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Die sicherheitspolitische Konzeption Israels | APuZ 21/1982 | bpb.de

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APuZ 21/1982 Die sicherheitspolitische Konzeption Israels Das andere Israel ORT — „Hilfe zur Selbsthilfe" Afghanistan: Legitimität der Tradition und Rationalität der Modernisierung Modernisierung und Stabilität in der Türkei Die türkische Krise — Chancen des Militärs

Die sicherheitspolitische Konzeption Israels

Rafael Seligmann

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das Konzept der israelischen Sicherheitspolitik beruhte seit Mitte der sechziger Jahre auf folgenden Überlegungen: a) Die arabischen Staaten sollten durch eine kombinierte Anwendung des militärischen und diplomatischen Instrumentariums von einer unzumutbaren Beeinträchtigung der permanenten Sicherheitslage Israels abgeschreckt werden. b) Sollte diese Abschreckung versagen und die arabischen Staaten Vorbereitungen für eine militärische Aktion treffen, so müßte ihnen die israelische Armee zuvorkommen. Die Diplomatie hatte dabei die Funktion, im Ausland um Unterstützung für den israelischen Standpunkt in seiner Auseinandersetzung mit den Nachbarn zu werben. Mittel der Abschreckung waren Vergeltungsaktionen gegen Freischärler, eindeutige und deklarierte Definitionen von Kriegsgründen und begrenzte militärische Aktionen gegen feindliche Staaten. Ihre Wirksamkeit basiert auf der Einschätzung der Fähigkeiten und der Entschlossenheit Israels seitens der arabischen Nachbarn. Sie war nach israelischer Auffassung dann nicht mehr gegeben, wenn die arabischen Staaten nicht daran gehindert werden konnten, aggressive Maßnahmen zur Veränderung der militärischen Balance zu ergreifen. In diesem Fall erfolgte ein offensives militärisches Vorgehen im Sinne eines Präventivkrieges. Auf der strategischen Ebene war es in diesem Kontext Ziel der Aktionen, die feindlichen Streitkräfte möglichst rasch niederzuwerfen. Unter operativen Gesichtspunkten sollte die Auseinandersetzung so schnell als möglich in das feindliche Territorium getragen werden, wobei auf der taktischen Ebene auf massierte Verbände an bestimmten Schwerpunkten des Frontverlaufs gebaut wurde, die die Vernichtung feindlicher Armeen trotz numerischer Unterlegenheit ermöglichten.

Seit dem Ende des ersten israelisch-arabischen Krieges war der grundsätzliche Zweck der israelischen Sicherheitspolitik ein Friedenszustand mit den arabischen Staaten — auf der territorialen Basis der Waffenstillstandslinien von 1949 sowie der Integrität der innerstaatlichen (israelischen) Systeme, zumindest jedoch die Verhinderung eines „offenen" Krieges mit den arabischen Nachbarländern

Intellektuelle Grundlage der israelischen Sicherheitspolitik war eine Sicherheitskonzeption, die im Laufe der Jahre entwickelt wurde Mit Hilfe dieses Gedankengebäudes versuchten die israelischen Entscheidungsträger, effektive (schematisierte) Antworten auf die von ihnen wahrgenommenen Herausforderungen der nationalen Sicherheit ihres Staates zu geben. Der grundsätzliche Inhalt sowie die prinzipiellen Leitlinien des sicherheitspolitischen Konzepts wurden, mit Ausnahme der kommunistischen Partei, Mitte der sechziger Jahre von allen israelischen Parlamentsfraktionen mitgetragen Ehe dieses Konzept im nachfolgenden Kapitel dargestellt und untersucht werden wird, soll das Wahrnehmungs-prisma skizziert werden, durch das die israelischen Entscheidungsträger die sicherheitspolitischen Herausforderungen ihres Staates betrachteten

I. Das Umweltbild der Entscheidungsträger

Das jüdische Volk hatte während seiner mehr als 3000jährigen Geschichte ein ungewöhnlich großes Maß an Verfolgungen zu erdulden. Der Zionismus, die israelische Staatsideologie und wesentliche Ursache für die Rückkehr eines Teiles des jüdischen Volkes nach Palästina, ist als Reaktion auf den europäischen Antisemitismus im 19. Jahrhundert entstanden Nach

Der vorliegende Beitrag ist ein Auszug aus dem im Juni d. J. erscheinenden Buch:. Jsraeli-sche Sicherheitspolitik. Zwischen Selbstbehauptung und Präventivschlag — Eine Fallstudie über Grundlagen und Motive", Verlag Bernard und Graefe, München

dem Ende des Ersten Weltkrieges kam es aber auch in der von Theodor Herzl, dem Gründer des Zionismus, vorgesehenen Zufluchtstätte Palästina zu bewaffneten Aktionen gegen die jüdische Gemeinschaft Während des Zweiten Weltkrieges wurden die zionistischen Führer ohnmächtige Zeugen der Vernichtung eines Großteils des europäischen Judentums Nach 1945 sah sich die jüdische Gemeinschaft in Palästina mit Vernichtungsdrohungen und gewalttätigen Ausschreitungen der arabischen Seite konfrontiert. Die arabischen Regierungen verweigerten dem neugegründeten Staat Israel (1948) die Existenzberechtigung und versuchten, diesen gewaltsam zu liquidieren Auch nach dem Ende des ersten arabisch-israelischen Krieges (1949) hielten die arabischen Staaten zumindest verbal an ihrem Vernichtungsziel fest Die Aufrüstung der arabischen Länder in den sechziger Jahren wurde in Israel zumindest als latenter Versuch einer Liquidierung des jüdischen Staates gewertet Das Gefühl der Bedrohung der israelischen Entscheidungsträger wurde vertieft durch:

— die ständige Gefährdung der permanenten Sicherheitslage Israels;

— das ungünstige demographische Verhältnis gegenüber den arabischen Staaten;

— die relativ unvorteilhafte geostrategische Position Israels;

— die quantitative militärische Überlegenheit der arabischen Staaten;

-— das Fehlen einer völkerrechtlich chen Zusage eines oder mehrerer Staaten, die territoriale Integrität Israels zu garantieren (wenn man von den einschlägigen, in der Praxis oft unwirksamen Bestimmungen der UN-Charta absieht).

Die Verfolgungen des jüdischen Volkes in der Diaspora und in Palästina sowie die Weigerung der arabischen Regierungen, Israel eine Existenzberechtigung zuzugestehen, erzeugten bei den israelischen Entscheidungsträgern eine permanente Bedrohungshaltung, die als „Einkreisungsangst oder als „HolocaustSyndrom“ etikettiert wurde. Das Bewußtsein einer ständigen Existenzgefährdung erverbindli-zeugte bei allen israelischen Entscheidungsträgern das Verlangen nach möglichst absoluten Sicherheitsbedingungen für ihren Staat

II. Das Grundprinzip des Konzepts

Das Konzept der israelischen Sicherheitspolitik beruhte seit Mitte der sechziger Jahre auf folgender Überlegung — Die arabischen Staaten sollten durch eine kombinierte Anwendung des militärischen und diplomatischen Instrumentariums von einer Realisierung ihrer Liquidationsziele gegenüber dem jüdischen Staat sowie von einer unzumutbaren Beeinträchtigung der permanenten Sicherheitslage Israels abgeschreckt werden.

— Sollte diese Abschreckung versagen und die arabischen Staaten dennoch zu einem militärischen Schlag gegen Israel ausholen, so mußte ihnen die israelische Armee, wenn möglich, zuvorkommen, auf jeden Fall jedoch eine rasche militärische Entscheidung herbeiführen. Der Diplomatie kam in diesem Szenario die Funktion zu, im Ausland eine Unterstützung des israelischen Standpunktes in seiner Auseinandersetzung mit den arabischen Nachbar-staaten anzustreben, zumindest jedoch eine Paralysierung der politischen und militärischen Anstrengungen Jerusalems durch ausländische Mächte, ähnlich wie 1956/57, zu verhindern

Im folgenden sollen die beiden Hauptkomponenten des militärischen Konzepts, die Abschreckungs-und die Kriegskonzeption untersucht werden. Diese Trennung wurde vorgenommen, um eine analytische Systematik zu ermöglichen.

III. Das Konzept der militärischen Abschreckung

Am 26. März 1946 bezeichnete Moshe Shertok, Exekutivmitglied der zionistischen Organisation und später unter dem Namen Sharett erster Außenminister Israels, vor einer englisch-amerikanischen Untersuchungskommission „Abschreckungsmacht" als „politische Vertei-digung (die) den Weg zum Frieden ebnet“ In den Ausführungen Sharetts werden Überlegungen angesprochen, die als Grundlage für das zukünftige Konzept der israelischen Sicherheitspolitik dienten. So erklärte Levi Eshkol nach seiner Wahl zum Premier-und Sicherheitsminister am 24. Juni 1963 vor der Knesset:..... Wir müssen die Bewährung der israelischen Abschreckungsmacht als die entscheidende Garantie für die Erhaltung des Friedens in der Region ansehen." In fast identischen Formulierungen betonte Eshkol in den folgenden Jahren wiederholt den Grundgedanken der sicherheitspolitischen Konzeption seines Landes: „Die Bewahrung und Verstärkung der (israelischen) Abschreckungsmacht ist die wichtigste Garantie gegen den Ausbruch eines Krieges in der Re-gion."

Auch Generalstabschef Rabin unterstrich die Bedeutung der militärischen Abschreckung als wirksamstes Instrument zur Verteidigung der permanenten und fundamentalen Sicherheit: „Es ist notwendig, die Waffe der Abschreckung zu benutzen, um ein normales Le-ben in der Grenzregion zu gewährleisten ebenso wie sie vital ist für die Sicherheit der Existenz Israels."

Seit der Publikation von Yigal Allons Buch „Der Sandvorhang“ gewann der Begriff Abschreckung eine überragende Bedeutung in den sicherheitspolitischen und strategischen Diskussionen in Israel. Abschreckung galt als das Instrument, mit dessen Hilfe sowohl die staatliche Existenz als auch die permanente Sicherheit des Landes gewährleistet werden konnten

Den israelischen Entscheidungsträgern war bewußt, daß der Erfolg ihres militärischen Abschreckungskonzepts nicht allein vom Abschreckungspotential der Armee abhängig war. Als ebenso wichtig wurde ein psychologischer Faktor angesehen, auf den der abschreckende Staat nur bedingte Einflußmöglichkeiten besitzt: die Glaubwürdigkeit der Drohung

In seinen Untersuchungen über Abschrekkung kommt Carl Friedrich von Weizsäcker zum gleichen Ergebnis: Die Wirksamkeit der Abschreckung ist funktional abhängig von ihrer „Glaubwürdigkeit" Die Glaubwürdigkeit der Drohung sieht Daniel Frei wiederum in . (Abhängigkeit) von zwei ... Variablen:

— der Einschätzung der Fähigkeiten (des Abschreckenden) und — der Einschätzung der Entschlossenheit, die Drohung gegebenenfalls auch tatsächlich wahrzumachen"

Die „geschätzte Fähigkeit" werde durch „das vorhandene Potential... und durch den Stand der technologischen Entwicklung" bestimmt. Die „Entschlossenheit" sei die Resultante fol-gender Kräfte

— „der Angemessenheit der Drohung“

— „des Preises für die angedrohte Vergeltungsaktion"

— der „Flexibilität der Drohung"

sowie — der „Kommunizierbarkeit der Drohung". Das skizzierte Abschreckungsmodell Freis soll hier als theoretische Anregung zur Analyse eines tatsächlichen historischen Phänomens (der israelischen sicherheitspolitischen Konzeption) Verwendung finden. 1. „Abschreckung“ im Bereich der permanenten Sicherheit Das israelische Abschreckungskonzept wurde im stetigen Wechselspiel mit der Praxis zunächst für den Bereich der „permanenten Sicherheit“ entwickelt Schon bald nach Beendigung des ersten israelisch-arabischen Krieges wurde deutlich, daß die israelischen Streitkräfte nicht in der Lage waren, die zunehmende Zahl von Anschlägen in den israelischen Grenzregionen wirksam zu unterbinden. Die Waffenstillstandslinien waren zu lang. Ausbildungsstand und Bewaffnung der Armee ungenügend. Es wurde deutlich, daß die israelischen Streitkräfte aufgrund ihrer geringen Zahl selbst bei einem erhöhten Ausbildungsniveau nicht in der Lage sein würden, die Waffenstillstandslinien wirksam gegen die Infiltration von bewaffneten Eindringlingen zu verteidigen a) Die Vergeltungsaktionen

Seit Mitte 1949 führten Einheiten der israelischen Armee sporadisch Angriffe gegen Frei-schärlerstützpunkte auf arabischem Territorium durch. Diese Aktionen waren jedoch wenig erfolgreich — die Anschläge im Grenzgebiet nahmen stetig zu Um das Anwachsen der bewaffneten Überfälle wirksamer bekämpfen zu können, wurde im Jahre 1953 eine spezielle Armee-Einheit aufgestellt. Die unmittelbare Aufgabenstellung der „Einheit 101" war es, durch sogenannte „Vergeltungsaktionen" die (auf arabischem Gebiet befindlichen) Stützpunkte der Freischärler nach Möglichkeit zu zerstören. Darüber hinaus sollten die regulären arabischen Armeen und Regierungen von der Duldung einer Freischärlertätigkeit gegen Israel „abgeschreckt" werden Auf diese Weise hoffte man die permanente Sicherheitssituation Israels zu stabilisieren Die konzeptionelle Methodik und Zielsetzung der israelischen „Vergeltungsaktionen" wird von Aronson und Horowitz wie folgt beschrieben: „Der Versuch einer kontrollierten, gewaltsamen Reaktion, um den Gegner zu veranlassen, gewaltsame Aktionen, die von seinem Gebiet von Kräften unternommen werden, die nicht unbedingt unter seiner Kontrolle stehen, zu unterbinden.“

Auch nach der Auflösung der „Einheit 101“ wurden die „Vergeltungsaktionen" im wesentlichen unverändert fortgesetzt Obgleich bis zum Sinaikrieg (1956) die Zahl und der Um-fang dieser begrenzten militärischen Operationen erheblich gesteigert wurden, gelang es nicht, die permanente Sicherheit im israelischen Grenzgebiet zu erhöhen. Im Gegenteil: Die Aktivitäten der Infiltranten nahmen beträchtlich zu

Dagegen waren die gewaltsamen israelischen Unternehmen für Nasser der Grund, zumindest aber das Alibi, die ägyptische Armee anzuweisen, die Freischärler im Gaza-Streifen zu unterstützen Es kam zu einer Eskalation von Terroranschlägen und „Vergeltungsaktionen", bei der eine Unterscheidung von Angriff und Verteidigung nicht mehr deutlich wurde. Die Zunahme der Zwischenfälle an der Waffenstillstandslinie des Gaza-Streifens war schließlich eine der Ursachen des zweiten israelisch-arabischen Krieges Die Vergeltungsaktionen hatten keine Stabilisierung dei permanenten Sicherheitssituation Israels zui Folge — schlimmer: sie trugen zu einer Ge fährdung der fundamentalen Sicherhei bei

Nach dem Ende des Sinaikrieges wurde eine Veränderung in Konzeption und Durchfüh rung der israelischen Vergeltungsaktioner deutlich:

— Unternehmungen wurden nur noch durch geführt, wenn sich die israelische Regierung gezwungen glaubte, einer arabischen Regie rung die Grenze ihrer Toleranzbereitschaft si gnalisieren zu müssen, einen offenen Krieg aber vermeiden wollte

— Die Aktionen wurden sorgfältig vorberei tet, ihr Umfang begrenzt

— Die Operationen wurden, soweit dies durchführbar war, von israelischem Territorium (durch Artilleriebeschuß) oder aus der Luft exekutiert, um direkte Kämpfe mit der arabischen Armeen und damit die Gefahr einer Eskalation der Grenzgefechte zu vermeiden

— Erschien ein Unternehmen auf arabischen Gebiet dennoch unvermeidbar, so richtete es sich fast immer direkt gegen die regulärer Streitkräfte oder strategische Einrichtungen Auf diese Weise wollte man unkontrollierte Ausweitungen der Kampfhandlungen vermei den

b) Zusammenfassung Die israelischen Vergeltungsaktionen waren als Instrument der permanenten Sicherheit konzipiert: Durch eine begrenzte militärische Bestrafung sollten die arabischen Staaten von aktiven und passiven Anschlägen auf die permanenten Sicherheitsinteressen Israels abgeschreckt werden.

Das Ausmaß des jeweiligen Armeeunternehmens war jedoch nicht die Funktion des oder der vorangegangenen (arabischen) Anschläge, sondern des von Israel jeweils gewünschtem Effekts. Die Bezeichnung „Vergeltungsaktion'ist daher zumindest ungenau, denn sie bezieht sich nur auf die Ursache des israelischen Schlages, nicht aber auf seine Wirkung. Die tatsächliche Wirkung einer „Vergeltungsaktion" war funktional der Reaktion der be-treffenden arabischen Regierung. Darauf konnte Israel jedoch nur mittelbar durch den Zeitpunkt, den Ort und das Ausmaß einer Vergeltungsoperation Einfluß gewinnen. Die Einschätzung einer israelischen Aktion blieb im Ermessen der arabischen Seite. Hier waren innen-und außenpolitische Faktoren im Spiel, auf die Israel keinen oder nur geringen Einfluß nehmen konnte

Dagegen bestand, wie die Vorgeschichte des Sinaifeldzugs erwies, die Gefahr, durch massive Vergeltungsaktionen einen Eskalationsprozeß zu beschleunigen, der in einen offenen Krieg mündete — das genaue Gegenteil der beabsichtigten Wirkung.

2. Abschreckung und fundamentale Sicherheit

General Yariv schreibt in seiner Analyse „ 30 Jahre Sicherheit": „Abschreckung ist der wichtigste Faktor der fundamentalen Sicherheit Israels." Diese Einschätzung wird von ehemaligen Entscheidungsträgern und wissenschaftlichen Untersuchungen bestätigt.

Die israelische Konzeption der fundamentalen Sicherheit, deren instrumentales Kernstück „Abschreckung" ist, wurde in der unmittelbaren Folge des Suezkrieges entwickelt. Damals sah sich Israel gezwungen, seine Truppen von der Sinaihalbinsel und aus dem Gaza-Streifen zurückzuziehen. Jerusalem gab dem internationalen Druck nach und räumte die im Krieg besetzten Gebiete — im Austausch für die Zusage einer freien Zufahrt nach Elat sowie die Stationierung von UN-Truppen im Gaza-Streifen und an der Straße von Tiran Parallel dazu erklärte Israels Außenminister, Frau Meir, vor den Vereinten Nationen, ihr Land „behalte sich (im Falle einer Wiederholung der Vorkriegszustände) Handlungsfreiheit zur Verteidigung seiner Rechte" vor An diesem Tag (1. März 1957) wurden die Grundzüge des zukünftigen israelischen Abschreckungskonzepts sichtbar: Jerusalem drohte seinen potentiellen Kriegsgegnern, gegen sie vorzugehen („... behalte sich Handlungsfreiheit vor"), falls diese eine Situation schaffen würden, die der jüdische Staat als eine Bedrohung seiner fundamentalen Sicherheitsinteressen ansehen würde. , Wegen der zentralen Bedeutung des Abschreckungsfaktors für die Sicherheitssituation Israels wurde ein Konzept konstruiert, das Antworten auf ein möglichst umfangreiches Spektrum von Herausforderungen beinhalten sollte. Auf diese Weise sollten flexible Reaktionen in Krisensituationen ermöglicht und starre eskalationsfördernde Handlungsanweisungen vermieden werden

Die israelischen Entscheidungsträger erkannten, daß die Wirksamkeit der Abschreckung ihres Staates wesentlich von der Einschätzung des militärischen Instrumentes dieser Bedrohung, der israelischen Armee, durch die arabische Seite abhängig war

Dies war ein Faktor, der sich von Israel nur ungenau beurteilen ließ und den Jerusalem zudem nur schwer und lediglich indirekt beeinflussen konnte Um die Effizienz der Abschreckungswirkung zu erhöhen, wurden da-her in das israelische Abschreckungskonzept Elemente eingefügt, mit deren Hilfe man die Glaubwürdigkeit der Abschreckung und da-mit letztlich die Sicherheitspolitik insgesamt wirksamer gestalten wollte. Diese Elemente lassen sich in drei Gruppen zusammenfassen:

— Definition von Kriegsgründen;

— öffentliche Erklärungen;

— Begrenzte militärische Operationen. a) Definition von Kriegsgründen Das wichtigste unmittelbare Element, um die Glaubwürdigkeit der Abschreckung im israelischen Konzept der fundamentalen Sicherheit zu erhöhen, war die öffentliche Definition von Umständen, bei deren Eintreten sich Jerusalem das Recht auf militärische Aktionen, einschließlich Krieg, vorbehielt

Das Konzept, durch die Nennung von Kriegsgründen den potentiellen Gegner davon abzuschrecken, diese herbeizuführen, wurde in der denkwürdigen Rede Golda Meirs vor den Vereinten Nationen erstmals deutlich: Israels Vertreterin bezeichnete zwei Szenarien, in denen sich ihr Land volle Handlungsfreiheit vorbehielt

— die Sperrung der Seeund Luftfahrtwege nach Elat;

— die Wiederaufnahme von Terroraktionen aus dem Gaza-Streifen.

Im Oktober des folgenden Jahres, während des Bürgerkriegs im Libanon und dem Umsturz im Irak, machte Jerusalem deutlich, daß es nicht bereit war, einen Umsturz in Jordanien zuzulassen, als dessen Ergebnis ein radikal Israel-feindliches Regime die empfindliche Ostgrenze des jüdischen Staates kontrolliert hätte Seither galt die Beseitigung der gegenüber Israel verhältnismäßig moderaten Haschemitenmonarchie und ihre Ersetzung durch ein pronociert Israel-feindliches Regime in Jerusalem als Grund für eine bewaffnete israelische Intervention — eine Tatsache, die die arabischen Regierungen zur Kenntnis nahmen

Zwei Jahre später (Februar 1960) ließ Israel durch die Mobilisierung seiner Reserven erkennen, daß es nicht gewillt war, einen Aufmarsch ägyptischer Verbände im Sinai hinzunehmen Eine Wiederholung wurde seither ebenfalls als möglicher Kriegsgrund angesehen

Das Bemühen der arabischen Staaten, die Quellflüsse des Jordans abzuleiten, wurde von Israel als langfristige existenzielle Gefährdung betrachtet und daher ebenfalls als Grund für eine bewaffnete Intervention angesehen

Die Konsequenzen, mit denen Israel den arabischen Staaten für den Fall drohte, daß diese seine fundamentalen Sicherheitsbelange tangierten, wurden ebenso wie in der primären „Abschreckungsrede" Golda Meirs bewußt vage formuliert. Die Standardformel lautete, Israel werde beim Eintreten einer bestimmten Situation von seinem Recht auf „Selbstverteidigung" bzw. „Handlungsfreiheit" Gebrauch machen.

Die bewußt ungenaue Definition der Drohung hatte die Funktion, im Ernstfall — den man mit der Drohung gerade vermeiden wollte_ einen eskalativen Handlungsautomatismus zu vermeiden und den israelischen Entscheidungsträgern alle politischen und militärischen Optionen offenzulassen Darüber hinaus hoffte man, daß eine vage formulierte Drohung einen erhöhten Abschreckungscharak -ter gegenüber einer ungenau definierten Aussage hätte b) öffentliche Erklärungen Die öffentlichen Erklärungen verantwortlicher israelischer Politiker und Militärs zur allgemeinen und konkreten Sicherheitssituation ihres Staates hatten neben der bereits erläuterten Aufgabe, der israelischen und ausländischen Öffentlichkeit den Standpunkt Jerusalems zu demonstrieren auch eine unmittelbare Funktion:

Die arabischen Staaten wurden auf die Effektivität der israelischen Abschreckungsmacht und die Bereitschaft Jersualems hingewiesen, diese notfalls — d. h. bei einer Bedrohung seiner Existenz — zu gebrauchen.

Ansätze dieser Politik wurden wiederum in der historischen Rede Golda Meirs am 1. März 1957 vor den Vereinten Nationen erkennbar. Ägypten wurden Gegenmaßnahmen angedroht, falls es vitale israelische Sicherheitsinteressen verletze.

In ihren Reden zur Sicherheitslage betonten die israelischen Spitzenpolitiker neben der prinzipiellen Friedensbereitschaft ihres Lan-des die militärische Effektivität der israelischen Abschreckungsmacht — also deren kriegsverhindernde und langfristig friedensfördernde Funktion

So schrieb Ministerpräsident Eshkol beispielsweise im Regierungsjahrbuch 1966/67: „Unsere unabhängige Abschreckungsmacht ist die grundsätzliche Garantie zur Vermeidung von Krieg in der Region. ... sie ermöglicht früher oder später den Weg zum Frieden."

Daneben wurde aber auch die Zunahme der „Defensiv-und Abschreckungskapazität“ un-terstrichen Generalstabschef Rabin hob wiederholt die Stärke der israelischen Abschreckungsmacht hervor und warnte gleichzeitig die arabischen Staaten, insbesondere Syrien, die Grenzen der israelischen Toleranz zu überschreiten c) Begrenzte militärische Aktionen Die israelischen Vergeltungsaktionen hatten, abgesehen von ihrem unmittelbaren Zweck, die arabischen Staaten von einer Verletzung der permanenten Sicherheitsinteressen des jüdischen Staates abzuschrecken, eine mittelbare Funktion im Konzept der fundamentalen Sicherheit: die Demonstration der überlegenen Kampfkraft der israelischen Armee und deren Fähigkeit zum sofortigen Zurückschlagen. Auf diese Weise sollten die arabischen Regierungen von einem direkten Konfrontationskurs, der die Gefahr einer bewaffneten Auseinandersetzung erhöhte, abgeschreckt werden

Als Musterbeispiel für die Verwirklichung der erwähnten unmittelbaren Abschreckungsfunktion kann die Bombardierung von syrischen Stellungen und der Abschuß von sechs syrischen Düsenjägern am 7. April 1967 gelten Durch diese Aktion sollte die Überlegenheit und Reaktionsschnelligkeit der israelischen Armee gegenüber einem potentiellen Kriegsgegner demonstriert werden — um diesem die Gefahren einer Ausweitung des Konflikts zu demonstrieren 3. Zusammenfassung Das zentrale Instrument zur Verteidigung der permanenten und fundamentalen Sicherheitsinteressen Israels war die Abschreckung. Auf der Ebene der permanenten Sicherheit dienten die sogenannten Vergeltungsaktionen als hauptsächliches Mittel, den arabischen Regierungen den Preis einer passiven oder aktiven Bedrohung des Lebens in den israelischen Grenzregionen aufzuzeigen, sie dadurch von einer Fortsetzung beziehungsweise Billigung dieser Maßnahme abzuschrecken. Diese Strategie war allerdings nur dann wirksam, wenn die betroffene arabische Regierung bereit war, * die Logik zu akzeptieren, die diesem Konzept zugrunde lag: daß der Schaden, der durch die „Vergeltungsschläge''entstand, den Prestige-gewinn eines aktiven antiisraelischen Vorgehens aufwiege. Stellte allerdings ein arabisches Regime aus außen-und innenpolitischen Gründen den Ansehensgewinn einer Konfrontation mit dem jüdischen Staat höher als den Schaden, den begrenzte militärische Angriffe Israels verursachen konnten, so mußte die Politik der Vergeltungsaktionen erfolglos bleiben. Darüber hinaus bot die israelische Vergeltungsstrategie jeder arabischen Regierung, der an einer Eskalation des Konflikts mit Israel gelegen war, die Möglichkeit, eben jene Strategie Jerusalems für ihren Zweck dienstbar zu machen.

Auf dem Gebiet der fundamentalen Sicherheit hatte die Abschreckung die Funktion, die arabischen Staaten an einer Verschiebung des militärischen Gleichgewichts, auf dem Israel seine staatliche Existenz basieren sah, oder an direkten Vorbereitungen für einen Angriffskrieg zu hindern. Militärisches Instrument der Abschreckung waren die israelischen Streitkräfte. Wegen der Abhängigkeit der Effektivität der Abschreckung von ihrer Glaubwürdigkeit wurden ins israelische Abschreckungskonzept Elemente einbezogen, durch die die Glaubwürdigkeit der Abschreckung erhöht werden sollte. Doch wie auf der permanenten, so war auch auf der fundamentalen Sicherheitsebene die Wirksamkeit der Abschrek-kung weniger von den objektiven Drohmaßnahmen, als vielmehr von deren Beurteilung durch die arabischen Adressaten abhängig. Die Beurteilung der Frage, ob und inwieweit die Abschreckung funktionierte, lag wiederum im Ermessen der israelischen Entscheidungsträger. Hier wird der kritische Punkt jeder Abschreckungsstrategie angesprochen — sie beruht auf dem psychologischen, objektiv schwer bestimmbaren Faktor Angst Die Wirksamkeit der Abschreckung wird somit in zweifacher Weise von psychologischen Gesichtspunkten bestimmt: einmal, ob der Adressat Furcht vor einer angedrohten Strafe hat, zum anderen, inwieweit der Drohende die Angst des Empfängers richtig einschätzt. Im konkreten Fall war also die Effektivität des wesentlichen Instruments der Sicherheit Israels abhängig von den politischen Systemen und den privaten Perzeptionen der Entscheidungsträger auf der arabischen und israelischen Seite.

IV. Die Kriegskonzeption

1. Systematik

In seiner Untersuchung abstrakter Strukturen allgemeiner Sicherheitspolitik schreibt Daniel Frei: w(Im Falle des Mißlingens) der Abschrek-kung ... gehe es darum, (sich) gegen den oder die Urheber von Übergriffen zur Wehr zu set-zen, den Angriff zu vereiteln, sich zu verteidigen und damit die Schäden zu begrenzen, die dem System aus einem solchen Übergriff erwachsen.“ Das „Mißlingen der Abschrek-kung“ dokumentiere sich in gegnerischen „Übergriffen“ oder „Angriffen“

Das entscheidende Beurteilungskriterium der israelischen Entscheidungsträger, ob und inwieweit die Abschreckung ihres Staates funktionierte, war der Stand des israelisch-arabischen militärischen Machtverhältnisses. So-bald das militärische Potential Israels als nicht mehr ausreichend erachtet wurde, die arabischen Regierungen von konkreten Maßnahmen mit dem Ziel einer Veränderung der militärischen Balance zu ihren Gunsten „abzuschrecken“, sah Jerusalem die Wirksamkeit seiner Abschreckungsmacht als nicht mehr gegeben an. In diesem Fall gebot das Konzept der fundamentalen Sicherheit Israels ein offensives militärisches Vorgehen gegen die arabischen Staaten

Eine objektive Würdigung des Machtgleichgewichts ist jedoch kaum möglich Die Beurteilung, ob und inwieweit sich das militärische Gleichgewicht tatsächlich zuungunsten Israels verschob — das heißt die Frage über Krieg und Frieden —, wurde somit weitgehend zur Funktion des politischen Systems in Israel und den darin enthaltenen idiosynkratischen Faktoren In der Fachliteratur wird das Konzept und die Praxis des israelischen offensiven militärischen Schlages als Präventiv bzw. Präemtivkonzept etikettiert.

In seiner Untersuchung über Präventivkriege weist Carl Friedrich von Weizsäcker darauf hin, daß psychologische Motive („Bedrohung') einen hohen Stellenwert bei einer Entscheidung über einen Präventivkrieg einnehmen „Ob eine der beiden Mächte dann zum Präventivkrieg schreitet, hängt nicht von der Rüstungssituation allein ab, sondern davon, wie sie die Bedrohung durch ihren Gegner beurteilt."

Auch in Israel war die Entscheidung über Krieg und Frieden abhängig von der Beurteilung der Regierung, inwieweit sich das arabisch-israelische Machtverhältnis verschob und wie hoch die Wahrscheinlichkeit eines arabischen Angriffs auf den jüdischen Staat eingeschätzt wurde Im spezifischen Fall war die Bedrohungsangst in Jerusalem aufgrund der globalen politischen Situation, den bekannten Intentionen der arabischen Regierungen, der für Israel insgesamt ungünstigen geostrategischen und demographischen Lage sowie der Weitsicht der israelischen Entscheidungsträger verhältnismäßig groß. Daher war die israelische Bereitschaft, einen Präventivkrieg zu starten, relativ hoch Diese Bereitschaft wurde zusätzlich erhöht durch den Um-stand, daß die israelischen Entscheidungsträger aufgrund völkerrechtlicher und politischer Umstände bzw. Erwägungen jeden israelischarabischen Krieg per se als Verteidigungskrieg des jüdischen Staates ansahen

2. Das Kriegsbild

Im folgenden soll die Auswirkung des allgemeinen israelischen Kriegskonzepts auf die drei praktischen Ebenen der Kriegführung (Strategie, Operation, Taktik) untersucht werden. Diese tatsächliche Kriegskonzeption wird dem abstrakten Kriegsbild gegenübergestellt werden, das Clausewitz eingangs seines Werkes „Vom Kriege" entwickelte , a) Strategie

Im ersten Buch seines Werkes „Vom Kriege" skizziert Carl von Clausewitz zunächst ein (abstraktes) Bild vom Wesen und Zweck des Krieges: „Der Krieg ist... ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen ... Gewalt ist also das Mittel, dem Feinde unseren Willen aufzuzwingen, der Zweck... um diesen Zweck zu erreichen, müssen wir den Gegner wehrlos machen." Clausewitz nennt drei Methoden zur „Wehrlosmachung“ des Gegners

— Zerstörung der Armee;

— Besetzung des Landes;

— Brechung des Willens (der entscheidende Punkt).

Das strategische Ziel des israelischen Kriegs-konzepts wurde von Moshe Dayan als „möglichst schnelles Zusammenbrechen der feindlichen Streitkräfte" definiert

Das Bestreben, die Dauer des Waffenganges so kurz wie möglich zu halten, hatte zwei Ursachen: — Im Kriegsfall mußte das gesamte israelische Potential mobilisiert werden — eine strategische Reserve verblieb nicht. Da Kriegsverluste vom Inland nicht ersetzt werden konnten, nahm das militärische Potential zwangsläufig in fortschreitender Zeit ständig ab — Die in der Vergangenheit sichtbaren Bestrebungen der Westmächte, die arabisch-israelischen Kriege (1948/49 und 1956) möglichst umgehend zu beenden sowie der Zwang, der dabei auf Jerusalem ausgeübt wurde. Israel besaß daher nur eine Zeitspanne von wenigen Tagen, um die Fakten scheinbar unwiederbringlich gemäß seinen Interessen zu verändern

Durch tiefe Panzervorstöße in das gegnerische Gebiet, die unter Umgehung befestigter feindlicher Stellungen und unter Vermeidung größerer Gefechte voranzutreiben waren, sollten Lebenslinien der gegnerischen Armeen zerschnitten und so deren Zusammenbruch herbeigeführt werden. Die Gründe für das Bestreben, größere Schlachten zu vermeiden, waren wiederum die Notwendigkeit einer kurzen Kriegsdauer und die beschränkten israelischen Ressourcen.

Die führenden israelischen Strategen betonen in ihren Schriften, daß eine Zerstörung der arabischen Armeen aufgrund des begrenzten israelischen Militärpotentials und der „Regenerierbarkeit" der arabischen Streitkräfte sinnlos und kostspielig sei

Eine „Brechung des (politischen) Willens" der arabischen Regierungen wurde von israelischer Seite wegen der überlegenen materiellen Ressourcen dieser Länder und der absorbierenden Wirkung des arabischen Raums ebenfalls nicht angestrebt Die strategische Konzeption in Jerusalem sah daher lediglich eine möglichst schnelle Niederringung der arabischen Armeen vor. Eine bestimmende Einflußnahme auf die politische Position des Gegners, die Clausewitz zu Recht als den eigentlichen Zweck des Krieges ansah wurde wegen der relativ begrenzten Machtmittel Israels nicht angestrebt. b) Operation Das primäre Ziel des israelischen Kriegskonzepts auf der operativen Ebene war, die Kampfhandlungen in kürzester Frist auf gegnerisches Gebiet zu verlegen Diese erstmals von Ben Gurion erhobene Forderung wurde später von Dayan und Allon übernommen und zum Axiom der operativen Kriegszielplanung gemacht Das Bestreben, den Krieg so schnell wie möglich in das feindliche Territorium zu tragen, hatte mehrere Ursachen: — Israel besaß keine strategische Tiefe, konnte also tiefere Einbrüche der gegnerischen Armeen kaum absorbieren;

— die meisten Bevölkerungs-und Industriezentren, Militärstützpunkte und Nachschubwege befanden sich in exponierten strategischen Positionen — zumeist in Reichweite der feindlichen Artillerie, allesamt jedoch im optimalen Operationsbereich der arabischen Luft-streitkräfte. Diese Umstände machten die rasche Gewinnung von strategischen Pufferzonen zwischen der Frontlinie und den militärischen Aufmarschräumen sowie den Bevölkerungszentren zum vorrangigen operativen Kriegsziel c) Taktik

Die skizzierten strategischen und operativen Zielprojektionen des israelischen Kriegskonzepts erforderten auf der taktischen Ebene naturgemäß eine offensive Kriegführung. Neben diesen strategischen und operativen Notwendigkeiten bestanden auch spezifische taktische Erfordernisse, die für eine offensive Kriegführung sprachen. Die Länge der Waffenstillstandslinie (985 Kilometer) sowie die geringe Bevölkerungs-und damit Armeestärke ließen eine defensive Kriegführung unzweckmäßig erscheinen. Selbst im Mobilisierungsfall waren die Streitkräfte quantitativ nicht in der Lage, eine effektive Veteidigung auf der gesamten potentiellen Frontlinie zu gewährleisten, um so eventuelle Einbrüche zu verhindern

Als Ausweg aus dem Dilemma der kleinen Truppenzahl und der'langen Frontlinien wählten die militärischen Planer Israels die sogenannte „main-effort" -Methode. Die taktische Kriegsplanung der israelischen Armee sah Truppenmassierungen (Schwerpunktbildungen) an Frontabschnitten vor, von denen aus mit dem an dieser Stelle vorhandenen Übergewicht Durchbrüche in die feindlichen Linien erzielt werden sollten, um so das strategische Ziel (Kollaps der gegnerischen Armeen) trotz der unterlegenen Zahl der eigenen Verbände erzwingen zu können 3. Fazit Israels sicherheitspolitische Konzeption sah für den Fall einer Bedrohung der fundamentalen Sicherheit durch akute Kriegsvorbereitungen der arabischen Seite bzw. eine Veränderung des militärischen Kräfteverhältnisses zuungunsten des jüdischen Staates ein präventives militärisches Vorgehen der Armee vor. Die israelische Kriegsplanung war wegen weltpolitischer, demographischer und geostrategischer Faktoren darauf ausgerichtet, einen offensiven kurzen Waffengang auf den drei Ebenen der Kriegführung anzustreben. Den israelischen Entscheidungsträgern war der gravierende Mangel dieser Konzeption, vor allem auf der strategischen Stufe, bekannt:

Israel konnte in einem Krieg arabische Gebiete besetzen, wegen seiner beschränkten Ressourcen und weltpolitischer Umstände war Jersusalem jedoch außerstande, den arabischen Staaten im Falle eines militärischen Sieges Friedensbedingungen zu diktieren Aufgrund der erläuterten politischen und geostrategischen Umstände sowie ihrer (politischmilitärisch geprägten) Perzeption sahen die israelischen Entscheidungsträger allerdings keine Alternative zu ihrem sicherheitspolitischen Konzept

Fussnoten

Fußnoten

  1. In diesem Sinne äußerten sich ausnahmslos alle befragten ehemaligen Entscheidungsträger und Forscher. Siehe auch die Parlamentsreden Ben Gu-rions (8. 8. 1958) und Eshkols (12. 1. 1966). Ebenso Me-ron Medzini (Hrsg.), Israels Foreign Relations. Se-lected Documents, 1947— 74, Jerusalem 1976 (2 Bde.), S. 648 ff. (im weiteren zitiert als IFR).

  2. Dagegen verwenden Michael Handel, Israel s Political Military Doctrine, Havard 1973, Israel Tal, Israels Doctrine of National Security, und Abba Eban, An Autobiography, Tel Aviv 1977, S. 305, den Begriff „Doctrine“ (= Lehre).

  3. Handel (1973), S. 9; Dan Horowitz, The Israeli Concept of National Security, Jerusalem 1974.

  4. Herbert C. Kelman, Sozialpsychologische Aspekte internationalen Verhaltens, in: Uwe Nerlich (Hrsg.), Krieg und Frieden im industriellen Zeitalter, Gütersloh 1966, S. 141— 239.

  5. Alex Bein, Die Judenfrage. Biographie eines Weltproblems, Frankfurt a. M. 1980 (2 Bde.).

  6. Dan Horowitz und Edward Luttwak, The Israeli Army, New York, San Francisco, London 1975, S. 5ff.

  7. Golda Meir, My Life, London 1975, S. 131 ff; Eban (1977), S. 44 f.

  8. David Ben Gurion, Israel. Die Geschichte eines Staates, Frankfurt a. M. 1973, S. 101; Yigal Allon, Der Sandvorhang, Tel Aviv 1968 S. 14 (hebr.).

  9. Yair, Evron, The Middle East: Nations, Superpowers and Wars, London 1973, S. 21 ff.

  10. IFR, S. 665f.

  11. Amos Perlmutter, Politics and the Military in Israel 1967— 1977, London 1978, S. 83.

  12. Michael Brecher, Decisions in Israels Foreign Policy, London, Melbourne, Delhi 1974, S. 333.

  13. Dan Horowitz, The Israeli Concept of National Security, Jerusalem 1974, S. 62ff.

  14. Horowitz (1974), S. 66— 73; Tal (1977), S. 48.

  15. Brecher (1974), S. 3O 9ff.; Handel (1973), S. 47— 50.

  16. Jewish Agency for Palestine, The Jewish Case Before the Anglo-American Committee of Inquiry on Palestine, Jerusalem 1947, S. 1.

  17. IFR, S. 660- 662.

  18. Ebenda, S. 665— 698.

  19. Maariv, 18. 12. 1962; siehe auch Itzhak Rabin, Dienstausweis, 2 Bde., Tel Aviv 1977, S. 100 f. (hebr.).

  20. Allon (1968).

  21. Horowitz (1974), S. 58; Tal (1977), S. 48.

  22. Allon wörtlich zum Autor: „Es kommt nicht nur darauf an, daß der Wachhund bissig ist, sondern auch darauf, daß dies dem potentiellen Einbrecher auch bekannt ist“; Horowitz (1974), S. 58— 62.

  23. Klaus Schwarz und Lazio Hadik, Strategie Terminology, Düsseldorf 1966, S. 56.

  24. Carl Friedrich v. Weizsäcker, Abschreckung und Kriegsverhinderung, in: Manfred Funke (Hrsg.), Friedensforschung. Entscheidungshilfe gegen Ge-walt, Bonn 1978, S. 87ff.

  25. Daniel Frei, Grundfragen der Weltpolitik, Stuttgart 1978, S. 40.

  26. Ebenda.

  27. Horowitz (1974), S. 55.

  28. Als „permanente Sicherheit" wurde die tagtägliche Sicherheit in den Grenzregionen und im Hinterland vor Angriffen und Sabotageakten regulärer oder irregulärer arabischer Bewaffneter bezeichnet.

  29. Luttwak und Horowitz (1975), S. 104ff.; Moshe Dayan, Story of my Life, London 1976, S. 181 f.

  30. Shlomo Aronson und Dan Horowitz. Die Strategie der kontrollierten Vergeltung. Das Beispiel Israel, Jerusalem 1971 (hebr.).

  31. Dayan (1976), S. 182; Aronson und Horowitz (1971), S. 84.

  32. Aronson und Horowitz (1971), S. 109ff.

  33. Ebenda.

  34. Ebenda, S. 77.

  35. Die Angehörigen der „Einheit 101” wurden einem Fallschirmjägerbataillon zugeordnet. Die Vergeltungsaktionen wurden fortgesetzt.

  36. Ben Gurion (1973), S. 4371h; Dayan (1976), S. 191 ff.

  37. Mohammed Heikal, Das Kairo-Dossier. Aus den Geheimpapieren des Gamal Abdel Nasser, Wien, München, Zürich 1972, S. 68ff.

  38. Netanel, Lorch, One Long War. Arab Versus Je» Since 1920, Jerusalem 1976, S. 87ff.

  39. Befragung Allon; Horowitz (1976), S. 57.

  40. Befragung Allon; Rabin.

  41. Rabin (1979), S. 121 ff.

  42. Ebenda.

  43. Ebenda; siehe auch Aronson und Horowitz (1971), S. 90f.

  44. Befragung Allon, Rabin.

  45. Unter dem Begriff „fundamentale“ oder allgemeine Sicherheit werden in Israel die Problembereiche der Kriegsvorbereitung und Kriegführung verstanden.

  46. Aharon Yariv, Dreißig Jahre Sicherheit, Tel Aviv 1978.

  47. Allon (1968), S. 68 ff.; Eban (1977), S. 305.; Handel (1973). S. 37 ff.

  48. Eban (1977), S. 215ff.

  49. 11. UN GOAR, 666. Plenartagung (1. 3. 1957), S. 1275f. .

  50. Befragung Allon; Horowitz (1975), S. 70ff.

  51. Ebenda; siehe hierzu auch Rosecrance, der darauf hinweist, daß auch bei nuklearen Potentialen „Unklarheit über die Kapazitäten (herrscht), die wirklich nötig sind, um abzuschrecken". Richard Rosecrance, Strategie Deterrence Reconsidered, in: 11SS, Adelphi Papers No. 116, London 1975, S. 2.

  52. Befragung Yariv; Harkabi; Allon.

  53. Allon (1968), S. 141 ff.; Eban (1977), S. 324.

  54. 11. UN GOAR, 666. Plenartagung, 1. 3. 1957, S. 1275f.

  55. Michael Brecher, The Foreign Policy System of Israel. Setting, Images, Process, London, Toronto, Melbourne 1972, S. 67. Steven J. Rosen, Military Geography an the Military Balance in the Arab-Israeli Conflict, Jerusalem 1977, S. 7f.

  56. Befragung Allon; Yehoshua Raviv, Die Sicherheit Israels, in: Ma'arachot, Nr. 204 (1970), S. 4 f.; Brecher (1972), S. 67 f.

  57. Zeev Schiff und Eitan Haber, israelisches Sicherheitslexikon, Tel Aviv 1976, S. 482f. (hebr.).

  58. Befragung Allon; Rabin; Yariv.

  59. Brecher (1974), S. 173— 224.

  60. Befragung Allon; Hakohen; Handel (1973), S. 67.

  61. Ebenda.

  62. Befragung Allon; Hakohen. Siehe hierzu auch die Autobiographien der Außenminister Eban (1977) und Meir (1975), in denen fortwährend auf den ho-hen Stellenwert der öffentlichen Meinung im Ausland hingewiesen wird; ebenso IFR.

  63. Siehe etwa die Knesset-Reden Eshkols und Ebans 1966/67; teilweise in: IFR, S. 660ff.

  64. Government Yearbook 1966/67, Jerusalem 1967, S. 8f.

  65. Ebenda; Eban (1977), S. 143.

  66. Rabin am 21. 3. 1967; Rabin (1979), S. 117 ff.

  67. Befragung Rabin; Yariv.

  68. Hanoch Bartov, Dado. 48 Jahre und 20 Tage, 2 Bde., Tel Aviv 1978, Bd I., S. 117— 119 (hebr.).

  69. Befragung Rabin; Yariv; Hakohen.

  70. Weizsäcker (1975), S. 87; Frei (1977), S. 40.

  71. Frei (1977), S. 38.

  72. Ebenda.

  73. Befragung Allon; Harkabi; Allon (1968), S. 60ff.; Yari’v (1978), S. 7; Handel (1973), S. 37 ff.

  74. Robert L. Pfaltzgraff und James E. Dougherty, Contending Theories of International Relations, Philadelphia, New York, London 1971, S. 34— 36.

  75. Hans J. Morgenthau, Macht und Frieden, Gütersloh 1963, S. 145— 197.

  76. Ein Präventivkrieg wird als Krieg definiert, den ein Staat beginnt, wenn eine Verschiebung des Machtgleichgewichts zu seinen Ungunsten feststellbar wird und angenommen werden muß, daß sich die relative Machtsituation des Staates (der den Krieg eröffnet) mit Fortschreiten der Zeit weiter verschlechtern wird. Samuel Huntington, Arms Races, Prerequist and Results, in: Kenneth Waltz, The Use of Force, Boston 1970.

  77. Ein Staat eröffnet einen präemptiven Krieg, wenn seine Regierung davon überzeugt ist, daß ihr Land mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem Po: tentiellen Kriegsgegner angegriffen werden wird und in diesem Krieg derjenige entscheidende Vorteile erringt, der als erster angreift. Glenn H. Snyder, Deterrence and Defence, Princeton 1961, S. 104 ff.

  78. Weizsäcker (1975), S. 89f.

  79. Ebenda, S. 89 f.

  80. Befragung Allon; Harkabi. Horowitz (1975) S. 46ff.; Brecher (1972), S. 229.

  81. Allon (1968), S. 67H.

  82. Befragung Carmel; Galili; Hakohen.

  83. Carl v. Clausewitz, Bonn (1966), S. 83ff.

  84. Clausewitz definiert Strategie als den „Gebrauch der Gefechte im Krieg“ (ebenda, S. 190— 198), also das gesamte Kriegsbild.

  85. Clausewitz (1966), S. 89f.

  86. Ebenda, S. 112.

  87. Moshe Dayan, Diary of the Sinai Campaign, London 1966, S. 42.

  88. Allon (1968), S. 46 ff.: Handel (1973), S. 32.

  89. Befragung Allon; Rabin; Yariv. Moshe Dayan, Eine neue Landkarte — neue Beziehungen, Tel Aviv 1969, S. 17ff. (hebr.); Tal (1977), S. 45.

  90. Allon (1968), S. 60; Dayan (1976), S. 191 ff.; Tal (1977), S. 44.

  91. Ebenda.

  92. Clausewitz (1966), S. 89f. und 112.

  93. Als operative Ebene wird die zeitliche und örtliche Koordination von Streitkräften in Kampfhandlungen bezeichnet. Militärlexikon, Berlin (Ost) 1973, S. 281.

  94. Befragung Allon; Yariv. Tal (1977), S. 46; Perlmutter (1978), S. 68L; Handel (1973), S. 68; Yariv (1978), S. 12f.

  95. Ben Gurion am 15. Mai 1949.

  96. Befragung Allon; Rabin. Dayan (1966), S. 34; Al-lon (1968), S. 60.

  97. Befragung Allon; Rabin; Yariv.

  98. Siehe Clausewitz'Definition von Taktik: „der Gebrauch der Truppen im Gefecht“; Clausewitz (1966), S. 190— 198.

  99. Befragung Allon; Rabin. Tal (1977), S. 54— 56.

  100. Tal (1977), S. 54.

  101. Befragung Allon; Hakohen.

  102. Befragung Allon; Hakohen; Harkabi; Rabin. Ya-riv und Harkabi übten zwar Kritik an dem bestehenden Konzept, konnten aber keine Alternative nennen.

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Rafael Seligmann, Dr. phil., geb. 1947 in Tel Aviv; 1957 reemigrierte seine Familie in die Bundesrepublik Deutschland; 1972 Beginn des Studiums der Neueren Geschichte und der Politischen Wissenschaften; 1981 Promotion über Israelische Sicherheitspolitik; 1980/81 Referent für Außen-und Deutschlandpolitik in der Bundesgeschäftsstelle der CDU; seit 1981 Redakteur der Tageszeitung „Die Welt". Mehrere Veröffentlichungen über israelische Sicherheitspolitik, den Nahen Osten, deutsche Außenpolitik und allgemeine strategische Fragen.