I. Islamische Erneuerung — Herausforderung für Ost und West
Die sogenannte Reislamisierungsbewegung als religiöses Phänomen und als Problem der politischen Erneuerung ist eine Erscheinung, die nicht auf den Mittleren Osten beschränkt ist, sondern sich auf den gesamten islamischen Raum erstreckt. Sie ist also nicht nur in den klassischen Räumen des Islam festzustellen, sondern auch in Missionsräumen wie etwa in Südostasien oder in den kommunistisch regierten Staaten des osteuropäischen und asiatischen Raumes.
In der islamischen Erneuerungsbewegung hat die „religiös-politische Erneuerung" ihre bisher konkreteste Gestalt angenommen. Sie ist aber keineswegs auf den Islam begrenzt, sondern äußert sich auch in der neohinduistischen „Zurück-zu-Gandhi" -Bewegung auf dem indischen Subkontinent und der buddhistischen Erneuerungsbewegung in Süd-und Südostasien. Allen diesen religiösen Erneuerungsbewegungen ist jedoch eines gemeinsam: Ihr Ursprung ist in der Konfrontation mit dem Westen, mit der europäisch-amerikanischen Zivilisation oder, ganz allgemein ausgedrückt, mit dem westlichen Geist zu suchen. Heute wenden sie sich vor allem gegen die Überfremdung ihrer Kulturen durch die industriell-technische Zivilisation und stellen damit die seit der Kolonialzeit weitgehend von westlich-abendländischem Denken geprägten Ordnungsnormen in Frage. Ihr wichtigstes Merkmal ist die Rückbesinnung auf originäre, weitgehend religiös geprägte Ordnungswerte und -Strukturen Asiens, und insofern wird in ihnen letztlich die geistig-politische Dimension fundamentaler ordnungspolitischer Umwälzungen sichtbar. Sie haben sich bisher am deutlichsten im ökonomischen Bereich artikuliert — in den Auseinandersetzungen zwischen den Industrie-und Entwicklungsländern seit 1964 um eine neue Weltwirtschaftsordnung auf den bisherigen Welthandels-und Entwicklungskonferenzen.
Vor diesem hier nur skizzenhaft nachgezeichneten Hintergrund muß auch die politische Problematik des Mittleren Ostens gesehen werden. Die Politik aller westeuropäischen Länder und der Vereinigten Staaten ist von der Entwicklung in diesen Räumen weitgehend überrascht worden. Ein deutliches Indiz dafür war die Reaktion auf die sowjetische Intervention in Afghanistan: Von den hektischen und unausgewogenen Gegenmaßnahmen der USA (Embargo) sind weniger die Besetzer Afghanistans — also die Sowjetunion — und das sowjethörige Regime in Kabul vor Probleme gestellt worden, als vielmehr die westlichen Partner der Vereinigten Staaten. In Wirklichkeit war die sowjetische Afghanistan-Intervention nur der letzte Akt einer langfristig angelegten und systematisch durchgeführten sowjetischen Mittelost-Politik, die spätestens seit 1954/55 überschaubar, qualifizierbar und kalkulierbar war. Seit der Intervention der Sowjetunion haben sich die westlichen Analysen der Vorgänge in Mittel-ost und der Politik der westlichen Länder weitgehend auf Afghanistan, d. h. auf einen Schauplatz an der geographischen Peripherie des Geschehens in der Gesamtregion konzentriert. Afghanistan ist aber eben nur ein Teil der vom Islam geprägten mittelöstlichen Region bzw. Zentralasiens. Zu ihr gehören genauso die Türkei, Iran, weite Bereiche der Sowjetunion, Pakistan, das von Indien und Pakistan verwaltete Kaschmir und mit Sinkiang auch weite Teile Chinas. Bei aller politischen Vielfalt und Differenzierung bildet dieser Raum in kultureller Hinsicht eine sehr weitgehende Einheit. Dies wurde bisher von der westlichen Politik, wie die Erfahrungen seit dem Umsturz in Iran und der Afghanistan-Intervention lehren, nie genügend in Rechnung gestellt. Anders verhält es sich mit der sowjetischen Mittelost-Politik: Jede bilaterale außenpolitische Maßnahme Moskaus im mittelöstlichen Raum ist ohne Schwierigkeiten in eine Gesamtkonzeption der Außenpolitik in dieser Region einzuordnen. Sie hat auch niemals aus den Augen verloren, daß Iran im Mittleren Osten politisch eine Schlüsselbedeutung zukommt — nicht nur wegen seiner ökonomisch herausragenden Stellung oder seiner strategischen Bedeutung, sondern auch und nicht zuletzt wegen der Islam-Problematik.
II. Die zaristische und sowjetische Mittelostpolitik
1. Der zaristische Vorstoß nach Zentral-asien
Die Geschichte des kolonialen Vordringens Rußlands nach Zentralasien ist die Geschichte der Konfrontation mit dem Westen in diesem Raum. Sie vollzog sich parallel zur kolonialen Expansion Englands durch Machtausweitung des zaristischen Reiches — seit Ende des 18. Jahrhunderts im Kaukasus und seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Turkestan. Zugespitzt ausgedrückt: Zentralasien und der Mittlere Osten wurden überhaupt erst durch die Machtausweitung des zaristischen Reiches in die europäische Großmachtpolitik in Asien einbezogen. Ende des 19. Jahrhunderts standen sich die beiden europäischen Mächte konfrontativ an der heutigen Grenze der Sowjetunion mit der Türkei, Iran und Afghanistan gegenüber und versperrten sich gegenseitig das weitere Vordringen. Das wichtigste Ziel der zaristischen „Süd" -Politik war die Ausdehnung des russischen Machtbereiches in Richtung der Türkischen Meerengen, des Persischen Golfes und des Indischen Ozeans. Sie fand ihre Grenze an der Barriere der Machtinteressen Englands. Andererseits war es aber ein großer Gewinn für die russische Politik, daß sie durch diese Konfrontation eine vertragliche Absicherung ihres territorialen Gewinns in Zentralasien und Mittelost erreichen konnte.
2. Sicherung des territorialen Besitzstandes nach der Oktoberrevolution
Nach 1917 hatte die sowjetische Mittelostpolitik für lange Zeit, praktisch sogar bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges, defensiven Charakter. Für die Sowjetführung hatte die Konsolidierung der Sowjetmacht und der „Aufbau des Sozialismus im eigenen Lande“ absoluten Vorrang. Dennoch: Auch in dieser Periode folgte ihre Mittelost-Politik der zaristischen Tradition. Ihr Ziel war die Sicherung des vor 1917 erworbenen Besitzstandes. Das wurde dadurch erreicht, daß die Sowjetführung bereits Anfang 1921 die Türkei, Iran und
Afghanistan durch sogenannte Freundschaftsverträge an sich binden konnte. Sie wurden durch „Freundschafts-und Neutralitätsverträge“ mit der Türkei (1925) und mit Afghanistan (1926 und 1931) bzw. durch einen „Nichtangriffs-und Neutralitätsvertrag''mit Iran (1927) ergänzt oder erweitert.
3. Rückkehr zur offensiven Orientpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg hat die sowjetische Führung an der Tradition der zaristischen Orientpolitik festgehalten, die nun allerdings wieder expansive Züge annahm. Basis dieser Politik blieben die in den Jahren 1921 bis 1931 geschlossenen Verträge. Die Anstrengungen der Sowjetführung, ihre Beziehungen zu den drei genannten Ländern auf dieser Grundlage zu intensivieren, waren nur begrenzt erfolgreich:
Der Türkei gegenüber sind sie bereits 1945 an der Forderung nach militärischen Stützpunkten am Bosporus und an den Dardanellen gescheitert. Seit dem Beitritt der Türkei zur NATO und der Gründung des Bagdad-(CEN-TO-) Paktes ist die Meerengenproblematik keine bilateral zwischen der Sowjetunion und der Türkei auszuhandelnde Frage mehr. Für die Aktivierung der Iran-Politik waren die Voraussetzungen günstiger: Bereits 1945 war es unter Einfluß Moskaus südlich der sowjetisch-iranischen Grenze zur Proklamation zweier Volksrepubliken gekommen: der „Autonomen Republik Aserbaidschan“ (12. Dezember 1945) und der „Kurdischen Volksrepublik" (15. Dezember 1945); beide waren wirtschaftlich und politisch weitgehend auf die Sowjetunion ausgerichtet. Wichtige Ansatzpunkte für die sowjetische Iran-Politik waren darüber hinaus der britisch-iranische Ölkonflikt der Jahre 1951— 1954, der sich an der Verstaatlichungs-Politik der iranischen Regierung entzündete, die Machtübernahme Mossadeghs (1951), der Anfang 1953 sogar Verhandlungen mit der Sowjetunion zur Erneue-B rung des „Nichtangriffs-und Neutralitätsvertrages" aus dem Jahre 1927 aufnahm. Dieser erste Anlauf Moskaus in der Iran-Politik nach 1945 ist mit dem Sturz Mossadeghs gescheitert. Mit der Einladung des Schahs nach Moskau im Juni 1955 zu Verhandlungen über die Neuordnung der sowjetisch-iranischen Beziehungen unternahm die Sowjetunion einen erneuten Anlauf. Er wurde durch den Beitritt Irans zum Bagdad-Pakt im selben Jahr abgeblockt, Schließlich hat die Sowjetunion noch einmal versucht, Iran durch einen „Vertrag über Freundschaft, Nichtangriff und Zusammenarbeit" wieder stärker an sich zu binden. Die Verhandlungen darüber wurden abgebrochen, als die USA im März 1959 bilaterale Sicherheitsabkommen mit Iran, der Türkei und Pakistan unterzeichneten.
4. Neuordnung der sowjetischen Mittelost-Politik seit 1954
a) Afghanistan als neuer Schwerpunkt
Für die sowjetische Führung waren damit neue Bedingungen geschaffen worden; denn als einziger Spielraum war ihr im Mittleren Osten nur Afghanistan geblieben. Die Voraussetzungen dafür waren relativ günstig, weil sie das Vakuum, das durch den zunehmenden Rückzug der Engländer aus Asien entstanden war, nutzen konnte (Auseinandersetzungen zwischen Afghanistan und Pakistan in der Pashtunen/Pathanen-und Beludschen-Frage, permanente militante Spannungen zwischen Pakistan und Indien in der Kaschmir-Frage). Von nur „relativ günstigen" Voraussetzungen für die sowjetische Außenpolitik kann man insofern sprechen, als Afghanistan zwar potentiell geopolitisch-strategisch von großer Bedeutung, aber ökonomisch völlig unerschlossen und deshalb eben doch nur von begrenztem strategischem Wert war. Die sowjetische Politik richtete sich deshalb seit 1954/55 zunächst auch ganz auf die ökonomische Erschließung des Dabei stand konsequenterweise die Hilfeleistung beim infrastruktureilen Aufbau des Landes an erster Stelle. Die großen Straßenprojekte um Kabul sowie in Nordafghanistan, insbesondere aber der Ausbau der beiden Karawanenstraßen von Charikar nach Doshi über den 3 400 m hohen Salang-Paß im Hindukusch und von Kuschka über Herat nach Kandahar zu festen Autostraßen sind dafür die spektakulärsten Beispiele. Daneben wurde mit sowjetischer Hilfe eine Reihe von Flugplätzen von großem stategischen Wert für die Sowjetunion angelegt. Für die Intervention der Sowjetunion Ende Dezember 1979 sollten alle diese Maßnahmen zentrale Bedeutung bekommen.
Ein anderer wichtiger Bereich der sowjetischen Wirtschaftsaktivitäten in Afghanistan war (und ist bis heute) die Suche nach und Erschließung von Rohstoffvorkommen; sie richtete sich zunächst auf in Nordafghanistan vermutete Ölvorkommen. Die damit verbundenen Erwartungen erfüllten sich zwar nicht, aber es wurden dabei im Raum Shibergan relativ große Erdgaslager gefunden und erschlossen. Seit 1967 wird der größte Teil dieses Erdgases über eine speziell dafür geschaffene Pipeline in die Sowjetunion gepumpt (vertraglich festgelegt bis 1985: insgesamt 70 Mrd. Kubikmeter). Der politisch wichtigste Bereich der sowjetischen Wirtschaftsaktivitäten in Afghanistan seit 1954/55 ist jedoch in ihren Bemühungen zu sehen, die afghanische Entwicklungsplanung an die eigene langfristige Wirtschaftsplanung zu binden. Der entscheidende Durchbruch auf dem Weg zu diesem Ziel gelang Moskau bereits im Oktober 1961, als sich Kabul gezwungen sah, eine vertragliche Verpflichtung Moskaus zur Beteiligung am zweiten afghanischen Fünfjahresplan zu akzeptieren. Von hier führte der Weg über einige Zwischenstationen direkt zu dem im April 1977 zwischen beiden Ländern unterzeichneten Zwölfjahres-„Vertrag über wirtschaftliche Zusammenarbeit". Er enthält auch einen Artikel, mit dem Afghanistan praktisch seine weitere Entwicklungsplanung ganz sowjetischen Experten überlassen mußte. Mit der Unterzeichnung des „Vertrages über Freundschaft, gute Nachbarschaft und Zusammenarbeit" im Dezember 1978 (neun Monate nach der Machtübernahme Tarakis in Kabul) hatte die Sowjetunion schließlich ihr Ziel — die feste Anbindung Afghanistans — erreicht.
Dieser Vertrag enthält auch eine militärische Klausel, auf sich die Sowjetunion ihrer die bei Militärinvention im Dezember 1979 berufen konnte.
b) Probleme der Energieversorgung — Reaktivierung der Iran-Politik
Eine grundsätzlich neue Situation in der Mittelost-Politik ergab sich daraus, daß sich Moskau seit Mitte der sechziger Jahre immer stärker der wachsenden Energieprobleme der eigenen Wirtschaft und der auf die Versorgung aus der Sowjetunion angewiesenen Länder des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) bewußt wurde: Die Rohstoffreserven der Sowjetunion sind zwar groß, aber bisher nur teilweise erschlossen. Ihre Erschließung ist mit enormen, auf absehbare Zeit aber kaum lösbaren Schwierigkeiten finanzieller und infrastruktureller Art verbunden. Diese Problematik beeinflußt die Außenpolitik der Sowjetunion seit Beginn der siebziger Jahre: Sie zielt seither darauf, einerseits die für solche Erschließungsarbeiten erforderlichen Kapital-und Technologieimporte aus den westlichen Ländern zu ermöglichen, andererseits aber auch, Energierohstoff-Importe aus den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens zum Ausgleich der errechneten Fehlmengen zu gewährleisten. Im Rahmen dieser Politik mußte die sowjetische Führung einer Reaktivierung ihrer Beziehungen zu Iran besondere Bedeutung beimessen. Sie bestand deshalb auch nicht mehr auf dem Abschluß eines Vertrages über „Freundschaft, Nichtangriff und Zusammenarbeit", den sie noch im Juli 1958 erreichen wollte, sondern begnügte sich mit einem Notenwechsel, in dem die Regierung in Teheran im Februar 1962 erklärte, eine Stationierung von ausländischen Raketenabschußrampen auf dem Territorium Irans nicht zuzulassen.
Der damit erreichte Durchbruch hatte eine schnelle Intensivierung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern zur Folge: Bereits im November 1963 kam Breshnew zu seinem ersten Staatsbesuch nach Teheran. Zweieinviertel Jahre später — im Januar 1966 — wurde dann das sogenannte Erdgasabkommen unterzeichnet, in dem sich Iran zur Lieferung von insgesamt 140 Mrd. Kubikmeter Erdgas an die Sowjetunion bis 1985 gegen Bezahlung mit Gütern und Anlagen zur industriellen Entwicklung verpflichtete.
Die große Bedeutung der Gasabkommen mit Iran und Afghanistan ergibt sich daraus, daß sie die Sowjetunion in die Lage versetzt haben, ihre transkaukasischen und zentralasiatischen Unionsrepubliken zu einem erheblichen Teil mit Energie aus diesen Quellen zu versorgen, d. h. von der eigenen Energieversorgung abzukoppeln. Zu diesem Zweck wurde in beiden Ländern ein von der Sowjetunion finanziertes Pipeline-System mit einer Länge von insgesamt 2900 Kilometern gebaut.
Zur Vervollständigung des Gesamtbildes der sowjetischen Iran-Politik in dieser Phase bleibt festzustellen, daß sie nach Abschluß des INHALT I. Islamische Erneuerung — Herausforderung für Ost und West II. Die zaristische und sowjetische Mittelostpolitik 1. Der zaristische Vorstoß nach Zentralasien 2. Sicherung des territorialen Besitz-standes nach der Oktoberrevolution 3. Rückkehr zur offensiven Orientpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg 4. Neuordnung der sowjetischen Mittelost-Politik seit 1954 a) Afghanistan als neuer Schwerpunkt b) Probleme der Energieversorgung — Reaktivierung der Iran-Politik III. Der Islam in Zentralasien und seine politische Sprengkraft 1. Identität von Nationalitäten-und Islam-Politik 2. Ziele und Grenzen der Islam-Politik von Staat und Partei a) Der Koran — Religionsurkunde und Quelle von Recht und Gesetz b) Grenzen der Religionsgesetzgebung des Staates ...
c) ... und der Atheismus-Propaganda der KPdSU IV. Das grenzüberschreitende „revolutionäre" Potential des Islam 1. Der schiitische Islam als religiöses und politisches Phänomen a) Sunniten und Schiiten b) Ideale Legitimität des „verborgenen Imam" und konkrete irdische Herrschaft in Iran 2. Die ideologische Reaktion der Sowjetführung a) Der Kampf gegen jeden „Export der Konterrevolution"
b) Unterscheidung zwischen progressiven und reaktionären Gläubigen 3. Der Islam in der Sowjetunion — Teil der Umma V. Sowjetische Iran-Politik und Militär-Intervention in Afghanistan 1. Moskau und die Botschaftsbesetzung in Teheran 2. Konsequenzen und Perspektiven der sowjetischen Mittelost-Politik „Erdgasabkommens" im wesentlichen dem „Muster Afghanistans" gefolgt ist — im Ergebnis allerdings mit dem wesentlichen Unterschied, daß alle Bemühungen Moskaus, auch die Entwicklungsplanung Irans an die sowjetische Wirtschaftsplanung zu binden, am Widerstand des Schahs gescheitert sind. Und es mutet fast wie ein „Treppenwitz der Geschichte“ an, daß Khomeiny es der konsequenten Politik des Schahs zu verdanken hat, wenn Iran sehen Ziele aus den Augen zu verlieren. Allerdings war die sowjetische Politik so stark von inneren ökonomischen Zwängen bestimmt, daß jede Störung durch von der Moskauer Führung nicht beeinflußbare Ereignisse, wie die islamisch-revolutionären Vorgänge in seit Januar 1979 nie in den Machtsog der Sowjetunion geraten ist, wie Afghanistan seit April 1978.
Auf die wichtigsten Grundelemente der sowjetischen Afghanistan-und Iran-Politik ist hier vor allem aus drei Gründen hingewiesen worden:
— Einmal, um auf die Kontinuität der sowjetischen Mittelost-Politik im Sinne einer konsequenten Fortsetzung der zaristischen Orient-politik bis 1917 hinzuweisen, — zum anderen, um zu zeigen, daß Planung und Durchführung der sowjetischen Mittelost-Politik seit etwa 1954 von einem nüchternen ökonomischen Pragmatismus bestimmt waren, ohne die langfristigen strategisch-machtpolitiIran, zwangsläufig nicht nur zu außen-, sondern auch zu innenpolitischen Komplikationen führen mußte: Der völlige Ausfall der iranischen Gaslieferungen seit März 1980 war deshalb für Moskau nicht nur der bisher empfindlichste außenpolitische Rückschlag in ihrer Mittelost-Politik, sondern hat die sowjetische Führung auch vor komplizierte innenpolitische Probleme gestellt.
— Und schließlich wurde auf diese Zusammenhänge hingewiesen, weil deutlich gemacht werden sollte, warum das brisanteste Erbe der expansiven zaristischen Mittelost-Politik — die Islam-Frage — völlig aus dem Blickfeld der sowjetischen Führung geraten ist, obwohl es immer eine zentrale politische Rolle gespielt hat.
III. Der Islam in Zentralasien und seine politische Sprengkraft
Zum Verständnis der Rolle des Islam in Zentralasien muß an einige grundsätzliche historische Sachverhalte erinnert werden: Einmal muß man sich vergegenwärtigen, daß die geo-graphischen Räume der islamisch-ethnischen Minderheiten in der Sowjetunion noch bis zur Oktoberrevolution 1917 in voneinander relativ unabhängige Chanate (z. B. Buchara, Ko49 kand, Chiwa) gegliedert waren. Dem Russischen Reich wurden sie erst im 19. Jahrhundert durch die zaristische Kolonialpolitik einverleibt. Noch bis zur Jahrhundertwende waren diese Räume Bestandteile der Gemeinschaft der Muslime (Umma), die bis zum Ende der Kolonialzeit keine nationalen Grenzen kannte anerkannte. Bis heute fühlen sich oder die Muslime der Sowjetunion in ihrem religiösen Selbstbewußtsein noch immer auf die heiligen Stätten im arabischen Raum — auf Mekka und Medina — ausgerichtet.
Damit unmittelbar hängt ein anderer historischer Faktor von größter gegenwartspolitischer Bedeutung zusammen. Die bis zur heutigen Grenze mit der Türkei, Iran und Afghanistan nach Süden vorgeschobene Linie der Machtausübung des zaristischen Rußlands hat ethnisch zusammengehörende Völker getrennt. Wie in den nördlichen Teilen Irans und Afghanistans leben auch in der Sowjetunion Aserbaidschaner, Tadschiken, Usbeken und Turkmenen. Sie haben ihre islamische Identität bis heute nicht nur nicht aufgegeben, sondern ihr religiöses Bewußtsein wurde durch eine bis dahin im gesamten islamischen Lebensbereich unbekannte nationale Komponente erweitert und sogar erheblich verstärkt. Das Bekenntnis dieser ethnischen Minderheiten in der Sowjetunion zum Islam ist seitdem mit dem Bewußtsein identisch, nicht zum europäisch-russischen bzw. — religionsgeschichtlich ausgedrückt — russisch-orthodoxen Staatsvolk zu gehören. 1. Identität von Nationalitäten-und Islam-Politik Für die Innenpolitik Moskaus ergab sich daraus die Konsequenz, daß Nationalitäten-und Religions-, d. h. Islam-Frage nicht unabhängig voneinander zu lösen waren. Die bereits am 3. Dezember 1917, also unmittelbar nach der Oktoberrevolution veröffentlichte „Botschaft an die werktätigen Muslime in Rußland und des Orients" schien zu zeigen, daß im Unterschied zur zaristischen Regierung die neue sowjetische Führung den unmittelbaren Zusammenhang von nationaler und religiöser Frage durchaus erkannt hatte: „... Fortan werden Euer Glaube und Eure Bräuche, Eure nationalen und kulturellen Institutionen als frei und nicht verletzlich erklärt", hieß es darin, „baut Euer nationales Leben frei und unbehindert auf. Das ist Euer Recht." Solche Zugeständnisse erwiesen sich aber sehr schnell als taktische Mittel zur Sicherung und Festigung der Sowjetherrschaft. Denn schon kurze Zeit später wurden sie von Stalin mit der Erläuterung interpretiert, daß natürlich die Moskauer Nationalitätenpolitik national in der äußeren Form sein könne, daß sie aber in der inneren Substanz immer proletarisch bleiben müsse. Die innenpolitische Brisanz dieses hier skizzierten Sachverhalts ergibt sich aus der demographischen Entwicklung dieses Raumes: Der heutige Anteil der vom Islam geprägten ethnischen Minderheiten (vor allem Turkvölker) an der Gesamtbevölkerung der Sowjetunion von etwa 262 Millionen beträgt nach westlichen Schätzungen 50 Millionen, macht also knapp ein Fünftel aus. Diese Zahl ist sicher zu hoch gegriffen. In den sowjetischen Statistiken werden keine „Religionsrubriken" geführt; die westlichen Angaben beruhen im wesentlichen auf der Addition der nichtrussischen Bevölkerung in denjenigen Unionsrepubliken, die sich traditionell immer zum Islam bekannt hat Doch haben gerade solche Schätzungen die Islam-Spezialisten in der Sowjetunion zu konkreteren Äußerungen „provoziert".
So stellte Ch. Ismailov Anfang 1980 fest, solche Zahlen seien nur die „Frucht der Phantasie“. Rechne man die „nicht praktizierenden Muslime" hinzu, so ergebe sich aufgrund der Ergebnisse der Volkszählung von 1970 (!) eine Zahl von „höchstens 35 Millionen". Hinweise auf das im Vergleich zur russischen Bevölkerung weit über dem Durschnitt liegende Wachstum der muslimischen Bevölkerung werden mit der Feststellung abgetan, die Muslim-Kinder würden keineswegs immer Gläubige. Ein hoher sowjetischer Partei-Funktionär, M. S. Umachov, muß allerdings einräumen, daß der Islam in Zentralasien und im Kaukasus entgegen allen Erwartungen tiefer verwurzelt sei als jede andere Religion bzw. Konfession. Veränderungen im Sinne der Moskauer Nationalitätenpolitik erfolgten erheblich langsamer als vorausgesehen; besonders zählebig seien die Traditionen und Bräuche des Islam.
Der Vorsitzende des Geistlichen Direktoriums der Muslime von Zentralasien und Kasachstan, Mufti Zia ud-Din Babachan, hat die Muslime in der Sowjetunion im September 1979 mit „ungefähr 40 Millionen" beziffert, wobei er allerdings hinzugefügte, daß es sehr schwierig sei, präzise Angaben zu machen. Man kann aber sicher davon ausgehen, daß diese Zahl der Wirklichkeit sehr nahe kommt.
Für Moskau liegt die quantitative Problematik der Islam-Frage aber vor allem in dem überdimensionalen Wachstum der muslimischen Be-B völkerung. Nach den Ergebnissen der Volkszählung im Januar 1979 verzeichnen Turkmenistan mit 28, Usbekistan mit 30 und Tadschikistan mit sogar 31 Prozent die mit Abstand höchsten Bevölkerungswachstumsraten aller Unionsrepubliken. Die Bedeutung dieses Sachverhalts wird allerdings bewußt heruntergespielt. 2. Ziele und Grenzen der Islam-Politik von Staat und Partei Tatsächlich hat die sowjetische Führung „ihr" Islam-Problem niemals „in den Griff" bekommen. Die Mittel, die sie bisher zur Lösung dieser Frage eingesetzt hat — die staatliche Religionsgesetzgebung und die militante Atheismus-Politik der Kommunistischen Partei —, mußten am Kern der Islam-Frage vorbeilaufen, weil die religiöse Struktur des Islam der marxistisch-leninistischen Doktrin nur schwer oder gar nicht zugänglich ist. a) Der Koran — Religionsurkunde und Quelle von Recht und Gesetz Das Leben aller Muslime ist in das Gefüge des kanonischen Rechts (ara) eingebaut. Es verkörpert die Gesamtheit der „Vorschriften“ Allahs, nach denen der Muslim zu leben und zu handeln hat. Und da der Islam alle Lebensverhältnisse religiös wertet, beinhaltet das kanonische Recht nicht nur die religiöse Pflichten-lehre und den Kult, sondern auch die Normen für Recht und Politik. Er kennt also keine Distanz oder sogar negative Haltung zur Welt. Der Islam umfaßt den Glauben an das Diesseits und Jenseits gleichermaßen. Die Heilige Schrift — der Koran — ist nicht nur eine Religionsurkunde, sondern auch die wichtigste Quelle von Recht und Gesetz, Mit anderen Worten: Im Islam sind der geistliche und der weltliche Bereich unmittelbar und unlösbar ineinander verflochten; sie sind identisch.
Dieses Phänomen des Islam und seine Politische Bedeutung hat die sowjetische Staats-und Parteiführung entweder nie verstanden oder aber immer ignoriert, obwohl sie die Sprengkraft der Identität von Islam-und Nationalitätenfrage seit 1918 häufig als politische Realität erfahren mußte. Sie zeigte sich immer davon überzeugt, in der Lage zu sein, den damit verbundenen innenpolitischen Gefahren mit ihrer allgemeinen Religionspolitik wirksam entgegentreten zu können. Diese aber ist nahezu ausschließlich auf die Russisch-Orthodoxe Kirche — auf ihre institutionelle Organisation und das religiös-geistliche Leben der christlichen Glaubensgemeinschaften — ausgerichtet: Mit der staatlichen Religionsgesetzgebung soll der Islam institutionell genauso wie alle anderen religiösen „Glaubensgemeinschaften" bekämpft werden. Und die „kämpferische" Atheismus-Politik der KPdSU hat als Ergänzung der Gesetzgebung des Staates die „Auslöschung" aller religiösen Bewußtseinserscheinungen zum Ziel. b) Grenzen der Religionsgesetzgebung des Staates Eine solche Religionspolitik mußte weit am Islam vorbeigehen. Die Religionsgesetzgebung des Staates — das jetzt gültige Religionsgesetz ist im Juni 1975 in Kraft getreten — hat die Entmachtung der institutionellen kirchlichen Einrichtungen zum Ziel. Sie war deshalb immer auf die Vernichtung des äußeren Rahmens der islamischen Glaubensgemeinschaft gerichtet: Von den zur Zeit der Oktoberrevolution in der Sowjetunion bestehenden 2600 Moscheen wurden bis 1942 mehr als 90 Prozent geschlossen. Heute gibt es nach Angaben des Mufti Babachan vom Januar 1980 nur noch etwa 200 größere und rund 1 000 klei-nere Moscheen.
Solche Maßnahmen haben den Islam kaum treffen können, weil für ihn im Unterschied zur Russisch-Orthodoxen Kirche institutionalisierte „kirchliche" Formen nie von Bedeutung waren. Fragen der kirchlichen Hierarchie und Jurisdiktion haben im Islam nie eine zentrale Rolle gespielt. Gemeinde als Institution und „kirchliche Amtsträger" sind keine zwingenden Voraussetzungen, das Vorhandensein von Moscheen als gottesdienstliche Stätten keine unabdingbare Notwendigkeit für die Praktizierung des Glaubens. Die eigentliche Klammer für die Muslime ist die geistlich-politische „Bruderschaft aller Gläubigen“ in der weltweiten Gemeinschaft aller Muslime (umma). Und den einzigen Rahmen, der ihr Leben in dieser Gemeinschaft „regelt" — individuell und im Verhältnis zueinander —, bilden der Koran und die Hadithe, jene überlieferten Aussprüche und Handlungen des Propheten, die den Koran ergänzen. Die hier für alle Muslime verbindlich festgelegten Ideale und Verhaltensnormen erlegen den Gläubigen nur fünf wirklich erfüllbare Pflichten auf: Das Glaubensbekenntnis (das nur aus dem einen Satz besteht: „Es gibt keinen Gott außer Allah und Muhammad ist sein Prophet"), das fünfmalige tägliche Gebet, das Spenden von Almosen, das Fasten im Monat Ramadan und die Wallfahrt nach Mekka.
Die sowjetische Führung hat die Bedeutung dieses für den Islam charakteristischen religiösen Phänomens, das sich praktisch jeder auf institutionelle Einrichtungen zielenden Religionsgesetzgebung entzieht, seit 1917 häufig erfahren. Aber sie hat daraus nie Konsequenzen gezogen: Die 1941/42 mit Sitz in Taschkent, Baku, Buinaksk und Ufa geschaffenen vier Geistlichen (Verwaltungs-) Direktorien entsprachen durchaus der „klassischen“ sowjetischen Religionspolitik; denn diese Maßnahme sollte den Islam sozusagen an die Religionsgesetzgebung anpassen und ihn damit für die Staats-und Parteiinstanzen kontrollierbar machen. Sie hat sich jedoch als wirkungslos erwiesen; denn die Politik der „Hohen Geistlichkeit" läuft seither praktisch darauf hinaus, „unter der Decke" einer kalkulierten Umarmung der marxistisch-leninistischen Staatsmacht die Lebenskraft des Islam nicht nur zu erhalten, sondern ihren Spielraum noch erheblich zu erweitern.
In allen wichtigen Dokumenten der Geistlichen Direktorien und ihrer führenden Repräsentanten der jüngsten Vergangenheit findet dieses Verhalten seinen Ausdruck: Sie folgen immer dem gleichen, für den Außenstehenden nur schwer nachzuvollziehenden schillernden „Muster", indem sie zwischen (stereotypen) Bekenntnissen zu den Zielen der atheistischen Staatsmacht und eindringlichen -Beschwörun gen der muslimischen Gemeinschaft in der Sowjetunion und ihrer Zugehörigkeit zur umma oszilieren.
Diese Haltung der muslimischen Geistlichkeit ist Folge eines bemerkenswerten inneren Wandels im Sinne einer Anpassung der muslimischen Bevölkerung an die von Staat und Partei seit 1917 geschaffenen politischen Bedingungen. Sie findet Ausdruck in der von den neuen islamischen „Institutionen" geförderten Bereitschaft der Muslime, aktiv an der Arbeit der gesellschaftlichen Organisation teilzunehmen und zu diesem Zweck auch die den Gläubigen unabdingbar auferlegten religiösen Pflichten der Realität des Lebens in der Sowjetunion anzupassen, ohne gegen die vom Koran gesetzten Normen zu verstoßen.
Was aber von außen entweder als Opportunismus oder aber als eine Verwässerung der religiösen Substanz des Islam erscheinen mag, erweist sich in Wirklichkeit als eine konsequente Anknüpfung an die von orthodoxen und modernistischen Strömungen geprägten großen Reformbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts im Nahen und Mittleren Osten. Sie hatten schon vor der Oktoberrevolution und noch bis in die zweite Hälfte der zwanziger Jahre beträchtlichen Einfluß auf die muslimischen Intellektuellen Rußlands bzw.der Sowjetunion, die ihrerseits auf die Reformbewegungen in der nichtrussischen Islamwelt zurückgewirkt haben.
Im Sinne dieser Tradition erlebt der Islam in der Sowjetunion heute eine bemerkenswerte Renaissance unter völlig neuen Bedingungen: Er versteht sich nicht mehr, wie noch in den dreißiger Jahren, in Gegnerschaft zur Sowjet-ideologie, sondern führt den Sozialismus auf den Propheten direkt zurück. Er stellt — mit anderen Worten — keinesfalls den Kommunismus oder sogar das sowjetische System in Frage, führt ihn aber nicht auf die Werke von Marx, Engels und Lenin zurück, sondern leitet ihn aus den schon von Muhammad verkündeten Prinzipien des Islam ab; schon Karl Marx habe sich aufgrund seiner Geschichtskenntnisse von ihnen inspirieren lassen. So stellte — beispielsweise — 1970 anläßlich einer Konferenz der Muslime in Taschkent ein führender Teilnehmer fest: „Ich bewundere das Genie des Propheten, der die sozialen Prinzipien des Sozialismus verkündet hat. Ich bin glücklich, daß eine große Anzahl der sozialistischen Prinzipien nichts anderes ist als die Verwirklichung der Weisungen Muhammads."
Es ist leicht zu verstehen, daß die Instanzen von Staat und Partei in dieser neuen Entwicklung des Islam große Gefahren sehen und ihr heute noch immer hilfslos gegenüberstehen. c) . .. und der Atheismus-Propaganda der KPdSU Vor vergleichbar schwierigen Problemen sieht sich seit der Oktoberrevolution auch die „kämpferische" Atheismuspolitik der Kommunistischen Partei: Wie die auf den institutioneilen Rahmen des Islam gerichtete staatliche Gesetzespolitik hat auch sie ihr erklärtes Ziel — . Auslöschung des religiösen Bewußtseins'— nach mehr als 63 Jahren Sowjetherrschaft in Zentralasien und im Kaukasus nicht erreicht. Im Gegenteil: Bei weiten Teilen der muslimischen Bevölkerung wurde das Bewußtsein der Zugehörigkeit zu einer mit dem europäisch-abendländischen Kulturkreis nicht identischen Gemeinschaft erheblich geschärft. Dieses Bewußtsein manifestiert sich in ihrem bis heute ungebrochenen Festhalten an den Traditionen und in der Pflege des Brauchtums. Die Sowjetmacht hat dieses Verhalten der ethnischen Islam-Minderheiten seit der Oktoberrevolution immer kritisch verfolgt, zeitweilig sogar physisch bekämpft, schließlich aber wegen der Erfolglosigkeit dieses „Kampfes“ — wenn auch widerwillig — toleriert. Noch bis in die jüngste Vergangenheit hat sie offenbar nicht begriffen oder zur Kenntnis nehmen wollen, daß es sich bei der Pflege solcher Traditionen und Bräuche nicht um irgendwelche folkloristischen Äußerungen handelt, sondern daß diese mit religiösen Verhaltensnormen identisch sind, die den Muslimen in der „Bruderschaft aller Gläubigen“ auferlegt sind. So wurde erst in jüngster Vergangenheit festgestellt, daß fast alle Muslime ihre Söhne noch immer beschneiden lassen, daß die Feiern zum Ramadan weitgehend eingehalten werden, daß Trauungen nach dem islamischen Ritus noch immer weit verbreitet sind und daß selbst Beisetzungen auf islamischen Friedhöfen von großen Teilen der Bevölkerung nach wie vor gewünscht werden und dementsprechend häufig vorkommen. In der für die Muslime „gottlosen“ Umwelt der marxistisch-leninistischen Ideologie ist der Praktizierung des religiösen Bekenntnisses in dieser Form ein Gewicht von hoher Signifikanz zuzuschreiben.
Erst in den letzten Jahren hat die sowjetische Führung solche Verhaltensweisen nicht mehr nur als rückständig-religiöse Praktiken abqualifiziert, sondern in ihnen auch politische Willensäußerungen erkannt. Darauf läßt die zunehmende Kritik daran in der partei-und regierungsamtlichen Publizistik schließen: Keine „Modernisierung" könne offenbar „das reaktionäre, inhumane Wesen ...der islamischen Religion ändern“, stellte im April 1978 der sowjetische Islam-Spezialist N. M. Vagabov fest. Sie führe besonders durch die Praktizierung „der Traditionen, Sitten und Rituale... zur Absonderung und Isolierung ... zur Stärkung der nationalen Verschlossenheit und zur Hinderung einer Annäherung ...der Sowjet-völker“. Ein anderes Beispiel dafür ist die scharfe Kritik des Ersten Sekretärs der Turkmenischen KP, M. G. Gapurov, Ende Juli 1979 am „wachsenden Einfluß des Islam“ in der Unionsrepublik Turkmenistan: Der Einfluß der religiösen Propaganda, stellte er fest, werde von der Kommunistischen Partei oft unterschätzt. Die Zahl der sog. „Heiligen Stätten“ nehme nicht ab, und „unter dem Einfluß des muslimischen Klerus und aller möglichen religiösen Scharlatane" dauerten „Überbleibsel der Vergangenheit, wie religiöse Beschneidungen und religiöse Eheschließungen, fort....
IV. Das grenzüberschreitende „revolutionäre“ Potential des Islam
Für diejenigen, welche die Entwicklung in der Sowjetunion zu beobachten haben, stellte sich damit die Frage, ob und welchen Einfluß die islamisch-revolutionären Vorgänge der letzten zweieinhalb Jahre in Iran und Afghanistan auf die islamischen Minderheiten in der Sowjetunion haben oder haben können. Daß diese Vorgänge tatsächlich auf sie ausstrahlen, spiegelt sich deutlich in den Reaktionen Moskaus auf die Vorgänge in Iran und Afghanistan wider. Man kann sie als deutliches Zeichen eines tiefen Unbehagens über die sich im -islami schen Raum vollziehenden Entwicklungen und ihre Rückwirkungen auf die Sowjetunion werten. Die Äußerung von Breshnew auf dem XXVI. Parteikongreß der KPdSU im Februar 1981 zu dieser Problematik bestätigen das Unbehagen auf höchster Ebene: „In einigen Ländern des Ostens werden in letzter Zeit aktiv Losungen vorgeschoben, ... wir islamische Kommunisten verhalten uns mit Achtung gegenüber den religiösen Überzeugungen der Menschen, die an den Islam glauben ... Die Hauptsache bleibt, welche Ziele die Kräfte verfolgen, die diese oder jene Losungen verkünden. Unter der Flagge des Islam kann sich der Befreiungskampf entfalten. Davon zeugen die Erfahrungen der Geschichte, darunter auch der jüngsten Geschichte. Aber mit islamischen Losungen kann auch die Reaktion operieren, die konterrevolutionäre Rebellionen anzettelt Das hängt davon ab, welchen realen Inhalt diese oder jene Bewegung hat“
Diese Ausführungen Breshnews sind das Fazit einer Analyse der revolutionären Vorgänge in Iran, er der aufschluß Afghanistan und die mit -reichen Feststellung einleitet: „Wir sind gegen den Export der Revolution, wir können uns jedoch auch mit der Konterrevolution Export nicht einverstanden erklären." 1. Der schiitische Islam als religiöses und politisches Phänomen Damit stellt sich insbesondere die Frage nach der Ausstrahlung der Entwicklung in Iran auf die Sowjetunion. Sie verlangt vor allem deswegen eine Antwort, weil sich nur etwa 10 Prozent aller Muslime der Sowjetunion zur schiitischen Richtung des Islam bekennen (überwiegend in Aserbaidschan), alle anderen hingegen zur sunnitischen zählen. Diese Frage ist nur zu beantworten, wenn man sich einige Kriterien der Unterscheidung zwischen sunnitischem und schiitischem Islam vergegenwärtigt und dabei noch einmal von wichtigen religionsgeschichtlichen Grundsachverhalten ausgeht.
Der Islam unterscheidet sich von den anderen monotheistischen Religionen dadurch, daß er den Glauben an das Jenseits und Diesseits gleichermaßen umfaßt und deshalb keine Distanz oder sogar negative Haltung zur Welt kennt: Von den sogenannten Fünf Säulen des Islam ist nur die erste — das Glaubensbekenntnis — eine dogmatische; die anderen gehören der Pflichtenlehre an. Dieses Übergewicht des „Handelns" bewirkt, daß vom Menschen die bedingungslose Ergebung und Unterwerfung unter den Willen Gottes gefordert wird. Die allgemeine Norm für sein Handeln ist der Koran und das aus ihm abgeleitete Gesetz. Der Koran schließt also Lehre, Sittenkodex und Gesetze ein, genießt absolute, höchste Autorität und ist deshalb unantastbar, d. h. darf keiner Interpretation durch menschliche Exegese ausgesetzt sein.
Da aber die Auskünfte des Korans nicht für die verbindliche Regelung aller Fälle des täglichen menschlichen Verhaltens ausreichen, bildet daneben die Sunna, d. h. alles, was sich in den Äußerungen, dem Handeln und in der Zustimmung des Propheten zu dem, was in seiner Gegenwart gesagt und getan wurde, manifestiert, die Richtschnur für das Leben der Muslime. Das Bedürfnis, diesen mit der Zeit gewaltig angeschwollenen Stoff zu sichten, führte zu Sammlungen (hadithe), die zu fast kanonischem Ansehen gelangt sind. a) Sunniten und Schiiten In dieser Problematik wurzelt der Gegensatz zwischen Sunniten und Schiiten; denn Schwierigkeiten mußten sich zwangsläufig daraus ergeben, daß in die „kanonischen" Sammlungen zum Teil fragwürdiger Stoff aufgenommen worden war. Bereits unmittelbar nach dem Tode des Propheten (632 in Medina) entzündeten sich in der Umma Differenzen über die Authentizität der Überlieferung dessen, was er gesagt, getan und gebilligt habe. Meinungsunterschiede ergaben sich insbesondere aus unterschiedlichen Auffassungen zur Frage, ob die Traditionskette von Gewährsmännern diese Authentizität auch tatsächlich verbürge. Der Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten beruht also nicht primär auf Glaubensdifferenzen — beide Zweige des Islam haben die Sunna bis heute nie in Frage gestellt —, sondern auf unüberbrückbaren Auffassungen in der politischen Frage der legitimen Nachfolge des Propheten in der religiösen und politischen Führung der Umma. Diese Differenzen scheiden nach wie vor die Geister in der Gemeinschaft aller Muslime: Bis heute stehen sich in ihr konfrontativ gegenüber: — auf der einen Seite die „Sunniten", die der historischen Realität entsprechend die ersten drei Kalifen Abu Bakr, Umar, Utman — sie stammen aus einem entfernten Zweig der Familie des Propheten — und dann erst Ali, den (mit einer Tochter des Propheten verheirateten) Vetter Muhammads, als die ersten vier rechtmäßigen Kalifen anerkennen, und — auf der anderen Seite die „Schiiten", die von dem personengebundenen Bezug ausgehen, daß Ali der erste rechtmäßige Nachfolger Muhammads ist und nach ihm jeweils derjenige seiner leiblichen Nachkommen, der die Voraussetzungen für das Amt erfüllt. Nur er ist für sie des „göttlichen Lichtes" inne.
Die Schia — die „Partei Alis" — wendet also das Prinzip der Erblichkeit weltlich-politischer und geistlicher Macht — beide bilden im Islam notwendigerweise eine Einheit —, d. h. das Prinzip der Unfehlbarkeit und Sündenlosigkeit nur auf die direkten Nachkommen Muhammads bzw. Alis an. Sie vertritt den Grundsatz des Übergangs des Imamats vom Vater auf den Sohn als Träger des „göttlichen Lichtes". Das Imamat beruht infolgedessen auf einer ununterbrochenen Reihenfolge der von Gott direkt mit der entsprechenden Qualifikation begabten erbberechtigten Nachfolger des Propheten bzw. Alis, des ersten Imam. Der Imam ist dank der durch diese Erbfolge auf ihn übergeleiteten Lichtsubstanz sündenlos und unfehlbar.
Die Schiiten erkennen also die ersten drei Kalifen nicht an. Sie werfen ihnen vor, Alis Rechte usurpiert zu haben. In ihren Äußerungen sehen sie die Ursachen für die meisten fragwürdigen Bestandteile der Überlieferungssammlungen und halten sich ausschließlich an die Ali-Hadithe. Die Entwicklung des schiitischen Islam ist die eines erfolglosen Kampfes innerhalb der Umma um die rechtmäßige Leitung der ganzen islamischen Gemeinschaft. Sie hat ihren politischen Akzent in dem Glauben, daß der letzte Imam nicht gestorben sei, sondern als der einzig Rechtgeleitete im Verborgenen weiterlebe, um am Ende der Tage wiederzukehren und als Welterlöser das von Gott gewollte Idealreich aufzurichten. b) Ideale Legitimität des „verborgenen Imam"
und konkrete irdische Herrschaft in Iran Auf die Vertiefung dieser religionsgeschichtlichen Problematik kann in dem hier gezogenen Rahmen verzichtet werden. Die Frage ist aber natürlich, welche Konsequenzen sich daraus für die Beurteilung der Situation des Islam in Iran und damit im weiteren Sinne auch für das politische Verhältnis Irans zum Sowjetstaat ergeben. Zweierlei muß dazu hier in Erinnerung gerufen werden:
Einmal: Der schiitische Zweig des Islam hat in der Umma immer eine religiöse, vor allem aber politische Opposition gebildet Er ist in einem langen historisch-politischen Prozeß zum Glauben der Unterlegenen, zur Religion der Erwartung und Hoffnung auf die schiitische „Machtergreifung“ der Abkommen aus dem Hause des Propheten geworden. Und eben diese Hoffnung schlägt sich in der „Lehre vom verborgenen Imam" nieder.
Und zum anderen: Unter den Safawiden (1501— 1722), den erbitterten Gegnern der sunnitischen Ösmanen, wurde der schiitische Zweig des Islam in Iran zur Staatsreligion erhoben (1512). Dennoch ist es aber der Schia nie gelungen, in Iran einen Staat unter Führung ihrer Imame bzw.deren Stellvertreter zu errichten. Bis Ende 1978 war die politische Herrschaft in Iran (seit 1925 der Pahlevi-Dynastie) eine von der schiitischen Geistlichkeit allenfalls indirekt geleitete, wenn auch von der Legitimation durch sie abhängige politische Herrschaft.
Dieser spannungsgeladene politische Sachverhalt hat auch bewirkt, daß Iran tief von der Vergeistigung des Imamats und von der „Verfolgung" der Schiiten in der Umma geprägt ist mit der Konsequenz, daß es für die iranische Bevölkerung natürlich und selbstverständlich ist, zwischen der konkreten Realität irdischer Herrschaft und der idealen Legitimität des verborgenen Herrschers zu unterscheiden. Die irdischen Mächte Irans waren für die Bevölkerung immer unrechtmäßig, wenn auch — je nach dem Grad ihrer Gerechtigkeit — mehr oder weniger akzeptabel. An die Stelle es verborgenen Imam tritt in der politischen Realität die Autorität derjenigen schiitischen Gelehrten, in deren Händen die „Macht“ der Auslegung der Ali-Hadithe liegt. Sie bilden die Gemeinschaft derjenigen, die die Anstrengungen der dauernd erforderlichen Interpretation unternimmt (mugtahid). Diese Gemeinschaft verleiht der Vollmacht des Imam Dauer.
Folgerichtig tragen deshalb die gelehrtesten, weisesten und frömmsten schiitischen Geistlichen den Titel „Ayatollah", was so viel wie „Zeichen des Wirkens Gottes" oder „Zeichen der Gegenwart Gottes" heißt. Als mugtahid sind sie gemeinsam zur Leitung und Gesunderhaltung der schiitischen Gemeinschaft verpflichtet und insofern befugt, die irdischen Machthaber zu beraten oder sie ggf. auch öffentlich zu kritisieren.
Auf dieses Spannungsverhältnis ist das ganze politische System Irans zurückzuführen; es war immer geprägt vom Gegenüber — der mächtigen schiitischen Hierarchie, die sich auf ihren religiös-politischen Auftrag beruft, auf eine jahrhundertealte Tradition zurückblickt und über eine große Popularität verfügt, und — der Staatsmacht, der es seit der Machtübernahme der Pahlevi-Dynastie (1925) gelungen war, ein Bild der Stärke zu vermitteln, deren Grundlage das Verständnis gerade des schiitischen Islam für ihren Nationalismus, das Bekenntnis zur Monarchie, die massive Industrialisierung und eine starke Armee war.
Die aus diesem Selbstverständnis resultierende Sicherheit der iranischen Staatsmacht war jedoch insofern trügerisch, als sie vor allem auf Kosten der schiitischen Hierarchie erreicht werden konnte — z. B. dadurch, daß sie deren Autorität zu begrenzen suchte, indem sie die Verwaltung der geistlichen Stiftungen an sich riß und die Geistlichkeit damit eines Teils ihrer wirtschaftlichen Basis beraubte. Für die schiitische Geistlichkeit war das Pahlevi-Regime deshalb auch „illegal“; es hatte sich weder als moralisch noch als gerecht ausgewiesen. Sein Verhalten bestätigte das Selbstverständnis der Geistlichkeit und erhärtete in den Augen der Bevölkerung deren Verpflichtung zu dauernder Opposition gegen jede staatliche Ungerechtigkeit Damit wurde die Überzeugung gefestigt, daß der schiitische Islam in Zeiten kultureller Überfremdung, d. h.der durch die Politik des Schahs verursachten Dominanz der westlichen Zivilisation, immer die eigentliche politische Konstante in Iran war, ist und bleiben muß. Dies macht auch verständlich, daß der „Ruf" nach Gerechtigkeit, nach einem gerechten Staatswesen sich für die iranische Bevölkerung nicht in ihren Herrschern, sondern vor allem in ihrer Geistlichkeit verkörpert. c) Theokratie — die unabdingbare Konsequenz In diesem Selbstverständnis der iranischen Bevölkerung war die Forderung der Ayatollahs — insbesondere Khomeinys —, die Pahlevi-Dynastie zu stürzen und eine theokratische Herrschaft zu errichten, nur folgerichtig. Sie war mit der Vorstellung von einem gerechteren politischen Regime identisch, einem Regime, das sich so weit wie irgend möglich dem Ideal eines von Gott durchdrungenen Staatswesens annähert. Diese Forderung wurde aber immer in dem Bewußtsein erhoben, daß die wirklich vollkommene Gesellschaft erst nach Erfüllung der eschatologischen Erwartung des schiitischen Islam (Rückkehr des „verborgenen Imam") verwirklicht werden kann.
Die Proklamation Irans zur „Islamischen Republik" (1. April 1979) aufgrund des am 30. und 31. März 1979 durchgeführten Referendums, die Ausarbeitung einer neuen Verfassung und Abstimmung darüber am 2. und 3. Dezember 1979, die der Geistlichkeit eine entscheidende Machtposition sicherte, die Wahlen am 14. März und 5. Mai 1980 zum Parlament, bei denen die streng religiös orientierte „IslamischRepublikanische Partei" den größten Teil der Sitze erhielt, sowie die vom neuen Parlament „vorgeschlagene" Ernennung des Khomeiny nahestehenden Ministerpräsidenten (des inzwischen ermordeten Rajai; August 1980) durch den Staatspräsidenten waren die logische Konsequenz dieser schiitischen „Staatsphilosophie". 2. Die ideologische Reaktion der Sowjetführung Von hier führt der Weg direkt zurück zur Frage nach den Rückwirkungen der islamisch-revolutionären Vorgänge in Iran und Afghanistan auf die islamischen Minderheiten in der Sowjetunion. Sie ist eben nicht mit dem Hinweis abzutun, daß nur zehn Prozent der Muslime in der Sowjetunion zum schiitischen Islam zu rechnen sind, weil es nicht primär um eine innerreligiöse Konfrontation zwischen sunnitischem und schiitischem Islam geht. Auch im rein schiitischen Iran spielt sie nur eine untergeordnete Rolle. Die Beurteilung der Vorgänge im kaukasischen und zentral-asiatischen Raum muß von dem in diesem Zusammenhang viel wichtigeren Element des schiitischen Islam, dem Element des Widerstandes der Opposition gegen die staatliche Ungerechtigkeit ausgehen, das die Forderung nach einem gerechteren und damit nach einem „legitimen" politischen System beinhaltet.
In diesem Phänomen findet die früher zitierte kompromißlose Stellungnahme Breshnews gegen jeden „Export der Konterrevolution" aus dem „Ursprungsland" Iran, direkt oder über Afghanistan, in die Sowjetunion ihre Erklärung. a) Der Kampfgegenjeden „Export derKonterrevolution "
Breshnews Erläuterungen der sowjetischen Haltung in der Afghanistan-Frage bzw. zur Entwicklung in Iran in unmittelbarem Zusammenhang mit der Islam-Passage seines Rechenschaftsberichtes spiegeln das Dilemma wider, in dem sich die sowjetische Führung befindet: Bei der Behandlung Afghanistans wird der Islam zwar überhaupt nicht erwähnt, sondern in lapidarer Kürze lediglich festgestellt, daß „der Imperialismus ... einen wahrhaft un-erklärten Krieg ... gegen die afghanische Revolution entfesselt" habe, durch den an „unserer südlichen Grenze eine direkte Bedrohung" geschaffen wurde; sie habe die Sowjetunion auch gezwungen, „auf Bitte eines befreundeten Landes Militärhilfe zu leisten". Aber die Stellungnahme Breshnews zu den Vorgängen in Iran geht, wenn auch nicht direkt, um so deutlicher auf die Rolle des Islam in Iran und auch in Afghanistan ein: Sie schreibt der „Revolution in Iran" einerseits einen „besonderen Charakter“ zu und grenzt sie damit von den parallelen Vorgängen in Afghanistan ab, läßt aber der Sowjetunion andererseits alle Möglichkeiten zu einer dialektisch unterschiedlichen Bewertung der islamisch-revolutionären Vorgänge in Iran und Afghanistan im Sinne der marxistisch-leninistischen Revolutionsdoktrin: Denn..... abgesehen von aller ihrer Kompliziertheit und Gegensätzlichkeit" sei die iranische Revolution zwar „im Grunde genommen eine antiimperialistische Reaktion,... die innere und äußere Reaktion" sei aber bestrebt, ..... ihren Charakter zu verändern". b) Unterscheidung zwischen progressiven und reaktionären Gläubigen Was Breshnew hier nur sehr pauschal anspricht, gehört gewissermaßen zum „kleinen Einmaleins" des Marxismus-Leninismus. Bereits im November 1979 hatte die „Prawda Veranlassung gesehen, den Parteikadern die unantastbaren ideologischen Grundpositionen der KPdSU in einem Artikel „über den wachsenden Einfluß der Religion in der zeitgenössischen Welt“ in Erinnerung zu bringen. In ihm wird ein Unterschied zwischen „progressiven und reaktionären Gläubigen", die oft in ein und derselben Religion anzutreffen seien, gemacht und an den Vorgängen in den Nachbar-ländern erläutert: In Iran sei dem Islam „der Beginn einer Revolution" gelungen, während er in Afghanistan von den Feinden der Volks-macht als Instrument benutzt" werde. Kapitalismus und Imperialismus versuchten, „die Klassenwidersprüche unserer Epoche als Kampf zwischen den religiösen Prinzipien und dem atheistischen Kommunismus hinzustellen". Marxismus und Religion könnten sich aber durchaus in einer gemeinsamen Interessensphäre treffen; denn die Kommunisten würden alle „Gläubigen untestützen, die für Entspannung und Frieden zwischen den Völkern eintreten". Und unmittelbar nach der Afghanistan-Intervention wurde die „Logik" dieser Dialektik in der „Literaturnaja gazeta" mit der Feststellung zusammengefaßt:..... Iran und Afghanistan ... müssen ihre Errungenschaften vor einer Einmischung der Imperialisten schützen ... 3. Der Islam in der Sowjetunion — Teil der Ununa Die Schärfe der Polemik in der sowjetischen Publizistik seither gegen das „phantastische Geschwätz .... daß die islamische Explosion • • • bald auf die Sowjetunion übergreifen" werde, macht die Unsicherheit von Partei-und Staatsführung hinsichtlich der Islam-Frage im eigenen Land deutlich. Solche „Erdichtungen“ hätten in den muslimischen Ländern den „falschen, aber leider lebendigen Eindruck“ hervorgerufen, „daß es sich bei den sowjetischen Kommunisten um Erzfeinde der Religion" handele. Auf diese Weise sei es auch gelungen, »Elemente des Mißtrauens bei den Führern der Revolution in Iran gegenüber den Links-kräften des Landes" zu wecken.
Hinter dem sich darin artikulierenden Unbehagen ist die zunehmende „Einsicht“ der Sowjetführung zu erkennen, daß sich in den Iran-und Afghanistan-Vorgängen seit Anfang 1979 nur die internationale Dimension ihrer inneren Islam-Problematik widerspiegelt und daß hie Muslime in der Sowjetunion von den Erneuerungsbestrebungen in der weltweiten Islam-Gemeinschaft nicht isoliert werden können. Daß sich die sowjetischen Muslime ihrer Zugehörigkeit zur Umma bis heute bewußt geblieben sind, ist in der Begrüßungsansprache des derzeit ranghöchsten islamischen Geistlichen der Sowjetunion, Mufti Zia ud-Din Babachan, im September 1979 zur Eröffnung eines Symposiums in Dushanbe, das den Vorbereitungen der Feiern zum Beginn des 15. Jahrhunderts nach islamischer Zeitrechnung im Jahre 1980 galt, mehr als deutlich zum Ausdruck gekommen: „In unserem Land hat das System gewechselt, haben sich die sozialen Beziehungen verändert, sind ein neuer Typus des Staates und eine neue sozialistische Ordnung aufgetreten“, führte Babachan aus, „aber die Muslim-Religion fährt fort zu existieren und zu blühen — mehr noch, ihr Prestige wird stärker ... Die Muslime des sowjetischen Ostens [sind] ein unveräußerlicher Teil der Umma... Alle Muslime der Welt bilden einen Körper ... Wenn ein Teil davon unter einer Krankheit leidet, ist der Schmerz im ganzen Körper zu spüren."
Mit dem Erneuerungsprozeß in den islamischen Nachbarstaaten wird im Selbstbewußtsein der sowjetischen Muslime nur nachvollzogen, was im eigenen Lande schon viel früher zu Ende gebracht worden ist Ihr harter Über-lebenskampf gegen die Sowjetisierungspolitik der europäisch-atheistischen Partei-und Staatsmacht hatte auch jenen Selbstbestimmungsprozeß ausgelöst, der zur Entstehung der neuen islamischen Identität in der Sowjetunion führte. Sie steht in der Tradition der ursprünglich vom Nahen und Mittleren Osten ausgegangenen säkularen Strömungen und dokumentiert zugleich auch die Fähigkeit des Islam, sich elastisch und ohne religiösen Substanzverlust an die Politik einer „atheistischen“ Staatsführung anzupassen.
Daraus ergibt sich, daß die immer wieder aufgeworfene Frage, ob sich ein militantes Aufbegehren der Muslime gegen die Verwestlichungspolitik der Regierung (wie in Iran) oder ein bewaffneter Kampf gegen den Zugriff der atheistischen Macht (wie in Afghanistan) in der Sowjetunion wiederholen könnte, falsch gestellt ist, wenn sie nicht die Islam-Frage als Kernproblem der gegenwärtigen Vorgänge im Nahen und Mittleren Osten einbezieht. Denn aufgrund der Erfahrungen ihres harten Selbstbehauptungskampfes können die Muslime in der Sowjetunion überhaupt keine Illusion über den Ausgang und die Chancen eines solchen militanten Aufbegehrens haben.
Die Frage nach der Bedeutung der iranischen und afghanischen Ereignisse ist nur zu beantworten, wenn man sich vergegenwärtigt, daß in ihnen nur die Spitze des Eisberges fundamentaler Umwälzungen von weltumspannender Bedeutung sichtbar wird. Bei dem, was sich gegenwärtig in der islamischen Welt vollzieht, geht es um wesentlich mehr als um eine auf religiös-theologische Probleme konzentrierte Erneuerungsbewegung. Sie stellt auch die Gültigkeit der seit der Kolonialzeit im Nahen und Mittleren Osten praktizierten europäischen Ordnung in Frage. Der hier tatsächlich in Gang befindliche Prozeß der Nord-Süd-Auseinandersetzung wird sich in dem Maß verschärfen, wie die islamischen Länder Fortschritte bei der Weiterentwicklung der im Koran wurzelnden Scharia zu einer in der Gegenwart praktizierbaren modernen islamischen Staats-und Wirtschaftsordnung erzielen. Dies ist zweifellos ein sehr langfristiger Prozeß, von dem auch die Muslime in der Sowjetunion nicht abzutrennen sind. Ein wesentliches Kriterium dafür ist, daß die Front zwischen Nord und Süd in Mittelost eben nicht an der sowjetischen Grenze mit Afghanistan, Iran und der Türkei verläuft, sondern quer durch die Sowjetunion, nämlich an der nördlichen Grenze der vom Islam geprägten zentralasiatischen und transkaukasischen Unionsrepubliken zum europäischen Rußland.
V. Sowjetische Iran-Politik und Militär-Intervention in Afghanistan
Vor diesem Hintergrund muß die Entwicklung im Mittleren Osten und insbesondere die Politik der Sowjetunion in diesem Raum beurteilt werden: Die vorstehend dargelegten Zusammenhänge erfordern es, die eingangs gemachten Feststellungen dahin gehend zu relativieren, daß der Pragmatismus der sowjetischen Mittelost-Politik keineswegs nur auf innerökonomische Zwänge zurückzuführen ist, sondern daß es ihr hier angesichts der Islam-Problematik um fundamentalere innere Sicherheitsbelange geht.
Tatsächlich zeichnete sich schon seit Mitte 1979 deutlich die Entschlossenheit der Moskauer Führung ab, der Gefahr des „Exports der islamischen Konterrevolution" von Iran und Afghanistan in die Sowjetunion präventiv zu begegnen. Denn in dem Maße, wie sich das wirtschaftspolitische Instrumentarium als untauglich erwies, vergrößerte sie ihren politischen Druck auf Teheran.
Seit September/Oktober 1979 konzentrierte er sich zunächst auf die Kritik an der innenpolitischen Entwicklung Irans, dehnte diese Kritik dann aber sehr schnell auf die geistige und materielle Unterstützung des muslimischen Widerstandes gegen das Kabuler Regime durch Teheran aus: Die ersten kritischen Stellungnahmen der partei-und regierungsamtlichen Moskauer Publikationsorgane im Juni 1979 zur innenpolitischen Situation in Iran waren noch eine unmittelbare Reaktion auf die Ankündigung der neuen Erdgaspolitik Teherans. Je deutlichere Konturen diese neue Politik jedoch annahm, um so stärker und unverblümter zielten die sowjetischen Angriffe auf die schiitische Geistlichkeit im Sinne einer Relativierung ihres Anteils am Erfolg des revolutionären Umbruchs, ihrer Bedeutung für die zukünftige Entwicklung Irans und schließlich auch wegen ihrer direkten „Einmischung“ in die sowjetische Islam-und Afghanistan-Politik. Ihren dramatischen Höhepunkt erreichte die Kritik im September 1979 in dem gegen die schiitische Geistlichkeit erhobenen Vorwurf, sie verfolge unter dem Zeichen „Kommunistenjagd" alle Menschen, die für eine „fortschrittliche sozialistische Umwandlung" Irans kämpften. Daraus wurde die Schlußfolgerung abgeleitet, daß die Koalition der Kräfte, die den Sieg der Revolution in Iran ermöglicht hätte, bereits zerfallen sei. 1. Moskau und die Botschaftsbesetzung in Teheran Der Zusammenhang der Besetzung der amerikanischen Botschaft in Teheran (4. November 1979) mit dem sowjetischen Mißerfolg in der Erdgaspolitik und dem eruptiven Umschlag der Haltung Moskaus zum Khomeiny-Regime ist evident. Er läßt sich quellenmäßig zwar nicht minutiös belegen, ergibt sich jedoch aus der Logik der durchaus überschaubaren Zusammenhänge der Entwicklung in Iran seit Oktober 1979: Sie erlaubt es festzustellen, daß Khomeiny und die schiitische Geistlichkeit die Botschaftsbesetzung nicht veranlaßt haben. Khomeiny hat verschiedene Male versucht, mit dem ganzen Gewicht seiner „ImamAutorität" die Beendigung der Geiselaffäre anzuordnen. Erst als seine Autorität durch Nichtbeachtung dieser Forderung von Seiten der Besetzer in Frage gestellt zu werden drohte, hat er solche Versuche aufgegeben. Verbal hat er sich erst nach der mißglückten amerika-B nischen Befreiungsaktion vom 25. April 1980 hinter die Besetzer gestellt.
Ebensowenig waren die damalige Regierung Bazargan und der designierte Präsident Bani Sadr dafür verantwortlich: Sie haben die Botschaftsbesetzung mehrfach verurteilt und ihre Beendigung gefordert — ohne spürbare Resonanz bei den Geiselnehmern. Ministerpräsident Bazargan ist deswegen wenige Tage nach der Botschaftsbesetzung demonstrativ zurückgetreten. Auch das iranische Außenministerium hat sich strikt geweigert, die amerikanischen Diplomaten, die sich zu dieser Zeit außerhalb ihrer Botschaft aufhielten und Zuflucht im Außenministerium gefunden hatten, in das Botschaftsgebäude zurückzuführen.
Die Erklärung für das Verhalten der Botschaftsbesetzer — „Studenten" von Mujahedin-e-Khalq, Fedayin-e-Khalq und Anhänger der (illegalen) Tudeh-Partei — und für ihre zu diesem noch ungewöhnliche Zeitpunkt ganz «Zugeknöpftheit" den Forderungen Khomeinys, des Staatspräsidenten der Regierung und gegenüber ergibt sich aus ihrer Zusammensetzung und programmatischen Orientierung. -
ist, daß der nen gemeinsam sie links von „revolutionären Linie" Khomeinys operieren: Die Mujahedin bezeichnen sich selbst als „islamische Marxisten" (im Sinne eines „religiösen Sozialismus"); sie fühlen sich zwar in ihrem Bekenntnis zum Islam an Khomeiny gebunden, waren jedoch niemals bereit, dessen politischen Weisungen bedingungslos zu folgen. Die Fedayin und die (1949 verbotene) kommunistische Tudeh-Partei bilden zwar relativ kleine Minderheiten, sind aber straff organisiert. Beide bezeichnen sich als linksradikal, als ihre ideologische Basis den Marxismus-Leninismus und fordern übereinstimmend die Umwandlung Irans in einen „Arbeiterstaat“ nach dem Vorbild der Sowjetunion.
Fedayin und Tudeh haben nie einen Zweifel daran gelassen, daß sie das Khomeiny-Regime nur „vorläufig" zu tolerieren bereit sind. Und Moskau hat in allen Äußerungen zur iranischen Szenerie nie einen Zweifel daran gelassen, daß die Ziele der sowjetischen Iran-Politik mit denen dieser beiden „Parteien" identisch sind.
Vor diesem Hintergrund muß die Reaktion der sowjetischen Führung auf die Besetzung der amerikanischen Botschaft gesehen werden: Sie hat der lautstarken verbalen Entschlossenheit Washingtons, gegen Iran vorzugehen, die Absicht unterstellt, unter Berufung auf das Völkerrecht die Realisierung von seit
Jahren im Pentagon vorbereiteten Plänen zur „Eroberung der Erdölgebiete der arabischen Länder" mit einer militärischen Intervention in Iran einzuleiten. Die offiziösen Moskauer Presseorgane beschworen bereits vor, dann aber vor allem unmittelbar nach der Botschaftsbesetzung mit zunehmender Schärfe akut drohende militärische Gefahren für Iran. Und der sowjetische Außenminister Gromyko ließ Khomeiny nur wenige Tage nach der Botschaftsbesetzung durch den Palästinenserführer Arafat in Teheran davon in Kenntnis setzen, daß die Sowjetunion „eine militärische Intervention der USA gegen Iran nicht dulden" würde.
Befürchtungen, die Sowjetunion würde die amerikanischen Reaktionen auf die Teheraner Ereignisse als Vorwand benutzen, um selbst militärisch in Iran zu intervenieren, waren durchaus angebracht und begründet. Denn der bis heute gültige -noch immer sowjetisch-persi sche „Freundschaftsvertrag" vom 26. Februar 1921 räumt Moskau in den 5 6 Artikeln und das Recht ein, „im Falle, daß eine dritte Macht versuchen sollte, durch bewaffnete Intervention in Persien eine Usurpationspolitik zu verfolgen, ...seine Truppen im Hinblick auf zu einer Verteidigung notwendige militärische Operation in das Innere des Landes vorrücken zu lassen“.
Es ist müßig zu fragen, ob die USA die sich nach dem 4. November 1979 explosiv zuspitzende Situation richtig eingeschätzt haben. Denn Revolutionsführung und Regierung in Teheran waren sich der akuten Gefahr einer sowjetischen Militärintervention durchaus bewußt. Sie sind ihr dadurch entgegengetreten, daß sie mit einer präventiven „Blitzentscheidung" sowohl das Sicherheitsabkommen mit den USA vom 5. März 1959 als auch die Artikel 5 und 6 des sowjetisch-persischen Freundschafts-Vertrages vom 26. Februar 1921 einseitig annulierten und damit vor beiden Großmächten unübersteigbare politische Barrieren für militärische Operationen auf iranischem Territorium aufrichteten. 2. Konsequenzen und Perspektiven der sowjetischen Mittelost-Politik Auch die Beurteilung der Entwicklung seit Anfang 1980 muß davon ausgehen, daß Moskau Anfang November 1979 zur Intervention in Iran bereit war, zweifellos aber die politische Handlungsfähigkeit der iranischen Revolutionsführung unterschätzt hat und daß darin die Ursache dafür zu suchen ist, daß die Inter59 vention nicht durchgeführt wurde. Die Folgen dieser Fehleinschätzung für die Entwicklung der sowjetischen Mittelost-Politik seit Ende 1979 werden deutlich, wenn man die Frage nach den Konsequenzen einer sowjetischen Iran-Intervention bzw. ihrer Nichtdurchführung zu beantworten versucht:
1. Eine Intervention hätte der Sowjetunion zweifellos Gewinne gebracht (Verfügbarkeit nicht nur über Erdgas, sondern vor allem auch über Erdöl), die weit über die Zielsetzungen hinausgehen, die sie mit wirtschaftlichen Mitteln zu erreichen suchte.
2. Daraus hätte sich zwangsläufig die politische Kontrolle über das gesamte Golfgebiet ergeben — mit weitreichenden Konsequenzen für die weitere politische und wirtschaftliche Entwicklung der Länder des Nahen und Mittleren Ostens und ihre Außenpolitik. Damit wäre ein Ziel erreicht worden, das schon vor der Oktoberrevolution das zaristische Ruß-land und danach auch die Sowjetunion konsequent verfolgt hat, aber nie verwirklichen konnte.
3. Konsequenzen hätten sich aber vor allem daraus ergeben, daß die wichtigste, zu dieser Zeit wahrscheinlich sogar einzige materielle Basis des muslimischen Widerstandes in Afghanistan ausgeschaltet, zumindest aber unter völlige Kontrolle gebracht worden wäre. Erst nach dem islamisch-revolutionären Umbruch in Iran hatte er (seit März 1979) gefährliche Ausmaße angenommen und nicht nur die Existenz des prosowjetischen Kabuler Regimes in Frage gestellt, sondern auch auf die islamischen Minderheiten in der Sowjetunion ausgestrahlt. Man kann deshalb durchaus die These vertreten, daß eine Intervention in (dem infrastrukturell nahezu unerschlossenen, ökonomisch vergleichsweise bedeutungslosen und schon aus geographischen Gründen kaum kontrollierbaren, geschweige denn beherrschbaren) Afghanistan nicht „vorgesehen" war, daß aber die Entscheidung der sowjetischen Führung zu diesem Schritt der Sicherung ihrer Afghanistan-Position und ihrer inneren Islam-Politik notwendig wurde, als sich die politische und militärische Risikoschwelle für eine Intervention in Iran als zu hoch erwies.
4. Ein wichtiges Kriterium für die Einschätzung der weiteren Iran-und Mittelost-Politik der Sowjetunion ergibt sich, wenn man davon ausgeht, daß die Besetzung der amerikanischen Botschaft in Teheran in ihrem unmittelbaren Interesse lag und möglicherweise sogar von der sowjetischen Führung gezielt „inspiriert" worden ist, weil die zu erwartende Reaktion der USA ihr eben den Vorwand für eine auf den „Freundschaftsvertrag" von 1921 gestützte Intervention gegeben hätte. Die Gründe für die Besetzung wären somit sowohl nach einer erfolgten Intervention als auch nach der Entscheidung, sie nicht durchzuführen, fortgefallen.
Sie ist dennoch aufrechterhalten worden, und zwar nach der Afghanistan-Intervention mit ausdrücklicher Billigung und Unterstützung durch die geistlich-politische Führung. Die naheliegende Erklärung für diese Änderung der Haltung der geistlichen und staatlichen Machtträger müßte darin gesehen werden, daß für sie damit die oppositionellen (nach der marxistisch-leninistischen Revolutionsdoktrin: progressiven) Kräfte und damit auch die Aktivitäten der Sowjetunion in Iran kontrollierbar geworden waren.
Daraus ergäbe sich aber auch, daß das Einverständnis der Botschaftsbesetzer zur Beendigung der Geiselaffäre das Motiv hatte, sich aus dieser Kontrolle zu lösen und daß damit zugleich auch ein neuer Anlauf der Sowjetführung ermöglicht wurde, aus der langen Stagnation ihrer Iran-Politik „nach Afghanistan“ herauszukommen. Einige Literaturhinweise (nur westliche Titel)
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von Grunebaum, G. E., Der Islam II. Die islamischen Reiche nach dem Fall von Konstantino-pel, Frankfurt a. M. 1971 (Bd. 14, Fischer Weltgeschichte); Hambly, G., Zentralasien, Frankfurt a. M. 1966 (Bd. 16, Fischer Weltgeschichte);
II. Ethnische Minderheiten und Nationalitätenpolitik der Sowjetunion:
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Bennigsen, A. and Quelquejay, Ch., Islam in The Soviet Union, New York 1967; Bennigsen, A. und Lemercier-Quelquejay, Ch., The Evolution of the Muslim Nationalities of the USSR and their Linguistic Problems, London 1961;
Bennigsen, A. et Quelquejay, Ch., Les mouvements nationaux chez les musulmans de Russie. Le „Sultangalievisme" au Tatarstan, Paris — La Haya 1960;
Bennigsen, A. and Lemercier-Quelquejay, Ch., Les musulmans oublis. L'Islam en Union sovitique, Paris 1981;
Bennigsen, A. and Wimbusch, S. E., Muslim Communism in the Soviet Union. A Revolutionary Strategy for the Colonial World, Chicago — London 1979;
Carröre d'Encausse, H., Reforme et rövolution chez les musulmans de l'Empire Russe-Bukharos 1867— 1924, Paris 1966;
Kolarz, W., Die Religionen in der Sowjetunion, überleben in Anpassung und Widerstand, Freiburg — Basel — Wien 1963.
IV. Zur sowjetischen Mittelostpolitik:
Abott, F, Islam and Pakistan, Ithaka 1968; Adam, W„ Pakistans Suche nach Identität. Zur Problematik einer religiösen Staatsschöpfung, in: Europa-Archiv, 20. Folge, Oktober 1978; Adam, W., Pakistan im Irrkreis, in: Internationales Asienforum, Nr. 1-2/1978.;
Binder, L., Religion und Politics in Pakistan, Berkeley 1961;
Dupree, L., Afghanistan, Princeton N. J. 1973; Dupree, L., Afghanistan Under the Khalq, in: Problems of Communism, Nr. 4/1979; Geyer, D., (Hrsg.), Osteuropa-Handbuch: Sowjetunion. Außenpolitik 1917— 1955 und 1955— 1973, 2 Bde., Köln/Wien 1972/76 (einschlägige Kapitel);
Geyer, D., Die Sowjetunion und Iran. Eine Untersuchung zur Außenpolitik der UdSSR im Nahen Osten, Tübingen 1955;
Hyder, K., Pakistan under Bhutto, in: Current History, Vol. 63, No. 375, November 1972; Lenczowski, G., Russia and the West in Iran, Ithaca, N. Y. 1949;
Lenczowski, G., The Middle East in World Affairs, Ithaca, N. Y., 1952;
Negaran, Hannah, Afghanistan: A Marxist Regime in a Muslim Society, in: Current History, Vol. 76, No. 446, April 1979;
Newell, R. S„ Revolution und Rebellion in Afghanistan, in: Europa-Archiv, 21. Folge/1979; Ravasani, S, Sowjetrepublik Gilan. Die sozialistische Bewegung im Iran seit Ende des 19. Jahrhunderts bis 1922, Berlin 1973;
Richter, W. L., Pakistan under Zia, in: Current History, Vol. 76, No. 446, April 1979;
Sarwari, Mohammad Sadiq, Afghanistan zwischen Tradition und Modernisierung, Bern, Frankfurt/M. 1974;
Steppat, F., Iran zwischen den Großmächten 1941 bis 1948, in: Europa-Archiv, 10. Folge/Oktober 1948 (hier auch in deutscher Übersetzung die Texte des Freundschaftsvertrages RSFSR-Persien vom 26. Februar 1921 (Auszüge) und des Bündnisvertrages Großbritannien — UdSSR — Iran vom 29. Januar 1942;
Zürrer, W., Persien zwischen England und Rußland 1918— 1925. Großmachteinflüsse und nationaler Wiederaufstieg am Beispiel des Iran, Bern — Frankfurt a. M. — Las Vegas 1978.
V. Veröffentlichungen des Autors zu dem behandelten Thema:
Kommunismus und Weltreligionen Asiens. Zur Religions-und Asien-Politik der Sowjetunion, Band 1: Kommunismus und Islam. Religionsdiskussion und Islam in der Sowjetunion, Tübingen 1969; Band 2: Kommunismus und Islam. Islam und sowjetische Zentral-und Südostasien-Politik, Tübingen 1971;
Die Anwendbarkeit des sowjetischen Wirtschaftssystems auf die Entwicklungsländer — Versuch einer Analyse am Beispiel der chinesischen Wirtschaftsentwicklung, in: Europa-Archiv, Folge 20, Oktober 1960;
Die Sowjetunion und China im Wettbewerb um die Entwicklungsländer, in: Die Internationale Politik 1963. Jahrbücher des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, München — Wien 1969;
Der Islam im Spannungsverhältnis zwischen Orthodoxie und Säkularismus, in: Ost-Probleme, 18. Jg. 1966, Nr. 14/15 (mit Dokumentation); Marxismus-Leninismus und Islam. Zur ideologischen Einordnung des Islam in der Sowjetunion, Berichte des BlOst Nr. 38, 1968;
Lenin und die Entwicklungsländer, in: Entwicklung und Zusammenarbeit, Heft 4/1970; Die sowjetisch-chinesische Rivalität in Asien und Afrika, in: Die Internationale Politik 1968/69. Jahrbücher des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, München — Wien 1974;
Islam — Sozialismus — Kommunismus. Zur ideengeschichtlichen Grundlage der Sozialismus-und Kommunismus-Diskussion innerhalb des Islam, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 17/69 vom 26. April 1969;
Die muslimische Erneuerungsbewegung in Rußland, in: G. Katkov u. a. (Hrsg.), Rußlands Aufbruch ins 20. Jahrhundert, Olten u. Freiburg/Br. 1970;
Sinkiang im sowjetisch-chinesischen Spannungsfeld, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 10/70 vom 7. März 1970; Religionsproblematik und Nationalitätenpolitik. Zur sowjetischen Zentralasienpolitik und ihrem außenpolitischen Aspekt, in: F. C. Schroeder, B. Meissner (Hrsg.), Bundesstaat und Nationalitätenrecht in der Sowjetunion, Berlin 1974;
The „Soviet" Pamphlet „The Soviet Union and Islam“: on its Origin and Distribution, Asian Thought & Society. An International Review, Vol. I, No. II, Sept. 1976;
Zur sowjetischen Iran-und Afghanistan-Politik 1979. Aktuelle Analysen (AA) des BlOst, Nr. 18 vom 20. Dezember 1979;
Die sowjetische Iran-und Afghanistan-Politik. Wirtschaftliche Beziehungen und islamisch-revolutionärer Umbruch, Berichte des BlOst, Nr. 47/1970;
Islam in der Sowjetunion — sowjetische Iran-und Afghanistan-Politik. AA des BlOst, Nr. 9 vom 7. Februar 1980;
Iran, Afghanistan und die sowjetische Mittelostpolitik, in: Europa-Archiv, Folge 7 vom 10. April 1980;
Die langfristigen Interessen der Sowjetunion in der Region Mittelost und die Islam-Frage in Zentralasien, in: H. Vogel (Hrsg.): Die sowjetische intervention in Afghanistan. Entstehung und Hintergründe einer weltpolitischen Krise, Baden-Baden 1980;
Zwei Jahre nach der Machtübernahme Khomeinys: Zwischenbilanz und Perspektiven der sowjetischen Iran-Politik. AA des BlOst, Nr. 5 vom 5. Februar 1981;
Die Islam-Frage als Problem der sowjetischen Religions-und Minderheitenpolitik, in: Sowjetunion 1980/81, München 1981;
Die Stellung des Islam und des islamischen Rechts in der Sowjetunion und in China, in: W. Ende, U. Steinbach, Der Islam und die islamische Welt in der Gegenwart (Handbuch; in Satz).