I. Vertrauensbildende Maßnahmen (VBM) — ein Ausweg aus dem Wettrüsten?
Die Geschichte der letzten drei Jahrzehnte ist eine Geschichte des ununterbrochenen Wettrüstens. Folgt man den Angaben des SIPRI-Jahrbuches 1980 über die Weltmilitärausgaben, dann stellt man ein kontinuierliches Ansteigen von 133, 7 Mrd. US-Dollar im Jahre 1950 über 236, 2 Mrd. US-Dollar im Jahre 1960, und 380, 5 Mrd. US-Dollar im Jahre 1970 auf 446, 2 Mrd. US-Dollar (in konstanten Preisen für 1978) im Jahre 1979 fest Das von den Vereinten Nationen für die siebziger Jahre proklamierte Jahrzehnt der Abrüstung endete in einem völligen Fehlschlag. Im Jahre 1980 haben die Weltrüstungsausgaben erstmals 500 Mrd. US-Dollar überstiegen. Nach offiziellen amerikanischen Schätzungen stiegen die sowjetischen Militärausgaben in den siebziger Jahren um jährlich real drei bis fünf Prozent an. Im Rahmen des NATO-Langzeitprogramms beschloß die NATO 1978 während der 1. UNO-Generalversammlung für Abrüstung, in den kommenden Jahren die Verteidigungsanstrengungen um jährlich drei Prozent real zu steigern. Der neue amerikanische Präsident Ronald Reagan versprach für die Haushaltsjahre 1981 bis 1985 einen jährlichen realen Anstieg der Militärausgaben von über fünf Prozent. Nach 35 Jahre währenden Abrüstungsgesprächen, nach über zwanzigjährigen Bemühungen um Rüstungskontrolle und nach einer zehnjährigen Periode der Entspannung ist die Bilanz ernüchternd: Die Weltmilitärausgaben blieben davon nahezu unberührt. Werden die achtziger Jahre zu einem Jahrzehnt eines intensivierten qualitativen Rüstungswettlaufs? Nach einem Jahrzehnt der allmählichen Verminderung der Spannungen in Europa sowie einer stetigen Zunahme der Zusammenarbeit in den wirtschaftlichen, den wissenschaftlichen und kulturellen Beziehungen ist die Zukunft der Entspannungspolitik nicht erst seit der völkerrechtswidrigen sowjetischen Intervention in Afghanistan und nach der Verhän-gung des Ausnahmezustandes in Polen gefährdet. Neue Waffentechnologien steigern die Kosten und die Verteidigungslasten, ohne dadurch notwendigerweise die nationale Sicherheit zu verbessern. Darüber hinaus können einige moderne Waffensysteme die Abschrekkung in den kommenden Jahren destabilisieren, mögliche Verwundbarkeiten erhöhen und die Negativannahmen bezüglich der Absichten des anderen Bündnissystems (Worst-caseAnnahmen) verstärken. Gleichzeitig hat der Wettbewerb zwischen Ost und West um Einfluß und die Kontrolle lebenswichtiger Rohstoffe in den Entwicklungsländern zugenommen. Krisen und Konflikte in der Dritten Welt haben die Ost-West-Beziehungen erschüttert und die Erfolgsaussichten der Entspannungspolitik in Europa und der Rüstungskontrollund Abrüstungsbemühungen beeinträchtigt. „Die Rüstungskontrolle war im wesentlichen ein Fehlschlag. Drei Jahrzehnte der amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen zur Begrenzung der Rüstungswettbewerbs haben wenig mehr erreicht, als den Rüstungswettlauf zu kodifizieren", stellte Leslie Gelb, der von 1977 bis 1979 die Abteilung für politisch-militärische Fragen im amerikanischen Außenministerium leitete, im Herbst 1979 fest. „In diesem Stadium mag es vernünftig sein, Rüstungskontrollverhandlungen im wesentlichen als vertrauens-und stabilitätsbildende Übungen zu verstehen." Bundeskanzler Helmut Schmidt hielt in seiner Rede vor der UNO-Generalversammlung über Abrüstung im Mai 1978 „angesichts der Schwierigkeiten, zu schnellen Fortschritten der internationalen, vereinbarten Rüstungsbegrenzung zu gelangen, eine Offensive der Vertrauensbildung für notwendig." Die durch die Entspannungspolitik geschaffenen Ansätze zu einem wechselseitigen Vertrauen wurden durch die ungebremste Rüstungsdynamik und zunehmend auch durch Begleiterscheinungen der Rüstungskontrollverhandlungen „verbraucht". Ohne das Entstehen neuer und gemeinsamer Steuerungsinteressen der beiden Weltmächte USA und Sowjetunion, ohne ein Minimum an wechselseitigem Vertrauen und ohne eine breite innenpolitische Unterstützung für eine Politik der Entspannung und Abrüstung dürften die Erfolgsaussichten einer Politik der kontrollierten Rüstungssteuerung bescheiden bleiben.
Stellen vertrauensbildende Maßnahmen — als Ersatz, als Vorbedingung, als Ergänzung der traditionellen Rüstungskontrollpolitik oder als ein Element einer neuen Rüstungskontrollund Abrüstungsstrategie — einen Ausweg aus dem Wettrüsten dar? Sind die Hoffnungen, die zunehmend Politiker und Rüstungskontrollexperten auf die vertrauensbildenden Maßnahmen setzen, gerechtfertigt? Oder werden erneut überhöhte Erwartungen mit einem noch bescheideneren Konzept als dem der Rüstungskontrolle geweckt? Was sind vertrauensbildende Maßnahmen? Wo werden diese Maßnahmen bereits praktiziert und in wel-eben internationalen Foren wird über sie verhandelt?Der Begriff der vertrauensbildenden Maßnahmen tauchte erstmals in einer Resolution der Vollversammlung der Vereinten Nationen vom 16. Dezember 1955 in Zusammenhang mit dem Vorschlag Präsident Eisenhowers für eine weichselseitige Luftinspektion (Open Sky) auf. Zwanzig Jahre später wurde das Konzept der VBM in die Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) mit dem „Dokument über vertrauensbildende Maßnahmen und bestimrte Aspekteder Sicherheit und Abrüstung" aufge23 nommen Dieses Dokument nennt folgende Maßnahmen mit einem höheren Verpflichtungsgrad: vorherige Ankündigung von größeren militärischen Manövern und Austausch von Manöverbeobachtern sowie mit einem geringeren Verpflichtungsgrad: vorherige Ankündigung anderer militärischer Manöver (mit weniger als 25 000 Mann), vorherige Ankündigung größerer militärischer Bewegungen sowie andere vertrauensbildende Maßnahmen.
Vertauensbildende Maßnahmen wurden zuvor bereits — bei Beginn der Wiener Truppenabbaugespräche (MBFR) im Jahre 1973 — von den NATO-Staaten als begleitende bzw. als stabilisierende Elemente neben Abrüstungsplänen vorgeschlagen. Im Schlußdokument der UNO-Sondergeneralversammlung über Abrüstung vom 30. Juni 1978 werden vertrauensbildende Maßnahmen, „confidence building measures" bzw. „mesure de confiance" mit folgender Zielsetzung aufgeführt: „Um den Abrüstungsprozeß zu erleichtern, müssen Maßnahmen zur Stärkung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit und zur Schaffung von Vertrauen zwischen den Staaten getroffen und ein entsprechender Kurs verfolgt werden. Eine Verpflichtung auf vertrauensbildende Maßnahmen könnte wesentlich dazu beitragen, weitere Fortschritte auf dem Gebiet der Abrüstung vorzubereiten.
Dazu sollten Maßnahmen wie die folgenden sowie andere noch zu vereinbarende Maßnahmen getroffen werden:
a) Verhütung von Angriffen, die auf Grund eines Unfalls, einer Fehleinschätzung oder eines Ausfalls der Nachrichtenverbindungen unternommen werden, durch Maßnahmen zur Verbesserung der Nachrichtenverbindungen zwischen Regierungen, vor allem in Spannungsgebieten, durch Einrichtung . heißer Drähte'
oder anderer Methoden zur Verringerung der Konfliktgefahr:
b) die Staaten sollten die möglichen Auswirkungen ihrer militärischen Forschung und Entwicklung auf bestehende Übereinkünfte sowie auf weitere Bemühungen auf dem Gebiet der Abrüstung prüfen; c) der Generalsekretär hat der Generalversammlung in regelmäßigen Abständen Bericht zu erstatten über die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Wettrüstens und seine äußerst schädliche Wirkung auf den Weltfrieden und die internationale Sicherheit."
Während des zweiten KSZE-Folgetreffens in Madrid wurden im Dezember 1980 zahlreiche Vorschläge für eine Weiterentwicklung der vertrauensbildenden Maßnahmen und für eine Europäische Abrüstungskonferenz als dem prozeduralen Rahmen für deren Behandlung eingebracht Wegen der tiefgreifenden Interessenunterschiede zwischen Ost und West konnten sich die 35 KSZE-Mitgliedstaaten bisher weder in der Implementierungsdebatte (11. Dezember 1980 bis 19. Dezember 1980) noch in den vier folgenden Konferenzphasen auf eine Abschlußerklärung mit einem Mandat für die Einberufung einer europäischen Abrüstungskonferenz einigen.
Helmut Schmidt umschrieb 1978 einige Grundannahmen des VBM-Konzepts in seiner Rede vor der UNO-Sondergeneralversammlung im Rahmen einer Strategie der Krisenbeherrschung und Kriegsverhütung: Je größer die Berechenbarkeit des politischen und militärischen Verhaltens der Beteiligten ist, um so geringer wird die Gefahr akuter Krisen. Erste Voraussetzung für Berechenbarkeit ist die Offenheit und Durchsichtigkeit... Das für Sicherheit und Frieden notwendige Grundelement der Vorhersehbarkeit muß allerdings sehr viel weiter reichen als nur bis zur Transparenz der militärischen Fähigkeiten. Es sollte vor allem für die Grundrichtung und für die Ziele der politischen Strategien des Staates gelten. Je besser die anderen Beteiligten die zukünftige Entwicklung vorausberechnen können, um so geringer die Gefahr der Überraschung, um so größer die Sicherheit. Wer unberechenbar handelt, der kann dadurch Gefahren auslösen.“ In dem Bericht der Bundesregierung an die Vereinten Nationen über VBM vom 16. Juni 1979 wurde das Konzept folgendermaßen konkretisiert:
„Das Konzept der VBM verfolgt das Ziel, eine schrittweise Verminderung von Mißtrauen und Furcht zu erreichen, um zur Entwicklung von Vertrauen und besserem Verständnis zwischen den Nationen beizutragen.
Das Konzept geht von der Erkenntnis aus, daß Staaten der Versicherung bedürfen, daß bestimmte militärische Aktivitäten anderer Staaten keine Bedrohung der eigenen Sicherheit darstellen. Anfangs hatten daher Abkommen über vertrauensbildende Maßnahmen ein vergleichsweise bescheidenes Ziel: Die Einhaltung von militärischen Verhaltensregeln seitens der teilnehmenden Staaten ... Im Verlauf der Jahre nahm der Begriff der VBM weitere und umfassendere Gestalt an. Er umfaßt vielfältige Maßnahmen, die bestimmt sind, Vertrauen sowohl im politischen als auch im militärischen Bereich zu schaffen und zu stärken ... Ein höherer Grad des Vertrauens kann jedoch nur erreicht werden, wenn die Menge von Informationen, die den Regierungen zur Verfügung steht, sie in die Lage versetzt, in befriedigender Weise Handlungen und Reaktionen anderer Regierungen innerhalb ihrer politischen Umgebung vorauszusehen und abzuschätzen, Mit anderen Worten: Der Grad des Vertrauens hängt in erster Linie von dem Grad der Offenheit und Transparenz ab, mit dem die Staaten ihre politischen und militärischen Geschäfte zu führen bereit sind. Offenheit, Vorhersehbarkeit und Verläßlichkeit nationaler Politik sind notwendige Vorbedingungen für die Schaffung und Stärkung von Vertrauen; jedoch müssen sie durch Bemühungen um einen verstärkten internationalen Dialog, der über Vereinbarungen über konkrete vertrauensbildende Maßnahmen führt, ergänzt werden."
Nach der Ansicht einer Gruppe europäischer Friedensforscher sollen Vertrauensbildende Maßnahmen zumindest drei verschiedene Funktionen erfüllen:
— das internationale Klima durch Verminderungen der Spannungen und durch Erleichterungen eines Fortschritts bei Abrüstungsbemühungen verbessern;
— das Risiko eines Krieges durch zunehmende Kommunikation und Berechenbarkeit im internationalen System senken;
— zur Rüstungskontrolle und Abrüstung beitragen durch eine Verminderung der Bedeutung verschiedener Faktoren, die den Rüstungswettlauf beschleunigen
Generell kann eine VBM als eine Maßnahme gelten, die zumindest zu einer dieser Funktionen beiträgt und die entweder unilateral oder im Rahmen eines multilateralen Abkommens eingeleitet wird.
Im folgenden werden — ausgehend von einer kritischen Bestandsaufnahme der traditionellen Rüstungskontrollpolitik in Theorie und Praxis (II.) — abrüstungsfördernde (III.), verhandlungsfördernde (IV.) und Vertrauensbildende Maßnahmen (V.) als Elemente einer neuen Rüstungskontroll-und Abrüstungsstrategie für Europa eingeführt. Abschließend (VI.) werden die Vorschläge der Regierungen Frankreichs, Polens, Schwedens, Jugoslawiens und Rumäniens für die Einberufung einer Europäischen Abrüstungskonferenz und der Stand der Verhandlungen über ein Mandat für eine solche Konferenz am Ende der letzten Konferenzphase vor der abermaligen Vertagung am 12. März 1982 kurz resümiert.
II. Eine kritische Bestandsaufnahme der Rüstungskontrollpolitik
Die von Rüstungskontrollexperten und von Praktikern der Rüstungsbegrenzung geäußerte Skepsis über die bescheidenen Erfolgsaussichten des traditionellen, primär an quantitativen Kriterien (Gleichgewichtsvorstellungen) orientierten Rüstungskontrollansatzes ist Ausdruck einer konzeptionellen Ratlosigkeit. Es fehlt nicht an moralischen und politischen Verurteilungen des Wettrüstens und an Forderungen nach einem neuen Verständnis der Sicherheitspolitik. Selten sind jedoch konzeptionelle Studien mit kurzfristig realisierbaren Vorschlägen zur Überwindung des Mißtrauens zwischen den Nationen, zum Abbau innerstaatlicher Widerstände gegen Rüstungsbegrenzung und zur Beseitigung von Verhandlungsengpässen, die bei Wahrung der legitimen Sicherheitsinteressen aller Beteiligten einen Beitrag zu einer sicherheitspolitischen Kurskorrektur leisten können.
In der Anfang 1977 von der Päpstlichen Kommission erstellten Studie Justitia et Pax „Der Heilige Stuhl und die Abrüstung", die im Sommer 1977 den Vereinten Nationen übergeben wurde, wird der Rüstungswettlauf rückhaltlos verurteilt: „Selbst wenn er auf der Sorge um die berechtigte Selbstverteidigung beruht, infolge der gefährlichen modernen Waffen und der gespannten Weltlage ... bedeutet der Rüstungswettlauf: 1. eine Gefahr...; 2. eine Ungerechtigkeit ..., a) eine Verletzung des Rech-tes durch die übermächtige Gewalt .. b) eine Veruntreuung .. 3. einen Irrtum .. 4. ein Vergehen .. 5. einen Wahnsinn ... Die Kirche verurteilt den Rüstungswettlauf... Die Pflicht ist ebenso klar wie der Tatbestand: — Der Rüstungswettlauf ist anzuhalten; — die Waffenvorräte sind abzubauen.''
Im Schlußdokument der 10. Sondertagung der Generalversammlung der Vereinten Nationen über Abrüstung vom 30. Juni 1978, das von allen Mitgliedstaaten im Konsensverfahren angenommen wurde, wird festgestellt: „Wenn dem Wettrüsten nicht Einhalt geboten wird, wird es den Weltfrieden und die internationale Sicherheit und selbst das überleben der Menschheit in wachsendem Maße bedrohen. Es besteht die Gefahr, daß die Massierung nuklearer und konventioneller Waffen die Bemühungen blockiert, die Ziele der Entwicklungsländer zu erreichen, und so zu einem Hindernis auf dem Weg zur Errichtung einer neuen Weltwirtschaftsordnung wird und die Lösung anderer lebenswichtiger Probleme der Menschheit behindert."
In dem Bericht der Unabhängigen Kommission für Internationale Entwicklungsfragen (Nord-Süd-Kommission) unter Vorsitz von Willy Brandt aus dem Jahre 1980 wird das Wettrüsten „als ernste Gefahr für die gesamte Menschheit''bezeichnet: „Ein neues Verständnis von Verteidigungs-und Sicherheitspolitik ist unerläßlich geworden. Die Öffentlichkeit muß besser informiert werden über die Lasten und die Verschwendung, die das Wettrüsten mit sich bringt, über den daraus entstehenden Schaden für unsere Volkswirtschaften und über die größere Bedeutung anderer Maßnahmen, für die wegen des Wettrüstens keine Mittel vorhanden sind. Mehr Waffen machen die Menschheit nicht sicherer, nur ärmer... Hauptgegner der Abrüstung sind ein Gefühl von Resignation und die traditionelle Hinnahme hoher Verteidigungsausgaben, während die Gefahren ständig wachsen. Beiderseitiges Mißtrauen zwischen Ost und West begünstigt das Wettrüsten und verursacht ausufernde und ständig wachsende Verteidigungskosten. Die größte Waffenkonzentration, der Kern des Wettrüstens, ist auf dem eu-ropäischen Schauplatz anzutreffen.''Nach Ansicht der Brandt-Kommission kann wahre Sicherheit nur erreicht werden, „wenn nicht weiterhin Waffen angehäuft werden — Verteidigung im engeren Sinne —, sondern die Grund-bedingungen für ein friedliches Zusammenleben der Nationen geschaffen und eine Lösung nicht nur der militärischen, vielmehr auch der nichtmilitärischen Probleme, die diese bedrohen, angestrebt wird ... Unser überleben hängt nicht allein vom militärischen Gleichgewicht, sondern auch von globaler Zusammenarbeit für die Erhaltung der biologischen Umwelt und eines dauerhaften Wohlstandes auf der Grundlage gerecht verteilter Mittel ab. Viel von der Unsicherheit in der Welt steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Unterschieden zwischen reichen und armen Ländern — schwerwiegende Ungerechtigkeit und Massenhunger verursachen zusätzliche Instabilität."
Die Stellungnahme des Vatikan, das Schlußdokument der Vereinten Nationen und der Bericht der Nord-Süd-Kommission stimmen in der Verurteilung des Wettrüstens überein. Ein neues Verständnis von Sicherheitspolitik und eine kurz-und mittelfristig realisierbare Strategie der Vertrauensbildung und Rüstungsminderung lassen diese drei repräsentativen Stellungnahmen jedoch erst in Ansätzen erkennen. Bevor wir uns der schwierigen Suche nach politisch realisierbaren konzeptionellen Alternativen zuwenden, ist eine knappe Bestandsaufnahme der Bemühungen um Rüstungskontrolle und Abrüstung seit 1945 angebracht. 1. Ziele der traditionellen Rüstungskontrollkonzeption Während in der Phase des Kalten Krieges (1946— 1962) den Abrüstungsvorschlägen der beiden Supermächte häufig eine propagandistische Funktion im Rahmen der psychologischen Kriegsführung zukam, trugen in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre zum einen zunehmend gemeinsame Steuerungsinteressen (Begrenzung von Überraschungsangriffen und Zufallskriegen, Begrenzung der Weitergabe von Atomwaffen) und zum anderen eine erstarkende Bewegung gegen die gesundheitsgefährdenden Folgen von atmosphärischen nuklearen Tests zur Suche nach gemeinsamen Lösungen bei. An die Stelle von deklaratorischen Bemühungen um eine generelle und vollständige Abrüstung, d. h.der Begrenzung und Verminderung von Rüstungspotentialen und Verteidigungsaufwendungen, trat die Rüstungskontrolle, d. h. das Bemühen um nuklearstrategische Stabilität und die Vermeidung von Nuklearkriegen (Krisenmanagement). Thomas Schelling nannte im Herbst 1960 die folgenden drei klassischen Ziele der Rüstungskontrolle: a) die Wahrscheinlichkeit des Krieges zu senken, b) die Kosten für die Kriegsvorbereitung zu reduzieren und c) den Schaden im Falle eines Scheiterns der Abschreckung zu begrenzen Oberstes Ziel aller Rüstungskontrollbemühungen war nach der amerikanischen Rüstungskontrollschule die Erhaltung der Stabilität im Frieden, in der Krise und im Konflikt Wurden diese Ziele durch die politischen Bemühungen der beiden letzten Jahrzehnte eingelöst? 2. Ergebnisse der Rüstungskontrollbemühungen
Während des Kalten Krieges ist es lediglich gelungen, einen multilateralen Rüstungskontrollvertrag abzuschließen: den Antarktis-Vertrag vom 1. Dezember 1959, der eine militärische Nutzung der Antarktis untersagt.
In die Phase der begrenzten Entspannung (1963— 1968) fielen folgende multilateralen Rüstungskontrollverträge: Der Teststopp-Vertrag vom 5. August 1963, der nukleare Testversuche in der Atmosphäre untersagt; der Weltraumvertrag vom 27. Januar 1967, der die Militarisierung des Weltraumes verbietet; der Lateinamerika-Vertrag (Vertrag von Tlatelolco) vom 14. März 1967, der Lateinamerika zu einer nuklearwaffenfreien Zone erklärt; der Nichtverbreitungs-Vertrag vom 1. Juli 1968, der die Weitergabe von Nuklearwaffen untersagt. Diese multilateralen Rüstungskontrollverträge wurden durch zwei bilaterale Krisenmanagementabkommen über die Errichtung ei-nes Heißen Drahtes zwischen den USA und der Sowjetunion (20. Juni 1963) sowie zwischen Großbritannien und der UdSSR (25. August 1967) ergänzt. In der Phase der Entspannung (seit 1969) wurden folgende multilateralen Verträge ausgehandelt: Der Meeresboden-Vertrag vom 11. Februar 1971, der die Anbringung von Kernwaffen und anderen Massenvernichtungsmitteln auf dem Meeresboden und Meeresuntergrund verbietet; das Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer) Waffen und von Toxinwaffen sowie über die Vernichtung solcher Waffen vom 10. April 1972; das bereits aufgeführte Dokument über vertrauensbildende Maßnahmen und bestimmte Aspekte der Sicherheit und Abrüstung im Rahmen der KSZE-Schlußakte vom 1. August 1975; schließlich das Übereinkommen überdas Verbot dermilitärischen odereiner sonstigen feindseligen Nutzung umweltverändemder Techniken vom 18. Mai 1977. Von besonderer Bedeutung sind die bilateralen Rüstungskontrollabkommen zwischen den USA und der UdSSR: Der SALT-l-Vertrag vom 26. Mai 1972 mit den beiden Teilen: Vertrag über die Begrenzung von Systemen zur Abwehr ballistischer Raketen (ABM-Vertrag) und das Interimsabkommen hinsichtlich der Begrenzung von strategischen Angriffswaffen; der bisher nicht ratifizierte SALT-II-Vertrag über die Begrenzung strategischer Waffen, der am 18. Juni 1979 von Jimmy Carter und Leonid Breschnew in Wien unterzeichnet wurde-, die bilateralen Verträge zwischen den USA und der UdSSR über die Begrenzung von unterirdischen Kernwaffenversuchen vom 3. Juli 1974und der Vertrag über unterirdische Kernexplosionen zu friedlichen Zwecken vom 28. Mai 1976, sowie die bilateralen Krisenmanagementabkommen: Abkommen über die Verbesserung der direkten Nachrichtenverbindung (Heißer Draht) vom 30. September 1971; Übereinkunft über Maßnahmen zur Verminderung des Risikos des Ausbruchs eines Nuklearkrieges zwischen den USA und der Sowjetunion vom 30. September 1971; Protokoll zur amerikanisch-sowjetischen Übereinkunft zur Vermeidung von Zwischenfällen auf hoher See vom 22. Mai 1973 und das Abkommen zur Vermeidung eines Nuklearkrieges vom 22. Juni 1973.
Die meisten Rüstungskontrollabkommen der beiden letzten Jahrzehnte haben als Krisenmanagementabkommen zur Verringerung des Kriegsrisikos beigetragen, gemeinsame Steuerungsinteressen der Nuklearmächte festgeschrieben, Prinzipien-und Absichtserklärungen dokumentiert und das Vordringen der Rüstung in neue Bereiche (Antarktis, Weltraum, Meeresboden, Umwelttechniken) untersagt (Nichtrüstungsabkommen). Nur ein Vertrag (Konvention über bakteriologische Waffen) kann als Abrüstungsvertrag bezeichnet werden, während der ABM-Vertrag eine militärische Mission (Aufbau von antiballistischen Raketensystemen) verbot und die beiden SALT-Abkommen zwar quantitative Begrenzungen bei den Startsystemen vornehmen, eine Zunahme der Zahl der Sprengköpfe jedoch gestatten. Den Rüstungskontrollabkommen der letzten zwei Jahrzehnte gelang es nicht, die Verteidigungslasten einzudämmen;nur begrenzt konnten dadurch Instabilitäten beseitigt werden.
3. Kritik an der Rüstungskontrolle: Diskrepanz von Zielen und Ergebnissen
Die Anfang der siebziger Jahre gewagte These einiger deutscher Friedensforscher die traditionellen Rüstungskontrollverhandlungen dienten der Rechtfertigung von neuen Rüstungsanstrengungen, bzw. daß . Aufrüstung durch Rüstungskontrolle“ zu einem wichtigen Motor der nationalen und internationalen Rüstungsdynamik geworden sei, wurde 1974 von drei amerikanischen Rüstungskontrollexperten, die über mehrjährige praktische Erfahrungen im Pentagon verfügen, bestätigt Die Einwände zahlreicher Kritiker der traditionellen Rüstungskontrollpolitik führten zu der Arbeitshypothese:
Der innenpolitische Preis für Rüstungskontrollabkommen kompensiert Ersparnisse in anderen Teilbereichen und begünstigt neue waffentechnologische Entwicklungen, die den qualitativen Rüstungswettlauf eher beschleunigen'' 17).
Der Direktor des Londoner Instituts für strategische Studien, Christoph Bertram, wies in mehreren Beiträgen darauf hin, daß die technologische Entwicklung die Unzulänglichkeit quantitativer Begrenzungen, d. h. das Streben nach Parität in Teilbereichen, verdeutliche. Bertram schlußfolgerte nach einer eingehenden Beschäftigung mit einigen Ergebnissen der Rüstungskontrollbemühungen: „Rüstungskontrolle ist nicht mehr, wie ursprünglich erhofft, Mittel zur politischen Entspannung; sie setzt vielmehr politische Entspannung voraus, um nicht Mißtrauen und neue Sorgen auszulösen. Sie konsumiert Vertrauen zwischen Ost und West, produziert es jedoch nicht. Die politische Symbolkraft erfolgreicher Rüstungskontrolle bleibt aus, weil . Erfolg'bei der technologischen Entwicklung in Frage gestellt ist" 18)
Während die traditionellen Rüstungskontrollbemühungen sich weitgehend auf den Bereich einer Kontrolle militärischer Optionen nach Stabilitätsgesichtspunkten und auf die Verhandlungen zwischen Staaten konzentrierten, vollzog sich in den siebziger Jahren ein allmählicher konzeptioneller Wandel in der Problem-Perspektive. Können die Ergebnisse der Forschungen zu den Determinanten des Rüstungsbeschaffungsprozesses bzw. zur nationalen und internationalen Rüstungsdynamik einen Beitrag zu einer Neuformulierung rüstungskontrollpolitischer Ziele und Perspektiven leisten?
4. Einige Ergebnisse der Forschung zur Rüstungsdynamik
Während in den fünfziger Jahren Strategen, Sozialwissenschaftler und selbst Friedensforscher sich bei der Analyse des Rüstungswettlaufes auf die internationale Interaktionsebene konzentrierten und Rüstungswettläufe häufig als Aktions-Reaktions-Prozesse zwischen zwei und mehreren Staaten untersuchten, lag das wissenschaftliche Interesse zu Beginn der siebziger Jahre bei den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Determinanten der Rüstungs-, Militär-und auch der Rüstungskontrollpolitik In Studien zur ameri. kanischen Rüstungsdynamik ) wurden zunehmend innergesellschaftliche Faktoren der Beschaffungspolitik bearbeitet: gesellschaftliche Prozesse und Koalitionen (z. B. Hypothese des militärisch-industriellen Komplexes), bürokratische Routinen und Entscheidungspro-zesse, wirtschaftliche Faktoren (Arbeitsplätze, Gewinne, strukturelle und regionale Implikationen) und der rapide technologische Wandlungsprozeß. Im Jahre 1975 kamen Allison und Morris bei der Untersuchung der Determinanten der strategischen Waffensysteme in den sechziger Jahren zu folgendem Ergebnis: „Analytiker von Rüstungswettläufen und Verfechter der Rüstungskontrolle neigten dazu, Faktoren zwischen den Nationen als Hauptdeterminanten des Rüstungswettlaufes und als Hauptangriffspunkte für mögliche Rezepte hervorzuheben. Wenn auch Aktionen der ausländischen Regierungen und die Unsicherheit über die Absichten anderer Länder offensichtlich wichtig sind, kommt diese Analyse zu dem Ergebnis, daß die Waffen der amerikanischen und sowjetischen Streitkräfte im wesentlichen das Ergebnis interner Faktoren sind. Dabei werden nicht nur die Organisationsziele und Verfahrensweisen von innenpolitischen Gesichtspunkten geprägt, auch die daraus erwachsenden Belohnungen für die politisch Verantwortlichen sind vorwiegend dort zu finden.“
Zahlreiche Fallstudien über einzelne Rüstungsprojekte, über die Verhandlungen und nationale Implementierung von Rüstungskontrollverträgen kamen zu unterschiedlichen Gewichten der jeweiligen innen-und außen-politischen Bestimmungskräfte. Eine realistische Rüstungskontrollstrategie muß versuchen, die wichtigsten nationalen und internationalen Determinanten der Rüstungsdynamik in den Griff zu bekommen.
5. Sachzwänge für eine Reform der Rüstungskontrollpolitik
Die analytischen Mängel des traditionellen Rüstungskontrollansatzes und die zunehmende Diskrepanz zwischen proklamierten Zielen und den erreichten Ergebnissen würden allein keine Reform der Rüstungskontrollkonzeption begründen können. Zahlreiche neue Herausforderungen verlangen eine kooperative Lösung:
— Die weitere Ausbreitung der Nuklearwaffen in den achtziger Jahren in Staaten der Dritten Welt (z. B. die Entwicklung einer islamischen Atombombe in Pakistan) schafft für die USA und die UdSSR gleichermaßen gefährliche Herausforderungen, denen beide gemeinsam begegnen müssen.
— Eine weitere Verschlechterung der Entwicklungschancen der Dritten Welt kann das Konfliktpotential mit allen Industriestaaten in Ost und West erhöhen.
— Das Versagen bisheriger Rüstungskontrollbemühungen, neue destabilisierende waffentechnologische Entwicklungen durch Rüstungskontrollmaßnahmen zu verhindern, führt zu einer Kostenexplosion, die von den beiden Supermächten und ihren Verbündeten nur noch bedingt bewältigt werden kann (z. B. Tornado).
— Zugleich bieten möglicherweise neue Panzerabwehrwaffen und Präzisionslenkwaffen Ende der achtziger Jahre Voraussetzungen für den Aufbau von Wehrstrukturen in Ost und West, die eher mit den Konzeptionen der Entspannung harmonieren
All diese möglichen Entwicklungstendenzen können in den achtziger Jahren die Erfolgsaussichten für eine Reform der Rüstungskontrollpolitik verbessern.
6. Elemente eines neuen Rüstungskontrollansatzes
Welche Schlußfolgerungen lassen sich aus — der zunehmenden Diskrepanz zwischen rüstungskontrollpolitischen Zielen, der rüstungskontrollpolitischen Praxis und den dysfunktionalen nationalen Nebenwirkungen (z. B. im Rahmen von Ratifizierungsverfahren in den USA) und — der stärkeren Betonung innergesellschaftlicher Faktoren bei der Erklärung der Rüstungsdynamik für eine Neufassung der Rüstungskontrollstrategie ziehen?
Eine Rüstungskontrollpolitik, die Vertrauen verbraucht, das im Rahmen der Entspannungspolitik durch kooperative Handlungen in anderen Politikbereichen geschaffen wurde, droht die Entspannungspolitik selbst zu gefährden, Eine neue Rüstungskontrollpolitik muß die dysfunktionalen Nebenwirkungen des traditionellen Rüstungskontrollprozesses vermeiden: die Überbetonung quantitativer Gleichgewichtsvorstellungen für alle Teilbereiche, die eine Symmetrierung auf einem höheren Niveau als Verhandlungsergebnis begünstigt Eine neue Rüstungskontrollstrategie muß verstärkt qualitative Faktoren zu Verhandlungsobjekten machen: Waffentechnologien, aber auch die unterschiedlichen Militär-Strategien Gegenstand von Rüstungskontrollbemühungen sollten sowohl eine Verminderung der subjektiven Bedrohung (Verzicht auf politische Einschüchterungsversuche bzw. auf eine Übertreibung gegnerischer Potentiale zur Legitimation eigener Rüstungsanstrengungen) als auch eine Überwindung der wahrscheinlichsten Kriegsbilder (z. B. für Mitteleuropa ein Übergreifen regionaler Konflikte aus der Dritten Welt auf Europa bzw. ein Überraschungsangriff) sowie eine Reduzierung jener militärischer Mittel sein, die für eine offensive militärische Überraschungsaktion unverzichtbar sind. Rüstungskontrolle darf sich nicht länger auf rein quantitative und gelegentlich qualitative militärische Faktoren begrenzen, vielmehr muß national die politisch-psychologische Umwelt (z. B. Einkreisungsfurcht, historische Erfahrungen usw.) und international der nichtmilitärische politisch-strategische Bereich einbezogen werden.
Eine neue Rüstungskontrollstrategie muß sich aber auch verstärkt jenen innenpolitischen Determinanten zuwenden, die bisher die Unterstützung für Rüstungskontrollabkommen untergruben: den ideologischen Prädispositionen der eigenen Bevölkerung: ihrem Mißtrauen in die Absichten der anderen Seite, den ökonomischen Folgeproblemen bei einem Ausbleiben von militärischen Nachfolgeprojekten und einer Verbesserung einer politischen Kontrollierbarkeit und Steuerbarkeit des militärtechnologischen Innovations-und des Rüstungsbeschaffungsprozesses. Ohne ein Minimum an wechselseitigem Vertrauen zwischen den Verhandlungspartnern und ohne eine auf Vertrauen gestützte nationale Unterstützung für die rüstungskontrollpolitischen Ziele ist jede technische Rüstungskontrollstrategie zum Scheitern verdammt. Ein neuer Rüstungskontrollansatz verlangt als abrüstungspolitische Vorabmaßnahmen auf nationaler Ebene Maßnahmen, die Widerstände vermindern und Unterstützung schaffen (abrüstungsfördernde Maßnahmen), auf internationaler Ebene solche, die Vertrauen schaffen (vertrauensbildende Maßnahmen), und im Bereich der Verhandlungen Initiativen, die Engpässe überwinden helfen (verhandlungsfördernde Maßnahmen).
Ein neuer Rüstungskontrollansatz sollte aus drei Elementen bestehen:
a) einem regionalen Ansatz;
b) einem Missionsansatz;
c) einem Systemansatz.
Ein regionaler, aufganz Europa bezogener Rüstungskontrollansatz
bzw. ein gesamteuropäisches Abrüstungsprogramm sollte eine der Grundlagen für eine zweite Phase der europäischen Entspannungspolitik werden. Eine gesamteuropäische Deklaration bzw. Konvention über Vertrauensbildende Maßnahmen könnte ein erster Schritt zu einer regionalen Rüstungskontrollkonzeption für Europa darstellen. Der Missionsansatzhat. zum Ziel, eine militärische Mission, also wahrscheinliche Kriegführungsoptionen, die von dem potentiellen Gegner als bedrohend bzw.destabilisierend wahrgenommen werden können, einzudämmen. Christoph Bertram erörterte eingehend den ABM-Vertrag von 1972 als Beispiel für den von ihm als Alternative geforderten Missionsansatz. Der Vertrag verbietet die Verteidigung mit antiballistischen Raketen gegen ballistische Raketen und untersagt sowohl bestehende als auch zukünftige technologische Alternativen. Nach Bertram sollte sich die Rüstungskontrolle auf die Beschränkung der von beiden Seiten für unerwünscht gehaltenen Einsatzoptionen orientieren. „Im strategisch-nuklearen Bereich kämen dafür in Betracht: die Verwundbarkeit von landgestützten Raketen; die Fähigkeit, Satelliten im Weltraum auszuschalten; die Verbesserung der U-B'oot-Abwehr. In Europa stünde an erster Stelle die Option des konventionellen Überraschungsangriffs. In der Dritten Welt die Fähigkeit zur ungehinderten Projektion militärischer Macht von außen. Mit anderen Worten: Künftige Rüstungskontrollverhandlungen und -Vereinbarungen sollten orientiert sein am militärischen Produkt, nicht in erster Linie an den militärischen Zutaten. Sie sollte der Ächtung bestimmter, für die militärische und politische Stabilität abträglicher Einsatzoptionen dienen, damit das Ziel von Verträgen anders als nur durch numerische Begrenzungen bestimmt werden kann.' Der Systemansatz konzentriert sich auf jene zentralen Waffensysteme, die bei der für besonders bedrohlich empfundenen Kriegsführungsoption (z. B. bei einem konventionellen Überraschungsangriff: Panzer, nukleare Gefechtsfeldwaffen usw.) entscheidend sein können. Nach Bertram könnte z. B. die eine Seite bei einer Vereinbarung, „die die Fähigkeit zum Überraschungsangriff beschränkt, in einem bestimmten Stadium technologischer Entwicklung die Reduzierung ihrer gepanzerten Einheiten in Grenznähe wählen, die andere statt dessen verstärkter Luftüberwachung durch die andere zustimmen“. Alternative Wehrstrukturmodelle, wie sie z. B. von Brossollet, Afheldt, Mechtersheimer, Uhle-Wettler u. a. gefordert werden, könnten in den neunziger Jahren eine Wehrstruktur ermöglichen, die einer Logistik zur Offensive entbehrt, die jedoch ein untragbares Risiko für jeden potentiellen Aggressor darstellt. Dieser neue Rüstungskontrollansatz könnte integraler Bestandteil eines alternativen sicherheitspolitischen Konzepts sein, das die konventionelle defensive Komponente für jeden Gegner glaubhaft macht. Abrüstungspolitische Vorab-maßnahmen können den Weg für eine neue Rüstungskontroll-und Abrüstungsstrategie für Europa vorbereiten.
III. Abrüstungsfördernde Maßnahmen: Der nationale Kontext
Das Konzept der abrüstungsfördernden Maßnahmen versucht Schlußfolgerungen aus neueren Untersuchungen zur Rüstungsdynamik und zur Rüstungskontrolle zu ziehen Abrüstungsfördernde Maßnahmen sollten sich mit den innergesellschaftlichen Determinanten der Rüstungsdynamik bzw. mit den gesellschaftlichen Widerständen gegen Rüstungskontrollabkommen bzw. mit den dysfunktionalen Nebenerscheinungen des Ratifikationsprozesses von solchen Abkommen befassen. Gegenstand abrüstungsfördernder Maßnahmen sind u. a.der Forschungs-und Entwicklungs-sowie der Beschaffungsprozeß für Rüstungsprogramme, die wirtschaftlichen Folgeprobleme bei der Schließung militärischer Installationen und beim Ausbleiben von militärischen Nachfolgeprojekten bei auslaufenden Produktionslinien. Grundprinzipien abrüstungsfördernder Maßnahmen sind: Ofienheit, Transparenz und parlamentarische Kontrollierbarkeitund eine erhöhte politische Plan-und Steuerbarkeit des Waffenentwicklungs-und Beschaffungsprozesses.
Dies erfordert u. a. die jährliche Veröffentlichung von Rüstungskontrollgutachten über laufende Rüstungskontrollprojekte, wie diese z. B. in den USA seit 1976 jährlich vorgelegt werden müssen. Die Veröffentlichung von Rüstungskontrollgutachten könnte längerfristig Teil eines multilateralen Abkommens über vertrauensbildende Maßnahmen werden.
Soll die Rüstungskontrolle sich nicht länger mit den Problemen von gestern beschäftigen und soll der Waffenbeschaffungsprozeß nicht länger die Parameter strategischer Planung vorgeben, dann bedarf es einer Ausweitung der Problemdefinition, die Entwicklung einer längerfristigen Rüstungskontrollperspektive als integralerBestandteil einer längerfristigen sicherheitspolitischen Planungund einer Doppelstrategie, die nationale Initiativen konzeptionell mit einem Vertragsansatz verknüpft Die Verwirklichung dieses Postulates erfordert eine Stärkung der Rüstungskontrollperspektive im Rahmen des „sicherheitspolitischen Managements“ sowohl auf nationaler Ebene als auch auf der Ebene der Allianz. Die Europäischen Staaten werden in den achtziger Jahren zu Problemen der Rüstungskontrollund Abrüstungspolitik einen stärkeren eigenen konzeptionellen Beitrag leisten müssen Dies erfordert auch verbesserte Kon-sultationsmechanismen auf der Ebene der Allianz. Den ökonomischen Widerständen gegen Rüstungskontroll-und vor allem gegen Abrüstungsmaßnahmen muß durch eine vorausschauende Umstellungsplanung und -politik begegnet werden Rüstungskontrolle wird nur dann mobilisierend wirken können, wenn es gelingt, die Ziele und Ergebnisse für die Mehrheit der Bevölkerung verstehbar und einsichtig zu machen. Als Gegengewicht zu der verteidigungsorientierten und geförder-ten Forschung muß eine vorausschauende, praxisorientierte Rüstungskontrollforschung und eine verstärkte Verbreitung von rüstungskontrollpolitischen Maßnahmen treten
Abrüstungsfördernde Maßnahmen können einseitig als nationale Initiativen verwirklicht werden. Indem sie ein höheres Maß an Offenheit, Transparenz und Kontrollierbarkeit von sicherheitspolitischen Fragen auf nationaler Ebene erstreben, tragen sie zugleich auch zur Vertrauensbildung im internationalen Bereich bei.
IV. Verhandlungsfördernde Maßnahmen: Der Verhandlungskontext
Verhandlungsfördernde Maßnahmen — die zweite Gruppe der abrüstungspolitischen Vorabmaßnahmen — verfolgen ein doppeltes Ziel: Sie sollen bessere Voraussetzungen für die Aufnahme von Rüstungskontroll-und Abrüstungsgesprächen schaffen und bei festgefahrenen Verhandlungen einen Durchbruch erleichtern. Einseitige Maßnahmen mit einer politischen Signalwirkung haben in der Vergangenheit wiederholt die Aufnahme von Rüstungskontrollverhandlungen erleichtert. Zwei Beispiele mögen zur Illustration genügen: Im Jahre 1963 erleichterte die einseitige Einstellung der Tests von Nuklearwaffen in der Atmosphäre durch Präsident Kennedy (Kennedy-Experiment) und einige öffentliche Stellungnahmen mit einem politischen Signal-charakter (z. B. Präsident Kennedys Rede in der American University vom 10. Juni 1963) den Abschluß des Begrenzten Teststoppabkommens im August 1963. Andere einseitige verhandlungsfördernde Maßnahmen konnten einen Durchbruch bei festgefahrenen Verhandlungen erleichtern: Mit der einseitigen Präsident Erklärung Nixons vom 25. November 1969, auf den Ersteinsatz biologischer Waffen zu verzichten, wurde der Weg für den Abschluß der Konvention über biologische Waffen im Jahre 1972 geebnet.
Folgende einseitig einleitbare verhandlungsfördernde Maßnahmen können ggf. die Bemühungen um Rüstungskontrolle Abrüstung und voranbringen:
— Einfrieren militärischer Potentiale, von Truppenstärken und der Modernisierung von Waffensystemen (freeze);
— Moratorium für die Entwicklung, den Test, die Einführung und die Stationierung neuer Waffensysteme; — Erklärung des Nicht-Ersteinsatzes bestimmter Waffen (von chemischen, biologischen und atomaren Waffen);
— einseitige bzw. wechselseitige Einhaltung von Höchstgrenzen (ceilings) für bestimmte, genau bezeichnete Waffensysteme;
— einseitiger Produktionsstopp von nuklearem Material, das für die Herstellung von Kernwaffen benutzt werden kann (cutoff). Die Konzeption verhandlungsfördernder Maßnahmen ist bisher wenig entwickelt Es fehlen noch systematische, empirische Untersuchungen über die Erfolge und Fehlschläge mit einseitig eingeleiteten verhandlungsfördernden Maßnahmen. Sollen verhandlungsfördernde Maßnahmen nicht als eine geschickte, propagandistisch motivierte Strategie deklaratorischer Politik mißverstanden werden können, dann muß bei deren Ankündigung auf jegliche versteckte Drohung verzichtet werden. Die Durchführung bzw. die Einhaltung deklarierter Maßnahmen der Selbstbeschränkung muß für die andere Seite mit nationalen Mitteln überprüfbar sein.
Die Konzeption verhandlungsfördernder Maßnahmen könnte am Beispiel der euronuklearen Waffen getestet werden. Die Bereitschaft zu einem wechselseitigen Moratorium bei eurostrategischen Systemen (LRTNF, Reichweite 1 000— 5 500 km) könnte ggf. durch die einseitige Ankündigung der NATO, die Zahl und Qualität der eurotaktischen Systeme (MRTNF, SRTNF, Reichweite unter 1 000 km) einzufrieren, gefördert werden Folgt die Gegenseite nicht mit einem entsprechenden Signal der Selbstbeschränkung bzw. drohen die Verhandlungen zu scheitern, dann können die verhandlungsfördernden Maßnahmen jederzeit einseitig zurückgenommen werden. Auf Breschnews jüngsten Vorschlag vom 16. März 1982, keine weiteren SS-20 Mittel-streckenraketen im europäischen Teil der Sowjetunion aufzustellen (einseitiges geographisch begrenztes Stationierungsmoratorium), könnte die NATO z. B. mit einem zeitlich begrenzten Stationierungsmoratorium für euro-taktische nukleare Trägersysteme mit einer Reichweite unter 1000 Kilometer antworten.
V. Vertrauen und Vertrauensbildende Maßnahmen: Der internationale Kontext
Eine Grundvoraussetzung für die Fortsetzung der Entspannungspolitik und für eine konzeptionelle Neufassung der Rüstungskontrollpolitik sowie für eine neue europäische Abrüstungsstrategie ist ein höheres Maß an wechselseitigem Vertrauen. Die wissenschaftlichen und politischen Konzepte „Vertrauen", „Vertrauensbildung“ und „vertrauensbildende Maßnahmen" bedürfen einer begrifflichen Klärung.
1. Vertrauen und Mißtrauen — zwei Grundbegriffe der internationalen Beziehungen
Vertrauen ist als eine Vorbedingung für kooperatives Handeln und für vertragliche Beziehungen eine grundlegende Kategorie für alle sozialen Systeme auf der Ebene der Familie, des Staates oder der internationalen Beziehungen. Mißtrauen ist dagegen eine zentrale Kategorie der Militärplanung. Militärische Planungen für den schlimmstmöglichen Fall stützen sich häufig auf unzureichende Information und auf ein hohes Maß an Mißtrauen gegenüber den gegnerischen Absichten. Die bewußte Überzeichnung gegnerischer Potentiale und der Hinweis auf aggressive Absichten dienen häufig Rechtfertigung neuer Rüstungsprojekte — auch in den westlichen Demokratien. Die Instrumentalisierung des Mißtrauens ist zu einem Bestandteil des Beschaffungsprozesses geworden. Maßnahmen, Mißtrauen haben, die den Abbau von zum Ziel können die rüstungspolitische Legitimationsstrategie gefährden. Das ständige Nebenein-ander Von Kooperation und Konfrontation, von Vertrauen und neuem Mißtrauen läßt Rüstungskontrolle zu einer gefährlichen Grat-Wanderung werden. Mit Rosenkranz vertreten wir die Ansicht, daß der Westen keiner derart zweifelhaften Legitimierungsversuche bedarf und bei einem Verzicht auf unbeweisbare Unterstellungen und bei einer größeren Vertrau^Bereitschaft glaubwürdiger wäre 33).
Obwohl die Völkerrechtler den Vertrauensbegriff in verschiedenen Bezügen benutzen (bona fides, Treu und Glauben, Vertrauensschutz) und der Begriff Vertrauen auch in vielen internationalen Verträgen auftaucht (als „bonne foi“, „beständiges Vertrauen, „optima fide“, „parole et foi de Roi", „confidentia", „confiance”), fehlt bisher eine umfassende völkerrechtliche Vertrauenstheorie 34). Nach Mahncke läßt sich Vertrauen als die Bereitschaft eines Akteurs bezeichnen, „im voraus und ohne gesichertes Wissen von einer bestimmten Handlungsweise oder einem bestimmten Handlungsrahmen eines handelnden Partners auszugehen.“ 35) Vertrauen kann demnach als ein zukunftsorientiertes Verhaltensmuster zwischen mindestens zwei Partnern bezeichnet werden, das sich auf ein gewisses Maß an Wissen, aber nicht auf Sicherheit stützt. Der Begriff Vertrauen ist eng mit den Begriffen Wissen, Risiko und Zukunft verbunden. Während Vertrauen für Simmel eine „Mischung aus Wissen und Nichtwissen“ darstellte, definierte Luhmann Vertrauen als eine „riskante Vorleistung" bzw. als eine überzogene Information" 36). Vertrauen stützt sich häufig auf Wissen über vergangene (historische Überlieferung, Tradition) oder gegenwärtige Erfahrung. Vertrauen erfordert eine gewisse Risikobereitschaft für den Fall eines Vertrauensbruchs. Um das Risiko zu -vermin dern, erfordert die Vertrauensbildung viele kleine über einen längeren Schritte Zeitraum. Der Grad des Vertrauens wird um so größer sein, desto größer die Transparenz und das Wissen und um so geringer das Risiko für beide Seiten ist Der Grad an gesichertem und überprüfbaren Wissen über die andere Seite, der Grad der Berechenbarkeit gegnerischer Handlungen, das Verständnis über die Absichten des Partners sind stabilisierende Elemente der internationalen Beziehungen. Vertrauensbildende Maßnahmen zielen auf die Schaffung von Bedingungen, die ein höheres Maß an Vertrauen rechtfertigen, die das Wissen über gegnerische Handlungen und Absichten erhöhen und das Risiko eines Schadens mindern, d. h., sie erstreben eine Verminderung der subjektiven und objektiven Ursachen des Bedrohtseins. Ihr Ziel ist die Schaffung von mehr Sicherheit auf der Grundlage von Offenheit, Transparenz und Berechenbarkeit. Deswegen wird die Schaffung geeigneter Kommunikationsstrukturen zwischen den politischen Führungen und den verantwortlichen Staatsmännern zum Austausch sensitiver Informationen im Rahmen der Rüstungskontrolle und des Krisenmanagements zu einer zentralen Aufgabe für die Vertrauensbildenden Maßnahmen. Vertrauensbildung ist nach Bruns „eine Resultante aus Informationsbereitschaft, aus Informationsmenge und -qualität“
Wenn auch die Verteidigungsplanung meist von dem Grundsatz si vis pacem para bellum
geprägt wurde, so hat dennoch die Bedeutung der „Worst-case-Analysen“ aufgrund zahlreicher Veränderungen der Militärpolitik seit 1940 zugenommen: die zunehmende Bedeutung der militärischen Forschung und Entwicklung; die Bedeutung des rapiden technologischen Wandels für die militärische Aufgabenerfüllung; die Einführung der Atomwaffen und deren Einfluß auf die militärische Planung und Doktrinenbildung; permanente Bereitschaft und Abschreckungsdenken als Grundprinzipien politisch-militärischen Denkens und die institutioneile Anhebung der Rolle des Militärs und des militärischen Sachverstands im außenpolitischen Entscheidungsprozeß seit Beginn des Kalten Krieges. In dem Maße, in welchem die militärische Definition der nationalen Sicherheitsinteressen die außenpolitischen Handlungen bestimmt, bilden Mißtrauen statt Vertrauen die Grundlage für die einzige längerfristige außen-und sicherheitspolitische Planung.
George W. Rathjens Wies zu Beginn der siebziger Jahre darauf hin, daß angesichts der großen Unsicherheit über die militärischen Potentiale und vor allem über die Absichten der jeweils anderen Seite die militärische Analyse häufig davon ausgehe, das Schlimmste bezüglich der gegnerischen Absichten anzunehmen und einen optimalen Einsatz der gegnerischen Waffensysteme zu vermuten, den man den eigenen Systemen nicht zubillige. „Die Tragödie dieses Ansatzes ist, daß er zur Überreaktion verleitet, dazu, neue Waffensysteme zu entwickeln und anzuschaffen, die häufig die realen Verteidigungsbedürfnisse übertreffen, um gegnerische Entwicklungen zu kompensieren. Die Überreaktion der einen Seite führt wahrscheinlich zu einer weiteren Überreaktion des Gegners als Ergebnis seiner Anwendung der Analyse des schlimmst-möglichen Falls usw. Deshalb ist die , Worst-case'-Analyse ein Wesensmerkmal des Rüstungswettlaufs." 38)
Aufgrund der langen Planungs-und Entwicklungszeiten für neue militärische Programme stützen sich die Planungen häufig auf nachrichtendienstliche Projektionen für die nächsten fünf bis zehn Jahre. Wegen des hohen Unsicherheitsgrades dieser Prognosen bevorzugen viele politisch Verantwortliche die ungünstigste Variante, d. h„ sie gehen bei ihren Entscheidungen häufig davon aus, was der Gegner tun kann, statt davon, was er tun wird. Nach Rathjens kann das Worst-case-Denken als Element der Militärplanung sowohl zur Rüstungswettlaufinstabilität als auch zunehmend zur Kriseninstabilität beitragen.
Nationale Verifikationsmittel, wie z. B. die Satellitenüberwachung und Ergebnisse der Rüstungskontrollverhandlungen, haben in gewissem Maße die Bandbreite für Fehlinterpretationen und für Überzeichnungen der gegnerischen Potentiale reduziert Dennoch haben Worst-case-Analysen und Projektionen, wie das Beispiel der offiziellen Rechtfertigung der sogenannten westlichen Nachrüstung deutlich machte, nichts an Bedeutung eingebüßt Häufig werden hypothetische Möglichkeiten im Prozeß der Rechtfertigung von militärischen Entscheidungen zu Gewißheiten. Vertrauensbildende Maßnahmen müssen deshalb den Ursachen und den intellektuellen Begründungen des Worst-case-Denkens durch ein höheres Maß an Offenheit, Transparenz und Berechenbarkeit entgegenwirken.
2. Vertrauensbildung — eine zentrale Aufgabe der internationalen Politik
Während das Völkerrecht den Vertrauensschutz als normatives Prinzip der internatio-nalen Völkerrechtsordnung ansieht, wobei sich der Schutz nur auf bestehendes und von der Rechtsordnung als schützenswert anerkanntes Vertrauen bezieht, hat die KSZE-Schlußakte die Entstehung des Vertrauens, die Vertrauensbildung selbst, zum Ziel. Vertrauensbildung beschränkt sich dabei nicht auf die politisch-militärischen Maßnahmen, also die Vertrauensbildenden Maßnahmen im engeren Sinne, vielmehr muß die KSZE-Schlußakte — ein rechtlich nicht bindendes politisches Abkommen — als eine Sammlung einzelner Maßnahmen und Absichtserklärungen interpretiert werden mit dem Ziel „zur Überwindung des Mißtrauens und zur Vergrößerung des Vertrauens" beizutragen. William Borm bezeichnete die KSZE-Schlußakte als „eine Magna Charta europäischer Friedenspolitik, d. h.der europäischen Entspannungspolitik ... ein System von Elementen zur schrittweisen Entwicklung einer europäischen Friedensordnung"
Als eine Aufgabe der Vertrauensbildung kann die Schaffung verbindlicher Regeln in verschiedenen Bereichen der internationalen Politik gelten mit dem Ziel, die Beziehungen selbst kalkulierbarer bzw. berechenbarer zu gestalten: durch politische, militärische, ökonomische und humanitäre Verhaltensregeln. Als politische Verhaltensregeln gelten allgemeine Prinzipien des Völkerrechts, die als Teil internationaler Verträge (z. B.der UNO-Charta) völkerrechtlich verbindlich sind bzw. als Teil rechtlich nicht bindender politischer Abkommen (Dekalog der KSZE-Schlußakte), multilateraler politischer Absichtserklärungen (z. B. Deklarationen der Vereinten Nationen, UNO-Resolutionen) bzw. bilateraler Erklärungen (z. B. die Erklärung über die grundlegenden Prinzipien über die Beziehungen zwischen den USA und der UdSSR vom 29. Mai 1972) einem Schritt zur Schaffung von völkerrechtlichem Gewohnheitsrecht darstellen können. Häufig wurden allgemeine Prinzipien des Völkerrechts zunächst in einer Region entwickelt (z. B.der weite Begriff des Interventionsverbots wurde erstmals 1948 in der Charta der Organisation Amerikanischer Staaten von Bogota aufgenommen), später in einer Deklaration der Vereinten Nationen globalisiert (z. B. in der Declaration on
Friendly Relations among States vom Jahre 1970) und einige Jahre später in einer anderen Region übernommen (z. B. im Dekalog der KSZE-Schlußakte von 1975).
Heisenberg und Kühne haben die Vertrauensbildenden Maßnahmen im engeren Sinne als „militärische Verhaltensregeln“ definiert, „die sich auf die Handhabung militärischer Macht und ihre Transparenz beziehen, aber nicht unmittelbar der Fixierung bestimmter Rüstungsparameter dienen und die konkret genug sind, um als Maßstab für militärisches Handeln geeignet zu sein". Diese militärischen Verhaltensregeln können als einseitige Selbstbeschränkungen („restraints") oder multilaterale Abkommen mit rechtlichem oder politisch bindendem Charakter auftreten. Militärische Verhaltensregeln sollen zur Stabilisierung von gegenseitigen Verhaltenserwartungen und damit zur Berechenbarkeit bei der Beurteilung gegnerischer Potentiale und Absichten beitragen mit dem Ziel, die subjektive Drohwahrnehmung zu mindern und die objektiven Vorbedingungen für die wahrscheinlichsten Kriegsoptionen zu schwächen.
Auch für den ökonomischen Bereich lassen sich zahlreiche „Verhaltensregeln“ in multilateralen Abkommen (z. B.dem General Agreement on Tariffs and Trade, Rohstoffabkommen), Absichtserklärungen (Charta der ökonomischen Rechte und Pflichten der Staaten) und Verhaltenskodices (z. B. für multinationale Unternehmen im Rahmen der UNO, der OECD und der EG) sowie in bilateralen Abkommen feststellen. Verstehen wir unter ökonomischen Verhaltensregeln bzw. Maßnahmen zur Erhöhung der Plan-und Berechenbarkeit ökonomischen Verhaltens (predictability building measures) ]ene Maßnahmen, die mehr Offenheit, Transparenz und Berechenbarkeit verlangen, dann lassen sich in Korb 2 der KSZE-Schlußakte zahlreiche Textstellen für die Festlegung langfristiger Vorteile der Zusammenarbeit und für die Verbesserung der gegenseitigen Informationen finden.
Die Vertrauensbildung als eine zentrale Aufgabe europäischer und globaler Politik berührt alle Politikbereiche. Die Schlüsselbegriffe der Vertrauensbildung: Offenheit, Bere-chenbarkeit und Transparenz besitzen im Rahmen der KSZE-Schlußakte auch für den Bereich der wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Kooperation (Korb 2) sowie für die Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen (Korb 3) Bedeutung. Bemühungen um eine Erweiterung der Vertraüensbasis sollten alle drei Körbe umfassen. Um eine konzeptionelle Verwirrung zu vermeiden, verwenden wir die Begriffe:
— Vertrauensbildende-Maßnahmen (confidence building measures) für den politisch-militärischen Bereich (Korb 1);
— Maßnahmen zur Erhöhung der Berechenbarkeit (predictability building measures) für den wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und funktionalen Bereich (Korb 2);
— Austauschfördernde Maßnahmen für den humanitären Bereich und den Informationssektor (Korb 3).
Bisher wurden im Rahmen der KSZE für Korb 2 und 3 keine vergleichbaren vertrauensfördernde Maßnahmen in einem gesonderten Dokument festgehalten.
Im Rahmen einer globalen Strategie der Vertrauensbildung können Vertrauensbildende Maßnahmen in einer neuen internationalen Militärordnung die Eindämmung externer Versuche der illegitimen Einflußrealisierung (Intervention, Projektion militärischer Macht)
durch einen multilateralen Nichtinterventionspakt zum Ziel haben Durch die Formulierung ökonomischer Verhaltensregeln (predictability building measures) und durch die Schaffung entsprechender Institutionen zu ihrer Implementierung sollten die internationalen Wirtschaftsbeziehungen berechenbarer gemacht werden mit dem Ziel, globale ökonomische Krisen durch eine engere und längerfristigere stetige Kooperation auf symmetrischer Grundlage einzudämmen. Austauschfördernde Maßnahmen sind bereits heute Gegenstand internationaler Verhandlungen mit dem Ziel, den Technologietransfer zwischen den Industriestaaten und den Entwicklungsländern zu erleichtern.
Eine derart breitgefaßte Konzeptualisierung der Strategie der Vertrauensbildung als Zielvorstellung der Ost-West-, aber auch der Nord-Süd-Beziehungen, bleibt eine Aufgabe für die internationale Politik kommender Jahrzehnte. Nach diesem konzeptionellen Exkurs wollen wir zu den Vorschlägen für eine Ausweitung der Vertrauensbildenden Maßnahmen im Rahmen einer Konferenz über Abrüstung in Europa (KAE) und zum Stand der Bemühungen über ein Mandat für die Einberufung einer solchen europäischen Konferenz durch das Madrider KSZE-Folgetreffen zurückkehren.
Tabelle:
Maßnahmen zur Bildung und Förderung von Vertrauen Ebene politischer militärischer ökonomischer humanitärer und Bereich Bereich Bereich informatorischer Bereich Ziele Offenheit, Transparenz, Berechenbarkeit, Kontrollierbarkeit nationale abrüstungsfördernde
Maßnahmen subregionaler MBFR: begleitende \ Maßnahmen europäischer Grundprinzipien Dokument zu VBM Korb 2: ? Korb 3: ? Bereich: (pol. Verhal-.
(militärische Verhaltensregeln) Verhaltensregeln) Verhaltensregeln) oder KAE? tensregeln)
UNO-Charta globaler Deklaration Deklaration bzw. „predictability Austausch-fördernde über freundschaftl. Konvention building
Beziehungen über VBM? measures"?
Maßnahmen?
VI. Bisherige Ergebnisse des Madrider KSZE-Folgetreffens
Am 12. März 1982 vertagte sich das Madrider KSZE-Folgetreffen auf den 9. November 1982, um nach der Fußballweltmeisterschaft in einem sechsten Anlauf möglicherweise zu einer Abschlußerklärung zu gelangen, die ein Mandat für eine Europäische Abrüstungskonferenz enthalten soll. Fünf Konfernzphasen sind bisher in Madrid vorübergegangen, ohne daß sich die 35 Teilnehmerstaaten des KSZE-Folgetreffens über alle Einzelheiten eines Mandats für eine solche Konferenz einigen konnten. Bereits die Vorkonferenz (9. September— 10. November 1980) sowie die Konferenzeröffnung am 11. November 1980 standen unter einem schlechten politischen Omen. In den beiden letzten Wochen der Implementierungsdebatte (1. Konferenzphase vom 11. November bis 19. Dezember 1980) wurden von den Regierungen Polens (RM 6 vom 8. Dezember 1980), Frankreichs (RM 7 vom 9. Dezember 1980), Jugoslawiens (RM 27 vom 12. Dezember 1980), Rumäniens (RM 31 vom 15. Dezember 1980) und Schwedens (RM 34 vom 15. Dezember 1980) fünf formal und inhaltlich unterschiedliche Vorschläge für die Einberufung einer europäischen Konferenz eingebracht, die sich mit Fragen der Vertrauensbildenden Maßnahmen, der konventionellen und insbesondere nach den schwedischen Vorstellungen auch mit nuklearen Waffen befassen sollte. Ferner legten die Regierungen der Neutralen und Nichtgebundenen Staaten Europas (RM 21 vom 12. Dezember 1980) und die Regierung Rumäniens (RM 33 vom 15. Dezember 1980) detaillierte Vorschläge für eine Erweiterung der Vertrauensbildenden Maßnahmen im Rahmen der KSZE vor
Im ersten Entwurf für ein Schlußdokument vom März 1981 (2. Konferenzphase vom 26. Januar 1981 bis 10. April 1981) waren die militärischen Aspekte noch ausgeklammert. Im Juli 1981 (3. Konferenzphase vom 4. Mai 1981 bis 28. Juli 1981) legten die westlichen und die östlichen KSZE-Mitgliedstaaten konkrete Vorschläge für die inhaltlichen Bedingungen eines Mandats für die Einberufung einer Europäischen Abrüstungskonferenz vor. Im offiziellen Konferenzpapier (RM 39 vom 16. Dezember 1981) 1hatten sich die Staaten der NATO, der Warschauer Vertragsorganisation und der Neutralen und Nichtgebundenen (N + N) auf der Ebene der Redaktionsgruppen auf 80— 85 Prozent des vorläufigen Textes einer Abschlußerklärung geeinigt (4. Konferenz-phase vom 26. November 1981 bis 18. Dezember 1981). Während bezüglich des Korbes 2 (wirtschaftliche Zusammenarbeit) weitgehend eine Übereinstimmung erzielt wurde, konzentrierte sich der Disput vor allem auf die Prinzipien in Korb 1 (Menschenrechte, Gewaltverbot, Interventionsverbot) und auf Korb 3 (humanitäre Fragen und Informationsaustausch). Bei den militärischen Aspekten wurde über folgende Ziele eine Einigung erzielt: Im Rahmen der KSZE sollte eine Konferenz über Abrüstung (KAE) einberufen werden, die sich in ihren Verfahrensregeln an der KSZE orientieren und ihre Ergebnisse einer zukünftigen KSZE-Nachfolgekonferenz vorlegen sollte. Die Konferenz sollte in Phasen durchgeführt werden, wobei die 1. Phase sich mit Vertrauens-und Sicherheitsbildenden Maßnahmen und die 2. Phase mit Fragen der Abrüstung befassen sollte. Von den vier westlichen Kriterien für ein Mandat für eine KAE, die auf dem NATO-Außenministertreffen in Ankara im Juni 1980 beschlossen wurden — Vertrauensbildende Maßnahmen sollten militärisch signifikant, politisch verbindlich, verifizierbar sein und sich auf ganz Europa vom Atlantik bis zum Ural erstrecken —, steht nur noch eine Einigung über den geographischen Bereich aus. Nach den westlichen Vorschlägen vom Juli 1981 sollten sich die Vertrauensbildenden Maßnahmen bzw. die Vertrauens-und Sicherheitsbildenden Maßnahmen (VSBM) auf Europa als ganzes beziehen. Die benachbarten See-und Lufträume sollten nur dann einbezogen werden, wenn sie Bestandteil von notifizierbaren Manövern in Europa sind (funktionaler Ansatz des Westens). Dagegen ging der östliche Vorschlag von einem Anwendungsgebiet aus, das Europa als ganzes und die angrenzenden See-und Lufträume von entsprechender Breite einbeziehen sollte. Während dieser ursprüngliche Vorschlag nie zurückgezogen wurde, deuten sowjetische Konferenzteilnehmer an, daß man darunter z. B. einen angrenzenden See-und Luftraum von ca. 1 000 Kilometern bzw. maximal bis zur Mitte des Atlantiks (Azoren) verstehen könne.
Der Kompromißvorschlag der N + N-Staaten vom 16. Dezember 1981 (RM 39) versuchte das östliche Interesse nach einer Einbeziehung „angrenzender See-und Lufträume" und das westliche Interesse an einer „funktionalen Begrenzung" zu verbinden. Nach der Verhängung des Kriegsrechts in Polen (12. Dezember 1981) trat eine Klimaverschlechterung ein, die durch gravierende Verfahrensverstöße durch die Vertreter Polens (9. Februar 1982— 12. März 1982) und der CSSR (5. März— 8. März 1982) noch verschärft wurde (5. Konferenz-phase vom 9. Februar 1982 bis 12. März 1982). Ob es der KSZE-Nachfolgekonferenz in der 6. Konferenzphase (ab 9. November 1982) nach den amerikanischen Parlamentswahlen gelingen wird, eine Einigung über ein Mandat für die Einberufung einer Europäischen Abrüstungskonferenz zu erzielen, wird mit von der Entwicklung der Ost-West-Beziehungen im Laufe des Jahres 1982 abhängen.