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Neonazistische Militanz und Rechtsextremismus unter Jugendlichen | APuZ 23/1982 | bpb.de

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APuZ 23/1982 Gewalt von rechts vor und nach Hitler Neonazistische Militanz und Rechtsextremismus unter Jugendlichen

Neonazistische Militanz und Rechtsextremismus unter Jugendlichen

Eike Hennig

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Seit Mitte der siebziger Jahre vollzieht sich im organisierten Rechtsextremismus ein Generationenwechsel: Die Anzahl der Jugendlichen und Heranwachsenden nimmt relativ zu und prägt insbesondere die militante Erscheinungsform, die für die letzten Jahre — bis hin zum Rechtsterrorismus — typisch geworden ist. Es muß entschieden darauf hingewiesen werden, daß es nicht mehr um die „Ewig-Gestrigen“ geht, wenn die Trägergruppen rechtsextremistischer und insbesondere neonazistischer Gruppen und Politik bestimmt werden sol-len. An diesem Punkt setzt ein vom Bundesminister des Innern kostendeckend unterstütztes Forschungsprojekt ein, dessen Feldforschung vom Dezember 1979 bis März 1981 durchgeführt worden ist. Mit Mitteln qualitativer Sozialforschung (insbesondere offener Interviews) ist versucht worden, die Frage: „Warum schließen sich in der Bundesrepublik aufgewachsene Jugendliche rechtsextremistischen Gruppen an?" zu beantworten. Es galt, die Deutungsmuster und Karrieren jugendlicher und heranwachsender Mitglieder rechtsextremistischer Gruppen zu erforschen und darzustellen. Der Bericht über dieses Forschungsprojekt stellt die wichtigsten Ergebnisse vor. Er interpretiert den von Jugendlichen getragenen organisierten und militanten Rechtsextremismus als Teilder aktuellen Protestbewegungen und als ein Ausdruck der Entfremdung vom politisch-sozialen System der Bundesrepublik Deutschland. In dieser Beziehung ist der Bericht bemüht, einige entscheidende Defizite der politischen Kultur und der öffentlichen Darstellung von Politik in der Bundesrepublik zu benennen, an denen sich der Protest der Jugendlichen in rechtsextremistischen Gruppen entzündet. Der vollständige Forschungsbericht erscheint 1982 im Westdeutschen Verlag (Opladen) unter dem Titel: Rechtsextremismus und Jugend in der Bundesrepublik Deutschland.

Die hier vorzustellende Untersuchung ist, was die Feldforschungsphase betrifft, vom Dezember 1979 bis März 1981 durchgeführt und vom Bundesminister des Innern kostendeckend unterstützt worden

Es handelt sich um die Bearbeitung von Neuland, denn die Extremismusfprschung geht stillschweigend von der unzutreffenden Voraussetzung aus, derzufolge unbelehrbare Ewig-Gestrige das Hauptpotential des infolgedessen immer kleiner werdenden rechtsextremen politischen Lagers stellen. Alle Energien der Extremismusforschung konzentrieren sich dementsprechend auf die Linke, womit diese Forschung nochmals ihre Anpassung an politische Schwerpunktsetzungen und an die Parameter der herrschenden politischen Kultur demonstriert.

Zugespitzt kann gesagt werden: die empirische Erforschung des Rechtsextremismus bricht 1968 mit dem Gipfelpunkt des NPD-Er-folges ab. Schon die aggressiven Kundgebungen und Verlautbarungen der Aktion Wider-stand (1970/71), an der, wie schon in der letzten Phase der NPD-Aktivitäten (1967/68), verhältnismäßig viele jüngere Heranwachsende beteiligt sind, sind unerforscht.

Erst die SINUS-Studie „Rechtsextreme politische Einstellungen in der Bundesrepublik Deutschland" (Abschlußbericht, Oktober 1980) und die Untersuchung rechtsextremistischer Meinungspotentiale unter Bundeswehrangehörigen von Gessenharter stellen — ne-ben wissenschaftsjournalistischen Arbeiten, insbesondere von Alwin Meyer und Karl-Klaus Rabe — ernst zu nehmende Neuansätze dar.

Den Ausgangspunkt der Untersuchung bestimmen daher Beobachtungen über Veränderungen der Altersstruktur und der Propagandaformen des Rechtsextremismus sowie über die damit verbundene und einhergehende zunehmende Gewaltbereitschaft gerade unter den jüngeren Mitgliedern rechtsextremistischer Organisationen. Im Anstieg mehrerer seit 1975 neu gegründeter neonazistischer Organisationen verdichtet sich diese Umstrukturierung im „rechten Lager", für die beispielhaft auf die Geschichte der Aktionsfront Nationaler Sozialisten (ANS) verwiesen werden kann

Seit Mitte der siebziger Jahre kann im „rechten Lager" insgesamt eine Altersumverteilung, verbunden mit einer Verkleinerung und Radikalisierung (einer Radikalisierung weniger der alten „Resttruppe" als vielmehr der jugendlichen Neuzugänge) festgestellt werden:

Generell nimmt die Gesamtzahl der organisierten Mitglieder ab, während die Zahl der Jugendlichen und jungen Heranwachsenden (ab 15/16 Jahren bis zum Alter von etwa 25 Jahren), aber auch die der Jugendorganisationen gerade im neonazistischen Bereich zunimmt. Diese Umgewichtung in Richtung auf Jugend und Militanz bestimmt insbesondere das Ver-hältnis der NPD zu ihrer Jugendorganisation, den Jungen Nationaldemokraten (JN), den Zuwachs rechtsextremistischer Jugendgruppen (bis 1979 auch der JN) und die Neugründung jugendgeprägter neonazistischer Organisationen, wofür die ANS als Beispiel steht.

Zwar nimmt im Untersuchungszeitraum (November 1979 bis März 1981) die Zahl der JN ab die nach dieser Untersuchung als eine Durchlauf-und Erhitzerorganisation in der Karriere vieler neonazistisch organisierten Jugendlichen bezeichnet werden kann, zwar wird auch die neben der JN zahlenmäßig größ-te Einzelorganisation, nämlich die 1979 rund 400 Mitglieder zählende Wehrsportgruppe Hoffmann (WSG), am 30. Januar 1980 auf Intervention des Bundesinnenministers verboten, dennoch wächst die Gewaltbereitschaft eher weiter an. Ab der zweiten Jahreshälfte 1980 zeigen sich im neonazistischen Bereich Tendenzen einer vereinzelten, teilweise jedoch nicht unorganisierten Hinwendung zum Rechtsterrorismus

Dramatisch muß das Anwachsen rechtsextremistischer Ausschreitungen (ganz besonders solcher gewaltsamer Art) genannt werden.

Parallel zu der relativen Verjüngung im „rechten Lager“ kann am Beispiel wiederum der ANS, aber auch des Verhältnisses von NPD und JN sowie des anwachsenden aggressiven Potentials in der Wiking Jugend eine Zunahme organisierter neonazistischer Militanz und die offene Verwendung von Gruppenstrategien, Propagandaformen und -formeln des historischen Nationalsozialismus beobachtet werden

Die „Militanz" der jugendlichen Teilgruppe im „rechten Lager" äußert sich — als uniformierte Abgrenzung von der Gesellschaft und der Mehrheit der Jugendlichen in der Bundesrepublik, also von „Wohlstand“, „Konsumorientierung" und „Disko-Kultur“;

— in der Entwicklung von politisch-sozialen Deutungsmustern, die sich positiv an nationalsozialistischen Vorbildern, insbesondere an solchen der „NS-Linken" (G. Strasser, E. Röhm), orientieren;

— im provozierenden öffentlichen Auftreten, mit dem die entwickelten weltanschaulichen Bilder zur Schau gestellt werden;

— als tendenzielle Hinneigung zur „Propaganda der Tat" und zur Akzeptanz gewaltsamer Auseinandersetzungen mit politischen Feinden (besonders aus dem „linken Lager"); — als Einübung gewaltgeprägter Gruppen-strategien, die auf derartige Konflikte vorbe- reiten und gewaltsame Zusammenstöße sowie Konflikte mit staatlichen Organen auch als gruppeninternes Integrationsmittel bzw. zur Radikalisierung und praktischen Schulung der Mitglieder einsetzen;

— als Bereitschaft, staatliche und rechtliche Instanzen zu mißachten, wenn sie die Entfaltung öffentlicher Propaganda und das Vertreten programmatischer Forderungen (etwa nach Legalisierung der NSDAP) behindern; — als bewußte Bereitschaft, strafrechtliche Konsequenzen in Kauf zu nehmen bzw. sogar einzukalkulieren, wenn es gilt, Entschiedenheit und Direktheit der Anschauungen und Verhaltensweisen öffentlich zu vertreten oder gruppenintern Führungspositionen zu besetzen;

— im Verzicht auf eine „bürgerliche Existenz“ (Beruf, Familie), deren Saturiertheit dem Idealismus des politischen Kämpfers sowie dem Opfer und Wagnis einer neuen politischen Elite gegenübergestellt wird, deren durch Konsum und politisches Desinteresse verursachte Dumpfheit als Antipode sowohl der Radikalität krisengeladener Probleme (wie insbesondere der Ausländerfrage, Arbeitslosigkeit und Ökologie) als auch der eigenen Entschiedenheit dargestellt wird;

— letztlich als die Extremposition einer Hin-wendung zum Rechtsterrorismus, die aus einer Haltung der Menschenverachtung und des nationalen Chauvinismus heraus bereit ist, die legalistische NSDAP-Politik aufzugeben, um extremste Mittel einzusetzen (wobei man bereit ist, in instrumenteller Hinsicht vom internationalen und linken Terrorismus zu lernen).

Derartige Militanz bestimmt mit ihren Abstufungen insbesondere Verhalten, Meinungen, Auftreten, Kalkül und Güterabwägungen der jugendlichen Mitglieder rechtsextemistischer und neonazistischer Organisationen (wie auch der JN — im Gegensatz zur Stammpartei und „parents culture" der NPD oder zur Deutschen Volksunion (DVU] um Dr. Frey).

Unter den neonazistischen Organisationen macht der Anteil der jugendlichen Mitglieder schätzungsweise 70 % aus, wobei es sich (und dies ist ein auffälliges Unterscheidungsmerkmal gegenüber linken Gruppen) nahezu ausschließlich um junge Männer bzw. männliche Jugendliche handelt.

Die Anzahl der organisierten Neonazis nimmt von 1975 bis 1980 von 400 auf 1 200 um 200 % zu; berücksichtigt man zusätzlich die Zahl der 600 manifesten, dem Verfassungsschutz bekannten, aber nicht organisatorisch eingebundenen Neonazis, so nimmt diese politische Gruppierung von 1975 bis 1980 um 350% zu. Ihr harter Kern umfaßt 1979/80 etwa 300 Personen. In demselben Zeitraum (1975— 1980) erhöht sich die Anzahl der zahlenmäßig zumeist kleinen Organisationen (mit bis zu 50 Mitgliedern) um knapp 70 % von 13 auf 22.

Obwohl diese Jugendlichen in der Gesamtheit von rd. 9 Millionen Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 25 (1979) numerisch untergehen, obwohl sie von Meinungsumfragen nicht erfaßt werden verdient dennoch diese seit 1975 langsam aber stetig anwachsende Gruppe größte Berücksichtigung.

Dies gilt gerade deswegen, weil diese Jugendlichen eine Art politischer Entfremdung demonstrieren, die auf Defizite der politischen Kultur insbesondere für Jugendliche der Unterschichten hinweist.

Aus dieser Perspektive beschreibt Michael Kühnen (früher ANS) bei einem Interview in der JVA Celle die Zielgruppe seiner politisch-organisatorischen Vorstellungswelt:

„Wir sprechen innerhalb dieser Jugend verständlicherweise die an, die besonders wenig zu verlieren haben und die ein besonders hohes Maß an Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Lebensumständen haben. Ob es sich nun um soziale ... Benachteiligung oder soziale Probleme bei ihnen handelt, oder ob es sich um persönliche Probleme handelt, etwa die Frage der Geborgenheit und ...der Wunsch eben, in einer Gemeinschaft zu leben, ... das hat natürlich auch Konsequenzen ... Es kommt als Zweites noch hinzu, daß wir hauptsächlich ... die Arbeiterjugend ansprechen, hauptsächlich also... junge Menschen ansprechen, die nicht so in der Lage sind, sich zu artikulieren und sich so klar zu machen, was sie eigentlich wollen, ... als wie zum Beispiel die linken Gruppen, die ... mehr die Intellektuellen ansprechen. Bei uns beruht eben sehr viel auf...der gefühlsmäßigen Durchdringung, auf dem gefühlsmäßigen Lernen als auf dem rationalen Lernen .."

Die Untersuchung

(1975, 1980) Ausschreitungen insgesamt darunter solche mit neonazistischem Hintergrund neonazistische Ausschreitungen in % der Ausschreitungen insgesamt Gewaltanwendungen darunter Brandund Sprengstoffanschläge 1975 206 92 45% 21 2 1980 1 643 1 267 77, 1 % 113 21 + 697, 6 % + 1 277, 2 % + + 438, 1 % 95 % Rechtsextremistische Ausschreitungen 8)

Im Zentrum der Feldforschung (und hierüber soll schwerpunktmäßig berichtet werden) steht die doppelte Fragestellung:

— Warum schließen sich Jugendliche in der Bundesrepublik rechtsextremistischen Organisationen an?

— Wie begründen sie diese Entscheidung bzw. welche politisch-sozialen Deutungsmuster entwickeln sie, denen sich diese Entscheidung einfügt bzw. aus denen dieser Schritt erwächst? Aus dieser Fragestellung ergibt sich, daß Interviews mit rechtsextremistischen Jugendlichen den Schwerpunkt der Forschungsarbeit ausmachen. Die leitenden Charakteristika Rechtsextremismus und Jugend werden bei der Auswahl der Interviewpartner und der Bezugsgruppen durch Berücksichtigung des direkten Augenscheins oder der Bekanntheit eingelöst, so daß nur offensichtlich als solche zu identifizierende bzw. publizistisch bereits erwähnte jugendliche Rechtsextemisten die Gesprächspartner stellen.

Zusätzlich ist die Auswahl bemüht, dem bekannten Spektrum jugendgeprägter rechtsextremistischer und neonazistischer Organisationen (so wie es z. B. über Verfassungsschutzberichte vorgestellt wird) näherungsweise Rechnung zu tragen. Gegenüber Alter und manifester Mitgliedschaft spielt das Kriterium der Organisationszugehörigkeit bei der Auswahl eine untergeordnete Rolle; wegen des Verbots der WSG sind insbesondere keine Angehörigen dieser Gruppe interviewt worden.

Insgesamt handelt es sich um 22 Interviews mit 32 Gesprächsteilnehmern, da es sich aus der Situation ergeben hat, daß mehrere Interviews mit Gruppen von Jugendlichen durchgeführt worden sind. In einzelnen Fällen sind Nachfolgeinterviews (in einem Fall bis zu vier) durchgeführt worden.

Die Interviewpartner verteilen sich etwa im Verhältnis von 2: 1: 2 auf Groß-, Mittel-und Kleinstädte sowie auf stadtnahe ländliche Räume, was annähernd der von SINUS festgestellten Verteilung des rechtsextremen Einstellungspotentials entspricht

Der bekannten Tatsache, daß Handwerker und (Fach) Arbeiter sowie (formal verstanden) untere bis mittlere Schulbildung die Zusammensetzung rechter Gruppen prägen, entsprechen auch die Interviewpartner dieser Studie Bei Bewertung derartiger Angaben muß jedoch stark relativierend davon ausgegangen werden, daß aufgrund des Alters die Statuszuweisung keinesfalls abgeschlossen ist. Auch sug-gerieren solche Angaben eine Statik, die in den tatsächlichen Biographien der Jugendlichen mehrheitlich nicht zu finden ist. Die Angaben verdienen es daher nur, als situative und momentane Fixierung eines noch nicht abgeschlossenen Prozesses und einer noch andauernden dynamischen und mobilen Persönlichkeitsentwicklung gelesen zu werden.

Sechs Interviews sind mit Nationaldemokraten, 14 mit Neonazis, 2 mit National-Revolutionären durchgeführt worden. Die Gesprächsteilnehmer gehören zu 50 % national-demokratischen, zu 43, 8% neonazistischen und zu 6, 3 % nationalrevolutionären Gruppen an.

Durchschnittlich sind die Interviewpartner knapp 21 Jahre alt. 51, 6 % sind von 16 bis 20 Jahre alt; 80, 6 % der Interviewpartner sind bis zu 24 Jahre alt.

Damit unterscheidet sich die Interviewpopulation in Alter und Gruppenzugehörigkeit erheblich von allen bisherigen Interviewpartnern bekannter Projekte (SINUS, Rabe); denn es ist eine wesentlich jüngere und militantere Gesprächsgruppe ausgewählt worden, die näherungsweise die vom Verfassungsschutz mitgeteilte Zusammensetzung des rechten Lagers wiedergibt.

Die durchgeführten Interviews haben eine Länge von minimal 15 bis maximal 242 Minuten. Besonders die Interviews mit Nationaldemokraten sind sehr lang; zwei sind länger als drei Stunden, drei der Interviews mit Neonazis sind zwischen zwei und drei Stunden lang. Die Gesamtzeit aller Interviews umfaßt rund 45 Stunden.

Wesentliche Ergebnisse der Untersuchung neonazistischer Militanz und rechtsextremistischen Verhaltens unter Jugendlichen

Abbildung 5

Die politisch-sozialen Deutungsmuster jugendlicher Rechtsextremisten und Neonazis

Im Gegensatz zur Untersuchung des SINUS-Instituts wird die These vertreten, daß ein „geschlossenes rechtsextremes Weltbild" nicht feststellbar ist.

Wegen einer breiten und fließenden Grau-und Übergangszone zu konservativen Werten (Tradition, Familie, Volk) aber auch zu dogmatisch linksextremistischen Erklärungsschemata (wie etwa dem Avantgardemodell und den realitätsverzerrenden Agententheorien) ist es schwer, die Spezifika rechtsextremistischer Orientierung im Einstellungsbereich auszumachen. Insofern Deutungsmuster aber auf die Handlungsrelevanz, auf die praktische Umsetzung von Anschauungen verweisen, eröffnet ihre Analyse den Weg zur Bezeichnung der charakteristischen Besonderheiten. Es sind dies die unterschiedliche biographische Verankerung von politisch-sozialen Deutungen und die unterschiedliche praktische Militanz und Gewaltakzeptanz, also die Differenzierung derjenigen Entschiedenheit, mit der aus dem Weltbild Konsequenzen gezogen und verwirklicht werden.

Als Kriterium der Identifizierung derartiger Unterschiede bietet sich der Grad des Bruchs mit den Verkehrsformen parlamentarisch-demokratischer Politik und mit der Lebensperspektive einer bürgerlichen Existenz bzw.der Orientierung an den materiellen Gratifikationen des relativen Lebensstandards in der Bundesrepublik an. (Ersteres liefert Auskunft über den Fortschritt der öffentlich-politischen Radikalisierung, letzteres dient dem Nachweis der privaten Einbindung und Selbstaufgabe in die politisch extreme Existenzform.)

Bezüglich der Verankerungsdifferenz des Weltbildes sollen die folgenden Äußerungen die vorhandenen Gegensätze veranschaulichen.

Die erstgenannte Position eines 20jährigen Neonazis belegt die vollständige Entprivati-sierung, den Verzicht auf Güterabwägung zwischen bürgerlicher und politischer Existenz. Stigmatisierungen, Strafen und „Berufsverbot" werden als Wahrheitsbeweise uminterpretiert (denn: wer in dieser falschen Bundesrepublik keine Feinde hat, der muß einfach verkehrt leben und denken):

„Ich bin mit der Zeit, im Laufe der Zeit bin ich zum radikalen Fanatiker geworden. Also man müßte mich schon tot schlagen, wenn man meine Meinung weg haben will. Ich bin hundertprozentig davon überzeugt, es wird zwar ein dorniger Weg sein, aber eines Tages sind wir wieder da, wo wir schon einmal waren." Ähnlich äußert sich ein anderer 2 Ijähiger, vormaliges Mitglied einer neonazistischen Gruppe, jetzt aktiv tätig in einer nicht-aktionistisehen, sondern langfristige Erziehungskonzepte vertretenden national-revolutionären Organisation:

„... erst kommt Deutschland, dann ich. Ich kämpfe nur für meine Kinder, für mich kann ich nichts mehr erreichen. Wert habe ich nur als Kämpfer.“ > Demgegenüber gibt ein 19jähriger Ex-Aktivist (vormalig Programmatiker und Parteigründer, nicht aber Gewaltaktivist) zu erkennen, wie er — aus Angst vor weiterer Strafverfolgung und wegen seiner Anpassung an Konsumstandards — wieder ins ideologische Glied zurückgetreten ist. Er reflektiert die politischen Machtverhältnisse („Unser Programm z. B. ist praktisch momentan das Quantum ..") und kann gegenüber der vagen Hoffnung auf einen allgemeinen politischen Trend (Krise) nicht auf die aktuelle Realisierung seiner sehr alltäglichen Konsumbedürfnisse verzichten: „Erstmal Auto, eine schöne Anlage, vier mal 45 Watt... und dann Nummer Zwei halt 'n billiges Zimmer... Grad daß man was für sich und sein Mädchen... hat. Das ist halt was Vernünftiges.“ Diese Abwägung führt zum (einstweiligen?) Verzicht auf ein aktives Auftreten und gleichzeitig zur forcierten Gesinnungspflege in informellen Zirkeln. Die Argumentation deutet aber an, daß sich diese Rücknahme wieder ändern kann, wenn der Preis für eine rechtsextremistisch-politische Existenz als weniger hoch empfunden wird:

„Ja, ich meine, 'n Karrieremensch insofern bin ich nicht, als daß ich jetzt unbedingt aus bin auf Bundestag oder irgendetwas oder Reichstag. Das ist net der Fall... Ich bin in der Beziehung zu sehr Idealist. Und im nationalen Lager jetzt zu diesem Zeitpunkt zu sagen, daß man auf politische Karriere aus wär’, das wär'völlig unangebracht, weil nämlich momentan also 'ne politische Karriere nicht absehbar ist.,. Selbst wenn ich die Aktivität jetzt völlig einschränken würde, aufgrund weil ich doch zu sehr unter Druck gesetzt würde durch Androhung von Gefängnisstrafen oder irgendwas in der Richtung, was ja mit Sicherheit demnächst zu erwarten ist, dann kann das zwar den ... Erfolg für die Regierung oder für dieses System haben, daß ich mich von der Aktivität her ’n bißchen einschränke, aber von der Überzeugung her nicht, niemals."

Gegenüber dieser Güterabwägung und der Berücksichtigung des realpolitischen Machtkalküls nur vor dem Hintergrund gegenwärtiger Machtverteilung setzen insbesondere neonazistische Jugendliche auf die Vertiefung der Krise, was sie als ihre Chance auffassen. Sehr deutlich bringt dies ein 26jähriger maßgeblicher neonazistischer , opinion leader’ in einem Brief vom 2. Oktober 1981 zum Ausdruck:

„Mit zunehmender Krise wird der von uns (i. s. die „jungen Kameraden" in „nationalsozialistischen Gruppen" — E. H.) repräsentierte Menschentyp eher kennzeichnend sein als der angepaßte, nationaldemokratische Jugendliche. Da die Zeiten nach bürgerlichen Maßstäben allmählich und stetig . unnormaler’ werden, ist mit einer . Verwässerung’ von Inhalt und/oder Haltung in meinem Einflußbereich nicht zu rechnen."

Militanz erwächst also erst über die Handlungsrelevanz aus den Deutungsmustern; sie liegt nicht in den Vorstellungen selbst. Dies bedeutet auch, daß sich die Gruppen primär durch ihr äußeres Auftreten, wesentlich weniger aber durch die vertretene politische Anschauung voneinander unterscheiden.

Diese Vorstellungen selbst sind als ausformulierte Zielwerte untauglich. Es handelt sich um Alltagskonzepte, nicht aber um analytische Sätze, die unter Berücksichtigung methodischer Vorgehensweisen falsifizierbar oder verifizierbar wären bzw. die im Sinn einer politischen Strategie operationalisiert werden könnten.

Michael Kühnen führt aus, daß der Prozeß der intellektuell-programmatischen Verarbeitung des faktischen Prozesses und der Taten erst beginnt, daß es also einen „time lag" zwischen fortgeschrittener Politik und hinterherhinkender Selbstverständigung gibt.

„Es gab die Protestbewegung, und das ist im Grund genommen ja etwas, womit die Jugend-revoltebegonnen hat. Und da sind wir im Grunde ein Teil von ... Es mußte also erstmal diese Linksprotestbewegung kommen, Erfolg haben und dann doch letzten Endes scheitern, um eben ...den Weg freizumachen für eine entsprechende Bewegung rechts ... Das ist nun geschehen, es ist eben geschehen bei den Menschen, die ... eben gefühlsmäßig stark ... gegen dieses System eingestellt waren, und es geschieht nun allmählich auch, möchte ich sagen, geistig. Es liegt in der zwangsläufigen Entwicklung,... daß, nachdem die emotionelle Entscheidung gefallen ist, nachdem man sich einmal zum Nationalsozialismus bekannt hat, daß man sich dann auch allmählich Gedanken darüber macht, welche Konsequenzen das hat, und dann eben auch das versucht, das geistig zu durchdringen ...

Es sei dahingestellt, ob ein „geschlossenes rechtsextremes Weltbild" als einheitliche Pro-grammatik ausformulierbar ist; die Interviews zeigen Deutungsmuster, die nicht-konsistent sind, Widersprüche aber für die Individuen beherrschbar machen, die also Handlungsfähigkeit herstellen; an zentraler Stelle stehen einige erfahungsgestützte und emotional aufgewertete Grundansichten, denen in praktischen Alltagsinterpretationen selektiv und im Sinne der Herstellung kognitiver Konsonanz auch empirische Daten und Einzelwahrnehmungen zugeordnet werden. Vom Erscheinungsbild ergibt dies für das für Diskussionen über die „Fronten" so schwierige Zusammentreffen von dogmatischen Setzungen, Glaubenssätzen und analytisch-empirischen Einzelfeststellungen.

Grundmuster des rechtsextremen Politikverständnisses

Den Übergang von Adoleszenzkrise (d. h. einem in Elternhaus, Schule, am Arbeitsplatz, bezüglich der Entwicklung privater Lebens-entwürfe und andersgeschlechtlicher Partner-bindungen stark problembehafteten Reifungsprozeß zum rechtsextrempolitischen Protestverhalten bezeichnen Herausbildung und Formulierung einer sowohl erfahrungsgesättigten als auch abstrakt postulierten tiefgreifenden Schere zwischen aktuellem privatem wie öffentlichem Problemdruck und dem vorherrschenden familialen wie politischen Lö-sungsverhalten. Den rapiden und direkten Problemen (Arbeitslosigkeit, Orientierungs-/Sinngebungsfrage, Ökologie-und Ausländer-problem) stehen als langatmig, unverbindlich und indirekt begriffene Angebote gegenüber, die für den Jugendlichen keine Hilfe darstellen, die er nicht als problemadäquate Lösung auffassen will, deren Entscheidungsverzicht gleichwohl aber als das politisch-soziale Realitätsprinzip verstanden und als solches abgelehnt wird.

Dieses Grundmuster der Schere zwischen Problem und Lösung und der daraus erwachsenden Kritik der Institutionen trägt alle Züge einer volkstümlich-weitverbreiteten Dichotho-mie, die aus der Sicht „von unten" „denen da oben" manche Schlechtigkeit zutraut. Vor allem aber ist dies Ausdruck politischer Entfremdung, denn die Machthaber aller couleur wissen gar nicht, welches aus der Sicht eines „ehrlich empörten kleinen Mannes" die „tatsächlichen Probleme", Ängste und Wünsche sind. — Der aktionistische Zugriff und der ent-differenzierende Sprach-und Denkstil rechtsextremistischer Deutungen entwickelt sich als Reaktion auf die wahrgenommene soziale und politische Orientierungslosigkeit und Entscheidungsunfähigkeit und entspricht in seiner Direktheit dem hohen individuellen Lö-sungs-wie Erklärungsdruck und -anspruch.

Ein 18jähriger kommentiert in diesem Sinn die Frage, ob Hitler mit Problemen besser fertig würde als „unsere Politiker":

„Im Prinzip sage ich: Ja!, wie Hitler mit der gleichen geistigen Stärke, weil Politiker wie der Schmidt — na, der Schmidt geht ja noch — keine Willensstärke mehr besitzen und überhaupt keine Durchsetzungskraft haben, vollkommen wankelmütig sind und Entscheidungen nicht gefällt werden. Da wird halt stunden-, wochen-, monatelang darüber debattiert — und es kommt nichts dabei heraus."

Die private Seite der Familien-und Konsum-kritik spricht ein Mitglied der JN an:

«Mein Elternhaus seh ich so ...: Mir geht's gut, ich hab mein Fernseher, ich hab mein Auto, ich hab 'n Kind großgezogen, was will ich mehr. Ja, mein Vater sitzt abends vorm Fernseher, ißt Nüß'. Meine Mutter ist so überarbeitet, daß sie schon vorm Fernseher einschläft. Da leeft nix.“

Zwei Mitglieder einer neonazistischen Organisation akzentuieren demgegenüber die öffentlichkeitsbezogene Seite der Institutionen-kritik und spitzen sie bezüglich des Feindbildes zu:

dieser Staat (ist) ... praktisch überhaupt nicht in der Lage, gegen diese ... gewaltige revolutionäre Macht, die hinterm Kommunismus steckt, ... was zu unternehmen."

Angesichts dieses apokalyptischen Szenarios von Problemen und untauglichen Lösungen entwickeln gerade neonazistische Gruppen aus der Einsicht in diese Schere ihre elitäre Einstellung und Massenverachtung:

„Vor zehn Jahren ..., damals war doch der große Wirtschaftsboom. Ja, da dachten die Jugendlichen, es geht aufwärts, dieser Staat hier ist richtig, ja, das System ist das richtige ... Jetzt, jetzt sehen doch die meisten, daß es bergab geht ... und ... auch da heraus ... haben wir viel Zuwachs."

„Solange es dem Spießbürger irgendwie noch gut geht, und er sein Bäuchlein füllen kann, wird er niemals über seine Situation nachdenken. Wir sehen die heutige Zeit als eine Herausbildung junger Kräfte zu einer Elite, die dann in dem entscheidenden Moment Massen führen können. Wir sehen dann den Moment gekommen, wenn eine Weltwirtschaftskrise eintritt mit Arbeitslosigkeit, Hungersnöten usw. Und wir sind absolut sicher, daß diese kommen wird .. ,"

Politische Dekadenz Das politisch-soziale System wird als dekadent, unfähig und korrupt erfahren und abgelehnt: „Unsere Politiker sind nicht vertrauenswürdig, weil jeder seine Sekretärin auf dem Schoß hat... Die vertreten nur ihren Eigennutz und ihre Hurerei... Man kann nicht einmal sagen, das sind Menschen. Das sind Verbrecher und Zigeuner ... wie die aufeinander losgehen ... (Hauptsache) das Gehalt stimmt .,."

Dieses System und solche Repräsentanten vermitteln weder Werte, die Engagement aus-lösen, noch verdienen sie eine andere Form der politischen Partizipation als die der aggressiven Distanz (so wie es dem „kleinen Mann" sowieso keine Chance politischer Teilhabe gibt):

„Das ist 'n ganz kriminelles System, was wir hier haben."

Diese Erfahrung wird mit naturgesetzlicher Gewißheit verbreitet und begründet längerfristig die Chance der an diesem Zerrüttungsprozeß nicht partizipierenden (unbefleckten) rechten Gruppen:

„Ich sehe die Sache annähernd so, wie sich das alles von 33 entwickelt hat Die Zeichen, die heute in der Gesellschaft gesetzt sind, die deuten bereits alle wieder auf 'ne zweite Weimarer Republik hin. Der moralische Zerfall, der kulturelle Zerfall, die Dekadenz, nur noch verschwenderisch leben und so was, ja, bis, bis zur Wirtschaftskrise... Und dann... wenn... wieder so ein Millionenheer von Arbeitslosen ist, ja, dann ist eben unsere Zeit gekommen ..."

Kampf als Prinzip Die Wertmuster sind sozialdarwinistisch geprägt und werden von einem extremen Männlichkeitsbild bestimmt (Mädchen gelten „nur als halbe Personen"):

„Die Natur ist net für jeden geschaffen. Die ist also nur für den, der stärker ist, der den anderen besiegen kann. Das ist also 'n Kampf."

Ein Neonazi geht davon aus, daß er und seine Gruppe dieser Erkenntnis entsprechen und daß sie demzufolge auch die richtige entprivatisierende Konsequenz ziehen:

„Wir (sehen) unseren Wert nicht so sehr an un-serer Persönlichkeit, ja, in unserem Fleisch oder so ..., sondern ... in unserer Effektivität des Kampfes." — „Wir sind noch nicht so verweichlicht ... von diesem hier... und wir wehren uns dagegen — wir ...denken noch normal, ja, und wir sind ein bißchen härter ...

Deutschland und ein deutscher Nationalismus sind Bezugspunkte dieser Kampfeshaltung. Daraus ergeben sich ein manifester Antiamerikanismus („Besatzer raus aus Deutschland" — VSBD/PdA-Klebezettel), eine Revision des offiziellen Geschichtsbildes bzw. eine an Zügen des volkstümlichen NS-Bildes ansetzende positive Deutung des Nationalsozialismus und eine entschiedene Ablehnung ausländischer Arbeitnehmer.

Die Bewertung der USA trägt, überhöht auf der Ebene zwischenstaatlicher Beziehungen, dieselben Züge wie die Kritiken der eigenen Regierung. Demgegenüber veranschaulicht die Ausländerkritik die rassistische Komponente des politisch-sozialen Weltverständnisses, die vertraute Komponente des „Deutschtums" droht durch „Überfremdung" verdrängt zu werden:

„Deutschland (W) — ein Einwanderungsland? Nein! Daher Ausländer einschließlich Sozialasylanten sofort zurück in die Heimatländer! Deutschland den Deutschen" (Aufkleber der NPD/Junge Nationaldemokraten [JN], Weinheim). In diesem Punkt entdecken jugendliche Rechtsextremisten am ehesten, daß ihre Anschauung breiten Teilen der Bevölkerung entspricht (verwundert, und um dem Vorwurf des agitatorischen Hetzers zuvorzukommen, betont ein junger Nationaldemokrat, daß „die hier... im Betrieb" „jeden Morgen" auf Ausländer schimpfen, „ohne daß ich irgend etwas dazu getan habe“).

Für diese Position der Wiederherstellung nationaler Identität, die nach außen abgegrenzt ist und nach innen ausgrenzt, werden materielle Motive angeführt („Wir haben ja selbst keine Arbeitsplätze ... wir haben noch die Fremdarbeiter drin. Wir haben selbst Arbeitslose und dann zusätzlich jetzt noch damit belasten. Also, ist mir ja unverständlich"); aber sowohl ein Neonazi wie ein JN-Mitglied betonen vorrangig das Prinzipienhafte ihrer Ausländerkritik: „Ein Afghanistaner kann kein Deutscher werden. Ein Neger kann nicht weiß werden. Ein Apfel kann keine Birne werden."

„Das wär'völliger Quatsch durch Papier umschreiben. Irgendwie, jetzt versuchen, die Rasse zu ändern ...

Angehörige neonazistischer Gruppen Überhöhen dieses politische Prinzip zu einem klaren Feindbild, das auch auf die Gefahr der zionistischen Weltverschwörungen verweist:

„Das ist ja auch das Ziel unserer Gegner,... die Rassen miteinander zu vermischen ... jede Reinrassigkeit... zu zerstören. So tut man das ganze Volk zersetzen. Und weiß ich, 'n Türke wird net gegen die Mauer kämpfen ...“ „Das hat jetzt mit Antisemitismus nichts zu tun. Ich hab also nichts gegen den Juden, der irgendwo in Palästina seine Orangen pflanzt. Ich hab also nur was gegen Juden, die also Politik machen, um andere Völker zu zerstören und sich selbst zum Herren der Welt machen. Das ist also in dem Augenblick das Problem Nummer Eins. Und auch, daß diese Teile innerhalb des Judentums bekämpft werden müssen, allein aus Selbsterhaltungstrieb."

Traditionelle Wertmaßstäbe Im Gegensatz zu linken Gruppen, denen aber auch im Unterschied zum „rechten Lager“ zahlreiche Mädchen und junge Frauen sowie formal besser gebildete Mitglieder angehören, halten Rechtsextremisten an traditionellen „kleinbürgerlichen“ Wertvorstellungen fest. Dies gilt insbesondere für Sexualmoral, Ehe, Familie, Autorität, wie für die Arbeitsmoral mit Tugenden wie Leistung, Ordnung, Pünktlichkeit, Sauberkeit.

Es wird darauf hingewiesen, daß diese Normen zwar viele Reden bestimmen, daß sie aber in der bundesrepublikanischen Realität bedroht sind. Radikale politische Aktivitäten werden als notwendig hingestellt, um diesem normativen Gemeingut wieder eine gesellschaftlich prägende Wirkung zu verleihen.

Feindbilder

„Der Kommunismus (ist) der Todfeind der Menschheit" und „mein Hauptfeind". Diese Annahme durchzieht die Vorstellungswelt eines 1957 in der DDR geborenen und dort aufgewachsenen Mitglieds einer neonazistischen Gruppe. In diesem Feindbild vereinigen sich alle bedrohlichen Kräfte der Gegenwart, die bewußt oder unbewußt alle für den Sieg des Kommunismus arbeiten.

Während man für alle etablierten politischen Parteien und deren angepaßte Anhänger nur Verachtung übrig hat, gelten alle Energien und aller insgeheime Respekt dem kommunistischen Feind, denn es handelt sich um das entgegenstehende idealistische und kämpferische Prinzip. Beide, Linke wie Rechte, sind bemüht, „das Volk hinter sich zu bringen", zwischen beiden entbrennt also der entscheidende Kampf, dem sich alle Nebenschauplätze unterordnen.

Ein Mitglied einer neonazistischen Organisation bringt alle Komponenten dieses Feindbildes deutlich zum Ausdruck:

»Die (Kommunisten, E. H.) sind ja für mich Menschen, die meiner Meinung nach wertvoller sind als das Heer der Namenlosen, die Mitläufer und so... Trotzdem muß man die bekämpfen. Das ist wieder das Gesetz des Stärkeren. Die haben 'ne Idee, die ist gut, in gewisser Weise, aber ... meine Idee ist besser, deswegen muß ich sie vernichten, um das Heer der Mitläufer zu gewinnen ... Furchtbar grausam ist das.“

Diese Beschreibung des Kampfes zweier opponierender, sich wechselseitig ausschließender idealistischer Prinzipien bezieht sich mehr auf den kommunistischen einzelnen, weniger auf die Organisationen; nicht-individualisierbare „Rote“ sind „Verbrecher", am deutlichsten vergleichen sich rechtsextremistische Jugendliche vom Wert des idealistischen Kämpfers her mit „Anarchisten" und „Einzelkämpfern“.

Ziele

Während die handlungsorientierten Feindbilder deutliche und teilweise auch erfahrungsbestimmte Züge tragen, bleiben die Zielvorstellungen unscharf. Zwar reduziert sich die Wirklichkeit auf „eins“, nämlich „für diese Sache des nationalen, nationalen Sozialismus zu kämpfen", zwar ist dieser Kampf präzis zu beschreiben, aber die Ziele „Volksgemeinschaft“ und „starker Staat“ oder der „dritte Weg“ gegen Ausbeutung, Verplanung, Verfremdung und Entmündigung der Menschen durch Kapitalismus und Kommunismus" (JN-Flugblatt) bleiben unbestimmt, bleiben abstrakte Titel.

Eher schon haben die historisch beschlagenen Jugendlichen, die sich an die Ermordung Röhms und G. Strassers und an die gewaltsame Stellung der „zweiten Revolution" erinnern, Probleme, welche Rolle sie, die sich an der historischen SA orientieren, im neuen Dritten Reich spielen können. Bedrohlich kündigt sich an, daß der politische Kampf Bedingungen schaffen kann, bzw. nach dem Sieg Qualifikationen verlangt, die man gegenwärtig systematisch aufgibt.

Den Ersatz der Berufsrolle durch die politische Berufung, die Zukunftsaussichten und den entsprechenden Zielkonflikt spricht ein Mitglied einer neonazistischen Gruppe folgendermaßen an:

„Da wir nur so wenig sind, ist es für uns am besten, wenn wir nicht unsere Kraft in guten Arbeitsleistungen vergeuden ..., sondern daß wir ... unsere Kraft darauf spezialisieren eben für den ideologischen Kampf und für den Parteikampf.“ — „Wenn wir an der Macht wären, dann würden wir natürlich ... wenn wir nicht, sagen wir mal, politische Führer bleiben. Wie aber unsere Idee ist, an der Macht würden wir natürlich unseren Kampf in guter Ar... eh, in unserem Beruf sehen ...

Die Bestimmung des Zielwerts wird durch derartige heraufdämmernde Konflikte behindert. Sie beschränkt sich auf die Beschwörung der volkstümlichen NS-Legende. „Das Gute, was früher vorhanden war", was beispielsweise die Großväter erlebt haben, und heute noch beschwören, solle wieder zum Leben erweckt werden:

„Man denke an die Organisierung der Jugend, an Reichsarbeitsdienst und Deutsche Arbeitsfront, an so Aktionen wie . Kraft durch Freude'und . Schönheit der Arbeit'und so weiter, die also damals doch recht positiven Anklang in der Bevölkerung gefunden haben, die man also rein vom Traditionellen her durchaus wieder verantworten kann."

Anders als extrem linke Gruppierungen lehnen die Rechten den Staat an sich nicht ab, als „Volksstaat" soll er lediglich so reformiert werden, daß er solchen Zielsetzungen entspricht: „Während in einer parlamentarischen Demokratie Volksteile immer gegeneinander arbeiten, ja, in einzelne Parteien zerstückelt das Volk ist oder in Klassen aufgeteilt ist, die gegeneinander arbeiten, (soll) der Sozialismus (als Teil des Nationalsozialismus, E. H.) das Volk zusammenschweißen zu einer Volksgemeinschaft."

Das Geschichtsbild Das reformistische Staatsideal und die NS-Reminiszenzen verweisen als Zielsetzungen auf die Revision des NS-Geschichtsverständnis-ses. Diese Seite des Deutungsmusters ist ebenso wie die Handlungsorientierung über Feindbilder deutlicher und wiederum erfahrungsgeprägt ausgebildet, beeinflußt sie doch in Schule und Öffentlichkeit sehr stark die politische Sozialisation der Jugendlichen:

Neonazistische Jugendliche wollen den wahren Nationalsozialismus realisieren (denn „der wichtigste Punkt im Parteiprogramm, die Brechung der Zinsknechtschaft, (ist) gar nicht gelaufen"); auch Junge Nationaldemokraten distanzieren sich vom „Nationalsozialismus, wie er bis 45 existiert hat". Beiden Gruppierungen ist gemeinsam, daß sie die am historischen Faschismus betriebene „Geschichtsfälschung", ebenso wie den „Umkehrfaschismus" (G. Deckert, NPD) der Umerziehung, also das offizielle NS-Bild, ablehnen. Dahinter steht der „Stolz ... auf unsere Geschichte", wie ein vormaliges ANS-Mitglied diese Bemühungen um das Wiedererstarken einer historisch begründeten deutschen Identität ausdrückt.

Selbst wenn die Jugendlichen weder direkt betroffen noch beteiligt sind, so rückt die „Aus-schwitz-Lüge" bzw. die Kritik der „eingebildeten Schlächterei“ oder der „unverschämten Phantasie über 6 Millionen" ins Zentrum ihrer als Gegenaufklärung verstandenen Geschichtspropaganda. Sie begreifen, daß dieser Teil des weltweit herrschenden NS-Verständnisses ihre eigene Moral und Ausstrahlungskraft untergräbt:

„Das ist der Hauptdrehpunkt... Genau so wichtig wie unsere Feinde das aufbauen, diesen Punkt, genau so wichtig ist er denen, und genau so müssen wir dagegen ankämpfen. Darum dreht sih das alles ..., daß (man) nämlich ... erstmal unsere Väter als Verbrecher hinstellt, und zweitens unsere Weltanschauung als Verbrechen hingestellt wird. Das, das ist ja eben das allerwichtigste hier mit den 6 Millionen und so." — „Wir wollen mit unserer Weltanschauung ... Deutschland wieder verbessern, Deutschland wieder zu dem machen, was es sein soll ... Aber unsere Weltanschauung, die wird angegriffen durch solche Lügen wie die 6-Millionen-Lüge, ja, das ist mir ganz klar, ja, ganz logisch."

Erklärungsgründe des jugendlichen Rechtsextremismus: Relative Deprivation und Adoleszenzkrise

Schematischer Verlauf einer rechtsextremistischen Karriere

Den bisherigen Kenntnisstand zur Motivation rechtsextremistisch eingestellter Jugendlicher faßt in knapper Form die SINUS-Studie zusammen. Es wird festgestellt, „daß weder individualpsychologische noch sozialstrukturelle Ursachenmuster für sich alleine die Aus-formung rechtsextremer Einstellungen bedingen, sondern ein — individuell jeweils verschiedenes — Zusammenwirken." — „Bei den Jugendlichen führen ein autoritäres Elternhaus, eine kleinstädtisch-konservative Umwelt, Jugendarbeitslosigkeit, geringes Bil-B dungsniveau und Systempessimismus nicht notwendigerweise zum Rechtsextremismus .. . Auslöser für die Herausbildung rechtsextremer Einstellungen bei Jugendlichen ist fast immer das Zusammentreffen objektiver sozialer und ökonomischer Schwierigkeiten mit persönlichkeitspsychologischen Defekten und . greifbaren'rechtsextremen . Lösungsangeboten'."

Dieser Kenntnisstand ist unzureichend. 1. Die soziopolitischen Ursprünge und Begleitumstände für die Zuwendung Jugendlicher zum Rechtsextremismus werden ebensowenig bestimmt wie 2. die Beziehung zwischen Psychologie und Politik bzw. Gesellschaft, wie 3. die Problemfelder, an denen sich a) Unzufriedenheit entzündet, in denen b) entsprechende Protestaktionen artikuliert werden, die c) zur Ausbildung von Handlungsperspektiven führen, die sich an der Vergangenheit eines verklärten Nationalsozialismus orientieren.

An diesen Erklärungsdefiziten setzt die Untersuchung an. Durch Verbindung der Fragen nach Ursprung, Umfang und Politisierung von relativer Deprivation und den aus der Sicht von Reifungskrisen rekonstruierten Karrieren jugendlicher Rechtsextremisten soll die Parallelität individueller und sozialer, psychologischer und politischer Aspekte sichergestellt werden.

Relative Deprivation bezeichnet dabei „die Diskrepanz zwischen Werterwartungen und Wertverwirklichungschancen" Nach der vorangegangenen längeren, günstigen Wirtschaftsentwicklung löst die gegenwärtige umfassende Krise die Unzufriedenheit aus, die als die wahrgenommene Schere von drängenden aktuellen Problemen und unzureichenden Lösungsversuchen am Beginn der rechtsextremistischen Politisierung steht. Typisch ist, daß diese Protesthaltung von Anfang an Züge einer öffentlichkeitsbezogenen und kollektiven Sozialkritik und Politikerschelte trägt; es ist kein individualisierender Hinweis auf solche Gratifikationen und Normen, die dem Selbstverständnis der soziopolitischen Ordnung entsprechen, aber in der Realität verkümmern bzw. nur sehr unvollkommen einzulösen sind. Dieser übers Individuum hinausgehende Verweis auf Politik und Gemeinschaft begründet im Fall rechtsextremistischer Jugendlicher den einfachen und schnellen Übergang von re-lativer Deprivation (Meinung) zu politisch-sozialem Protest (Verhalten).

Das Gesellschaftsbild und Politikverständnis dieser Jugendlichen ist das einer aggressiven Distanz, weil, ihrem Verständnis zufolge, keine Perspektiven der immanenten Aufwertung und Neubesinnung dieses Systems bestehen. Es handelt sich bei diesem Übergang von relativer Deprivation zur politisch-sozialen Protesthaltung um einen Ausdruck politischer Entfremdung die auch andere Formen des Jugendprotests bestimmt und in je spezifischer Ausprägung bedingt.

Jugendliche in rechtsextremistischen Gruppen stellen ihr politisches Leben selbst als zielgerichtete Karriere dar. Sie stilisieren die konkrete Mannigfaltigkeit und Zufälligkeit ihres Lebenslaufes, um das, was sie sind (z. B. ein „Kämpfer für Deutschland"), als notwendiges und konsistentes Produkt ihrer Erfahrungen, Entscheidungen und Sinngebungsversuche erscheinen zu lassen.

Karriere bezeichnet keine notwendigerweise zwangsläufig und eindimensional-direkt verlaufende Entwicklungslinie, sondern stellt die gegenwärtig über Aktivitäten definierte Summe persönlich-sachlicher Konstellationen und Figurationen von Momenten eines politischen Sozialisationsprozesses, dar.

Karriere bezeichnet — aus der Sicht des Forschers — diejenige gedankliche Rekonstruktionslinie, die dieses gegenwärtige Verhalten hervorgebracht hat; seitens des Interviewten, der (in Ausschnitten und in der eigenen Version) als Gesprächspartner über seine Aktivitäten, über deren Ausprägungen, Strategien, Perspektiven und Ursprünge berichtet, bezeichnet sie jenen „roten Faden" bzw. jene Sinnhaftigkeit, die der Abfolge von Entwicklungsstadien der eigenen politischen Biographie unterlegt wird.

Die Meinungsdimension . relative Deprivation verhärtet sich deshalb zu einer rechtsextremistischen Karriere, weil mit einer überdurchschnittlich schweren Adoleszenzkrise, also einem stark problemhaften Reifungsprozeß beim Übergang zur Erwachsenenrolle, ein weiterer Auslösefaktor eine bestimmende Rolle im Leben jugendlicher Rechtsextremisten spielt. Konflikte im Elternhaus, Erziehungsschwierigkeiten, Schulprobleme, Arbeitsplatzund Lehrstellenprobleme, soziale Isolation und Probleme beim Umgang mit dem anderen Geschlecht bestimmten die Jugendphase und den Übertritt in die Erwachsenenrolle. Erschwerend kommt hinzu, daß diese Konflikte nur selten allein auftreten.

Es zeigt sich, daß rechtsextremistische Jugendliche durchaus übliche Probleme der Reifekrise durchleben. Allerdings tauchen diese Probleme in dieser Gruppe überdurchschnittlich häufig und zumeist miteinander verflochten auf. In Verbindung mit der sich früh (im Alter von etwa 15 Jahren) herausbildenden politischen Orientierung und entsprechenden Deprivationserfahrungen führt die Verarbeitung dieser Konflikte der Adoleszenz zur immer stärkeren Verfestigung einer rechtsextremistischen Karriere.

Die folgenden Angaben beziehen sich auf 42 straffällig gewordene Jugendliche, die wegen unterschiedlicher Delikte (von Volksverhetzung bis zum Rechtsterrorismus) verurteilt worden sind. 74% dieser Jugendlichen sind bis zu 23 Jahre alt.

Die Auswertung der Gerichtsurteile aus den Jahren 1978 bis 1980 ergibt folgendes Bild: Relative Deprivation, politische Entfremdung und Adoleszenskrise reichen für sich allein nicht aus, um rechtsextremistisches Verhalten oder gar um eine ebensolche Militanz zu begründen. Wichtig ist die Kumulation, aber auch weitere Einflußgrößen, die aus der Analyse von Karrieren rechtsextremistischer Ju-gendlicher gewonnen werden. Es ergibt sich dann das Bild einer differenzierten rechtsextremistischen Karriere (angesichts der geringen Fallzahl können jedoch individuelle Zufälligkeiten ein übergroßes Gewicht bekommen); das Schema einer rechtsextremistischen Karriere gewinnt an Konturen.

Rechtsextremistische Karrieren von Jugendlichen

Eine rechtsextremistische Karriere durchläuft mehrere Stufen der Verdichtung und Verfestigung. Dabei werden hier folgende Phasen unterschieden: — Die Ausbildungsphase der orientierenden Parameter bzw.des konservativ-autoritären und nationalistischen „bias“ steht am Anfang. — Es folgt die Orientierungsphase, in der diejenige Organisation gesucht/ausgefiltert wird, der man sich zuneigt; zum Abschluß dieser Phase ist der Entschluß zum Eintritt gereift. — Die Initiation, der Eintritt in eine Organisation, ist verbunden mit der Bereitschaft, die äußeren Kennzeichen, das Sprachverhalten und das Programm der ausgewählten Organisation zu übernehmen.

— Vielfach geht der Initiation die Zugehörigkeit zur rechten Szene voraus. Möglich ist die Beteiligung an informellen Gruppen (z. B. in Schulen, auf Spielplätzen, in Kneipen/Treffpunkten), die zur Perfektionierung der Mitgliedsrolle oder zum „Aussteigen" nach Kennenlernen führen kann.

— Der Initiation folgt die Mitgliedschaft, die sich durch die sichtbare Abgrenzung und einen auf Gesellschaft und Staat bezogenen Änderungswillen auszeichnet.

Nach dem Grad des Rigorismus und der Radikalisierung kann die Mitgliedsrolle weiter ausdifferenziert werden. Gewaltakzeptanz und Totalitätsperspektive der Mitgliedschaft gegenüber alternativen Entwürfen einer „bürgerlichen Existenz" sind diejenigen Merkmale, die darauf hinweisen, wie sehr das Mitglied durch praktisches Verhalten dokumentiert, die Ansprüche der rechtsextremistischen Organisationen und Strategien zu übernehmen und als Leitlinie eines mehr und mehr entindi-

vidualisierten asketischen Lebens zu akzeptieren.

Bezüglich der Mitgliedschaft kann zwischen Führern, Mitläufern, Aktivisten, Militanten und Außenseitern/„underdogs" unterschieden werden.

Herkunft und Vorprägung Die (fast ausschließlich männlichen) Jugendlichen in militant rechtsextremistischen Gruppen stammen überwiegend aus dem unteren Bereich der Mittelschicht (Facharbeiter und vergleichbares soziales Niveau). Sie haben überwiegend einen einfachen bis mittleren Bildungsstand.

Die Erziehungsberechtigten sind von konventionellen „bürgerlichen" Vorstellungen geprägt. Häufig wird betont, daß der Horizont der Eltern durch eine rein materielle Konsum-orientierung begrenzt sei. Die Eltern sind entweder völlig unpolitisch oder vertreten ohne besondere politische Aktivität Standpunkte des rechten bis nationalliberalen Spektrums im Rahmen der etablierten politischen Parteien (einschließlich von Mitgliedschaften in der SPD und den Gewerkschaften). Charakteristisch sind daher weder betont rechtsextremistische noch betont „progressive" und „linke“ Elternhäuser.

Orientierungsphase Ausgehend von einer gewissen, eher nach „rechts" tendierenden Vorprägung gibt es dennoch eine Phase, in der relativ offen nach Orientierung und Anschluß gesucht wird. Auf Dauer nicht beständige Anschlußversuche an andere Jugendaktivitäten (Disko, Schülermitverwaltung, Leistungssport, linke Gruppen) werden schließlich durch Kontakte zu rechtsextremistischen Gruppen abgelöst.

In dieser Periode sind vor allem folgende Faktoren wirksam:

— Die Jugendlichen erfahren Diskrepanzen zwischen dem offiziellen, durch Schule und Medien vermittelten Geschichtsbild der Nazi-zeit und den Berichten von Angehörigen der Großelterngeneration, die diese Zeit miterlebt haben und zu einer die negativen Seiten verdrängenden oder beschönigenden Darstellung neigen.

— Die offizielle Geschichtsdarstellung wird als kränkend empfunden, weil sie Großeltern und Eltern der Jugendlichen entweder in die Rolle von Statisten (Objekten der Hitler-Demagogie) oder von Mitverantwortlichen an Verbrechen (Angriffskrieg und Ermordung von Juden) zuweist.

* — Wenn die Jugendlichen beginnen, rehabilitierende Äußerungen über die Nazizeit aufzunehmen, erfahren sie oft keine politisch argumentative Auseinandersetzung. Die Angehörigen der Elterngeneration reagieren entweder gereizt und feindselig oder ausweichend und halbherzig widersprechend.

— Nicht selten ist aber auch ein zunächst unpolitischer Einstieg über Interesse an Kriegsabenteuern, Militärflugzeugen, Waffen u. ä. Hierdurch öffnet sich ein Zugang zu rechtsextremistischen Kreisen (organisierende Rolle von Altnazis und/oder Waffenzirkeln sowie Wehrsportgruppen).

— Anziehend Wirkt auch das Gemeinschaftserlebnis der Gruppen (namentlich bei Jugendlichen, denen es sonst schwer fällt, Anschluß bei Gleichaltrigen zu finden). In solchen Fällen zeigt sich ein großes Geschick rechtsextremistischer Gruppen, Kontakte herzustellen.

Zugehörigkeit zur „rechten Szene" und Eintritt in rechtsextremistische Organisationen

Häufig steht vor dem eigentlichen Eintritt in die Gruppe eine informelle Zugehörigkeit zur „rechten Szene": Man besucht Treffpunkte rechtsextremistischer Jugendlicher usw.

Der Eintritt bezeichnet den Zeitpunkt, von dem an die äußeren Kennzeichen, die Sprache und das Programm der Gruppe übernommen werden. Die Bindung an den Rechtsextremismus wird in diesem Stadium oft verstärkt durch die Reaktion der Umwelt (Stigmatisierung). Die Äußerung rechtsextremer Ansicht stößt in der Regel sofort auf heftige, feindselige Ablehung durch politisch Andersdenkende und „offizielle" Stellen. Eine argumentative Auseinandersetzung findet kaum statt. Dies führt zu einer Verhärtung der eigenen Position und zum noch stärkeren Anschluß an die Gleichgesinnten.

Entwicklung zum „politischen Kämpfer"

Nach fester Verwurzelung in der Gruppe besteht die Tendenz, andere soziale Bindungen nach und nach aufzugeben und nur noch dem militanten politischen Engagement zu leben. Dieser Prozeß wird von den Leitern der Gruppen z. T. bewußt gesteuert und führt schließlich zur politisch motivierten Kriminalität. Der mit einer Freiheitsstrafe belegte Rechtsextremist sieht dann schließlich keine Möglichkeiten einer Rückkehr zur Normalität mehr, er empfindet seinen militanten Rechtsextremismus als unausweichliches Schicksal.

Wie weit dieser Prozeß fortgeschritten ist, läßt sich an der Gewaltakzeptanz und dem Verzicht auf Perspektiven einer bürgerlichen Existenz ablesen.

Häufig kommt es erst in dieser Phase, vermittelt über Reaktionen der Außenwelt (Polizei, Justiz, Lehrer, Nachbarn), zu ersten Konflikten mit den Eltern; denn diese zeigen sich gegenüber rechtsextremistischen Aktivitäten ihrer Kinder oft erstaunlich gleichgültig, solange sich keine Gefahren für das berufliche Fortkommen abzeichnen und die Schwelle zur Kriminalität nicht überschritten wird.

Ausblick und Folgerungen

„Am wichtigsten scheint es uns zu sein, daß wir Rocker, Rowdys oder Terroristen ... nicht blindwütig als Gegner betrachten, die besser heute als morgen vernichtet werden, sondern in ihnen Menschen sehen, die außerhalb unserer gesellschaftlichen Norm stehen und durch eine Fehlentwicklung, an der sie meist keine Schuld trifft, in die Sackgasse der Gewalt getrieben wurden." „Wenn nicht Verständnis, sondern Dogmen von beiden Seiten vorgebracht werden, steiB gert sich die Aggressivität, und das unbewußte Motiv der Gewalttäter bleibt... verborgen.“

Bezüglich des Potentials und des langsam-stetigen Anwachsens der Zahl jugendlicher Neonazis muß — etwa im Hinblick auf die quantitativen Befunde der SINUS-Studie — größtes Gewicht auf den Übergang von Meinungen zu Verhalten gelegt werden. Es gibt einzelne Gruppen — etwa im Umkreis der JN und der Nationalrevolutionäre —, die nicht den für neonazistische Gruppen charakteristischen totalen Bruch voraussetzen. Es muß untersucht werden, ob solche Gruppen mit niedrigerer Eingangsbarriere und einer weniger ausgeprägten Absage an übliche Formen der Jugendkultur größeren Zulauf haben.

Gegenmaßnahmen müssen auf der pädagogischen Ebene vor allem die volkstümliche NS-Legende in den Unterricht einbeziehen. Das unvermittelte Neben-und Gegeneinander der Faschismusbilder gilt es zu überwinden; vor allem muß die Massenhaftigkeit des Nationalsozialismus behandelt werden.

Pädagogische Gegenmaßnahmen können insbesondere während der Orientierungsphase wirksam werden, wenn sie an private Erfahrungen und die Problemfelder der Adoleszenzkrise anknüpfen. Als Forderung gilt, daß die Gegenstrategien der Binnendifferenzierung rechter Karrieren und Mitgliedsrollen (vgl.den Abschnitt „Rechtsextremistische Karrieren von Jugendlichen" in dieser Arbeit) entsprechen sollten. In jedem Fall gilt es, Lehrern, Sozialarbeitern, Polizisten (Vernehmungsbeamten), Staatsanwälten und Richtern, die mit rechtsextremistischen Jugendlichen zusammentreffen, eine kommunikative Kompetenz zu vermitteln, so daß sie mit Gruppenmitgliedern über das Verhältnis von politischen Zielen und gewaltsamen Mitteln diskutieren können. Auch der charakteristische Argumentationsstil mit seiner Verbindung analytischer und dogmatischer Passagen muß dieser Multiplikatorengruppe bekannt sein. Detaillierte historische Kenntnisse über den historischen Faschismus müssen ebenfalls vorhanden sein.

Verschärfte strafrechtliche Maßnahmen müssen mit Skepsis betrachtet werden. Ihre präventive Wirkung muß gering eingestuft werden, vielfach dienen sie nur der weiteren Verfestigung und Radikalisierung einer rechtsextremistischen Karriere.

Insofern jugendlicher Rechtsextremismus eine Erscheinungsform politischer Entfremdung ist, muß die Glaubhaftigkeit parlamentarischer Politik anwachsen. Insbesondere müssen folgende Problembereiche erkannt und politisch „gelöst" werden:

— Schlechte Berufschancen für Jugendliche prägen weit über das bestimmbare Maß der Jugendarbeitslosigkeit hinaus die persönlichen Zukunftspläne junger Leute. Zum Teil trauen sich junge Leute nicht einmal das zu, was sie tatsächlich erreichen könnten.

— Die politischen Parteien und ihre Jugendorganisationen sind für die überwiegende Zahl der jungen Leute nicht attraktiv. Nur eine Minderheit interessiert sich für sie.

— Jugendliche kommen mit der Freizeit — z. T. ist sie unfreiwillig durch Arbeitslosigkeit erworben — nicht zurecht. Es fehlen als sinnvoll empfundene Freizeitangebote, Räume und Bezugspersonen.

— An die Stelle traditioneller, durch Religion und gesellschaftlichen Konsens vermittelter Werte tritt mehr und mehr ein Vakuum von Orientierungslosigkeit.

— Familiale Sozialisationsinstanzen sind zunehmend weniger in der Lage, den Jugendlichen in ihrer adoleszenten Krise, bei ihrer Suche nach Orientierungen und Positionen in der Erwachsenenwelt zu helfen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der vollständige Forschungsbericht erscheint 1982 im Westdeutschen Verlag (Opladen) unter dem Titel: Rechtsextremismus und Jugend in der Bundesrepublik Deutschland. Mitarbeiter des Projekts sind gewesen: Prof. Dr. Eike Hennig, Dipl. Soz. Lena Inowlocki, Dipl. Soz. Beate Jakobi, Dr. Hans Gerd Jaschke, Dipl. Soz. Christoph Schmidt, Dipl. Päd. Rainer Steen.

  2. SINUS, Rechtsextreme politische Einstellungen in der Bundesrepublik Deutschland, Abschlußbericht, Heidelberg/München, Okt. 1980, veröffentlicht unter dem Titel: 5 Millionen Deutsche: „Wir sollten wieder einen Führer haben ..", Reinbek b. Hamburg 1981.

  3. Wolfgang Gessenharter u. a„ Rechtsextremismus als normativ-praktisches Forschungsproblem, Weinheim u. Basel 1978.

  4. Alwin Meyer, Karl-Klaus Rabe, Unsere Stunde, die wird kommen, Bornheim-Merten 1979; Karl-Klaus Rabe (Hrsg.), Rechtsextreme Jugendliche, Bornheim-Merten 1980.

  5. Vgl. H. M. Broder, Deutschland erwacht, Köln 1978; Pomarin/Junge, Die Neonazis und wie man sie bekämpfen kann, Dortmund 1978. Mit der kommentierten Wiedergabe eines umfangreichen Gesprächs mit Michael Kühnen (ANS) durch Alwin Meyer und Karl-Klaus Rabe (Kursbuch 54 [Jugend], Dez. 1978, S. 127— 141) beginnt die sozialwissenschaftliche Analyse des organisierten und jugendgeprägten Rechtsextremismus. — Für die davon abzugrenzende informelle Protesthaltung sei zur Bestimmung des Anfangspunktes verwiesen auf Bam-m/Holling/Malke, Faschistische Tendenzen in der Schule?, in: Ästethik und Kommunikation, Heft 32, 1978; Hartmut und Thilo Castner, Schuljugend und Neofaschismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 44/1978, S. 31— 44.

  6. Mitglieder der NPD: 1975 = 10 000, 1980 = 7 200 (— 28%), Mitglieder der JN: 1975 = 1 300, 1980 = 1 000 (-23, 1%).

  7. Eike Hennig, Kontinuitäten zum historischen Faschismus und jugendliches Protestverhalten in der Bundesrepublik, in: Gerhard Paul, Bernhard Schoflig (Hrsg.), Jugend und Neofaschismus, Frankfurt 1979, S. 75— 104; ders., Neofaschismus in der Bundesrepublik — Über die Zunahme offen-faschistischer und rechtsradikaler Tendenzen unter Jugendlichen, in: Peter Dudek (Hrsg.), Hakenkreuz und Judenwitz, Bensheim 1980, S. 134— 153; ders., Neonazistische Militanz und Terrorismus, erseh. 1982 in einem vom Bundesminister des Innern hrsg. Sammelband: Ge-walt von rechts.

  8. Bei der Bewertung dieser Angaben muß berücksichtigt werden, daß diese Zunahme politisch motivierter Gewalt auch ein spezifischer Ausdruck der allgemeinen Zunahme schwerer Gewaltdelikte sein kann. — Zum Anstieg der Kriminalität vgl. mit Angaben über die Jahre 1963 ff., bes. aber zum Vergleich der Jahre 1979/80: Innere Sicherheit Nr. 58 v. 31. 7. 1981, S. 5/6; dass. Nr. 59 v. 24. 9. 1981, S. 21 ff. (= Abdr. aus: Bulletin des Presse-und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 70 v. 23. 7. 1981, S. 589— 612).

  9. Eike Hennig, Neofaschismus in der Bundesrepu. blik, a. a. O.

  10. So stellt die SINUS-Untersuchung fest, daß die Altersgruppe 18— 29 Jahre mit jeweils 13% am rechtsextremen Einstellungsund Protestpotential gegenüber den 30 bis 49jährigen und vor allem den über 50jährigen deutlich unterrepräsentiert ist. Vom Einstellungspotential entfallen auf die Älteren und Alten 30 % bzw. 57 %, beim Protestpotentigl sind es 29 % bzw. 59 %. Kritisch dazu vgl. betrifft: er-Ziehung, 7— 8/1981, S. 25— 27.

  11. Sinus-Studie, a. a. O., S. 117.

  12. Arbeits-und Ausbildungsverhältnis der Interviewpartner (N = 32): Schüler 5, Studenten 4, Wehrpflichtige 1, Arbeitslose 3, Hilfsarbeiter 1, Lehrlinge 5, Facharbeiter 2, Sporttrainer 2, kfm. Angestellte 3, Buchhändler 1, k. A. 5.

  13. Zum Konzept der Adoleszenzkrise vgl. Rainer Döbert, Gertrud Nunner-Winkler, Adoleszenzkrise und Identitätsbildung, Frankfurt 1979, bes. S. 83ff.; Gertrud Nunner-Winkler, Berufsfindung und Sinn-stiftung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 33 (1981), S. 115— 131.

  14. Vgl. Eike Hennig, Neofaschismus in der Bundesrepublik, a. a. O„ S. 146— 150.

  15. Beide Zitate zeigen, wie das Bild der Bevölke-rund zwischen einer positiven (= Volk) und negativen (= Masse) Bewertung schwankt und wie neonazistische Gruppen die Bevölkerung gleichzeitig ablehnen und agitieren. (Ähnlich das Gesellschaftsbild linksterroristischer Gruppen.)

  16. Zit. nach SINUS, Rechtsextemistische politische Einstellungen in der Bundesrepublik Deutschland, Untersuchungsstufe 1: Psychologische Vorstudie, Heidelberg/München 1979, S. 49 f.

  17. Dazu Stichw. „Nationalsozialismus“ in: Martin Greiffenhagen u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1981, S. 257— 260. — Vgl. auch den Abschnitt „Das Geschichtsbild" in dieser Arbeit.

  18. Sinus-Studie 1981, a. a. O., S. 102; Sinus-Studie Oktober 1979, a. a. O., S. 19. . . .

  19. So die an Ted Gurr angelehnte Definition in: Politischer Protest in der sozialwissenschaftlichen Literatur, Stuttgart u. a. 1978, S. 67.

  20. Vgl. die Stichworte „Anomie", „Entfremdung", „Radikalismus", „Wertwandel" in: Handwörterbuch zur politischen Kultur, a. a. O.

  21. Der folgende Abschnitt kann deshalb knapp gehalten werden, weil mit dem Beitrag „Rechtsextremistische Karrieren von Jugendlichen in der Bundesrepublik" (in: Auseinandersetzung mit dem Terrorismus — Möglichkeiten der politischen Bildungsarbeit, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Referat Öffentlichkeitsarbeit gegen Terrorismus, Bonn 1981, S. 75— 107) bereits eine durch fünf Biographien konkretisierte Zusammenfassung vor-liegt. Zit. aus: Wolfgang Salewski, Peter Lanz, Die neue Gewalt und wie man ihr begegnet, Locarno/Zürich 1978, S. 213, 215.

Weitere Inhalte

Eike Hennig, Dr. phil., geb. 1943; 1975— 1981 Professor für Massenkommunikationsforschung am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Frankfurt; seit September 1981 Professor für Politische Theorie unter bes. Berücksichtigung von Methodologie und Wissenschaftstheorie am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Gesamthochschule Kassel. Veröffentlichungen u. a.: (zusammen mit Ralf Zoll) Massenmedien und Meinungsbildung, München 1970; Thesen zur deutschen Sozial-und Wirtschaftsgeschichte 1933 bis 1938, Frankfurt 1973; Bürgerliche Gesellschaft und Faschismus in Deutschland, Frankfurt 1977, 19822; Kontinuitäten zum historischen Faschismus und jugendliches Politikverhalten in der Bundesrepublik, in: Gerhard Paul, Bernhard Schoßig (Hrsg.), Jugend und Neofaschismus, Frankfurt 1979; Neofaschismus in der Bundesrepublik, in: Peter Dudek (Hrsg.), Hakenkreuz und Judenwitz, Bensheim 1980; Rechtsextremistische Karrieren von Jugendlichen in der Bundesrepublik, in: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Auseinandersetzung mit dem Terrorismus, Bonn 1981; Zur Einschätzung verschiedener Lernfelder: Spurensicherung und Stadtrundfahrten, in: Benno Hafeneger u. a. (Hrsg.), Dem Faschismus das Wasser abgraben, München 1981.