischen der Bundesregierung und der Regierung Frankreichs.
Für die Position des Westens innerhalb des Ost-West-Konflikts braucht sich die Friedensbewegung keineswegs als Schwachpunkt zu erweisen. Die weitaus überwiegende Zahl der Anhänger der Friedensbewegung ist sich in ihrer strikten Ablehnung des „real existierenden Sozialismus" einig. Für die politische Auseinandersetzung mit der Friedensbewegung ist es deshalb ratsam, Pauschalvorwürfe und unbeweisbare Verdächtigungen zu unterlassen. Schließlich gibt die Friedensbewegung, wie ihre insgesamt ziemlich dilettantischen Strategiebeiträge anzeigen, wahrlich genügend Angriffspunkte für präzise und wirksame Kritik ab.
Wilfried Frhr. von Bredow, Dr. phil., geb. 1944, Professor für Politikwissenschaft an der Philipps-Universität seit 1972; 1977— 1978 Research Fellow am St. Antonys College, Oxford; Oktober—Dezember 1981 Gastprofessor am Institut d’Etudes Politiques der Universit des Sciences Sociales Toulouse. Veröffentlichungen u. a.: Der Primat militärischen Denkens, Köln 1969; Die unbewältigte Bundeswehr, Frankfurt 1972; Vom Antagonismus zur Konvergenz? Studien zum Ost-West-Problem, Frankfurt 1973; Die Zukunft der Entspannung, Köln 1979; Einführung in die internationalen Wirtschaftsbeziehungen, Stuttgart 1981 (zus. mit R. H. Brocke); Zwiespältige Zufluchten. Zur Renaissance des Heimatgefühls, Bonn 1981 (zus. mit H. -F. Foltin).
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