Ist die UdSSR ein Vielvölkerstaat wie viele andere? In der heutigen Staatenwelt ist ethnische Vielfalt die Regel, ethnische Homogenität dagegen die Ausnahme Aber die Sowjetunion nimmt in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung unter den Vielvölkerstaaten ein. Zunächst einmal beschränkt sich das nationale Problem nicht auf einige politisch mehr oder weniger unbedeutende Minderheiten, sondern bei der Volkszählung von 1979 bezeichnete sich nur noch etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung als Russen. Von den übrigen 91 namentlich aufgeführten Völkern gehörten immerhin zu 21 nichtrussischen Völkern mehr als 1 Million Menschen (Tabelle 1). Natürlich stehen die Nichtrussen nicht als geschlossener Block in der Gesellschaft dem russischen Bevölkerungsteil gegenüber; dazu sind die Nationen nach Geschichte, Kultur, Sprache und Größe unter sich viel zu verschieden. Hinzu kommen nationale Reibungsflächen nichtrussischer Völker untereinander (z. B. zwischen Armeniern und Aserbaidschanern, Georgiern und Abchasiern, Usbeken und Tadschiken). Allerdings hat die sowjetische Nationalitätenpolitik dazu beigetragen, daß heute vielfach ein Solidaritätsbewußtsein der nichtrussischen Völker untereinander entstanden ist, das in dieser Form zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht vorhanden war.
Die UdSSR beansprucht unter den ethnisch heterogenen Staaten auch insofern eine besondere Rolle, als sie — nach eigener Auffassung — im Marxismus-Leninismus eine umfassende Ideologie besitzt, die ihr erlaubt habe, das Nationalitätenproblem zu lösen. Sie ist der Meinung, daß diese Lösung überall in der Welt als Vorbild dienen wird, um letztendlich den Nationalismus überhaupt zu überwinden und ihn in einer sozialistischen Weltgesellschaft aufzuheben. Wesentliche Kernsätze der nationalitätenpolitischen Ideologie besagen, daß der Nationalismus ein Produkt der bürgerli-chen Gesellschaft sei und die nationalen Gegensätze infolgedessen nur im Sozialismus gelöst werden könnten. Voraussetzung dafür sei, daß alle Völker in ökonomischer, kultureller und politischer Hinsicht gleich und gleichberechtigt seien. Diese Vorbedingungen seien in der Sowjetunion „im wesentlichen“ erfüllt. Seit der Chruschtschow-Zeit (Parteiprogramm von 1961) gilt außerdem die ideologische Sprachregelung, in der Sowjetunion gehe gegenwärtig „gleichzeitig“ ein Prozeß des weiteren . Aufblühens“ und der „Annäherung" der Nationen vor sich, der in einer „vollen Einheit“ aller Natio-INHALT I. Die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung II. Modernisierung und Nationalismus III. Sprachen, Sprachenpolitik, nationale Assimilation IV. Nationale Oppositionsbewegungen nen sein Ziel finden werde. Die Ideologie hält es mit der grundsätzlich postulierten Gleichheit der Nationen für vereinbar, wenn beim Prozeß der „fortschreitenden Internationalisierung" aller Lebensbereiche der russischen Nation, ihrer Sprache und Kultur als „älterem Bruder“ eine Sonderrolle zufällt. In der Praxis läuft dies nicht nur darauf hinaus, daß alle Nichtrussen — auch unter administrativem Druck — dazu gebracht werden, die Sprache des „großen russischen Volkes“ (kein anderes Volk erhält in der UdSSR das Attribut „groß') als „zweite Muttersprache“ zu erlernen, sondern daß die Russen in allen gesamtstaatlichen Führungseliten deutlich überrepräsentiert sind.
Versucht man eine Gesamtbeurteilung der sowjetischen Nationalitätenpolitik, so wird man Licht-und Schattenseiten sorgfältig abwägen müssen. Die Modernisierung hat den zentral-asiatischen, kaukasischen und sibirischen Völkern ein zivilisatorisches und bildungsmäßiges Niveau gebracht, das weit über jenem der Tabelle 1 Die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung der UdSSR Gesamtzahl in Tausend Zuwachs in Prozent 1959 1970 1979 1959— 1970 1970— 1979 Gesamtbevölkerung 208 826, 7 241 720, 1 262 084, 7 15, 8 8. 4 Russen 114 113, 6 129 015, 1 137 397, 1 13, 0 6, 5 Ukrainer 37 252. 9 40 753, 2 42 347, 4 9, 4 3, 9 Weißrussen 7 913, 5 9 051, 8 9 462, 7 14, 4 4, 5 Litauer 2 326, 1 2 664, 9 2 850, 9 14, 6 7. 0 Letten 1 399, 5 1 429, 8 1 439, 0 2, 2 0, 6 Esten 988, 6 1 007, 4 1 019, 9 1, 9 1, 2 Moldauer 2 214, 1 2 698, 0 2 968, 2 21, 8 10, 0 Georgier 2 692, 0 3 245, 3 3 570, 5 20, 5 10, 0 Armenier 2 786, 9 3 559, 2 4 151, 2 27, 7 16, 6 Aserbaidschaner 2 939, 7 4 379, 9 5 477, 3 49, 0 25, 1 Kasachen 3 621, 6 5 298, 8 6 556, 4 46, 3 23, 7 Usbeken 6 015, 4 9 195, 1 12 456, 0 52, 8 35, 5 Turkmenen 1 001, 6 1 525, 3 2 027, 9 52, 2 33, 0 Tadschiken 1 396, 9 2 135, 9 2 897, 7 52, 9 35, 7 Kirgisen 968, 7 1 452, 2 1 906, 3 49, 9 31, 3 Tataren 4 967, 7 5 930, 7 6 317, 5 19, 4 6, 5 Tschuwaschen 1 469, 8 1 694, 4 1 751, 4 15, 2 3. 4 Mordwinen 1 285, 1 1 262, 7 1 191, 8 -1, 7 -5, 6 Mari 504, 2 598, 6 622, 0 18, 8 3, 9 Udmurten 624, 8 704, 3 713, 7 12, 7 1, 3 Komi und Komipermjaken 430, 9 475, 3 477, 5 10, 2 0, 5 Karelier 167, 3 146, 1 138, 4 -12, 7 -5, 3 Kalmüken 106, 1 137, 2 146, 6 29, 1 6, 9 Tschetschenen 418, 8 612, 7 755, 8 46, 3 23, 4 Baschiren 989, 0 1 239, 7 1 371, 5 25, 4 10, 6 Kabardiner 203, 6 279, 9 321, 7 37, 3 15, 0 Balkaren 42, 4 59, 5 66, 3 40, 3 11, 4 Oseten 412, 6 488, 0 541, 9 18, 3 11, 0 Inguschen 106, 0 157, 6 186, 2 48, 7 18, 1 Karatschaer 81, 4 112, 7 131, 1 38, 4 16, 3 Tscherkessen 30, 5 39, 8 46, 5 30, 5 16, 8 Awaren 270, 4 396, 3 482, 9 46, 6 21, 9 Lesgier 223, 1 323, 8 382, 6 45, 1 18, 2 Darginer 158, 1 230, 9 287, 3 46, 1 24, 4 Kumüken 135, 0 188, 8 228, 4 39, 8 20, 8 Laken 63, 5 85, 8 100, 1 35, 1 16, 7 Nogajer 38, 6 51, 8 59, 5 34, 2 14, 9 Tabasaraner 34, 7 55, 1 75, 2 58, 8 36, 5 Taten 11, 5 17, 1 22, 4 48, 7 31, 0 Adygeier 79, 6 99, 9 108, 7 25, 5 8, 8 Abasiner 19, 6 25, 4 29, 5 29, 6 16, 1 Abchasen 65, 4 83, 2 90, 9 27, 2 9, 3 Karakalpaken 172, 6 236, 0 303, 3 36, 8 28, 5 Burjaten 253, 0 314, 7 352, 6 24, 4 12, 0 Jakuten 236, 7 296, 2 328, 0 25, 1 10, 74 Tuwiner 100, 1 139, 4 166, 1 39, 3 19, 2 Altaier 45, 3 55, 8 60, 0 23, 2 7, 5 Chakassen 56, 8 66, 7 70, 8 17, 4 6, 1 Schoren 15, 3 16, 5 16, 0 7, 8 -3, 0 Ewenken 24, 7 25, 1 27, 5 1. 6 9, 6 Nenzen 23, 0 28, 7 29, 9 24, 5 4, 2 Chanten 19. 4 21, 1 20, 9 8, 8 -0, 9 Tschuktschen 11, 7 13, 6 14, 0 16, 2 2, 9 wenen 9, 1 12, 0 12, 3 31, 9 2, 5 Juden 2 267, 8 2 150, 7 1 810, 9 -5, 2 -15, 8 Deutsche 1 619, 7 1 846, 3 1 936, 2 14, 0 4. 9 Polen 1 380, 3 1 167, 5 1 151, 0 -15, 5 -1. 4 Bulgaren 324, 2 351, 2 361, 1 8, 3 2, 8 Griechen 309, 3 336, 9 343, 8 9, 0 2, 0 Ungarn 154, 7 166, 5 170, 6 7, 6 2, 5 Rumänen 106, 4 119, 3 128, 8 12, 2 8, 0 Zigeuner 132, 0 175, 3 209, 2 32, 8 19, 3 Ujguren 95, 2 173, 3 210, 6 82, 0 21, 5 Gagausen 123, 8 156, 6 173, 2 26, 5 10, 6 Koreaner 313, 7 357, 5 388, 9 14, 0 8, 8 Kurden 58, 8 88, 9 115, 9 51, 4 30, 4 Finnen 92, 7 84, 8 77, 1 -8, 5 -9, 1 Türken 35, 3 79 92, 7 123, 8 17, 3 Dunganen 22, 0 38, 6 51, 7 75, 5 33, 9 Quellen: Itogi Vsesojuznoj perepisi naselenija 1959 goda, 16 Bde., Moskau 1962— 1963; Itogi Vsesojuznoj perepisi naselenija 1970 goda. Bd. 4, Moskau 1973; Naselenie SSSR. Po dannym Vsesojuznoj perepisi naselenija 1979 goda, Moskau 1980; außerdem publiziert die Zeitschrift Vestnik statistiki seit Heft 2/1980 fortlaufend Ergebnisse der Volkszählung von 1979; V. I. Kozlov, Nacional'nosti SSSR, Moskau 1975, S. 249— 250. Völker südlich der sowjetischen Grenzen liegt. Viele Völker haben erst in sowjetischer Zeit eigene Schriftsprachen und Literaturen erhalten und nicht zuletzt deshalb nationales Eigenbewußtsein entwickelt. Andererseits kann von einer Gleichheit der Sprachen und Kulturen gar keine Rede sein. Immerhin ist es der sowjetischen Politik gelungen, mit einer wechselnden Mischung von politischem Zentralismus und sprachlich-kultureller Autonomie den Bestand des Russischen Reiches weitgehend zu bewahren und an einigen Stellen sogar zu erweitern. Natürlich ist die nationale Frage im letzten, bis heute erhalten gebliebenen europäischen Kolonialimperium keineswegs gelöst. Darauf deutet nicht nur die nicht endende Flut von sowjetischen Publikationen zu diesem Thema hin, sondern inzwischen sprechen auch sowjetische Fachleute in verhüllter Form von den wachsenden nationalen Divergenzen und Bewußtseinslagen, die in Zukunft das nationale Problem weiter ins Zentrum der innenpolitischen Spannungen rükken werden Zwei Problemkreise werden mittelfristig im wesentlichen über Stabilität oder Instabilität der sowjetischen Gesellschaft insgesamt entscheiden: die Ökonomie und die nationale Frage.
I. Die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung
Der gesellschaftliche Zustand der UdSSR wird in einem erheblichen Ausmaß von der ethnischen Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung und der Bevölkerung in den 15 Unionsrepubliken, 20 Autonomen Republiken, acht Autonomen Gebieten und zehn Autonomen Kreisen bestimmt. Drei Faktoren waren in Vergangenheit und Gegenwart im wesentlichen für die Veränderungen in der ethnischen Zusammensetzung verantwortlich:
a) das unterschiedliche Geburtenverhalten der Völker, bzw.der unterschiedliche natürliche Zuwachs der Völker;
b) ihr extrem verschiedenes Migrationsverhalten, bzw. die Ausbreitung der Russen in fast allen Regionen der UdSSR;
c) die nationale Assimilation, d. h.der Wechsel der nationalen Identität.
Heute und für die absehbare Zukunft bestimmt von den drei Faktoren das unterschiedliche Geburtenverhalten der Völker am stärksten die Verschiebungen in der nationalen Bilanz. Während in der Vorkriegszeit die Geburtenraten der Völker vergleichsweise geringe Unterschiede aufwiesen (Tabelle 2), fielen seit den fünfziger Jahren die Geburtenziffern bei den slawischen und baltischen Völkern; gleichzeitig stiegen sie bei den Völkern islamischer Tradition in Zentralasien und im östlichen Kaukasus und erreichten hier um 1960 ihren Höhepunkt. In den siebziger Jahren gingen dann überall die Geburtenraten und mit ihnen der Bevölkerungszuwachs zurück. Aber die entstandene statistische Schere zwischen geburtenstarken und geburten-schwachen Völkern blieb nicht nur erhalten, sie öffnete sich sogar noch weiter. Denn der Rückgang des Bevölkerungszuwachses vollzog sich schneller bei jenen Völkern, die ohnehin langsam wuchsen, und weniger rasch bei den Völkern Zentralasiens, die von einem hohen Zuwachs ausgehen konnten. Gegenwärtig sind die Geburtenraten in den zentralasiatischen Republiken doppelt so hoch wie in den slawischen und baltischen Republiken; der natürliche Bevölkerungszuwachs ist in Zentral-asien fünfmal größer.
Das Ansteigen des „islamischen" Teiles der Bevölkerung geht im wesentlichen auf den weit überdurchschnittlichen Zuwachs bei den fünf großen Völkern Zentralasiens (Usbeken, Kasachen, Tadschiken, Turkmenen, Kirgisen) und den Aseri-Türken (Aserbaidschaner) zurück. Diese sechs Völker haben sich von 15, 9 Millionen 1959 auf 31, 3 Millionen Menschen 1979 vermehrt; ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung stieg im gleichen Zeitraum von 7, 6 % auf 12%. Die Usbeken, Tadschiken und Turkmenen haben sich in 20 Jahren mehr als verdoppelt. Dabei wuchs das bei weitem größte Turkvolk der Sowjetunion, die Usbeken, von 6 Millionen (1959) auf 12, 5 Millionen (1979), überholte die Weißrussen und ist nun nach den Russen und Ukrainern das drittgrößte Volk im Verband der UdSSR. Während der Gesamtanteil der „islamischen" Bevölkerung 1959 noch 11, 6% (= 24, 2 Millionen) betrug, belief er sich 1979 auf 16, 5 % (= 43 Millionen). Wegen der außer-ordentlich günstigen Altersstruktur der großen Völker islamischer Tradition, bei denen die geburtenstarken Jahrgänge gegenwärtig ins heiratsfähige Alter eintreten, und der anhaltend hohen Kinderzahl ist davon auszugehen, daß die nationale Bevölkerungsbilanz sich in den kommenden Jahrzehnten weiter zu ihren Gunsten verschieben wird.
Mit Zuwachsraten, die weit unter dem Unionsdurchschnitt liegen, rangieren die Letten und Esten am Schluß unter den Völkern mit eigener Unionsrepublik. Dies muß um so beunruhigender sein, als diese beiden Völker ohnehin die mit Abstand kleinsten Titularvölker von Unionsrepubliken sind. Andererseits verzeichnen die Letten und Esten schon seit mindestens einem halben Jahrhundert eine erheblich niedrigere Zuwachsrate als alle umwohnenden Völker. Dies war weder ein Hindernis für den Aufbau eines eigensprachigen und eigenständigen kulturellen Lebens in all seinen Verzweigungen noch für ökonomische und soziale Leistungen, die bei den meisten Indikatoren die Spitzenpositionen im Republikenvergleich halten.
Betrachtet man die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung unter dem Gesichtspunkt des quantitativen Verhältnisses von Russen zu Nichtrussen, so markiert auch hier — ähnlich wie bei der Entwicklung der Geburtenraten — das Ende der fünfziger Jahre einen Einschnitt. Bis zu diesem Zeitpunkt nahm das relative Gewicht der Russen in der Gesamtbevölkerung zu, seither sinkt es. Damit ist ein Trend in sein Gegenteil verkehrt worden, der zumindest seit Ende des 19. Jahrhunderts bestanden hatte. Diese Umkehrung geschah, obwohl in der Nachkriegszeit die Zahl der Russen durch echte und vorgetäuschte nationale Assimilation vergrößert wird. Vorgetäuschte Assimilation kommt dadurch zustande, daß es für die Angehörigen mancher Völker unter bestimmten Umständen sozial vorteilhaft ist, sich als Russen zu bezeichnen. Deshalb erscheint die Vermutung nicht ungerechtfertigt, daß der tatsächliche Prozentanteil der Russen bereits heute unter 50 % liegt.
Das unterschiedliche Geburtenverhalten der Völker ist in gewissem Sinne eine Gegenbewegung zur Ausbreitung der Russen in fast alle Regionen der UdSSR. Diese Migration der Russen — der eigentlichen Nomaden der Sowjetunion — hat vom Ende der zwanziger bis zum Ende der fünfziger Jahre die ethnische Zusammensetzung der meisten national-territorialen Einheiten von Grund auf verändert. Mit dieser Wanderung setzten die Russen einen grundlegenden Strukturprozeß ihrer Geschichte fort, die ja wesentlich die Ausbreitung dieses Volkes von seinen ursprünglichen Siedlungsgebieten nach Süden und Osten gewesen ist.
Neben den Russen sind die Tataren und die Juden die migrationsfreudigsten Völker gewesen; sie haben einen vergleichbaren Prozeß der geographischen Zerstreuung erlebt. Die Deutschen und die Krimtataren sind dagegen zwangsweise aus ihrer angestammten Heimat vertrieben worden und werden bis heute an einer Rückkehr aus Zentralasien und Sibirien gehindert.
Zwischen 1926 und 1959 nahm der russische Bevölkerungsanteil in allen Unionsrepubliken zu, gleichzeitig verminderte sich der Anteil der einheimischen Völker (außer in Weißrußland, Aserbaidschan und Armenien). Besonders drastisch erhöhte die Migration der Russen deren Anteil an der Republikbevölkerung in der Ukraine und in den fünf asiatischen Unionsrepubliken. In Kasachstan und Kirgisien wurden die Titularnationen dadurch zu Minderheiten im eigenen Territorium. Nimmt man die RSFSR in ihren heutigen Grenzen, also ohne Kasachstan, Kirgisien, Karakalpakien und die Krim, die 1926 zu ihr gehörten, so lebten damals nur 7 % der Russen (= 5 416 000) außerhalb der russischen Föderation. Dieser Anteil hat sich auf 14, 2 % 1959 (= 16 251 000) und 17, 4 % 1979 (= 23 875 000) erhöht. Die Russen haben sich aber auch innerhalb der RSFSR ausgebreitet und sind in großer Zahl in die nationalen Territorien in Ostsibirien und im Nordkaukasus eingewandert. So stieg etwa ihr Anteil an der Bevölkerung der Jakutischen ASSR von 10, 4 % (1926) auf 44, 2 % (1959); für die Burjatische ASSR lauten die entsprechenden Zahlen 52, 7 % und 74, 6 %. Bei der Volkszählung von 1959 waren in 14 Autonomen Republiken der RSFSR jeweils um 40 % oder mehr der Bevölkerung Russen; Ausnahmen bildeten lediglich Dagestan und die ASSR der Tschuwaschen mit etwas über 20 % russischem Bevölkerungsanteil.
Die politische Bedeutung dieser Ausbreitung des Staatsvolkes in fast allen Regionen des Landes innerhalb von drei Jahrzehnten ist kaum zu überschätzen. Diese Migration, bedingt durch ländliche Überbevölkerung in Zentralrußland, wurde seit den dreißiger Jahren durch die sowjetische Nationalitätenpolitik aktiv gefördert. Die Förderung bestand und besteht im wesentlichen darin, daß Industrialisierung und Modernisierung sich im Medium der russischen Sprache und folglich zum großen Teil durch russische Fachkräfte vollziehen. Stalin gab die in den zwanziger Jahren entwickelte Nationalitätenpolitik auf, die soziale Revolution in möglichst vielen, wenn nicht allen Sprachen der UdSSR durchzuführen.
Die Migration der Russen in alle Teile des riesigen Landes wurde dadurch begünstigt, daß Fachkräfte — vom Facharbeiter bis zum Minister — überall Arbeitsplätze fanden, an denen sie in ihrer Muttersprache tätig sein konnten. Hinzu kam, daß bis zum Zweiten Weltkrieg in den östlichen und südlichen Landesteilen (außer in der Ukraine und im Transkaukasus) Einheimische für Entwicklungsprojekte gleich welcher Art — von der Landwirtschaft bis zum Sekundarschulwesen — praktisch nicht vorhanden waren. Die Russen sind das einzige Volk, denen muttersprachliche Bildungs-und Kultureinrichtungen, Medien und öffentliches Leben in russischer Sprache überall in der UdSSR zur Verfügung stehen. Sie sind das einzige Volk, für das jenes vielgepriesene Territorialprinzip der sowjetischen Nationalitätenpolitik nicht gilt. Auf sie — und nur auf sie — wird vielmehr das offiziell verdammte kulturautonomistische Personalprinzip angewandt, das jedem Angehörigen einer Nation — gleichgültig, wo er ansässig ist — kulturelles Leben und öffentliche Einrichtungen in seiner Muttersprache garantiert.
Die Ausbreitung der Russen war für die Herrschaftssicherung von entscheidender Bedeutung. In den nationalen Territorien der RSFSR ist bis auf wenige Ausnahmen (z. B. Dagestan) das russische Bevölkerungselement bereits aufgrund seiner Quantität bestimmend. Dies ist zwar in den nichtrussischen Unionsrepubliken in der Regel nicht der Fall, aber auch hier gibt es nur noch in ländlichen Gebieten eine geschlossene nichtrussische Bevölkerung. Die europäischen Einwanderer sind in den Städten und Industriegebieten konzentriert und nehmen so unter dem Gesichtspunkt einer sich modernisierenden Gesellschaft Schlüsselstellungen ein. Politisch-separatistische, ja sogar radikal-kulturautonomistische Bestrebungen haben deshalb von vornherein etwas Illusionäres an sich. Nur Armenien, Georgien und Litauen sind in diesem Sinne kaum von russischer Einwanderung berührt worden. Die geringe Zahl der Russen in Weißrußland hat dagegen keinen Aussagewert im Sinne nationaler Eigenständigkeit, weil eine nationale Identität bei den Weißrussen erheblich schwächer entwickelt ist als bei vielen anderen Völkern der UdSSR.
Man muß die politische Bedeutung der russischen Migration vor Augen haben, um die de-B mographische Zäsur am Ende der fünfziger Jahre richtig einzuschätzen, in den sechziger und besonders in den siebziger Jahren kam die russische Migration in die fünf asiatischen und drei transkaukasischen Republiken allmählich zum Stillstand und wurde bevölkerungspolitisch von den steigenden Zuwachsraten der einheimischen Völker völlig in den Hintergrund gedrängt Aus Georgien gab es schon seit den sechziger Jahren eine Netto-Abwanderung der Russen, aus Aserbaidschan seit den siebziger Jahren, so daß in diesen beiden Republiken nicht nur der Prozentanteil, sondern auch die absoluten Zahlen der russischen Bewohner rückläufig sind. Für Kasachstan, Kirgisien und Armenien erscheint ebenfalls eine Netto-Abwanderung von Russen in den siebziger Jahren wahrscheinlich Dagegen hat sich die Zuwanderung von Russen nach Westen, d. h. in die Ukraine, Weißrußland, die Moldau und die drei baltischen Republiken in — gegenüber den sechziger Jahren — abgeschwächtem Umfang auch im vergangenen Jahrzehnt fortgesetzt. In keiner Unionsrepublik steigt der russische Bevölkerungsanteil gegenwärtig so rasch wie in Lettland und Estland.
Die insgesamt gesehen erstaunliche Migrationsfreudigkeit der Russen in Regionen außerhalb der traditionellen russischen Siedlungsgebiete steht in einem eklatanten Gegensatz zur Unwilligkeit der meisten Völker der UdSSR, in ähnlicher Weise die angestammte Lebens-und Kulturregion zu verlassen. Die Neigung, in der eigenen Republik zu bleiben oder allenfalls in eine sprachlich und kulturell verwandte Nachbarrepublik umzuziehen, ist besonders bei den schnell wachsenden Völkern Asiens stark ausgeprägt. 1979 lebten 99, 3 % der Usbeken, 98, 5 % der Kirgisen, Tadschiken und Turkmenen und 91, 8 % der Kasachen in den fünf asiatischen Unionsrepubliken.
Eine massenhafte und freiwillige Abwanderung von Angehörigen der asiatischen Völker nach Norden, selbst unter erheblichem ökonomischen Druck, erscheint auch deshalb unwahrscheinlich, weil die Tendenz zur kompakten nationalen Siedlung nicht auf sie beschränkt ist und für alle Völker mit eigenen Unionsrepubliken gilt, ausgenommen die Russen und Weißrussen. Der demographische Trend gegen die nationale Zerstreuung scheint bei diesen Völkern schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts wirksam zu sein
Zusammenfassend bleibt mit Blick auf die ethnische Zusammensetzung und die Wanderungsbewegungen der Völker festzuhalten, daß die Volkszählung von 1979 im wesentlichen die Tendenzen bestätigt hat, die seit 1959 sichtbar sind. Von heute her gesehen fand die letzte einschneidende demographische Zäsur in den fünfziger Jahren statt.
II. Modernisierung und Nationalismus
Wachsender Nationalismus und Regionalismus sind eine weltweite Erscheinung und keineswegs auf die Sowjetunion beschränkt. Einerseits handelt es sich offenbar um eine Gegenbewegung gegen Industrialisierung, Bildung wirtschaftlicher Großräume, Ökonomisierung und Anonymität in den Industrieländern. Der Nationalismus als emotional gefärbtes Wir-Bewußtsein bietet überschaubare und von sozialökonomischen Faktoren relativ unabhängige Identifikationen an. Auf der anderen Seite haben in den Ländern der Dritten Welt Dekolonialisierung und das Entstehen vieler neuer — zumeist ethnisch uneinheitlicher — Staaten Nationalismus und Patriotismus begünstigt, bzw. sie sind Motoren der Ent-kolonialisierung gewesen. Die Verschiedenartigkeit der Strukturen bringt es mit sich, daß die Sowjetunion sowohl ein Industrieland (z. B. Estland, Lettland) als auch ein Entwicklungsland (z. B. Zentralasien) ist. So übt der Nationalismus seine Anziehungskraft gleichermaßen auf die Eliten jener Völker aus, die bis vor wenigen Jahrzehnten keine Bildungsschicht besaßen (z. B. die Tadschiken), wie auf die estnischen Industriemanager und Parteifunktionäre.
Die vergleichende historische Forschung hat gezeigt, daß Modernisierung und Nationalismus vielfach aufeinander bezogen sind. Sie schließen einander nicht nur nicht aus, sondern sie begünstigen sich gegenseitig beson-ders dort, wo Prozesse der Nationsbildung im Gang sind oder wo nationale Bewegungen unbefriedigt geblieben sind, d. h. nicht in staatlicher Selbständigkeit haben Ausdruck finden können Der neuzeitliche Nationalismus ist gleichzeitig mit der Modernisierung seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer universalhistorischen Triebkraft geworden. Beide hängen aufs engste mit sozialen und politischen Wandlungsvorgängen in traditionalen Gesellschaften zusammen.
Als besonders günstige Voraussetzungen für das Entstehen nationaler Bewegungen erweisen sich u. a. die Durchsetzung moderner Verwaltungsstrukturen, insbesondere wenn sie von fremdnationalen Eliten beherrscht sind, soziale Mobilisierung der Bevölkerung, ein überregionales Kommunikationsnetz, Ausweitung der Bildungsmöglichkeiten für soziale Schichten, die davon früher ausgeschlossen waren, und Probleme der politischen Partizipation in der Gesellschaft insgesamt. Die marxistische Auffassung vom Nationalismus als einer Ideologie des Bürgertums kann durch die vergleichende historische Forschung als widerlegt betrachtet werden. Eine besondere Rolle kommt dagegen den Intelligenz-Eliten bei der Entstehung und Führung nationaler Bewegungen zu Alle genannten Bedingungen des Nationalismus sind in der Sowjetunion gegeben. Sie ist zudem ein Land, in dem zwar vielfache Modernisierungsprozesse angelaufen sind, Modernisierung insgesamt aber von Rückständigkeit und Nachholbedarf gegenüber vielen anderen Industrieländern mitbestimmt ist.
Industrialisierung, Urbanisierung und vor allem die Bildungsexplosion haben bei vielen islamischen Völkern überhaupt erst nationales Eigenbewußtsein entstehen lassen. Die sowjetische Führung hat dies — natürlich entgegen den eigenen Intentionen — noch durch die administrative Aufteilung Zentralasiens nach Völkern gefördert. So haben gerade jene Maßnahmen, deren Zweck die Gleichheit der Völker und die Internationalisierung der sowjetischen Gesellschaft waren, nationale Identifikation begünstigt und nationale Eliten erst geschaffen. Inzwischen sind überall nationale Bildungs-Eliten herangewachsen und haben wichtige Funktionen in Wirtschaft, Partei und Bildungswesen ihrer jeweiligen Republiken übernommen. Sie drängen weiter nach vorne und geraten in Konflikt mit den eingewanderten Russen bzw. Ukrainern, die zuvor einen Großteil dieser Funktionsstellungen innegehabt hatten.
Eine ähnliche Situation wie bei den islamischen Völkern ist auch bei den Völkern im Westen und im Transkaukasus entstanden. Hier sind heute nach den stalinschen Säuberungen und Deportationen wieder nationale Kader nachgewachsen, die zwar in der Regel das Sowjetsystem nicht prinzipiell in Frage stellen, die aber keineswegs aufgehört haben, sich mit dem eigenen Volkstum zu identifizieren und für dessen kulturelle und ökonomische Belange im Verband der Sowjetunion eintreten. Für die Intelligenz der baltischen Völker, allen voran die Litauer, gilt dies allerdings nur mit Einschränkungen, denn hier zeigen sich seit den sechziger Jahren starke des-integrierende Kräfte und offene Opposition. Auch in diesem Fall bestätigt sich die Hypothese vom engen Zusammenhang zwischen Modernisierung und nationalem Eigenbewußtsein. Estland und Lettland sind die mit Abstand am höchsten industrialisierten nichtrussischen Republiken; und Litauen befindet sich besonders seit 1960 in einem schnellen Industrialisierungsprozeß. Im Zeitraum von 1960 bis 1970 nahm es im Republikvergleich den ersten Platz hinsichtlich der Wachstumsrate des Nationaleinkommens ein
Die neuen nichtrussischen Eliten treffen auf gesamtgesellschaftliche Bedingungen, die sich gegenüber den dreißiger und vierziger Jahren beträchtlich verändert haben. In der nachstalinschen Gesellschaft hat der dauernde terroristische Druck von oben nachgelassen, und die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kräfte haben wieder mehr Eigenleben entfalten können. Die innenpolitischen Entscheidungen der Kremlführung sind heute in beträchtlichem Ausmaß Reaktionen auf gesellschaftliche Herausforderungen, die von der Führung weder intendiert noch erwartet worden waren. Die — wie auch immer begrenzte — Emanzipation gesellschaftlicher Kräfte von einem seinem Anspruch nach totalitären Herrschaftsapparat hat das individuelle und gruppenspezifische Selbstbewußtsein erheblich gestärkt und damit auch dem nationalen Bewußtsein wieder Betätigungsräume eröffnet, die in der Stalinzeit durch Terror und Angst verschlossen worden waren. Als weiterer Verstärker für Nationalismus wirkt in der sowjetischen Situation ein weit-verbreitetes geistiges Vakuum, das hinter der phrasenreichen Fassade der offiziellen Weltanschauung entstanden ist. Hinter dieser Fassade und auch unter ihrem Schutz gehen geistige und bewußtseinsmäßige Veränderungen vor sich, die wir nur teilweise kennen und die auch die politische Führung in ihrer selbstverschuldeten Isolierung von der Gesellschaft möglicherweise nicht einzuschätzen vermag. Aber mit Sicherheit strömten in dieses geistige Vakuum auch nationalistisches Ideengut und Ressentiment ein. Die Identifikation mit dem eigenen Volkstum und die Bereitschaft, sich für dessen Förderung einzusetzen, spielen heute für den gesellschaftlichen Zustand der Sowjetunion eine größere Rolle als vor dreißig oder vierzig Jahren. Insofern ist das nationale Problem heute weniger „gelöst” als damals.
Die sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Strukturen bei den Völkern und in den verschiedenen Landesteilen sind auch durch die ökonomische Entwicklung nicht ausgeglichener geworden. Schon seit den zwanziger Jahren figuriert die wirtschaftliche Gleichheit aller Völker und Regionen als Ziel mit hochrangiger Priorität in allen programmatischen Äußerungen von Partei und Staat. In der heutigen Propaganda steht manchmal die Behauptung, die wirtschaftliche Gleichheit der Völker sei längst erreicht, und die Aufforderung, dafür noch mehr als bisher zu kämpfen, in merkwürdiger Unverbundenheit nebeneinander Tatsächlich zeigen westliche Untersuchungen, daß das Ziel einer ausgeglichenen wirtschaftlichen Entwicklung aller Regionen in immer weitere Ferne rückt und in der konkreten wirtschaftlichen Planung auch niemals eine besonders hohe Priorität besessen hat
Seit den fünfziger Jahren hat sich bei einem überall steigenden Entwicklungsniveau der
Abstand zwischen den wirtschaftlich starken und schwachen Unionsrepubliken sowohl hinsichtlich der Bruttoproduktion pro Kopf in Industrie und Landwirtschaft als auch im Hinblick auf das produzierte Nationaleinkommen pro Kopf der Bevölkerung zum Teil erheblich vergrößert. Nach der Planung wird sich auch vorläufig nichts daran ändern, daß die drei ökonomisch schwächsten Republiken (Turkmenistan, Tadschikistan, Usbekistan) Mitte der siebziger Jahre nur etwas mehr als ein Viertel des Pro-Kopf-Wertes der drei am meisten entwickelten Republiken (Estland, Lettland, RSFSR) produzierten
Unter nationalitätenpolitischen Gesichtspunkten wiegen diese Fakten um so schwerer, als sie einer umgekehrten Tendenz im Bereich der Bildungsinvestitionen und damit beim Heranwachsen nationaler Eliten gegenüberstehen. Die Unterschiede zwischen den Unionsrepubliken bei den Pro-Kopf-Ausgaben für das Schul-und Hochschulwesen waren bereits in den fünfziger Jahren geringer, und sie haben sich seitdem weiter verkleinert. Dies konnte trotz des sich vergrößernden Abstandes zwischen der überdurchschnittlich hohen Geburtenrate der islamischen Völker und der relativ niedrigen Geburtenrate der europäischen Völker erreicht werden. Wählt man den Anteil von Personen mit mittlerer Bildung und Hochschulbildung an der Gesamtbevölkerung als Indikator, so sind die Unterschiede zwischen den Unionsrepubliken seit den fünfziger Jahren beträchtlich zurückgegangen. Nach der Zahl der Hochschulstudenten hatten die Turkvölker Mitte der siebziger Jahre fast einen ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entsprechenden Stand erreicht und waren damit unter den sowjetischen Hochschülern proportional besser repräsentiert als beispielsweise die Ukrainer In zugespitzter Formulierung läßt sich sagen: In der Sowjetunion werden immer mehr nationale Eliten in relativ immer ärmeren Regionen des Landes ausgebildet — eine der klassischen Voraussetzungen für nationale Spannungen.
III. Sprachen, Sprachenpolitik, nationale Assimilation
Neben der Vermischung der Völker, die im wesentlichen eine Ausbreitung der Russen war, gilt seit der neuen Nationalitätenpolitik Stalins vom Ende der dreißiger Jahre die russische Sprache als eines der wichtigsten Integrationsinstrumente im sowjetischen Vielvölkerstaat. In der Stalinzeit bestand die Aufgabe darin, durch obligatorischen Russischunterricht im allgemeinbildenden Schulwesen die elementaren Voraussetzungen für die Durchsetzung des Russischen als lingua franca zu schaffen. Seit Ende der fünfziger Jahre hat die Sprachenpolitik eine ganz neue bevölkerungspolitische Dringlichkeit erhalten. Wenn der Anteil der Russen an der Bevölkerung abnahm, war es um so notwendiger, daß die anderen Völker sich die russische Sprache aneigneten, denn sonst war ein fortschreitender sprachlicher Desintegrationsprozeß, der leicht in einen politischen übergehen konnte, unvermeidlich — dieses politische Kalkül muß man der sowjetischen Führung unterstellen. Die neue politische Doktrin in der Sprachenpolitik hieß deshalb: Zweisprachigkeit für die Nicht-russen. In der nationalitätenpolitischen Praxis sich den hat insbesondere mit Maßnahmen seit 1978 erneut bestätigt, daß die Forderung nach des Zweisprachigkeit die Durchsetzung Russischen in möglichst vielen Bereichen des öffentlichen Lebens zum Ziel hat und daß damit in der Tendenz die nichtrussischen Sprachen in den privaten Sektor abgedrängt werden sollen.
Der Slogan „Russisch als zweite Muttersprache", der seit Ende der fünfziger Jahre in nicht endenden Wiederholungen die Propaganda und die einschlägigen Parteidokumente beherrscht, ist also in erheblichem Maß eine Reaktion auf demographische Veränderungen. An die Stelle der in den sechziger und siebziger Jahren auslaufenden russischen Bevölkerungsmigration tritt gewissermaßen die Ausbreitung der russischen Sprache als Integrationsinstrument. Die Volkszählung von 1970 enthielt deshalb erstmalig die Frage nach guten Kenntnissen der russischen Sprache bzw. nach freier Beherrschung einer anderen Sprache der UdSSR. Der angewandte Terminus „freie Beherrschung des Russischen" unterliegt selbstverständlich der subjektiven Interpretation des Befragten; andererseits erscheint eine andere und objektivere Einschätzung des Kenntnis-standes einer Fremdsprache bei einer Volkszählung kaum möglich.
Im Jahre 1970 hatten 41, 8 Millionen Nichtrussen (= 37, 1 % der Nichtrussen) angegeben, daß sie über gute russische Sprachkenntnisse verfügten. Addiert man hierzu jene 13 Millionen Nichtrussen mit Russisch als Muttersprache, so ergibt sich, daß 1970 48, 7 % der nichtrussischen Bevölkerung in der Lage waren, auf russisch zu kommunizieren. Ein halbes Jahrhundert nach der Revolution und 40 Jahre nach der Einführung des obligatorischen Russisch-unterrichts in den allgemeinbildenden Schulen stellte sich also heraus, daß noch immer mehr als die Hälfte der nichtrussischen Bevölkerung oder 24 % der Gesamtbevölkerung über schlechte oder gar keine Kenntnisse der lingua franca verfügte. Diese Tatsache wog um so schwerer, als die mangelhaften Kenntnisse der „zweiten Muttersprache" insbesondere bei den großen, schnell wachsenden Randvölkern mit eigener Unionsrepublik zu verzeichnen waren (Tabelle 3).
Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß die Propagierung des Russischen und -administra tive Maßnahmen der Sprachenpolitik in den siebziger Jahren in erster Linie in den nichtrussischen Unionsrepubliken ansetzten und hier in der Verbreitung des Russischen als Zweitsprache deutliche Erfolge zu verzeichnen sind. Dabei ist davon auszugehen, daß in einer Bevölkerung mit vergleichsweise geringer Verbreitung der „zweiten Muttersprache“ grundsätzlich größere Steigerungsmöglichkeiten bestehen als dort, wo bereits zwei Drittel der Menschen mehr oder weniger bilingual sind. 61, 1 Millionen Nichtrussen (= 49% der Nichtrussen) beherrschten nach den Angaben von 1979 das Russische als zweite Sprache; hinzu kamen 16, 3 Millionen Nichtrussen (= 13, 1 %) mit russischer Muttersprache, so daß jetzt 62, 1 % der Nichtrussen auf russisch kommunizieren konnten.
Analysiert man jedoch diese Zahlen im einzelnen, so entstehen erhebliche Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit. Gänzlich aus dem Rahmen fällt der angebliche Eifer der Usbeken für die russische Sprache. Nach den Versicherungen der Statistik konnten 1979 360% mehr Usbeken gut russisch als 1970, während die von gleicher Basis ausgehenden Turkmenen und Tadschiken sich „nur" um 119% bzw. 161% steigerten. Die Zahl der Esten mit russischer Zweitsprache nahm dagegen um 15 % ab — auch dies ein statistischer Rekord, mit dem die Esten ganz allein stehen. Diese Merkwürdigkeiten zusammen mit anderen Informationen lassen den Schluß zu, daß in der Sprachenstatistik einerseits die Absicht, eine politische Leistungsschau vorzuführen (in Usbekistan), und andererseits antirussische Emotionen (in Estland) erheblich auf die Zahlen eingewirkt haben.
Trotz des Zweifels an bestimmten Zahlen stimmen manche Gesamteindrücke von der Sprachenstatistik durchaus mit anderen Beobachtungen der nationalitätenpolitischen Situation überein. So sind russische Sprachkenntnisse auch 1979 bei den Völkern innerhalb der RSFSR, die nur einen autonomen Status haben, und bei jenen ohne territoriale Verwaltungseinheit deutlich stärker verbreitet als bei den Randvölkern mit eigenen Unionsrepubliken. Dies war schon deshalb zu erwarten, weil das öffentliche Leben und vor allem das Bildungswesen innerhalb der RSFSR in den vergangenen 20 Jahren fast vollständig auf die russische Sprache umgestellt worden sind. Nur für Tataren und Baschkiren gibt es noch Mittelschulen, in denen die Muttersprache bis zur 10. Klasse Unterrichtssprache ist; aber auch hier besucht ein Großteil der Kinder russische Schulen. Für alle anderen Sprachgruppen wird Schulunterricht in der Muttersprache zumeist nur in den Grundschulklassen angeboten.
Die Forderung nach Zweisprachigkeit betrifft übrigens nicht die Russen — ganz im Gegensatz zur Nationalitätenpolitik der zwanziger und dreißiger Jahre. 1970 beherrschten nur 3 % aller Russen eine andere Sprache der UdSSR; dieser Anteil stieg 1979 lediglich auf 3, 5 %. Von diesen 4, 8 Millionen sprachkundigen Russen gab die überwältigende Mehrheit, nämlich 3, 1 Millionen, an, die ukrainische Sprache zu beherrschen. Dagegen konnten sich von den 1, 7 Millionen Russen, die in Usbekistan ansässig sind, nur 98 000 in der Landessprache bewegen.
Eine sprachliche Assimilation der Russen an ein anderes Volk im Sinne des Übergangs zu einer anderen Muttersprache findet in der UdSSR praktisch nicht statt. 99, 9 % der Russen gaben bei der letzten Volkszählung Russisch als ihre Muttersprache an. Damit sind die Russen das Volk der Sowjetunion, das am stärksten an seiner Muttersprache festhält und bei weitem am wenigsten Bereitschaft zeigt, eine andere Sprache des Landes zu lernen. Das ist nicht so sehr die Folge kollektiver Sprachfaulheit als vielmehr Ausdruck und Konsequenz der nationalitätenpolitischen Zielrichtung.
Bei den anderen Völkern findet in sehr unterschiedlichem Ausmaß — jedoch progressiv — sprachliche Assimilation, und zwar überwiegend an das Russentum, statt. Die Zahl der Nichtrussen, die ihre Muttersprache aufgegeben hatten, war schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht unbedeutend. Sie ist von 8, 14 Millionen 1926 auf 17, 90 Millionen 1979 gestiegen. Damit sank der Prozentanteil der Nichtrussen, die an ihrer Muttersprache festhalten, von 88, 2% (1926) auf 85, 6% (1979). In überwältigender Mehrheit erfolgte die Assimilation zugunsten der russischen Sprache; schon 1926 gingen 80 % der Sprachwechsler zum Russischen über, 1979 waren es fast 90 %. Diese Entwicklung wird man kaum dramatisch nennen können, zumal von ihr nur bestimmte Völker und Volksteile betroffen sind. Dabei handelt es sich großenteils um Assimilationsvorgänge, die bereits in den zwanziger Jahren im Gang waren und teilweise in die vorrevolutionäre Zeit zurückreichen, wenn auch ihre Progression seit Ende der fünfziger Jahre nicht zu verkennen ist. Aber die Assimilation hat bisher den Bestand der Sprachen in den Unionsrepubliken und auch in den meisten Autonomen Republiken nicht bedroht.
Von einem neuen Einbruch der russischen Sprache in der Nachkriegszeit wird man lediglich bei den ugro-finnischen Völkern des Wolgaraumes (Udmurten, Mordwinen, Mari) und des europäischen Nordens (Karelier, Komi) sprechen können. Bei einigen Völkern sind sogar vergleichsweise viele Menschen innerhalb der eigenen Republik zu Russisch als Muttersprache übergegangen (bei Kareliern, Komi, Udmurten, Tschuwaschen). So wird man ein jedenfalls teilweises Aufgehen der Völker im Russentum in absehbarer Zukunft am ehesten hier erwarten können. Dagegen zeigen die Völker islamischer Tradition im Nordkaukasus — und unter ihnen insbesondere die Tschetschenen, Inguschen, Kabardiner, Balkaren und Kartschaer — eine erstaunliche Resistenz, obwohl sie keineswegs in einem geschlossenen einheimischen Sprachmilieu leben. Alle genannten Völker außer den Kabardinern gehören zu jenen, die am meisten unter Stalins Nationalitätenpolitik zu leiden hatten. Sie wurden gegen Ende des Zweiten Weltkrieges unter unwürdigsten Umständen und großen Verlusten nach Osten deportiert, durften allerdings — im Gegensatz zu den Deutschen und Krimtataren — Ende der fünfziger/Anfang der sechziger Jahre wieder in ihre alte Heimat zurückkehren. Ihre große nationale Geschlossenheit und Vitalität (vgl. die hohen Zuwachsraten) müssen auch als eine Reaktion auf Demütigung und Gewalt interpretiert werden.
Wie nicht anders zu erwarten ist, kommt ein Großteil der sprachlich Russifizierten aus den Völkern ohne eigene territoriale Verwaltungseinheit, die in der Zerstreuung und damit in einem russisch bestimmten Sprachmilieu leben. Zahlenmäßig fallen hier die Juden und die Deutschen bei weitem am stärksten ins Gewicht. Aber dazu wird man auch die Tataren rechnen müssen, von denen ein unverhältnismäßig hoher Bevölkerungsanteil außerhalb Tatariens lebt. 1979 gaben 83, 3 % der Juden (= 1, 5 Millionen), 42, 6% der Deutschen (= 825 000) und 13, 2 % der Tataren (= 833 000) an, Russisch sei ihre Muttersprache.
Der Übergang der Deutschen und der Juden zur russischen Sprache — das Jiddische ist eine sterbende Sprache in der UdSSR — vermittelt wesentliche Einsichten für eine realistische politische Einschätzung sprachlicher Assimilationsprozesse. Sprachliche Assimilation ist auf der einen Seite Voraussetzung für ethnische Assimilation, aber auf der anderen Seite tritt eine solche weder mit Notwendigkeit ein noch können nationale Probleme als gelöst gelten, wenn ein Großteil der Nation seine Muttersprache aufgegeben hat. Die Juden und die Deutschen sind für die sowjetische Führung gerade in dem Augenblick zu einem innen-und außenpolitischen Konfliktpotential geworden, als ihr sprachlicher Über-gang zum Russischen weit fortgeschritten war. Erklärend und damit die Folgerungen einschränkend muß allerdings hinzugefügt werden, daß beide Nationen ihre Sprachen erst aufgegeben haben, nachdem ihnen der Sowjet-staat durch gewaltsame Zerschlagung ihrer Kultur-und Bildungseinrichtungen während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg den Weg dorthin gewiesen hatte.
Auch sowjetische Ethnographen stellen fest, daß eine Stufenleiter vom Russischen als Zweitsprache zum Russischen als Muttersprache und schließlich zur nationalen Assimilation an das Russentum existiert, obwohl weder der einzelne noch ganze Volksteile, die einmal diese Leiter betreten haben, mit Notwendigkeit auf ihr von einer Stufe zur anderen fortschreiten müssen. Aber zweifellos geht in der Sowjetunion ethnische Russifizierung vor sich. Zwar erfaßt die Volkszählung sie nicht quantitativ, gibt aber doch deutliche Hinweise darauf. Unter ethnischer Russifizierung verstehen wir den Übergang von Einzelpersonen oder Gruppen aus irgendeinem Volk zur russischen
Nation, der mit einer Änderung des nationalen Bewußtseins verbunden ist, so daß die betreffenden Menschen sich beispielsweise bei einer Volkszählung als Russen bezeichnen.
Die Zahl der Russen nahm zwischen 1970 und 1979 um 6, 5 % zu, die der Ukrainer und Weiß-russen jedoch nur um 3, 9 % bzw. 4, 5 %. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, daß hierfür beträchtliche Unterschiede im natürlichen Bevölkerungsverhalten verantwortlich waren. Vielmehr erklärt sich der geringere Zuwachs bei Ukrainern und Weißrussen durch Assimilation an das Russentum. Diese nationale Assimilation findet besonders bei den großen ukrainischen und weißrussischen Volksgruppen außerhalb der eigenen Territorien statt. Der hohe Anteil sprachlicher Russifizierung ist hierfür ein Signal: 55, 8 % der Ukrainer außerhalb der Ukraine (= 3, 27 Millionen) und 60, 8 % der Weißrussen außerhalb der Weiß-russischen Republik (= 1, 15 Millionen) bezeichneten 1979 Russisch als ihre Muttersprache. Das weist darauf hin, daß es viele Menschen gibt, die in der Assimilation noch einen Schritt weitergehen. Zu den ganz wenigen Völkern, deren absolute Zahlen seit 1939 beständig abgenommen haben, gehören die Mordwinen, Karelier und Juden. Besonders dramatisch ist der Rückgang des jüdischen Volkes von 3, 0 Millionen 1939 über 2, 3 Millionen 1959 auf 1, 8 Millionen 1979.
Die Schrumpfung der Karelier und Mordwinen ist hauptsächlich auf ethnische Russifizierung zurückzuführen, selbst wenn man bei diesen ugro-finnischen Völkern eine niedrigere Geburtenrate — orientiert am Beispiel der Esten — unterstellt. Der sowjetische Ethnograph Koslow schätzt allein die Assimilationsverluste des kleinen mordwinischen Volkes seit den dreißiger Jahren auf 400 000 Menschen Auch der Rückgang des Judentums ist nicht ausschließlich auf die nach 1970 sprunghaft angestiegene Emigration zurückzuführen. Die Volkszählung ergab 1979 340 000 Juden weniger als 1970; die Zahl der Ausgewanderten belief sich auf 150 000 bis 200 000. Auch hier ist der fast vollständige Übergang zum Russischen als Muttersprache, der in dieser Höhe von keinem Volk der Sowjetunion erreicht wird, Signal und Vorstufe zur nationalen Assimilation.
Für die Beurteilung der politischen und gesellschaftlichen Relevanz ist die Frage entschei-dend, ob ethnische Russifizierung freiwillig, unter sanfter administrativer Einwirkung oder unverhülltem Zwang vor sich geht. Direkter Zwang in Richtung auf Russifizierung ist in der UdSSR niemals ausgeübt worden; dagegen wirkt eine Vielzahl politischer und administrativer Entscheidungen in diese Richtung. Sie reichen von der zentral gesteuerten, weit überproportionalen Vertretung der russischen Sprache in den Medien bis zur Einschränkung oder Aufhebung von Bildungseinrichtungen in den nichtrussischen Sprachen und zum Verbot nationalsprachlicher religiöser und kultureller Institutionen (bei den Deutschen und Juden). Dennoch steht ethnische Russifizierung als Ziel nicht im Vordergrund der Nationalitätenpolitik, ja die Haltung sowohl der Sowjetführung als auch des russischen Volkes ihr gegenüber ist durchaus ambivalent. Für jene, die Russen werden möchten oder es bewußtseinsmäßig schon seit langem sind, ist es gar nicht so einfach, dies auch in die Tat umzusetzen. Dem steht z. B. die Eintragung der Nationalität im Paß jedes Sowjetbürgers gegenüber, die grundsätzlich nicht änderbar ist. Aber auch die russische Gesellschaft richtet durch einen emotional bestimmten Antisemitismus und Rassismus erhebliche Barrieren auf. Viele assimilationswillige Juden werden sich dadurch wieder ihres Judentums bewußt. Sowjetische Asiaten, die sich durch ihr Äußeres deutlich von Europäern unterscheiden, werden in der russischen Gesellschaft von heute nicht als Russen akzeptiert.
Das mittelfristige Ziel der Nationalitätenpolitik lautet: Durchsetzung des Russischen als „zweite Muttersprache“, Abbau oder zumindest Eindämmung nichtrussischen nationalen Bewußtseins und entsprechender kultureller und politischer Bestrebungen, Homogenisierung der sowjetischen Gesellschaft. Russisch als Zweitsprache bedeutet dabei in seinen Implikationen mehr als das Erlernen einer — für alle nützlichen — lingua franca. In der Sowjetunion — wie anderswo — ist es nicht möglich, ganze Bevölkerungen zur Bilingualität in der Weise zu erziehen, daß die Menschen sich gleichmäßig und gleich sicher in allen Lebensbereichen in zwei Sprachen bewegen können. In der Wirklichkeit bedeutet Zweisprachigkeit eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Funktionsteilung der Sprachen. Bestimmte Lebensbereiche, gesellschaftliche und private Rollen sind überwiegend der einen, andere der zweiten Sprache zugeordnet. Politik der Zweisprachigkeit heißt also, allmähliche Durchsetzung des Russischen in möglichst vielen öffentlichen Bereichen und zugleich Zurückdrängung der einheimischen Sprachen in den privaten und familiären Bereich. Damit sind die Entwicklungschancen aller nichtrussischen Sprachen grundsätzlich bedroht, denn natürlich verkümmert eine Sprache, in der keine Universitätsvorlesungen mehr gehalten werden und die nicht Medium der Berufsausbildung in einer Industriegesellschaft ist. Das Deutsch der Sowjetunion-Deutschen ist dafür ein gutes Beispiel.
Dies ist nicht die Folge selbstläufiger Prozesse oder gesellschaftlicher Bedürfnisse, sondern zielgerichteter Sprachenpolitik. Nachdem in den sechziger Jahren das Mittelschulwesen innerhalb der RSFSR weitgehend auf die russische Unterrichtssprache umgestellt worden war, sind seit den siebziger Jahren in den nichtrussischen Unionsrepubliken vielfache Bemühungen im Gange, der russischen Sprache ganz unten und ganz oben in der Bildungspyramide mehr Raum zu verschaffen. Der Russischunterricht soll jetzt nicht in der ersten Grundschulklasse wie bisher, sondern bereits im Kindergarten bei den Fünfjährigen beginnen und die Hochschulen und mittleren Fachschulen sind angewiesen, den Lehrbetrieb allmählich überall auf Russisch umzustellen Kandidaten-und Doktordissertationen werden nur noch in russischer Sprache akzeptiert. Georgier, Litauer, Esten und andere haben darauf mit zum Teil öffentlichen Protesten reagiert, weil sie fürchten, ihre Sprachen könnten allmählich auf das Niveau des Udmurtischen oder Deutschen absinken.
IV. Nationale Oppositionsbewegungen
Schon heute ist deutlich, daß die aggressive Sprachenpolitik der letzten Jahre zu einer Verschärfung der nationalen Spannungen geführt hat. Die nationalen Oppositionsbewegungen, die sich seit den sechziger Jahren formiert haben, erhielten dadurch neuen Zulauf. Die vergleichende Nationalismusforschung hat gezeigt, daß die Bedrohung der Muttersprache bzw. das Bewußtsein einer solchen Bedrohung zu den stärksten Motoren für nationale Abwehrreaktionen gehört. Bevor hierauf näher einzugehen ist, sollen jedoch die drei politisch unerwünschten und bekämpften nationalen Wanderungsbewegungen zur Sprache kommen. Die nationale Bewegung unter den Juden, Deutschen und Krimtataren hat große Teile dieser Völker oder im Fall der Krimtataren das ganze Volk erfaßt. Diese Bewegungen sind auf ein bestimmtes, klar umrissenes Ziel gerichtet: die Rückkehr in die Heimat bzw. in jenes Land, das im Zuge des nationalen Aufbruchs diese Qualität erhalten hat. Am erstaunlichsten ist wahrscheinlich die Bewegung der Krimtataren, die schon 1956 begonnen und sich nach 1967 erheblich verschärft hat. Die Krimtataren sind eines jener im Zuge des Zweiten Weltkriegs wegen angeblicher Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht deportierten Völker, die zwar nach Stalins Tod rehabilitiert wurden, aber bis heute nicht die Erlaubnis zur Rückkehr auf die Krim erhalten haben. Dieses Schicksal teilen sie mit den Sowjetunion-Deutschen. Fast das ganze Volk, zu dem heute etwa 300 000—, 350 000 Menschen gehören, die hauptsächlich Usbekistan in angesiedelt wurden, hat sich an den Aktionen zur Rückkehr in die angestammte Heimat beteiligt. Dies waren nicht nur Tausende individueller und kollektiver Briefe, Petitionen und großer Memoranden an alle politischen Instanzen, sondern die Krim-tataren haben über Jahre hin gewählte Repräsentanten in Moskau unterhalten, die dort die Anliegen des Volkes vor den obersten Organen von Partei und Staat vertraten. Die Zahl der Unterschriften unter den Memoranden reichte von einigen Tausend bis zu 130 000. Das alles wurde trotz Verfolgung durch Polizei und Gerichte ins Werk gesetzt. Die Gerichte verurteilten mehrere hundert Krimtataren zu Lagerhaft; Tausende wurden auf administrativem Wege bestraft. Diejenigen, die auf eigene Faust auf die Krim zurückkehrten, wurden und werden wieder nach Zentralasien abgeschoben. Nur einigen hundert Familien gelang es seit Ende der sechziger Jahre, sich auf der Krim niederzulassen.
Das kleine Volk der Krimtataren hat eine der größten Solidarisierungsbewegungen der sowjetischen Geschichte zustande gebracht — und eine der erfolglosesten. Allein strategische und ökonomische Gründe reichen wohl nicht aus, um zu erklären, warum sich die sowjetische Führung bis heute vollkommen unnachgiebig zeigt. Offenbar besteht die Furcht, durch das Eingehen auf eine nationale Protest-bewegung nicht nur das Gesicht zu verlieren, sondern auch unübersehbare innenpolitische Rückwirkungen auszulösen
Andererseits waren in den siebziger Jahren die ins Ausland gerichteten und von dort unterstützten Wanderungsbewegungen der Juden und Sowjetunion-Deutschen im ganzen erstaunlich erfolgreich; das gilt insbesondere für die jüdische Auswanderungswelle. Die Unterstützung der jüdischen Bewegung beschränkte sich nicht auf die öffentliche Meinung in den Vereinigten Staaten und manchen anderen westlichen Ländern, sondern auch die amerikanische Außen-und Handelspolitik sich aktiv für die Belange Auswanderungswilligen der engagiert. Beginn Seit des Exodus 1971 haben bis einschließlich 1980 etwa 250 000 Juden die UdSSR verlassen. Dabei unterlagen die jährlichen Auswanderungsquoten erheblichen Schwankungen; sie erreichten mit 35 000 Auswanderungsvisa 1973 und 51 000 im Jahre 1979 die bisherigen Höhepunkte. Die Erhöhung der Quoten war regelmäßig direkter Ausdruck von sowjetischen Bemühungen, amerikanische Politiker bei der Verabschiedung von SALT I und II sowie der Ausweitung des Handels günstig zu stimmen. Im ersten Halbjahr 1981 verzeichneten die jüdischen Organisationen einen drastischen Rückgang der Auswanderung auf weniger als 7000 Personen
Das Paradox der Juden in der sowjetischen Gesellschaft besteht darin, daß einerseits ihre Assimilation weit fortgeschritten ist und weiterhin gefordert und gefördert wird, andererseits aber ihre volle Eingliederung besonders seit den sechziger Jahren erneut und verstärkt auf Hindernisse stößt. Dabei wirken ein in fast allen Gruppen der sowjetischen Gesellschaft tief verwurzelter, irrationaler Antisemitismus sowie bestimmte gesellschafts-und außenpolitische Maßnahmen in die gleiche Richtung, so daß am Ende die faktische Diskriminierung der Juden in der Gesellschaft steht. Die Politik der proportionalen nationalen Repräsentation in Bildung, Wissenschaft und Parteimitgliedschaft hat in den vergangenen Jahrzehnten dazu geführt, daß den Juden der Zugang in diese Bereiche erschwert worden ist, weil sie hier erheblich überrepräsentiert waren und z. T. noch immer sind. Die uneingeschränkte und vehemente Identifikation der sowjetischen Außenpolitik mit der arabischen Sache besonders seit 1967 hat die Stellung der Juden in der Sowjetunion nicht leichter gemacht; sie sahen sich teilweise in eine Feindposition hineingedrängt. Die sowjetische Nationalitäten-politik, die im Prinzip den Wechsel der durch Geburt erworbenen Nationalitätenzugehörigkeit nicht kennt, verhindert auch auf diese Weise die volle Assimilierung der Juden. So ist die jüdisch-nationale Renaissance seit den sechziger Jahren und der im Zusammenhang damit wachsende Zionismus nicht zuletzt das Ergebnis der Unmöglichkeit, in der sowjetischen Gesellschaft seine jüdische Identität aufzugeben.
Der Wunsch, die Sowjetunion zu verlassen, ist seit dem Ende der sechziger Jahre unter den Juden zu einer Massenbewegung geworden, die mit großer Unversöhnlichkeit und persönlichem Opfermut betrieben wurde. Manche mußten jahrelang um ihre Ausreise kämpfen, anderen fiel die Ausreiseerlaubnis mehr oder weniger in den Schoß und wieder andere sitzen als Aktivisten und Sprecher der Bewegung bis heute im Lager. Im Herbst 1977 befanden sich mindestens 21 jüdische Aktivisten in Lagern oder in der Verbannung Von Januar 1978 bis Oktober 1980 wurden weitere zwölf Sprecher der jüdischen Auswanderungsbewegung zu Lagerhaft oder Verbannung verurteilt oder in psychiatrische Zwangsbehandlung eingewiesen Diese Doppelstrategie hat die Sowjetunion auch sonst angewandt, um mit massiven und spontanen oppositionellen Bewegungen von unten fertig zu werden: dem Nachgeben gegenüber den „einfachen" Beteiligten steht die polizeiliche und gerichtliche Verfolgung der Initiatoren und Anführer gegenüber. Auf diese Weise hofft die sowjetische Politik offenbar, am wirksamsten das Wachsen solcher Bewegungen — darunter fallen z. B. auch Streiks — einzudämmen. Inzwischen hat sich übrigens die innere Struktur der Auswanderungsbewegung nicht unerheblich verändert; sie kann nur noch bedingt Die als zionistisch gekennzeichnet werden. Zahl derjenigen, die von der Zwischenstation Wien aus gar nicht erst nach Israel Weiterreisen, stieg von 4% der Emigranten 1973 auf etwa zwei Drittel seit Ende der siebziger Jahre Haupteinreiseland sind die Vereinigten Staaten. Natürlich spielen neben politischen und nationalen zunehmend auch wirtschaftliche beim Wunsch, die Sowjetunion zu verlassen, eine Rolle.
Die Bewegung unter den Sowjetunion-Deutschen, in die Bundesrepublik überzusiedeln, hat seit 1971/72 Massencharakter angenommen, nachdem es eine große Zahl von Bemühungen um Familienzusammenführungen schon seit den fünfziger Jahren gegeben hatte. Eine Anzahl von Motiven bewirkt, daß heute ein Teil jener Familien, deren Vorfahren im 18. und 19. Jahrhundert nach Rußland eingewandert sind, jetzt in ihre alte Heimat zurück-strebt. Denn die Auswanderungsbewegung ist nicht auf jene Deutschen beschränkt, die wahrend der Wirren der Kriegs-und Nachkriegszeit in die Sowjetunion verschleppt worden waren oder die nahe Verwandte in der Bundesrepublik haben. Viele Auswanderungswillige sind aktive Christen und gehören den Baptisten, Mennoniten oder Pfingstlern an; sie sind in ihrer Religionsausübung erheblichen Beschränkungen unterworfen oder werden direkt verfolgt. Wichtigstes Motiv ist jedoch der Wille, das eigene Deutschtum zu bewahren, das von Assimilation bedroht gilt. Die Deutschen gehören wie die Krimtataren zu den nach Zentralasien und Sibirien deportierten Völkern. Nach der Aufhebung der Zwangs-ansiedlung (1955) und ihrer Rehabilitierung (1964) erhielten sie weder das Recht zur Rückkehr an ihre früheren Wohnsitze noch irgendeine territorial-administrative Autonomie. Trotz gewisser deutschsprachiger kultureller Aktivitäten kann von einer angemessenen Kulturautonomie nicht die Rede sein. Schließlich sind politisch-wirtschaftliche Gründe zu bedenken, die die Volksdeutschen in der Bun-desrepublik eine höhere Lebensqualität erwarten lassen.
Die Zahl der Ausreiseerlaubnisse für Volks-deutsche stieg von 1 140 1971 auf 9 800 im Jahre 1976 und fiel danach kontinuierlich auf 9 200 1977 und 7 200 im Jahre 1979 Insgesamt sind in den siebziger Jahren 56 000 Deutsche in die Bundesrepublik gekommen. Der relative Erfolg dieser Bewegung ist sicher der Verbesserung der deutsch-sowjetischen Beziehungen in diesem Zeitraum und dem damit verbundenen sowjetischen Bemühen, Bonn günstig zu stimmen, zu verdanken. Auch die gleichzeitige jüdische Emigrationswelle hat den Druck auf die sowjetische Führung verstärkt. Aber die Zahl der Ausreisewilligen hat durch die Genehmigungen der vergangenen Jahre nicht ab-, sondern zugenommen. Mehr noch, das Zahlenverhältnis zwischen jenen, die in die Bundesrepublik kommen möchten, und denen, die eine Erlaubnis erhalten, ist heute bei den Deutschen ungünstiger als bei den Juden. Mit anderen Worten: für Juden ist die Auswanderung gegenwärtig leichter möglich als für die Deutschen.
Da die Sowjetunion eine Freizügigkeit ihrer Bürger über die Grenzen hinweg grundsätzlich nicht anerkennt, muß in jedem Einzelfall Familienzusammenführung als Grund der Auswanderung nachgewiesen werden. Allerdings wird diese Bestimmung auch von sowjetischer Seite recht unterschiedlich gehandhabt, wenn etwa prominente Bürgerrechtler zu Juden erklärt und abgeschoben werden. In gleicher Weise wie bei den Juden haben auch deutsche Wortführer der Bewegung ihren Einsatz mit Lagerhaft büßen müssen: Mehr als 40 von ihnen sind bis 1977 gerichtlich verurteilt worden, auch danach gab es weitere Prozesse
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, um zu zeigen, wie nachhaltig sich die sowjetische Gesellschaft seit dem Tode Stalins verändert hat. Eines der eindrucksvollsten Symptome sind die offenen Oppositionsbewegungen, die zwar unterdrückt werden, aber bis heute nicht dem seinem Anspruch nach totalen Herrschaftsapparat unterworfen werden konnten. Solche Gruppen, die sich der Kontrolle von oben entziehen, mit neuem Selbstbewußtsein auftreten und ihre Anliegen in aller Regel öffentlich vertreten, sind vielfach in der Gesellschaft ent------------- standen. Die national bestimmten Gruppen gehören zu den größten und am besten organisierten. Das ist bereits im vorhergehenden Abschnitt deutlich geworden. Jetzt soll von weiteren nationalen Gruppen die Rede sein, die mit der sowjetischen Nationalitätenpolitik und zum Teil auch dem System der politischen Herrschaft unzufrieden sind und Änderungen fordern. Diese nationalen Gruppen verfügen entweder tatsächlich oder potentiell über eine Massenbasis in der jeweiligen Nation; das unterscheidet sie von der russischen Bürgerrechtsbewegung. Seit Mitte der siebziger Jahre sind die Verbindungen zwischen beiden Zweigen der Dissidentenbewegung enger geworden. Im Anschluß an die Moskauer „öffentliche Gruppe zur Förderung der Durchführung der Abmachungen von Helsinki in der UdSSR" entstanden im November 1976 Helsinki-Komitees in der Ukraine und in Litauen, im Januar 1977 in Tiflis und im April 1977 in Erevan. In allen nationalen Komitees verbindet sich das Engagement für die Menschenrechte mit Forderungen nach mehr nationaler Selbstbestimmung in der UdSSR; der Protest richtet sich gegen den hypertrophen Zentralismus und die Überfremdung durch russische Sprache und Kultur. Wegen der weit ausgreifenden räumlichen Verzweigung und der offenbar besonders hoch eingeschätzten Gefährlichkeit sieht der KGB seit 1977 eine seiner Hauptaufgaben in der Unterdrückung der Helsinki-Komitees. Bisher sind mehrere Dutzend Mitglieder der Helsinki-Komitees verhaftet und verurteilt worden, so daß gegenwärtig nur noch das Moskauer und das litauische Komitee in reduziertem Umfang die Sammlung von Informationen zur mangelhaften Verwirklichung der Menschenrechte in der UdSSR fortsetzen können. Die Gerichte verhängten in mehreren Fällen das auch nach sowjetischen Maßstäben außerordentlich harte Urteil von zehn Jahren Haft und fünf Jahren Verbannung. Schon seit einiger Zeit läßt sich feststellen, daß die politische Strafjustiz in der Ukraine bei vergleichbaren Tatbeständen erheblich rigorosere Urteile fällt als in Rußland
Die ukrainischen Bürgerrechtler können sich auf zumindest passive Sympathien in breiten Kreisen der ukrainischen Intelligenz stützen, weil sie die nationalen Anliegen als integralen Teil ihrer Arbeit ansehen. Die Rückbesinnung auf die eigenständigen Elemente der ukrainischen Kultur und Geschichte und vor allem auf den Gebrauch der Muttersprache ist seit den sechziger Jahren eine Bewußtseinshaltung, deren Anhänger bis weit in das Establishment von Partei und Staat reichen. Die Überfremdung besonders des Hochschulwesens und der Medien durch die russische Sprache oder die moskauzentrische Betrachtung der ukrainischen Geschichte sind für viele ein Ärgernis. „Die Ukrainer müssen endlich das Recht bekommen, frei auf ihrem Heimatboden zu leben, ihre Muttersprache zu gebrauchen, sich für ihre nationalen Traditionen einzusetzen, ihr geistiges Erbe, das sie von ihren Vorfahren übernommen haben, zu vermehren und ihre nationalen Heiligtümer vor Besudelungen zu schützen“, heißt es in einem Brief von zwei prominenten ukrainischen politischen Häftlingen aus dem Jahre 1978 Vielfach besteht in der Ukraine der nicht unbegründete Verdacht, die Republik werde durch Kapitalausfuhr und ungenügende Berücksichtigung bei Investitionen wirtschaftlich ausgenutzt. Hinzu kommt die Erinnerung an die kurze Periode der staatlichen Unabhängigkeit nach 1917 und das historische Eigenbewußtsein der West-Ukraine; alle diese Faktoren erklären die breite Palette nationaler ukrainischer Subkulturen. Sie reichen von den Resten der militanten und konspirativen Nachfolgeorganisationen aus der Zeit des Partisanenkampfes in den vierziger Jahren bis zu liberaldemokratischen Bürgerrechtlern.
Die nationalen Forderungen der liberalen und reformsozialistischen Dissidenten werden heute radikaler zum Ausdruck gebracht als in den sechziger Jahren. In der Samizdat-Literatur der baltischen Republiken ist an die Stelle kulturautonomistischer Bestrebungen jener Jahre fast durchweg die Forderung nach staatlicher Unabhängigkeit getreten. Die mit Abstand unruhigste Republik der UdSSR ist derzeit Litauen. Hier gibt es seit Ende der sechziger Jahre eine von beträchtlichen Teilen der Bevölkerung gestützte Protestbewegung innerhalb der katholischen Kirche. Sie richtet sich gegen die Einschränkungen des kirchlichen Lebens, das Verbot des privaten Religionsunterrichts, die durch staatliche Bestimmungen gedrosselte Priesterausbildung und die Unmöglichkeit, religiöse Literatur auch nur annähernd der Nachfrage entsprechend zu drucken. Katholisches und litauisch-natio-nales Bewußtsein stehen in einem engen Wechselverhältnis, und es dürfte gegenwärtig in der Sowjetunion keine Nation geben, wo Konfessionelles und Nationales so geschlossen miteinander verbunden sind. Die nationalistische Untergrundzeitschrift Aura (Morgenröte) hat geschätzt, daß nur etwa 15% der Bevölkerung — 8% der Bewohner sind Russen — die Zugehörigkeit Litauens zur UdSSR positiv beurteilen A. Svarinskas, ein litauischer Priester, erklärte anläßlich der Gründung eines „Katholischen Komitees zur Verteidigung der Rechte der Gläubigen“ im November 1978 in Moskau, es gäbe keine Dissidenten in Litauen, sondern „nur normale Menschen und einige Kollaborateure“
Mag sein, daß hier auch Wunschvorstellungen der Betroffenen im Spiel sind; dennoch bestätigen andere Informationen, daß in Litauen ein erheblicher Teil der Gesamtbevölkerung — nicht nur der Intelligenz — in offener Opposition zum Sowjetsystem steht. In jedem Jahr erscheinen neue Samizdat-Zeitschriften, deren Herstellung und Verbreitung ohne — zumindest — passive Unterstützung Vieler nicht denkbar sind; nur ein Teil dieser Zeitschriften ist bisher im Westen bekanntgeworden. Die wichtigsten scheinen die beiden der katholischen Kirche nahestehenden Zeitschriften „Chronik der litauischen katholischen Kirche" (erscheint seit 1972) und „Weg der Wahrheit“ (Tiesos kelias, seit 1977) zu sein sowie die radikalen nationalistischen Organe „Morgenröte" (Auära, seit 1975) und „Gott und Land“ (Dievas ir tvyn, seit 1976).
Die Stimmung in Litauen macht sich nicht nur in Flugblättern Luft, die zum Nationalfeiertag des unabhängigen litauischen Staates (16. Februar) verteilt werden, in denen die Russen als „Okkupationsmacht" angeprangert werden, oder bei Fußballspielen, die mit Sprechchören „Freiheit für Litauen!“ zu Ende gehen Zu einem besonderen Medium nationalen Bewußtseins sind in allen baltischen Republiken die offiziellen und inoffiziellen ethnographischen Gesellschaften und Klubs geworden. Hier beschäftigen sich Professionelle und Laien — z. T. hinter dem Rauchvorhang der Völker-freundschaft (in den offiziellen Gesellschaften für Ethnographie), z. T. ohne ihn — mit der Ge-schichte, Folklore und Literatur des eigenen Volkes. In Litauen stehen dabei die Zeit des Widerstandes gegen die zaristische Russifizierungspolitik nach dem Aufstand von 1863 und die lebendige Erinnerung an die staatliche Unabhängigkeit zwischen 1918 und 1939 im Mittelpunkt. Die Aktivitäten reichen von der relativ unpolitischen Pflege des Volksliedes — die jedoch seit dem 19. Jahrhundert ein wesentliches Medium der nationalen Renaissance bei allen baltischen Völkern gewesen ist — bis zum Sammeln von dokumentarischem Material aus der Zeit des antikommunistischen Guerillakrieges zwischen 1944 und 1952. Nach den Informationen von „Ausra“ befanden sich im Frühjahr 1978 ungefähr 60 litauische politische Gefangene in Lagern, Verbannung oder in Untersuchungshaft
Im 20. Jahrhundert ist das Bewußtsein einer Schicksalsgemeinschaft der drei baltischen Republiken gewachsen, obwohl deren historische Wege vor 1918 eher durch Unterschiede als durch Gemeinsamkeiten charakterisiert waren. In den letzten Jahren haben mehrfach nationale Gruppen aus den baltischen Republiken gemeinsam Eingaben und Petitionen verfaßt. An einem Schreiben vom September 1975 mit der Forderung nach Abhaltung eines Referendums und einer allmählichen Über-führung der baltischen Republiken in die Unabhängigkeit unter der Aufsicht und Garantie der UNO beteiligten sich sechs Organisationen, darunter die Estnische Demokratische Bewegung, die Estnische Nationale Front, die Unabhängigkeitsbewegung Lettlands und die Litauische Nationale Demokratische Bewegung. Über die meisten dieser Gruppen ist bisher im Westen wenig bekannt
Seit Herbst 1980 ist es erstmals auch in Estland zu offenen Protestaktionen gegen die Russifizierung gekommen. Ende September und Anfang Oktober demonstrierten Tausende von Schülern und Studenten in Tallinn (Reval) und riefen „Mehr Fleisch — weniger Russen!" Streiks in Tartu (Dorpat) folgten, und 40 etablierte estnische Schriftsteller und Hochschullehrer solidarisierten sich in einem Brief an die Prawda mit diesen Aktionen und erhoben ihre Stimme gegen die „Kampagne zur Forcierung des Russischunterrichts“ und die „Ernennung von Personen ohne adäquate
Kenntnis der estnischen Kultur auf verantwortliche Posten“. Verhaftungen und Prozesse sollen weitere Aktionen unterdrücken. Der im Januar 1981 zu zwei Jahren Lagerhaft verurteilte Bürgerrechtler Juri Kukk starb im März 1981 an den Folgen der Strapazen im Lager
Neben der Ukraine und den baltischen Republiken bilden Armenien und Georgien den dritten Schwerpunkt nationaler Dissidenten-gruppierungen. Von den islamischen Völkern Zentralasiens ist bislang nichts über vergleichbare Aktivitäten bekanntgeworden. Man wird daraus den Schluß ziehen dürfen, daß dort im ganzen Unzufriedenheit mit der Sowjetmacht weniger verbreitet ist oder doch weniger artikuliert wird. Die nahtlose Integration dieser Völker in das sowjetische System kann aber aus dieser Beobachtung sicher nicht gefolgert werden.
Zu den langlebigsten und am besten organisierten nationalen Gruppen gehört die 1966/1967 gegründete armenische „Vereinigte Nationale Partei". Sie hat sich im Laufe der siebziger Jahre, wohl unter dem Eindruck der Bürgerrechtsbewegung, von einer konspirativen Gemeinschaft zu einer in die Öffentlichkeit strebenden und für sich Legalität fordernden Gruppe entwickelt. Ziel der Partei ist die „Wiederherstellung der nationalen Staatlichkeit auf dem gesamten Territorium des historischen die aller Armenien, Wiedervereinigung Armenier, die in der ganzen Welt verstreut sind, in einer territorial und staatlich wiederhergestellten Heimat und die nationale Wiedergeburt" Diese armenische nationale Gruppe lehnt Gewalt als politisches Mittel ausdrücklich ab, fordert eine Volksbefragung über den Austritt Armeniens aus der UdSSR und geht davon aus, daß „ein unabhängiges Armenien nicht ein antisowjetisches Armenien bedeutet“ -Die Vereinigte Nationale Partei ist von Anfang an massiven Verfolgungen ausgesetzt gewesen. Allein von 1967 bis 1975 fanden 18 Prozesse gegen Mitglieder oder Mitarbeiter von Unterorganisationen statt. Dabei wurden nach eigenen Angaben mehr als 50 Armenier zu Haftstrafen zwischen sechs Monaten und zehn Jahren Haft und Verbannung verurteilt. Besonders hart griff der KGB im Olympiajahr 1980 gegen die nationalen — wie gegen alle anderen — Oppositionsbewegungen durch: Von Januar 1978 bis Oktober 1980 wurden 29 Ukrainer, 25 Krimtataren, 23 Litauer, neun Esten, sechs Armenier, vier Letten und drei Georgier wegen ihrer Teilnahme an der nationalen oder Bürgerrechtsbewegung zu Lagerhaft, Verbannung oder psychiatrischer Zwangsbehandlung verurteilt oder in Untersuchungshaft genommen
Überblickt man die nationale Dissidententätigkeit insgesamt, so mag sich der Eindruck aufdrängen, daß viele der vertretenen Ziele angesichts der tatsächlichen Machtverhältnisse illusionär sind. Dabei darf man jedoch nicht vergessen, daß politische Programme häufig nicht das erreichen, was sie sich vornehmen, aber deshalb durchaus nicht wirkungslos bleiben müssen. Wie immer man den gegenwärtigen politischen Stellenwert der nationalistischen Gruppen einschätzt mag — er ist mit Sicherheit bei den einzelnen Völkern verschieden zu veranschlagen —, diese Gruppen machen auf jeden Fall deutlich, daß von einer „Lösung" des nationalen Problems in der Sowjetunion keine Rede sein kann. Aber ist so etwas überhaupt denkbar? Der Abbau nationaler Spannungen in einem Vielvölkerstaat ist wohl nur in einem wechselseitigen Verzicht vorstellbar, will man nicht den Zerfall des Staatswesens als unvermeidlich betrachten. Die Zentralmacht müßte ein beträchtliches Maß an Kompetenzen im kulturellen, aber auch im ökonomischen Bereich an die nichtrussischen Völker abgeben, und diese müßten ihrerseits auf die politische Unabhängigkeit verzichten. Gegenwärtig sind jedoch weder die sowjetische Führung noch die nationalistischen Gruppen bei vielen Völkern bereit, diesen Weg zu gehen.