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Sicherheitspartnerschaft oder Sicherheitsgegnerschaft? | APuZ 19/1982 | bpb.de

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APuZ 19/1982 Sicherheitspartnerschaft oder Sicherheitsgegnerschaft? Die Zukunft der Rüstungskontrolle. Brüche im Bündnis? Vertrauensbildende Maßnahmen. Element einer neuen Rüstungskontrollund Abrüstungsstrategie für Europa

Sicherheitspartnerschaft oder Sicherheitsgegnerschaft?

Gerhard Wettig

/ 33 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Dem amerikanisch-westlichen Konzept der Rüstungssteuerung (arms control) ist die Funktion zugedacht, eine Sicherheitspartnerschaft zwischen Ost und West auf der Basis des gemeinsamen Interesses an Kriegsverhütung zu ermöglichen. Die Verhandlungen über sicherheitspolitische Regelungen, welche von den westlichen Staaten zu diesem Zweck eingeleitet wurden, haben nicht zu den erwünschten Erfolgen geführt. Gegenwärtig ist der Ost-West-Dialog in eine ernste Krise geraten. Zahlreiche Untersuchungen westlicher Wissenschaftler über den spezifischen Charakter der sowjetischen Sicherheitspolitik sind zu dem Schluß gekommen, daß das Verhandlungs-und Regelungskonzept der UdSSR von den Leitgedanken der Rüstungssteuerung grundlegend abweicht und mit diesen entweder überhaupt nicht oder nur unter allergrößten Schwierigkeiten zu vereinbaren ist. Im Westen, vor allem in den USA, hat sich Skepsis über die Verwirklichungsaussichten des Rüstungssteuerungskonzepts ausgebreitet Die westlichen Regierungen halten die Position relativer militärischer Schwäche, in welche die NATO durch das sowjetische Vorrüsten während der Entspannungsperiode geraten ist, vielfach für einen wenig geeigneten Ausgangspunkt für sicherheitspolitische Ost-West-Verhandlungen und plädieren daher für diplomatische Zurückhaltung auf diesem Felde, solange die geplante westliche Nachrüstung noch nicht in Gang gekommen ist Die amtliche Auffassung des Atlantischen Bündnisses jedoch geht dahin, die Chancen eines der Nachrüstung vorausgehenden oder parallel zu ihr verlaufenden Verhandelns zu erkunden und die geplante Nachrüstung nur dann voll durchzuführen, wenn bei den Verhandlungen keine sicherheitspolitisch befriedigenden Resultate zu erreichen sind. Diese Linie findet im Doppelbeschluß der NATO vom 12. Dezember 1979 ihren sichtbarsten Ausdruck. Sofern jedoch gegenwärtig mit der Rüstungssteuerung in der herkömmlichen Weise einer ausgewogenen wechselseitigen Beschränkung der militärischen Potentiale nicht weiterzukommen ist, wird auf westlicher Seite auch der Weg einer Beschränkung beim Gebrauch der militärischen Potentiale versucht. Dieses veränderte Konzept kann zwar die Sicherheitsprobleme zwischen Ost und West nicht endgültig einer Regelung entgegenführen, erscheint jedoch geeignet, die Schärfe vieler Probleme zu mildern und eine spätere weiterreichende Übereinkunft vorzubereiten. Dementsprechend haben die NATO-Staaten bei den MBFR-Verhandlungen „begleitende Maßnahmen“ und im KSZE-Rahmen „vertrauensbildende Maßnahmen im militärischen Bereich" vorgeschlagen. Die Hoffnung, daß sich Gebrauchsbeschränkungen leichter vereinbaren lassen würden als Potentialbeschränkungen, hat sich bisher nicht erfüllt. Die Sowjetunion hat den westlichen Projekten andersgerichtete Gegenkonzepte gegenübergestellt. Die so entstandenen Differenzen konnten weder bei MBFR noch auf dem seit Ende 1981 durch den Polen-Konflikt gelähmten Madrider KSZE-Folgetreffen überwunden werden.

Bilanz aus Anlaß der Vertagung des Madrider KSZE-Folgetreffens

I. Die Krise der Verhandlungen über Rüstungssteuerung

Alle Versuche, Rüstungssteuerung durch ein-vernehmliche Beschränkung der Militärpotentiale zu betreiben, sind an der Wende von den siebziger zu den achtziger Jahren fehlgeschlagen. Das zweite Abkommen über eine Begrenzung der strategischen Rüstungen ist im amerikanischen Senat gescheitert, nachdem die Zweifel daran Oberhand gewonnen hatten, daß die Übereinkunft wirklich den Zielen der Rüstungssteuerung dienen werde. Bei den Verhandlungen über eine Reduzierung der Streitkräfte in Mitteleuropa haben sich Ost und West gar nicht erst auf eine Einigungsformel verständigen können. Bei den nuklearen Mittelstreckenwaffen erschwert das große Übergewicht, das die UdSSR inzwischen erlangt hat, die Aussichten für eine Vereinbarung. In Washington und in anderen westlichen Hauptstädten nimmt die Ansicht zu, die NATO müsse zunächst durch Nachrüsten eine Grundlage militärischen Gleichgewichts schaffen, um die Vorstellungen der Rüstungssteuerung erfolgreich geltend machen zu können. Es wäre eine Verharmlosung des Problems, wenn man diesen Umschwung auf die veränderte Einstellung der Reagan-Administration zurückführen wollte. Es handelt sich vielmehr um Trends, die schon Präsident Carter gegen dessen Willen beeinflußt haben und die dann im Herbst 1980 dessen Herausforderer Reagan bei den Wahlen triumphieren ließen.

Eine der wesentlichen Ursachen für die veränderte Stimmungslage in den USA ist der Eindruck, daß man von der UdSSR sicherheitspolitisch getäuscht worden sei. In den siebziger Jahren hat sich die Rüstungsrelation zwischen NATO und Warschauer Pakt entscheidend Verschoben, weil das westliche Bündnis seine militärischen Aufwendungen im Zeichen der Entspannung eingeschränkt hat, während die UdSSR eine jährliche Steigerungsrate von etwa 5% aufweist. Die USA gaben 1970 noch 78% des Bruttosozialprodukts für ihre Rüstung aus bis 1979 sanken die amerikani— sehen Rüstungsausgaben auf 5, 2% des Bruttosozialprodukts ab Die übrigen NATO-Staaten liegen z. T. mehr als die Hälfte darunter. Demgegenüber schätzen westliche Sachverständige den Anteil der Militärausgaben am Bruttosozialprodukt der UdSSR auf der Basis der für festgestellte Militärpotentiale veranschlagten Kosten im allgemeinen auf 12 bis 14%. Eine amerikanische Berechnung kommt sogar bei 18% an. Nach Angaben des Pentagon soll die Sowjetunion von 1970 bis 1977 rund 240 Mrd. Dollar mehr für die Rüstung ausgegeben haben als die USA

Das Gefühl der Amerikaner, die sowjetische Führung nutze die militärische Zurückhaltung auf westlicher Seite zur Schaffung von Überlegenheitspositionen aus, wurde durch die Vorgänge im Zusammenhang mit dem B-l-Bomber und der Neutronenwaffe verstärkt. Präsident Carter hatte entschieden, daß beide Waffensysteme nicht gebaut werden sollten, um ein weiteres Drehen der Rüstungsspirale zu verhindern. Dabei ging er von der Erwartung aus, daß Moskau analoge Selbstbegrenzung üben werde. Statt dessen stellte die sowjetische Propaganda, die gegen beide Rüstungsprojekte Front bezogen hatte, den Schritt als eine Niederlage hin, die dem amerikanischen Präsidenten durch die überwältigende Macht opponierender Friedenskräfte zugefügt worden sei. Ein erwidernder Verzicht auf Waffensysteme, mit dessen Bau die UdSSR begonnen hatte bzw. die geplant waren, wurde ausgeschlossen. Etwa zur gleichen Zeit wandte sich Bundeskanzler Schmidt wiederholt an 'die sowjetischen Führer mit dem dringenden Appell, die Stationierung der SS-20, der in Westeuropa nichts Gleichwertiges gegenüberstand, wieder einzustellen. Andernfalls werde die NATO nicht umhin können, eurostrategisch nachzurüsten. Moskau glaubte jedoch, diese Aussicht nicht allzu ernst nehmen zu müssen, und nutzte den vieljährigen Zeitvorsprung aus, den es mit der Entwicklung der SS-20 gegenüber dem Westen gewonnen hatte. Unter diesen Umständen kamen immer mehr führende westliche Politiker zu der Überzeugung, die UdSSR betreibe eine auf Überlegenheit und Überwältigungsfähigkeit abzielende Politik der militärischen Stärke. Demzufolge verbreitete sich der Zweifel daran, ob mit ihr ein Einvernehmen über ein System ausgewogener militärischer Gegengewichte zu erzielen sei. Wissenschaftliche Untersuchungen über die sowjetische Militärpolitik gaben dem Zweifel weiter Nahrung Diese haben ergeben, daß der Zentralbegriff des sowjetischen Sicherheitsdenkens nicht Abschreckung, sondern Verteidigung lautet. Dementsprechend ist der Eventualfall, dem die Anstrengungen der UdSSR gelten, die Kriegführung nach einem für möglich erklärten westlichen Angriff. Diese Perspektive hat weitreichende Konsequenzen. Ein Staat, dessen Sicherheit primär auf die Erfolgsaussichten in einem eventuellen Verteidigungskrieg gegründet wird, bedarf größerer militärischer Kräfte, als sie dem Gegner zur Verfügung stehen, um diesen dann zuverlässig abwehren und niederringen zu können. Nicht die Sicherheitspartnerschaft mit der anderen Seite gegen die Gefahr des Kriegsausbruches, sondern die Sicherheitsgegnerschaft in der möglichen Kriegssituation wird zur Hauptsorge.

Daraus folgt eine feindliche Einstellung gegenüber dem Abschreckungsgedanken. Alles, was der militärischen Machtentfaltung der UdSSR im Wege steht, gilt als schlecht. Der Gedanke an ein internationales System wechselseitig sich konternder militärischer Gegengewichte wird verworfen, weil es der sowjetischen Führung nicht grundsätzlich um die Zähmung der Gewalt, sondern um den Aufbau möglichst wirksamer Verteidigungskapazitäten geht. Unter dem Blickwinkel des Kriegsfalles verringert das, was die Sicherheit der einen Seite vermehrt, notwendigerweise die Sicherheit dr anderen Seite. Je besser die Sicherheit der UdSSR wird, desto schlechter muß die westliche Sicherheit werden. Die Propaganda Moskaus überspielt dieses Dilemma mit der Versicherung, daß die Sowjetunion eine ausschließlich friedliebende Politik betreibe und daher von vornherein für kein anderes Land zu einer Bedrohung werden könne. Diese These läuft praktisch darauf hinaus, daß der von der UdSSR immer wieder geltend gemachte Anspruch auf gleiche Sicherheit umgekehrt den NATO-Staaten nicht zugebilligt wird.

Im Westen ist der Argwohn entstanden, die sowjetische Führung suche ihr Risiko im Kriegsfälle möglichst gering zu halten und schaffe sich daher eine alle unkalkulierbaren Risiken abdeckende Marge an militärischer Überlegenheit. Dies wäre auch dann von allergrößter Bedeutung, wenn es niemals zu einer militärischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West käme. Die Seite, die im Augen* blick eines akuten Konflikts oder einer bedrohlichen Krise deutlich machen könnte, nicht sie, sondern die Gegenseite habe den Kriegsausbruch zu fürchten und danach zu handeln, besäße ein gewaltiges Potential zur Erzwingung politischer Anpassungen.

Die westliche Sorge vor dem sowjetischen überlegenheitsstreben hat viele Gesichter. In den USA gibt es Befürchtungen, die UdSSR könnte sich eine Fähigkeit zum nuklear entwaffnenden Erstschlag aneignen. Die außerordentlichen Ungewißheiten, die allen Erstschlagskalkulationen im global-strategischen Bereich notwendigerweise anhaften, lassen freilich die Praktikabilität eines derartigen Konzepts zweifelhaft erscheinen -Dagegen könnte auf den unteren militärischen Ebenen — etwa im Mittelstreckenbereich und auf dem europäischen Gefechtsfeld — die Verfügung über ein militärisches Übergewicht eher erfolgversprechend sein. Wenn es der sowjetischen Führung gemäß ihren Vorstellungen gelänge, die sicherheitspolitische Kopplung über den Atlantik hinweg aufzulösen, dann hätte sie gegenüber den westeuropäischen Ländern Mittel zur Erzielung von Anpassung in der Hand. Auf diese Weise könnte sie allmählich ihren politischen Einfluß nach Westen hin erweitern und von Europa her die Weltmachtstellung der USA aufrollen. Die Größe des Potentials, das die UdSSR auf dem europäischen Schauplatz bereitgestellt hat und der Offensivcharakter der sowjetischen Einsatzdoktrin, die für den europäischen Schauplatz Geltung besitzt passen in das angenommene Bild eines Moskauer Willens zu militärischer Überlegenheit in Europa hinein.

In der sowjetischen Vorstellungswelt fehlt überdies der Gedanke der militärischen Stabilität. Auch das hat dazu beigetragen, daß im Westen die Hoffnung auf eine Sicherheitspartnerschaft mit der UdSSR zweifelhaft geworden ist. In Westeuropa weckt Mißtrauen vor allem der Nachdruck, mit dem die sowjetischen Militärs die Notwendigkeit von Überraschungshandlungen bei Kriegsbeginn betonen. Das dahinterstehende Konzept scheint mit den Erfordernissen der Zurückhaltung und des Abwartens im Krisenfall nicht vereinbar zu sein.

Auch das Konzept der abgestuften Abschrekkung findet in Moskau offensichtlich keine positive Resonanz. Würde es zu einem Krieg in Europa kommen, dann würde die sowjetische Führung voraussichtlich ohne Rücksicht auf westliche Konzepte der vorläufigen Zurückhaltung alle Mittel einsetzen, die ihr zu einer raschen Überwindung des westlichen Widerstandes auf dem europäischen Schauplatz notwendig erscheinen würden Besonders bedenklich aus westlicher Sicht ist das ausgeprägte sowjetische Interesse daran, daß die NATO von vornherein auf die Option der nuklearen Eskalation in Europa verzichtet (Vorschläge für den Nicht-Ersteinsatz von Kernwaffen und für die Schaffung von allmählich auf den gesamten Kontinent auszudehnenden nuklearfreien Zonen) Würde diesen Vorstellungen Moskaus entsprochen, dann entfielen damit die bisherigen Hemmnisse gegen ein Ausspielen sowjetischer Militärüberlegenheit auf dem europäischen Schauplatz. Die UdSSR erhielte, wenn der NATO nicht länger die Abwehrdrohung einer qualitativen und geographischen Kriegsausweitung zu Gebote stünde, objektiv die Option eines auf Europa begrenzten Krieges.

Die Krise der westlichen Rüstungssteuerungspolitik beruht letztlich auf dem Zweifel, ob die sowjetische Führung die minimalen Voraussetzungen für die angestrebte Sicherheitspartnerschaft bietet. Inwieweit kann man sinnvollerweise mit der UdSSR Übereinkünfte treffen, deren gemeinter Sinn in Moskau auf Ablehnung stößt? Die Kritiker des Konzepts der Rüstungssteuerung durch einvernehmliche Potentialbeschränkungen machen geltend, daß die bisherige westliche Politik dem sowjetischen Gegner nur willkommene Handhaben gegeben habe, um die Verteidigungsfähigkeit der NATO zu schwächen und Elemente östlicher Überlegenheit zu schaffen. Hinsichtlich der praktischen Schlußfolgerungen gehen die Kritiker unterschiedlich weit. Die einen fordern Abhilfe durch westliche Nachrüstung, bis das Verhältnis eines militärischen Gleichsgewichts zum Warschauer Pakt wieder erreicht sei und auf dieser Basis realistische Verhandlungen im Sinne einer einvernehmlichen Rüstungssteuerung möglich würden Andere dagegen sehen den Versuch, den Frieden durch einvernehmliche Rüstungssteuerung auf der Basis wechselseitiger Abschreckung sichern zu wollen, prinzipiell als eine „Chimäre" an. Ein Gegensatzverhältnis ist, dieser Ansicht zufolge, von den harten Gesetzen unerbittlicher Feindschaft bestimmt. Demzufolge läßt sich — parallel zu der von Moskau betriebenen Politik — die Sicherheit des Westens nur durch überlegene militärische Stärke gewährleisten

Die zweite Lösungsvariante stürzt freilich das westliche Bündnis in ein Dilemma. Demnach wäre nicht nur ein endloses Wettrüsten unausweichlich. Mindestens ebenso problematisch wäre der sicherheitspolitische Gegensatz, der dann in der NATO aufbrechen müßte: Die Überlebenshoffnung der Länder Westeuropas beruht — ebenso wie die der Länder Osteuropas — auf einer gewährleisteten Kriegsverhütung schlechthin, während Nordamerika und die Sowjetunion einen Krieg der beiden Bündnisse denkbarerweise als noch erträgliches Risiko behandeln könnten a). Sobald daher die Verteidigung statt der Abschreckung als vorrangige Sorge des westlichen Bündnisses angesehen werden sollte, würde dies tiefgreifende Differenzen nach sich ziehen.

II. Die Suche nach einem sicherheitspolitischen Ersatzkonzept

Sowjetische Funktionäre haben, um dem Westen einen Verzicht auf die Abschreckungspolitik schmackhaft zu machen, die Einführung eines Systems der kollektiven Sicherheit für Europa empfohlen Nach diesem Konzept haben, wenn einer der Teilnehmerstaaten angegriffen wird, alle übrigen Beistand zu leisten. Auf diese Weise soll das Opfer eines Angriffs immer die überwältigende Mehrheit der Mächte und folglich auch die überlegene Stärke auf seiner Seite haben. Wer immer einen Angriff im Sinne hat, soll von vornherein keine Chance haben — mit der Folge, daß er gar nicht erst an die Ausführung seines Vorhabens geht.

Das ist die Theorie. Ob auch die Praxis so aussieht, hängt von zwei Voraussetzungen ab:

1. Jeder der Staaten innerhalb und außerhalb des Sicherheitssystems, der möglicherweise zum Angreifer werden könnte, müßte sich gegenüber der Koalition der anderen Staaten in einer Position hoffnungsloser Unterlegenheit befinden.

2. Alle Teilnehmer des Sicherheitssystems müßten im Krisenfall augenblicklich erkennen können, wer der Angreifer und wer der Angegriffene ist, und entsprechend den eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen willens sein, ihre gesamte Macht zugunsten des Angegriffenen einzusetzen.

Beide Voraussetzungen wären jedoch bei einem kollektiven Sicherheitssystem in Europa höchst zweifelhaft:

1. Die UdSSR würde auf dem europäischen Schauplatz ein militärisches und politisches Übergewicht über die Gesamtheit aller anderen Staaten gewinnen, sobald die USA gemäß den dann sich ergebenden Erfordernissen ihre Streitkräfte aus Europa zurückgezogen hätten.

2. Die geschichtlichen Erfahrungen mit kollektiven Sicherheitssystemen, etwa mit dem Völkerbund der dreißiger Jahre, sprechen gegen die Annahme, daß Staaten-pflichtgemäß dem Angegriffenen beispringen, wenn sie mit dem Angreifer mehr verbindet als mit dem Angegriffenen. Oft genug haben Staaten in solchen Fällen sogar den Angreifer unterstützt. Sie brauchen, wenn sie das rechtfertigen wollen, nur den Angreifer zum Angegriffenen zu erklären und umgekehrt.

Unter diesen Umständen scheint ein kollektives Sicherheitssystem wenig geeignet, Frieden und Sicherheit in Europa zu erhalten. Daher sind die Staaten des westlichen Bündnisses dazu übergegangen, sich der Regelung von derzeit verhandelbar erscheinenden Teil-problemen der Rüstungssteuerung zuzuwenB den. Seit dem Winter 1978/79 begannen die Warschauer-Pakt-Staaten eine größere Bereitschaft als vorher zu Gesprächen über „vertrauensbildende Maßnahmen im militärischen Bereich“, d. h. zunächst über transparenzschaffende Regelungen und später über Dislozierungs-und Bewegungsbeschränkungen, zu zeigen. Wenn man, so meinten die westlichen Regierungen, vorerst mit der sowjetischen Führung nicht über Potentialbeschränkungen reden könne, so lasse sich vielleicht wenigstens eine gewisse Regulierung des militärischen Verhaltens zum Verhandlungsgegenstand zwischen Ost und West machen. Die Erwartung ging dahin, daß man auf diese Weise zu einer Verbesserung der Stabilität auf den regional-europäischen militärischen Ebenen gelangen könne. Vor allem sollten die sowjetischen Möglichkeiten für einen zugleich überraschenden und erfolgversprechenden Angriff auf Westeuropa so weit wie möglich beschränkt werden. Der Warschauer Pakt sollte sich — im Austausch gegen bestimmte westliche Verpflichtungen — zur Annahme von militärischen Verhaltensregeln bereitfinden, deren Einhaltung ihm eine noch stärkere Konzentration von Streitkräften an der Ost-West-Scheidelinie als derzeit vorhanden verwehren würde.

Das westliche Konzept sieht vor, daß zunächst Maßnahmen zu treffen sind, die das militärische Handeln wechselseitig vorhersehbar machen (transparenzbildende Maßnahmen). Auf dieser Basis kann später als zweite Stufe eine Übereinkunft über Dislozierungs-und Bewegungsbeschränkungen hinzukommen. Damit ergibt sich ein Mehrphasenkonzept: 1. Phase: Jede Seite kann alles machen, was zu tun sie sich vorgenommen hat — es muß nur rechtzeitig und hinreichend detailliert angekündigt werden und für das andere Bündnis verifizierbar gemacht sein. 2-Phase: Es kommt zu Einschränkungen hinsichtlich des zulässigen Einsatzes von Militär-potentialen ohne daß jedoch größere Eingriffe in die Struktur der Handlungsmöglichkeiten und/oder der Streitkräfte vorgenommen werden. 3. Phase: Es werden weiterreichende Begrenzungen einvernehmlich festgelegt und durchgeführt 4 Phase: Ein wechselseitiger Abbau vor allem derjenigen Militärpotentiale, die auf der ande-ren Seite als besonders bedrohlich empfunden Werden, kommt mit dem Ziel einer ausgewo-genen Kräfterelation (d. h. einer wechselseitigen Paralyse der Bedrohungsoptionen) gemäß dem Konzept der Rüstungssteuerung in Gang.

Natürlich waren sich die Führer der NATO darüber im klaren, daß es keine übergeordnete Macht gibt, welche die sowjetische Führung künftig an einer Verletzung vereinbarter Gebrauchsbeschränkungen hindern kann. Dementsprechend bleibt die Zielsetzung der Rüstungssteuerung, ein ausgewogenes militärisches Kräfteverhältnis herzustellen, nach wie vor aktuell. Gebrauchsbeschränkungen können jedoch den Sinn haben, Hemmnisse für eine Ausnutzung der sowjetischen Militärmacht zu Zwecken des militärischen Angriffs oder der politischen Pression zu schaffen. Wenn erst einmal geeignete Gebrauchsbeschränkungen festgelegt sind, muß sich die sowjetische Führung entweder nach ihnen richten oder durch Vertragsverletzungen offen feindselige Absichten bekunden.

Eine Übereinkunft über militärische Gebrauchsbeschränkungen hat vor allem folgenden Sinn: Die jeweils andere Seite muß auf die Ausbeutung militärischer Vorteilslagen verzichten oder frühzeitig ihr Abgehen von friedlichen Absichten signalisieren. Der Informationswert solcher Vereinbarungen kommt dadurch zustande, daß sich die Kontrahenten auf bestimmte Verhaltensregeln einigen, die sie künftig als Erweis ihrer friedfertigen Absichten betrachten wollen. Wer sich davon entfernt, weiß von vornherein, daß die anderen Beteiligten dies als gegen sie gerichtete Böswilligkeit interpretieren werden. Auf diese Weise vergrößern sich Transparenz und Vorhersehbarkeit: Wer von dem anderen bedroht wird, merkt dies frühzeitig und kann sich daher länger darauf einstellen.

Die NATO hofft, daß sich auf diese Weise die prekäre Sicherheitslage Westeuropas gegenüber der UdSSR erträglicher machen läßt. Auch wenn so das Sicherheitsproblem nicht vollständig zu lösen ist, erscheinen derartige Maßnahmen als einleitende Schritte sinnvoll, zumal man im Verlauf der Verhandlungen darüber auf eine Abschwächung der Differenzen zwischen Ost und West insgesamt hofft. Das westliche Interesse zielt auf mehr militärische Stabilität durch Vorhersehbarkeit und später Erschwerung des Gebrauchs der Militärpotentiale seitens des regional überlegenen Warschauer Pakts. Die östliche Seite soll also Verpflichtungen unterliegen, die ihre Option eines Überraschungsangriffs gegen Westeuropa schmälern.

An diesem Punkt entsteht das Problem der westlichen Gegenleistung. Da die NATO keine entsprechende Angriffsoption gegen-7 über Osteuropa besitzt, können westliche Gebrauchsbeschränkungen der UdSSR und ihren Verbündeten nicht die Garantie einer Optionsbeschränkung bieten. Das westliche Stabilisierungskonzept spricht daher kein spezifisches Sicherheitsinteresse der anderen Seite an. Die sowjetische Sorge gilt einem anderen Aspekt der Sicherheit in Europa. Die UdSSR macht unaufhörlich geltend, daß sie sich gegenüber den USA in einer global benachteiligten militärischen Position befinde, weil rings um die sowjetischen Grenzen vorgeschobene amerikanische Stützpunkte für nukleare und konventionelle Streitkräfte existierten

Dabei bleibt außer Betracht, daß umgekehrt die Sowjetunion für sich die Vorteile der direkten Präsenz und der inneren Linie auf den regionalen Schauplätzen des Konflikts, die jeweils am Rande der von ihr beherrschten Landmasse liegen, positiv verbuchen kann — mit der Folge, daß sie dort ihr militärisches Gewicht ungleich massiver in die Waagschale werfen kann als die andere Weltmacht. Die sowjetische Führung läßt in den sicherheitspolitischen Diskussionen nur den Gesichtspunkt ihres Nachteils gelten und leitet daraus die Forderung ab, daß für die amerikanischen „vorne stationierten (Nuklear-) Systeme" und im Grunde auch für die amerikanischen Truppenstützpunkte in fernen Ländern kein Platz in einem System der „gleichen Sicherheit" zwischen beiden Weltmächten sein könne. Die amerikanische Regierung hat dies Ansinnen, weil das auf eine Schutzlosigkeit für die schwächeren NATO-Verbündeten hinauslaufen würde, bei den Verhandlungen über strategische Rüstungsbegrenzung (SALT) zurückgewiesen. Im Kreml hat man darum jedoch den Gedanken nicht aufgegeben, sondern nur in den Zusammenhang der Gespräche über europäische Sicherheit verlagert.

Bei den Verhandlungen über wechselseitige Streitkräftereduzierungen in Mitteleuropa (MBFR) hat die sowjetische Seite Vorschläge unterbreitet, die auf die Schaffung einer vorgelagerten Rüstungsüberwachungszone abzielen Der Zweck eines derartigen Arrangements ist leicht einsichtig: Die UdSSR erhielte auf diese Weise Eingreifkompetenzen hinsichtlich des zentralen Abschnitts des westlichen Verteidigungssystems in Europa, ohne daß ihr eigenes Verteidigungssytem in gleicher Weise von westlichen Einflußmöglichkeiten betroffen wäre. Die sowjetische Führung könnte Vetorechte mit Blick auf unerwünschte Entwicklungen in Westeuropa geltend zu machen suchen, mit deren Hilfe sie militärische Optionen der NATO einzuschränken und dem Entstehen neuer militärischer Optionen auf westlicher Seite vorzubeugen in der Lage wäre. Damit hätte sie ein gutes Mittel in der Hand, um den Vornestationierungen der USA die Wirksamkeit zu nehmen. Die UdSSR kann nur dann auf die Schaffung eines ihren Sicherheitsvorstellungen entsprechenden vorgelagerten Kontrollgürtels hoffen, wenn ihr eigenes Territorium nicht — oder zumindest nicht in wesentlichem Umfang — in die Überwachungszone einbezogen wird.

Die in der KSZE-Schlußakte enthaltenen „vertrauensbildenden Maßnahmen im militärischen Bereich" (CBM) können ebenfalls Ansatzpunkte in dem genannten Sinne bieten. Die UdSSR hat durchgesetzt, daß der geographische Bereich für diese Maßnahmen nur schmale Ränder des sowjetischen Gebietes umfaßt. Das ist so lange von geringer Bedeutung, wie es nur um wenig Wichtiges, nämlich um eine nicht näher geregelte, formal bleibende Anmeldung von Manövern und eventuell um willkürlich gehandhabte Einladungen auswärtiger Manöverbeobachter geht. Wenn aber das substantielle Resultat einer militärischen Gebrauchsbeschränkung in Aussicht genommen wird, wird die einseitige Begünstigung der UdSSR zu einem Problem.

III. Kriterien für die Bewertung militärischer Gebrauchsbeschränkungen im KSZE-Rahmen

Die unterschiedlichen Vorstellungen von Ost und West lassen sich schwer auf einen Nenner bringen. Wie läßt sich unter diesen Umständen eine Ausgewogenheit der Interessen herstellen? Leitender Gesichtspunkt muß sein, daß beide Seiten ein gleiches Maß an Sicherheit erhalten. Das heißt konkret, daß Westeuropa von der Gefahr eines östlichen überra-schungsangriffs entlastet wird, während den Staaten des Warschauer Pakts eine Gewähr gegen unkontrolliert-bedrohliche militärische Entwicklungen im europäischen NATO-Bereich geboten wird. Die Beschränkungen für den Gebrauch der Militärpotentiale — insbesondere die wechselseitig zu übernehmenden Verbindlichkeiten hinsichtlich der standort-fernen militärischen Aktivitäten, der Streitkräftemanöver und der Truppenbewegungen — sind so zu gestalten, daß sie beiden Zwekken gleichermaßen gerecht werden. Die vier Kriterien der militärischen Bedeutsamkeit, der politischen Verbindlichkeit, der implementativen Überprüfbarkeit und der geographischen Umfassendheit sollen das gewährleisten. Das Kriterium der militärischen Bedeutsamkeit hat die Funktion, daß alle Maßnahmen in gleicher Weise für Ost-und Westeuropa relevant sind. Sie sollen wechselseitig Transparenz schaffen und später Hemmnisse für den Gebrauch der Militärpotentiale aufrichten. Die vorgesehenen Anmeldungen bestimmter militärischer Akte müssen langfristig erfolgen, damit die jeweils andere Seite zu erkennen vermag, ob es sich um eine vorausgeplante oder situationsbedingte Aktivität handelt. Sobald bestimmte militärische Tätigkeiten einer Beschränkung unterworfen werden (Gedanke der constraints), gilt es die geographischen Ungleichheiten zu berücksichtigen. Auf westlicher Seite steht ungleich weniger Raum zur Verfügung, und nirgends sind Staats-und Paktgrenzen allzu weit entfernt. Dagegen kann die östliche Seite ihre militärischen Aktivitäten ohne allzu große Schwierigkeiten weiter nach rückwärts verlegen. Ein Verbot bestimmter militärischer Tätigkeiten unter 350 km Entfernung von nationalen Grenzen oder innerhalb eines 600-km-Streifens von der Ost-West-Scheidelinie beispielsweise würde die NATO in Mitteleuropa vollständig lahmlegen, während der Warschauer Pakt seine entsprechenden Unternehmungen nur nach Osten zu verschieben brauchte. Daher müßten entsprechende Regelungen, wenn sie nicht einseitig wirken sollen, auf das Fortbestehen vergleichbarer Handlungsmöglichkeiten für beide Seiten abstellen.

Das Kriterium der politischen Verbindlichkeit hat die Funktion, ein gleiches Maß an praktischer Verpflichtung für beide Seiten herzustellen. Soweit Maßnahmen nur auf der Grundlage von Freiwilligkeit vereinbart wer-den, lassen sich unterschiedliche Auswirkun-gen voraussehen. In den westlich-demokratischen Gesellschaften wird mit den Kann-Bestimmungen von Ost-West-Übereinkünften leicht eine Erwartungshaltung erzeugt, welche die Regierungen zur Wahrnehmung der gebotenen Möglichkeiten nötigt. In sowjetkommunistisch strukturierten Ländern dagegen ist damit nicht zu rechnen. Das Informationsmonopol der Regierenden und das Autonomiedefizit der Gesellschaften verhindern, daß die jeweilige Führung einem Druck in sicherheitspolitischen Fragen ausgesetzt werden kann. Daher wird nur vereinbarte Verbindlichkeit gewährleisten, daß sich die östlichen Regierungen in gleicher Weise an die gemeinsam formulierte Regelung halten wie die westlichen. Das Kriterium der implementativen Überprüfbarkeit (oder Verifizierbarkeit) hat die Funktion, beiden Seiten eine gleich gute Ausführung der gemeinsam festgelegten Verhaltensregeln nahezulegen. Auch an diesem Punkt liegt der wesentliche Unterschied zwischen Ost und West darin, daß es nur auf westlicher Seite eine sicherheitspolitisch selbständig urteilende, sich unabhängig engagierende und innerstaatlich einflußnehmende Öffentlichkeit gibt. Dazu kommt noch, daß vertraglich vereinbarte Maßnahmen in den westlichen Ländern von einem breiten Strom amtlicher und nicht-amtlicher Publizität begleitet werden, der unabhängig von allen Verifikationsregeln wesentliche Aufschlüsse über Art und Maß der Vertragsausführung liefert. Jeder Mangel an vertraglich geregelter Überprüfbarkeit schlägt, weil es Entsprechendes im sowjetischen Herrschaftsbereich nicht gibt, ganz überwiegend zu westlichem Nachteil aus. Daher ist es ein dringendes Erfordernis für jede ausgewogene Sicherheitsübereinkunft zwischen Ost und West, daß ausreichende Verfahren der Verifikation vertraglich festgelegt und institutionell gesichert werden. Das muß in einer Weise geschehen, die auch unter den öffentlichkeitsfeindlichen Bedingungen einer sowjetkommunistischen Gesellschaft wirksam bleibt.

Das Kriterium der geographischen Umfassendheithat die Funktion, gleichmäßig den für das militärische Handeln beider Seiten auf dem europäischen Gefechtsfeld relevanten Raum zu erfassen. Die sowjetische Führung erhebt dagegen den grundsätzlichen Einwand, ihr Land müsse unberührt bleiben, weil auch die USA nicht einbezogen würden. Sie beruft sich dabei auf das Prinzip der „gleichen Sicherheit" zwischen den beiden Weltmächten. Wolle man das Territorium der UdSSR in erheblichem Umfange hineinnehmen, müßten sich auch die Vereinigten Staaten Entspre9 chendes gefallen lassen. Bei dieser Argumentation wird nicht berücksichtigt, daß die Sowjetunion — im Gegensatz zu den USA — eine nicht nur globale, sondern auch gesamteuropäische Macht ist. Das hat den exklusiven Vorteil, daß die Führungsmacht des War-schauer Pakts — anders als die der NATO — ihr militärisches Gewicht auf dem europäischen Schauplatz ohne größere Schwierigkeiten und Einschränkungen zur Geltung bringen kann.

Würde man das europäische Territorium des Sowjetstaates bei gesamteuropäischen Gebrauchsbeschränkungen nicht einbeziehen, dann entstünde ein den vereinbarten Maßnahmen einseitig nicht unterworfenes östliches Militärpotential in Europa, das die Basis für eine überlegenheitsbegründete Stellung abgeben könnte. Das wäre so, als wenn die USA in enormem Umfang auf der Iberischen Halbinsel, in einem durch einen breiten Landzugang mit dem Kontinent verbundenen Großbritannien und in Skandinavien Streitkräfte unterhalten würden, die außerhalb der Regelung blieben. Nur wenn sich die dem europäischen Schauplatz geltenden Gebrauchsbeschränkungen auf ganz Europa vom Atlantik bis zum Ural erstrecken, läßt sich gewährleisten, daß die beiderseits auf das potentielle Gefechts-feld gerichteten Aktivitäten erfaßt sind. Die Sowjetunion würde zwar im Gegensatz zu den USA mit einem erheblichem Teil ihres Gebietes betroffen, behielte aber zugleich mit ihren Landmassen jenseits des Ural weiterhin eine Stationierungsbasis, die sich in weit größerer Nähe zur Ost-West-Scheidelinie befindet als der nordamerikanische Kontinent

Die genannten Kriterien können als Maßstab dafür dienen, inwieweit einzelne Vorschläge den Erfordernissen der Ausgewogenheit entsprechen oder davon zum Vorteil der einen oder anderen Seite abweichen. Bei der Festlegung von Gebrauchsbeschränkungen in Europa können neben den Interessen beider Bündnisse auch nationale Interessen einzelner Staaten zum Ausdruck kommen. Die Anregungen Rumäniens beispielsweise haben zuweilen die Tendenz erkennen lassen, Hemmnisse gegen den Gebrauch sowjetischer und anderer östlicher Militärpotentiale zur Bedrohung konformitätsunwilliger Warschauer-Pakt-Staaten zu schaffen. Die Frage, ob die so-genannte „Breschnew-Doktrin“ militärisch angewendet werden kann, ist zwar von außerordentlich großer Bedeutung für das Ost-West-Verhältnis, gehört aber trotzdem nicht in den unmittelbaren Kontext der wechselseitigen Sicherheit für beide Bündnisse.

IV. Die Auseinandersetzungen auf dem KSZE-Folgetreffen in Madrid

Die Staaten der Europäischen Gemeinschaft formulierten im Jahre 1979 ihren Standpunkt in wesentlichen Teilen. Danach sollten sich die künftigen Gebrauchsbeschränkungen auf Manöver und Bewegungen ab einer Stärke von ein bis zwei Divisionen sowie auf Mobilmachungsübungen erstrecken. Umfangmäßige Begrenzungen wurden für Manöver vorgesehen (Höchststärke von 60000 Mann). Die Überprüfbarkeit der Vertragserfüllung sollte auf verschiedene Weise erfolgen. Ein System der Luft-oder Satellitenüberwachung sollte Aufschluß über die militärischen Aktivitäten der jeweils anderen Seite schaffen. Zugleich sollten die Akteure selbst zur Übermittlung von Informationen über Durchgangspunkte bei Truppenbewegungen, über ihre Führungsstrukturen und Streitkräftedislozierungen verpflichtet werden. Als Geltungsbereich für die vorgesehenen Maßnahmen hielt man das gesamte europäische Gebiet vom Atlantik bis zum Ural für unerläßlich. Dem lag ein Konzept zugrunde, das über die eher symbolischen als real eingreifenden „vertrauensbildenden Maßnahmen“ der KSZE qualitativ hinausging,

Die Warschauer-Pakt-Staaten dagegen hielten an der auf der KSZE beschlossenen Art fest Sie waren aber bereit, die auf der KSZE vereinbarte Ankündigungspflicht für Manöver ab 25 000 Mann zu erweiter. Man könne sich darauf einigen, künftig 20 000 Mann als Limit gelten zu lassen. Auch könnten Truppenbewegungen ab 20 000 Mann angekündigt werden, ebenso große Luft-und Seemanöver. Eine Ausdehnung des Geltungsbereichs wurde hinsichtlich des Mittelmeers, das zudem kernwaffenfreie Zone werden sollte, ins Auge gefaßt. Außerdem bot die östliche Seite an, die Voran-kündigungsfrist von bisher nur 21 Tagen gemäß westlichem Wunsch auszudehnen. Der Umfang aller Manöver sollte auf eine Höchst-stärke von 40— 50 000 Mann begrenzt wer-den Ein sowjetischer Spitzenfunktionär erläuterte dem westdeutschen Publikum, die vorgesehene Begrenzung der Manöverhöchststärke sei zusammen mit der Anmeldepflicht für militärische Bewegungen ab 20 000 Mann unter dem Gesichtspunkt konzipiert worden, den Westeuropäern die erwünschte Sicherheit vor einem Überraschungsangriff aus dem Osten zu geben Westlichen Beobachtern fiel auf, daß statt des sowjetischen Territoriums bis zum Ural das Mittelmeer einbezogen werden sollte und daß für dieses Seegebiet eine besondere Denuklearisierungsauflage vorgesehen wurde. Beide Maßnahmen mußten sich sehr zu westlichen Lasten auswirken.

Die NATO-Staaten gingen auf das Madrider KSZE-Folgetreffen mit Grundsätzen für zukünftige Verhandlungen, die das KSZE-Konzept von 1975 erweiterten. Sie verlangten, alle zu beschließenden Maßnahmen müßten den Kriterien der militärischen Bedeutsamkeit, der politischen Verbindlichkeit, der implementativen Überprüfbarkeit und der geographischen Umfassendheit genügen. Diese Grundsätze sollten in detaillierten einem für Mandat die „Konferenz für Abrüstung in Europa" (KAE), die nach allseitiger Auffassung die vorgesehenen Maßnahmen aushandeln sollte, niedergelegt werden. Außerdem wurde ein verbindliches Einvernehmen darüber gefordert, daß in der ersten Phase der KAE über Maßnahmen zur Verbesserung der wechselseitigen Information über die Streitkräfte, zur Erhöhung militärischen in Europa Stabilität und zur Gewährleistung einer hinreichenden Verifikation gesprochen werde. Besonderen Wert legten die westlichen Länder auf die Formulierung genauer Regeln, nach denen die Angaben über Ausmaß und Tragweite militärischer Aktivitäten künftig zu machen sein würden. All das sollte einen gegenüber dem Bisherigen veränderten Rahmen schaffen.

Dagegen wollten es die Warschauer-Pakt-Staaten bei den wenig verbindlichen und genauen Grundsätzen der KSZE-Schlußakte lassen, welche die militärische Handlungsfreiheit kaum einschränkten. Insbesondere sollte an dem bisherigen geographischen Bereich für die „vertrauensbildenden Maßnahmen" festgehalten werden. Hinsichtlich der Art der zu vereinbarenden Schritte hieß es unbestimmt, daß sie zunächst einer „Verringerung der Kriegsgefahr“ und dann einer „Verringerung der militärischen Konfrontation" dienen sollten

Rumänien trat mit einem eigenen Vorschlag hervor. Es verlangte — wie schon auf dem ersten KSZE-Folgetreffen in Belgrad — ein Verbot für alle multinationalen Manöver in Grenznahe. Außerdem sollte kein Teilnehmerstaat der KSZE neue Militärstützpunkte und Truppenstationierungen in anderen europäischen Ländern vornehmen. Schließlich war gemäß dem offiziellen Standpunkt des War-schauer Pakts davon die Rede, daß militärische Bewegungen sowie Luft-und Seemanöver einer Anmeldepflicht unterliegen sollten. Rumänien fügte dem hinzu, daß sich die Ankündigung mit der Übermittlung genauerer Informationen über Art und Verlauf der geplanten Aktivitäten verbinden solle.

Die rumänische Position reflektiert besondere nationale Interessen des Landes. Das Verbot multinationaler Manöver in Grenznähe mußte sich zwar wegen der kleinräumigen Verhältnisse in Westeuropa zu ungunsten der NATO auswirken, sollte aber nach Bukarester Absicht vor allem Hindernisse gegen Einschüchterungs-und Invasionshandlungen des War-schauer Pakts gegen abweichlerische Verbündete aufrichten. Das anvisierte Neustationierungsverbot mochte zwar auch das westliche Bündnis treffen, bezweckte aber primär die Schaffung einer Barriere gegen die weitere Ausbreitung der sowjetischen Militärmacht. Der rumänische Wunsch nach genaueren Unterrichtungen, als sie im sowjetischen Verhandlungskonzept vorgesehen waren, ging nicht auf Sympathie gegenüber dem westlichen Kriterium der militärischen Bedeutsamkeit zurück, sondern auf das Interesse des balkanischen Kleinstaates an besserem Einblick in die militärischen Angelegenheiten der Großen.

Die KAE-Beratungen des Madrider Folgetreffens konzentrierten sich bald auf die vier Kriterien. In der ersten Hälfte des Jahres 1981 akzeptierten die Warschauer-Pakt-Staaten die Prinzipien der militärischen Bedeutsamkeit und der politischen Verbindlichkeit. Stärkeren Widerwillen zeigte die östliche Seite gegenüber dem Grundsatz der implementativen Überprüfbarkeit. Sie verweigerte lange Zeit eine klare Festlegung. Aber auch dieser Punkt erwies sich schließlich als regelbar. Die Übereinkunft über die drei ersten Kriterien ist freilich vorerst nicht mehr als ein Einvernehmen über die notwendigerweise allgemein gehaltenen Formulierungen des KAE-Mandats. Es be-deutet noch keine Übereinstimmung hinsichtlich konkreter Maßnahmen, die auf der KAE zur Verhandlung anstehen sollen.

Radikal unterschiedliche Standpunkte traten in der Frage des Geltungsbereichs für die zu vereinbarenden Maßnahmen hervor. Von November 1980 bis Februar 1981 widersetzte sich die sowjetische Delegation mit Hilfe der anderen östlichen Vertreter kategorisch jeder Einbeziehung sowjetischen Territoriums, die über den 1975 festgelegten Grenzstreifen von 250 km Breite hinausgehe. Eine derartige Regelung hätte nach westlicher Ansicht die angestrebten eingreifenden Gebrauchsbeschränkungen von vornherein eines Großteils ihres Wertes beraubt und den NATO-Staaten eine unannehmbar schlechte Nutzenbilanz in Aussicht gestellt. Es wurde bald klar, daß das Madrider Folgetreffen scheitern würde, wenn sich an diesem Punkt keine Übereinstimmung herstellen ließ.

Angesichts dessen kündigte Breschnew am 23. Februar 1981 auf dem 26. KPdSU-Parteitag einen Wechsel der sowjetischen Haltung an. Er schlug eine Ausweitung der „vertrauensbildenden Maßnahmen" auf den gesamten europäischen Teil der UdSSR vor — unter der Bedingung, daß auch die westlichen Staaten eine entsprechende Ausweitung vornähmen Der Generalsekretär verzichtete freilich — ebenso wie danach monatelang die sowjetischen Vertreter in Madrid — darauf, die angedeutete Gegenforderung zu konkretisieren. Inoffiziell hieß es in Moskau, nun sei es Sache der NATO-Länder, ein Angebot zu unterbreiten. Die Weigerung, den verlangten Preis zu nennen, widersprach allen diplomatischen Gepflogenheiten. Zweifler fragten skeptisch, ob es denn den Leitern der sowjetischen Außenpolitik, die nicht die üblichen Sondierungen einleiteten, überhaupt ernst mit ihrem Anerbieten sei. Breschnew selbst nährte die Skepsis, als er zwei Monate später öffentlich meinte, man könne sich doch die Regelung der strittigen Frage für die KAE aufheben Genau dies jedoch widersprach dem westlichen Verhandlungskonzept: Die UdSSR und ihre Verbündeten sollten, damit sie sich auf der Konferenz einer Beratung entsprechender westlicher Vorschläge nicht verweigern könnten, schon im KAE-Mandat eine Ausdehnung des Geltungsbereichs auf den europäischen Teil der Sowjetunion zusichern. Die neutralen und nicht-gebundenen Staaten suchten zu vermitteln. Sie schlugen vor. ganz Europa mit den angrenzenden See-und Luitbereichen als Geltungsgebiet vorzusehen. Nach westlicher Ansicht war diese Formel allzu unklar. Die UdSSR konnte dann möglicherweise hinterher auf der KAE erklären, sie habe darunter eine bedingungslose Einbeziehung des gesamten Nordatlantik verstanden. Wenn dann die NATO-Länder dieser Deutung widersprachen, würde sie vielleicht erwidern, daß sie die Ausdehnung des Geltungsbereichs auf ihr gesamtes europäisches Territorium unter falschen Voraussetzungen akzeptiert habe. Wenn der Westen die stillschweigende Geschäftsgrundlage der Übereinkunft anzweifele, sei auch die Sowjetunion nicht länger an ihre Zusicherungen gebunden. Um derartigen Eventualitäten von vornherein den Boden zu entziehen, verlangten die westlichen Staaten im Juni 1981, die auf der KAE auszuhandelnden Maßnahmen müßten auf den ganzen Kontinent Europa vom Atlantik bis zum Ural anwendbar sein. Der östliche Gegenvorschlag zwei Wochen später lautete, die Maßnahmen sollten sich auf ganz Europa mit den angrenzenden Luft-und Seegebieten und mit den entsprechenden nicht-europäischen Teilnehmerstaaten erstrecken.

Beide Vorschläge bezeichneten Maximalpositionen. Der westliche Vorschlag klammerte die dem europäischen Festland vorgelagerten Inseln aus. Nach östlicher Ansicht dagegen sollten alle militärischen Flugzeug-und Schiffsaktivitäten in der nordatlantischen See-region einbezogen werden ohne Rücksicht darauf, ob sie etwas mit dem europäischen Schauplatz zu tun hatten oder nicht. Die gewählte Formel ließ überdies die Möglichkeit offen, daß auch die USA und Kanada als Anrainer des Nordatlantik die zu beschließenden Maßnahmen für Teile ihres Gebiets anzunehmen hätten.

Im Herbst 1981 näherten sich die gegensätzlichen Standpunkte einander an. Die westlichen Länder unterbreiteten das Angebot, daß die militärischen Aktivitäten auf und über dem Nordatlantik von den künftigen Maßnahmen miterfaßt werden könnten, soweit sie sich auf notifizierbare Aktivitäten des Gebiets Europa bezögen. Demnach wären die militärischen Bewegungen von Nordamerika nach Westeuropa und umgekehrt, Flottenmanöver von europäischen Häfen aus sowie auf europäische Küsten gerichtete Landungsübungen unter die angestrebten Gebrauchsbeschränkungen gefallen. Militärische Bewegungen zwischen den USA und dem Nahen Osten sowie von Nordamerika aus veranstaltete Schiffsmanöver oder Landeübungen jedoch wären ausgeklammert worden. Die sowjetischen Unterhändler nahmen das westliche Zugeständnis unter Ignorierung des funktionalen Vorbehalts , entgegen, daß die See-und Luftaktivitäten auf und über dem Nordatlantik einen Bezug zum europäischen Schauplatz haben müßten. Dabei kam es ihnen vor allem darauf an, die künftigen Maßnahmen auf die Azoren zu erstrecken, die den USA als unerläßliche Zwischenstation auf dem Weg zum nahöstlichen Schauplatz dienen. Das sowjetische Verlangen lief praktisch darauf hinaus, daß die USA als Gegenleistung dafür, daß die UdSSR ihr europäisches Territorium einbringe, einer Einschränkung ihrer militärischen Handlungsfreiheit im Nahen Osten zustimmten. Im Dezember 1981 wurde von neutraler Seite eine Kompromißformel angeboten. Danach sollten die auszuhandelnden Maßnahmen auf das gesamte Europa und die angrenzenden See-und Luftgebiete angewendet werden. Erläuternd hieß es, die Bezeichnung Europa verstehe sich einschließlich aller Inseln. Die militärischen Aktivitäten zur See und in der Luft seien einbezogen, soweit sie als integrierender Teil der militärischen Tätigkeit zu Lande (unter Einschluß aller Landungsunternehmungen) gelten könnten.

Diese Formulierungen schlossen nach westlicher Ansicht die Möglichkeit unterschiedlicher Interpretationen noch nicht gänzlich aus. Würden danach die militärischen Aktivitäten auf den Europa vorgelagerten Inseln, zu denen laut portugiesischer Verfassung auch die Azoren gehören, den Maßnahmen gemäß dem funktionalen Vorbehalt oder unabhängig von ihm unterliegen? Das Bemühen, zu einer endgültigen Klärung zu gelangen, kam nach einem kurzen Augenblick der Hoffnung vor der Weihnachtspause nicht mehr zum Ziel. Danach machten die Ost-West-Auseinandersetzungen über die in Polen getroffenen Unterdrückungsmaßnahmen dem Verständigungsprozeß zunächst ein Ende. Daher ist ungewiß geblieben, ob die sowjetische Führung notfalls bereit wäre, eine Ausweitung des Geltungsbereichs auf ganz Europa zu akzeptieren,, ohne sie mit sachfremden Gegenforderungen zu verknüpfen.

V. Fazit

Das Atlantische Bündis hat versucht, mit dem Konzept der Rüstungssteuerung (arms control) die Basis für eine Sicherheitspartnerschaft zwischen Ost und West kraft gemeinsamen Interesses an der Kriegsverhütung zu legen. Zunächst schien es, daß Ost-West-Verhandlungen dieser Art gute Erfolgsaussichten hätten. Seit den ausgehenden siebziger Jahren hat sich jedoch überdeutlich gezeigt, daß grundlegende Schwierigkeiten auftauchen. In den westlichen Ländern, vor allem in den USA, sind starke Zweifel an der Möglichkeit der erstrebten Sicherheitspartnerschaft schlechthin entstanden. Dieser Meinungstrend wird zusätzlich genährt durch wissenschaftliche Untersuchungen über die sowjetische Sicherheitspolitik, die ergeben haben, daß sich die Führung der UdSSR in ihrem Verhalten zu den Rüstungsfragen nicht von dem Vertrauen in das Gelingen der Kriegsverhütung, sondern von der Eventualerwartung des Verteidigungsfalles bestimmen läßt und dementsprechend ihre Vorkehrungen auf mögliche Krieg-führung hin ausrichtet. Folglich weigert sich der Kreml, das Postulat der wechselseitigen Abschreckung bei den Ost-West-Verhandlungen als Verständigungsgrundlage zu akzeptieren, und besteht darauf, seine Sicherheit durch die Fähigkeit zu siegreicher Verteidigung im Kriegsfälle zu gewährleisten. Dieser Ansatz aber hat für die westlichen Staaten die praktische Konsequenz, daß die UdSSR ihnen gegenüber zumindest auf den regionalen Einzel-

Schauplätzen (wie z. B. Europa) eine Marge an militärischer Überlegenheit zu benötigen glaubt. Soweit diese Leitvorstellungen verhaltensbestimmend sind, tritt an die Stelle der Sicherheitspartnerschaft eine unerbittliche Sicherheitsgegnerschaft.

Die Ansichten darüber, wie man die Krise der bisherigen Rüstungssteuerungspolitik überwinden soll, gehen in den westlichen Ländern auseinander. Die Auffassung eines Teils der Friedensbewegung, daß man einfach einseitig abrüsten könne und dann auf ein analoges Verhalten der von ihren Sicherheitssorgen befreiten UdSSR rechnen dürfe, erscheint im Licht aller historischen Erfahrungen wie der spezifisch sowjetischen Denkgewohnheiten nicht realitätsgerecht. Der von Moskau wiederholt propagierte Vorschlag eines kollektiven Sicherheitssystems für Europa hat im Westen keine positive Resonanz gefunden, weil seine Verwirklichung das Machtverhältnis entscheidend zu sowjetischen Gunsten verschieben und die Staaten Westeuropas in den Gravitationsbereich sowjetischer Vorherrschaft bringen würde. Die westlichen Regierungen einschließlich der Reagan-Administration halten statt dessen grundsätzlich an wesentlichen Elementen der Rüstungssteuerungspolitik fest. Sie sind aber unterschiedlicher Meinung darüber, ob die derzeitige Lage relativer westlicher Schwäche der geeignete Augenblick für erfolgversprechende Verhand13 Jungen mit der Sowjetunion ist oder ob nicht zunächst der anderen Seite durch ausreichende westliche Nachrüstungen vor Augen geführt werden muß, daß ihr Hochrüsten auf die Dauer nicht unbeantwortet bleiben wird und daher keine Chaney des Überlegenheitsgewinns bietet. Die Genfer Verhandlungen über eine Beschränkung der Mittelstrecken-rüstungen, die Ende November 1981 begonnen haben, sollen Aufschluß darüber geben, welche der beiden Meinungen besser der Realität entspricht Unabhängig davon, wie das Ergebnis ausfällt, hat das Atlantische Bündnis Einvernehmen über die gleichzeitige Erprobung eines neuen Zugangs zur Rüstungssteuerung erzielt Bisher stand bei den Ost-West-Verhandlungen hierüber der Gesichtspunkt der wechselseitigen gleichgewichtigen Potentialbeschränkung im Vordergrund. Der sowjetische Verhandlungspartner hatte, wenn der Westen diesen Gesichtspunkt für das jeweils zur Beratung anstehende Thema konkretisierte, die Berücksichtigung zusätzlicher Sicherheitsbedürfnisse auf der eigenen Seite gefordert und damit nach westlicher Einschätzung praktisch ein für sich einseitig vorteilhaftes Arrangement verlangt. Daran scheiterte dann früher oder später die Übereinkunft. Die westlichen Regierungen wollen nun diese grundlegende Schwierigkeit zunächst einmal ausklammern, indem sie für den Anfang eine Beschränkung nicht der militärischen Potentiale, sondern der Art und des Umfangs ihres Gebrauchs zum Verhandlungsgegenstand machen. Die Überlegung dabei ist, daß sich die sowjetischen Führer vermutlich leichter auf Beschränkungen einlassen können, wenn sie die Verfügung über militärische Mittel nicht verlieren, sondern nur in bestimmten Hinsichten eingrenzen. Gebrauchsbeschränkungen können dazu dienen, Westeuropa militärisch und politisch von der drohenden Möglichkeit eines zugleich überraschenden und erfolgversprechenden sowjetischen Angriffs zu entlasten. Sie können allerdings das westeuropäische Sicherheitsproblem nicht endgültig lösen: Würde die UdSSR zeitlich ausgedehnte Offensivvorkehrungen treffen und dabei ihr weiterhin vorhandenes Militärpotential gegen die europäischen NATO-Länder in die erforderlichen Ausgangspositionen bringen, ohne daß die westliche Allianz wegen des Mangels an Streitkräften die so gewonnene Zeit zu ausreichenden Abwehrvorbereitungen nutzen könnte, wäre für den Kriegsfall wenig gewonnen. Immerhin müßte die sowjetische Führung bei Gebrauchsbeschränkungen eine wichtige Option — nämlich die Option der Durchführung oder der Androhung eines Angriffs aus dem Stand heraus — aufgeben. Die bisherigen Verhandlungen im Kontext von MBFR sowie des Madrider KSZE-Folgetreffens lassen erkennen, daß die Leiter der sowjetischen Politik dies vermeiden wollen oder zumindest eine westliche Gegenkonzession zu erreichen suchen. Dem westlichen Stabilisierungskonzept haben sie bei MBFR ein Sicherheitsgürtelkonzept gegenübergestellt: Mittels der Schaffung einer vorgelagerten Rüstungsüberwachungszone in Mitteleuropa soll die militärische Wirksamkeit der amerikanischen Vornestationierungen und der verbündeten NATO-Streitkräfte auf dem europäischen Kontinent so weit wie möglich paralysiert werden — mit der Folge, daß die weitere Entwicklung der atlantischen Verteidigung sowjetischer Kontrolle und sowjetischem Eingriff unterliegen würde. Auf diese Weise könnte die sowjetische Führung den „amerikanischen Brückenkopf" Westeuropa militärisch neutralisieren und ihren politischen Einfluß auf die westeuropäischen Länder verstärken.

Im KSZE-Rahmen standen derartige Arrangements von vornherein außerhalb jeder Diskussion. Daher verlegte sich die sowjetische Diplomatie auf eine andere Forderung. Wenn die UdSSR den für das militärische Geschehen auf dem europäischen Schauplatz wichtigen Teil ihres Territoriums in die Gebrauchsbeschränkungen einbringen solle, dann müßten die USA entsprechende Beschränkungen ihrer militärischen Handlungsfreiheit nicht nur hinsichtlich Europas, sondern auch des Nahen und Mittleren Ostens akzeptieren. Das zielt darauf auf, die Einsatzmöglichkeiten der — in Moskau sehr ernst genommenen — amerikanischen Schnellen Verwendungsstreitmacht (Rapid Deployment Force) in der wichtigsten Ölregion der Welt zu beschneiden, auch wenn dies niemals und nirgends ausdrücklich so formuliert worden ist. Ob die sowjetische Führung bereit ist, von diesem Verlangen abzugehen, um den sicherheitspolitischen Dialog mit den westlichen Regierungen aufrechtzuerhalten, war bis zu der Störung der KSZE-Verhandlungen in Madrid noch nicht endgültig abzusehen. Allerdings haben die Positionen und die Äußerungen der sowjetischen Unterhändler in Madrid wie in Genf deutlich gemacht, daß der Kreml in dem Maße, wie ihm das Anwachsen einer den einseitigen Rüstungsverzicht der NATO fordernden Friedensbewegung die Hoffnung auf kostenlose militärische Vorteile verschafft, Zugeständnisse an den westlichen Ausgewogenheitsstandpunkt nicht mehr für notwendig erachtet

Fussnoten

Fußnoten

  1. World Armaments and Disarmament. SIPRI Tearbook 1974. Stockholm 1974, S. 209.

  2. The Military Balance 1980— 1981, hrsg. vom IISS, London 1980, S. 96. ,

  3. William T. Lee, Soviet Defense Expenditures in the Era of SALT, United States Strategie Institute Report 79-1, Washington/D. C. 1979, S. 10f.

  4. Vgl. Roger W. Barnett, Trans-SALT: Soviet Strategie Doctrine, in: Orbis, Sommer/1975, S. 533— 561; John Erickson, The Chimera of Mutual Deterrence, in: Strategie Review, Frühjahr/1978, S. 11— 17; Stanley Sienkiewicz, SALT and Soviet Nuclear Doctrine, in: International Security, Frühjahr/1978, S. 84— 100; Fritz W. Ermarth, Contrasts in American and Soviet Thought, in: International Security, Herbst/1978, S. 138— 155; Peer H. Lange, Die politische Nutzung militärischer Macht. Der sowjetische Denkansatz, in: Klaus Dieter Schwarz (Hrsg.), Sicherheitspolitik, Bad Honnef 19783, S. 77— 93; William H. Kincade, Repeating History: The Civil Defense Debate Renewed, in: International Security, Winter 1978/79, S. 99— 120; Donald G. Brennan, Commentary, in: International Security, Winter/1978/79, S. 193— 198; William D. Jackson, The Soviets and Strategie Arms, in: Political Science Quarterly, 2/1979, S. 243— 261; Thomas W. Wolfe, The SALT Experience: Its Impact on U. S. and Soviet Strategie Policy and Decision-Making, Cambridge/Mass. 1979; Dimitri K. Simes, Deterrence and Coercion in Soviet Policy, in: International Security, Winter 1980/81, S. 80— 103; Gerhard 'Wettig, Die sowjetischen Sicherheitsvorstellungen und die Möglichkeiten eines Ost-West-Einvernehmens. Baden-Baden 1981.

  5. Vgl. Robert Jervis, Why Nuclear Superiority Doesn't Matter, in: Political Science Quarterly, Winter 1979/80, S. 617— 633.

  6. Zusammenfassende Darstellung bei Gerhard ettig. Umstrittene Sicherheit. Friedenswahrung und Rüstungsbegrenzung in Europa, Berlin 1982, 321— 85.

  7. S. u. a'Günter Poser, Militärmacht Sowjetunion WO, München 1980, S. 125— 130; Eberhard Schulz, Enarakteristika rullenbach sowjetischer Westpolitik, in: Josef und Eberhard Schulz (Hrsg.), Entspansungam Ende? München-Wien 1980, S. 239— 242; P Phan Tiedtke, Militärische Planung und MBFR-sotik der Sowjetunion, in: Osteuropa, 4/1980, . 01 309. K. -Peter Stratmann, NATO-Strategie in “ «Krise?, Baden-Baden 1981, S. 34— 36. Vgl. dazu kspwjetische Quellen: Interview with GeneralBavlovsky, in: Soviet Military Review,'9/1976, 967 Generalleutnant P. Zilin, Uroki prologo i Moty. nastojaego, in: Kommunist, 7/1981, S. 73;

  8. Joseph D. Douglass Jr. /Amoretta M. Hoeber, hrnventional War and Escalation. The Soviet View, INS& cVon National Strategy Information Center NSIC), New York/N. Y. 1981.

  9. Dieses Motiv bestimmt die sowjetische Politik insbesondere im eurostrategischen Bereich, vgl. Gerhard Wettig, Die Sowjetunion und die eurostrategische Problematik, in: Politische Vierteljahrsschrift, 4/1980, S. 346— 362.

  10. Das ist der in der Reagan-Administration vorherrschende Standpunkt, vgl. Manfred Görtemaker, Reagan-Amerika und Westeuropa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 32/81 vom 8. 8. 1981, S. 10f., 14f.; Hans Rühle, Die Außenpolitik der Regierung Reagan, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 32/81 vom 8. 8. 1981, S. 55— 57.

  11. So John Erickson, a. a. O. (Anm. 4), S. 11— 17.

  12. a) Die sowjetische Führung hat mindestens einmal der amerikanischen Regierung ausdrücklich den Vorschlag unterbreitet, das Risiko eines Nuklearkriegs zwischen NATO und Warschauer Pakt zu europäisieren. Am 7. September 1972 regten sowjetische Diplomaten bei Außenminister Kissinger eine Geheimabsprache darüber an, daß beide Weltmächte einen eventuellen Kerwaffenkrieg auf das Gebiet ihrer europäischen Verbündeten begrenzen würden. Als Washington darauf nicht einging, suchte Breschnew persönlich den amerikanischen Außenminister mit der Zusicherung zu gewinnen, daß die Bundesgenossen nichts davon erfahren würden (Teil 2 der Kissinger-Memoiren, hier nach der Wiedergabe in: Der Spiegel, 22. 2. 1982, S. 164 f.). Die Vorgeschichte des NATO-Beschlusses vom 12. 12. 1979 weist unzweideutig aus, daß die damals festgelegte eurostrategische Nachrüstung für das westliche Bündnis wesentlich die Funktion besitzt, eine unüberwindliche Barriere gegen eine derartige sicherheitspolitische Abkopplung Westeuropas von Nordamerika aufzurichten. Die sowjetische Initiative vom September 1972 läßt vermuten, daß die Kampagnen Moskaus gegen den NATO-Beschluß zumindest auch dem Zweck dienen, die Möglichkeit für eine Abkopplung der Westeuropäer von den USA und damit für eine Europäisierung des nuklearen Risikos offenzuhalten.

  13. Dieses Konzept wurde vor allem Anfang der siebziger Jahre mit Blick auf die angestrebte KSZE propagiert. Den Auftakt dafür bildete Breschnews Plädoyer auf dem 24. KPdSU-Parteitag für die „Gewährleistung der kollektiven Sicherheit in Europa" (Prawda, 31. 3. 1971). Als anschließende Stellungnahme vgl. u. a. die Aussagen von S. Beglov und N. Kapöenko auf einer publizistischen Außenpolitik-Konferenz in Moskau im September 1971, wiedergegeben in: Osteuropa 5/1972, A 286, 290: V. Sobakin, Kollektivnaja bezopasnost, in: Kommunist, 4/1974, S. 90, 91, 97. Diese Empfehlungen werden seither immer wieder einmal bei sich bietender Gelegenheit hervorgeholt.

  14. Näheres hierzu bei Gerhard Wettig, a. a. O. (Anm. 6), S. 28- 39.

  15. Vgl. Gerhard Wettig, Die Sowjetunion und die Rüstungskontrolle in Europa, in: Europäische Wehrkunde, 10/1977, S. 490— 495. Je detaillierter Umfang, Art und Struktur der Streitkräfte im Reduzierungsgebiet gemäß sowjetischem Verlangen (beispielsweise nach nationalen Höchststärken) festgelegt werden wurden, desto mehr würden die militärischen Entscheidungen über das gesamte Verteidigungssystem der NATO - nicht aber über das des Warschauer Pakts - einer bündnisübergreifenden Kontrolle überwiesen werden. Diese würde sich zudem im Westen (weil dort offene Gesellschaften mit weitreichenden Möglichkeiten eigenständiger In-Lormationssammlung und Informationsverbreitung sestehen) wirksamer gestalten als auf östlicher

  16. Der Umstand der relativen Nähe Sibiriens zu der Paktgrenze in Europa kann auch bei den Verhandlungen über eine Begrenzung der Mittelstreckenrüstungen nicht außer Betracht bleiben: Die Reichweite der SS-20 erstreckt sich auch von dort aus bis nach Westeuropa, so daß das europäische NATO-Gebiet von den in West-Sibirien stationierten Raketen sofort und direkt erreicht werden kann.

  17. Französisches Memorandum vom 19. 5. 1979, in: Europa-Archiv, 18/1980, D 506— 509. Die EG-Staaten stellten sich am 20. 11. 1979 hinter den Vorschlag.

  18. Kommunique der Warschauer-Pakt-Treffen vom 19759 und 6. 12. 1979, in: Prawda, 16. 5. und 7. 1Z

  19. Vadim Sagladin, in: Der Spiegel, 5. 11. 1979, , 63.

  20. Vgl. Wilhelm Bruns, Europäische Abrüstungskonferenz und KSZE-Prozeß, in: Die Neue Gesellschaft, 5/1981, S. 432 — 437.

  21. Text: Prawda, 24. 2. 1981.

  22. Text: Prawda, 23. 5. 1981.

Weitere Inhalte

Gerhard Wettig, Dr. phil., geb. 1934; Wissenschaftlicher Direktor und stellv. Leiter des Forschungsbereichs Außenpolitik am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln. Veröffentlichungen u. a.: Die Rolle der russischen Armee im revolutionären Machtkampf 1917 (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 12), Berlin (West) 1967; Entmilitarisierung und Wiederbewaffnung in Deutschland 1943— 1955. Internationale Auseinandersetzungen um die Rolle der Deutschen in Europa, München 1967; Politik im Rampenlicht. Aktionsweisen moderner Außenpolitik, Frankfurt (Main) 1967; (zus. mit Ernst Deuerlein, Alexander Fischer und Eberhard Menzel) Potsdam und die deutsche Frage, Köln 1970; Europäische Sicherheit Das europäische Staatensystem in der sowjetischen Außenpolitik 1966— 1972, Düsseldorf 1972; Frieden und Sicherheit in Europa. Probleme der KSZE und der MBFR, Stuttgart 1975; Die Sowjetunion, die DDR und die Deutschland-Frage 1965— 1976. Einvernehmen und Konflikt im sozialistischen Lager, Stuttgart 19772; Der Kampf um die freie Nachricht (in der UNO und auf der KSZE), Zürich 1977; Broadcasting and Detente. Eastern Policies and their Implications for East-West Relations, London 1977; Die sowjetischen Sicherheitsvorstellungen und die Möglichkeiten eines Ost-West-Einvernehmens, Baden-Baden 1981; Das Vier-Mächte-Abkommen in der Bewährungsprobe. Berlin im Spannungsfeld von Ost und West, Berlin (West) 1981; Konflikt und Kooperation zwischen Ost und West. Entspannung in Theorie und Praxis. Außen-und sicherheitspolitische Analyse, Bonn 1981; Umstrittene Sicherheit. Friedenswahrung und Rüstungsbegrenzung in Europa, Berlin (West) 1982.