Seit den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts gibt es eine Reihe von Versuchen, den Krieg als Mittel der Politik zwischen den Staaten zu verbannen. Erfolg war ihnen nicht be-schieden. Abgesehen davon, daß ein zweiter Weltkrieg die Erde überzogen hatte, an dem schließlich 27 Staaten aktiv teilnahmen und der 55 Millionen Menschen das Leben kostete, gab es auch in den Jahren danach nicht weniger als 150 Kriege oder kriegsähnliche Konflikte. Unter den heutigen Staaten ist nicht ein einziger, der auf die Fähigkeit, Krieg zu führen, verzichtet hätte. Eigene Streitkräfte sind nach wie vor Ausdruck staatlicher Souveränität, und die Frage nach dem politischen Nutzen militärischer Macht liegt nahe.
Bevor jedoch vom eigentlichen Thema die Rede sein wird, soll noch ein Blick auf die Stellung der Streitkräfte im politischen System der Sowjetunion geworfen werden.
I. Die innenpolitische Stellung der sowjetischen Streitkräfte
Die für jedes politische System zu stellende Kardinalfrage nach dem sogenannten Primat der Politik ist für die Sowjetunion klar zu beantworten. Die Streitkräfte sind in das politische System fest eingebunden. Ihre politische Führung erfolgt eindeutig durch die Kommunistische Partei Gehorsam gegenüber der Partei wird nicht nur verbal im Parteistatut und in den Lehrbüchern des Marxismus-Leninismus gefordert und von den sowjetischen Militärs bei jeder Gelegenheit bekundet; er ist auch durch ein ausgeklügeltes organisatorisches System in der politischen Wirklichkeit fest verankert.
Die oberste militärische Verwaltungs-und Kommandobehörde der sowjetischen Streitkräfte ist das Verteidigungsministerium der UdSSR. Der Oberbefehl liegt beim Minister. Da es jedoch in der Sowjetunion eine politisch selbständig handelnde Regierungsexekutive nicht gibt, vollzieht auch der Verteidigungsminister nichts anderes als den politischen Willen der Kommunistischen Partei, das heißt ihres Politbüros. Als Mitglied des Politbüros ist der Verteidigungsminister ohnehin an die Beschlüsse dieses wichtigsten Parteiorgans gebunden. Außerdem gibt es im Verteidigungsministerium die Politische Hauptverwaltung der Sowjetarmee und der Kriegsmarine (PHV). Ihre Aufgabe wird folgendermaßen beschrieben:
Sie..... leitet die politischen Organe sowie die Partei-und Komsomolorganisationen der Armee und der Flotte, bearbeitet entsprechend den Beschlüssen der KPdSU die wichtigsten Probleme des Parteiaufbaus, wählt die politischen Kader aus und setzt sie ein, betreibt die ideologische Arbeit bei der Truppe, überprüft die Durchführung der Beschlüsse der KPdSU und der Sowjetregierung sowie die Ausführung der Befehle des Verteidigungsministers und seiner Direktionen von Seiten der Politorgane und Parteiorganisationen.
Für ihre Verwirklichung sorgt vor allem der organisatorische Unterbau der Politischen Hauptverwaltung. Er reicht durch alle hierarchischen Ebenen der Streitkräfte, von den Teilstreitkräften über den Militärbezirk, die Armee, die Division, das Regiment, das Bataillon bis hinunter in die Kompanie. Obgleich die sogenannten Politorgane Militärs sind — ihre Dienststellung ist die eines Stellvertreters des Kommandeurs in politischen Angelegenheiten, und trotz des herrschenden Prinzips der Einzelverantwortlichkeit durch den Kommandeur (edinonaöalie) —, vertreten sie innerhalb der Streitkräfte die Interessen der Partei. Die Partei und ihr Jugendverband (Komsomol) verfügen in den Streitkräften noch zusätzlich — ebenfalls auf allen Ebenen — über eine eigene Organisation ihrer Mitglieder.
Da die politische Hauptverwaltung ein organisatorisches Doppelgesicht trägt — einerseits ist sie eine Hauptabteilung im Verteidigungsministerium, andererseits gleichzeitig eine der Abteilungen des Zentralkomitees der KPdSU —, ergibt sich für die Politorgane ein eigener Befehlsstrang, der von der Partei-spitze bis in die Kompanie hineinreicht. Die politischen Aktivitäten in den Streitkräften werden letzten Endes nicht von Militärs, sondern vom zivilen Parteiapparat kontrolliert. Die Politische Hauptverwaltung und die nicht-militärischen Parteifunktionäre berichten laufend an die ZK-Abteilung für administrative Organe, die für bestimmte militärische und Sicherheitsfragen zuständig ist. Dort werden auch die wichtigen Personalfragen entschieden. Wesentlich für die Kontrolle der Streitkräfte ist die enge Zusammenarbeit der Parteiführung mit dem Geheimdienst. Unter diesem Aspekt ist seine wichtigste Aufgabe nicht etwa die Spionageabwehr. Er soll in erster Linie verhindern, daß sich im höheren Offizier-korps Cliquen bilden, in denen es zu einer von der Parteiführung unabhängigen politischen Willensbildung kommen könnte. Zu diesem Zweck wird auch das Privatleben der höheren Offiziere vom Geheimdienst systematisch überwacht. Außerdem gehören seine Vertreter von Amts wegen vielen militärischen Gremien an, so daß allein durch ihre Anwesenheit in Sitzungen und Besprechungen Kontrolle stattfindet.
Die höchste Instanz für Verteidigungsfragen, in der auch tatsächlich die wesentlichen militärischen Beschlüsse gefaßt werden, ist der Verteidigungsrat Den Vorsitz führt dort der Generalsekretär der Kommunistischen Partei.
Weitere Mitglieder sind der Ministerpräsident, der Verteidigungsminister und Repräsentanten des Generalstabes. Gemäß Artikel 121 der sowjetischen Verfassung wird er — zumindest formal — vom Präsidium des Obersten Sowjets gebildet und bestätigt, das auch das Oberkommando der Streitkräfte ernennt und den Kriegsfall erklärt. Im Verteidigungsrat werden die Richtlinien für die Landesverteidigung festgelegt; er koordiniert die Maßnahmen, die in diesem Zusammenhang für notwendig gehalten werden, und er ist für den Aufbau und die Organisation der Streitkräfte zuständig.
Bei der Führung der Streitkräfte kommt dem Generalstab selbstverständlich besondere Bedeutung zu. Er liefert unter anderem Beiträge zur allgemeinen Militärpolitik und befaßt sich mit der Militärdoktrin, das heißt den..... in einem Staat anerkannten Anschauungen zu den Fragen der politischen Einschätzung eines künftigen Krieges, der Stellung des Staates zum Kriege, der Definition des Charakters eines künftigen Krieges, der ökonomischen und moralischen Vorbereitung des Landes auf einen Krieg, des Aufbaus und der Ausbildung der Streitkräfte sowie der Methoden der Kriegführung..." Der Generalstab setzt die Militärdoktrin in konkrete Rüstungsvorschläge um, er berechnet die Höhe des Verteidigungshaushalts, er entwirft und entwickelt die strategische Planung, er verfaßt Gutachten über Entscheidungsmöglichkeiten und über die Militärstrategie des potentiellen Gegners, er kontrolliert die Hauptstäbe der Teilstreitkräfte und arbeitet mit ihnen zusammen, er unterhält einen weltweiten militärischen Geheimdienst, er stellt Vertreter bei Rüstungskontrollverhandlungen — um nur einige seiner Aktivitäten zu nennen. Kurz: Der Generalstab ist das Gehirn der Streitkräfte, auf dessen Arbeit niemand verzichten kann, der militärische Entscheidungen zu treffen hat. Welchen Einfluß haben nun die Streitkräfte auf die sowjetische Außen-und Sicherheitspolitik? Die im Westen gelegentlich anzutreffende Vorstellung, daß die sowjetische Außen-und Sicherheitspolitik in zunehmendem Maße von einer Militärelite beeinflußt werde, die auch bei der Besetzung Afghanistans die treibende Kraft gewesen sein dürfte, ist nicht realistisch. Sie widerspricht allem, was im politischen Entscheidungsprozeß in der Sowjetunion üblich und möglich ist. Allein aus der Amterhäufung des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei — er ist der erste Mann im Politbüro und im Sekretariat des Zentralkomitees, er ist Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets (Staatsoberhaupt), des Obersten Sowjets (Parlamentspräsident), des Verteidigungsrates (vgl. oben), außerdem noch Marschall der Sowjetunion — ergibt sich, daß er über eine Macht verfügt, die ihn in allen diesen Gremien über die Rolle eines primus inter pares weit hinaushebt. Die Schlüsselentscheidungen in der sowjetischen Außen-und Sicherheitspolitik und ebenso in der Militärpolitik werden heute ohne Zweifel von Leonid I. Breshnew getroffen. Im Vergleich zu dieser Machtfülle nimmt sich die Repräsentanz des Militärs in den beiden entscheidenden Parteiorganen bescheiden aus. Es ist dort lediglich mit einer Person, nämlich, wie bereits erwähnt, durch den Verteidigungsminister im Politbüro (14 Vollmitglieder) vertreten. Im Sekretariat des Zentralkomitees (zehn Sekretäre) gibt es gar keinen Militär. Das heißt, daß in diesen beiden Parteiorganen einem Militär 18 Zivilisten gegenüberstehen (Personalunionen nicht mit gezählt). Militärs als Mitglieder des Zentral-komitees (über die Jahre hinweg mit etwa 7%— 9% vertreten), als Parteitagsdelegierte'oder als Deputierte im Obersten Sowjet bringen eher die Verbundenheit der Streitkräfte mit dem „Volk" zum Ausdruck und sind Zeichen für das Prestige, das sie in der sowjetischen Gesellschaft genießen. Mit Teilhabe am politischen Entscheidungsprozeß hat das nicht unbedingt etwas zu tun.
Trotzdem beeinflussen die Streitkräfte die Außen-und Sicherheitspolitik. Zwar bilden sie keine pressure group, die bei der politischen Führung ihren Willen durchsetzt. Für ein solches Verfahren bietet das politische System der Sowjetunion keine Möglichkeit. Politische Einflußnahme kann dort nicht gegen die Absichten der politischen Führung erfolgen, sondern nur mit ihnen, im Rahmen der Richtlinien, die das Politbüro und speziell der Generalsekretär festgelegt haben.
Unter diesen Voraussetzungen eröffnen sich den Streitkräften, oder genauer gesagt, ihrer Führung, jedoch prinzipiell zwei Möglichkeiten der Einflußnahme. Die eine beruht auf ihrem Sach-und Fachverstand, den sie bei der Formulierung der Politik als Ratgeber und Experten zur Geltung bringen können (Nutzung der professionellen Autorität). In dieser Hinsicht spielt vor allem der Generalstab eine Rolle (vgl. oben). Es läßt sich leicht vorstellen, daß sieh die politische Führung über strategische Analysen, entsprechend begründete Rüstungsforderungen und organisatorische Vorschläge nicht ohne weiteres hinwegsetzt, zumal dann nicht, wenn sie auf der richtigen Linie liegen. Die zweite Möglichkeit — und sie ist mit der ersten im Zusammenhang zu sehen — besteht in der Nutzung des Spielraumes, den ein Regime, das traditionell auf bewaffnete Macht gesetzt hat, dem Militär ohnehin bietet. Die Beziehungen zwischen Partei und Streitkräften sind trotz des Mißtrauens, das die Partei den Streitkräften entgegenbringt, nicht antagonistisch, sondern symbiotisch. Natürlich ist militärische Macht in den Augen der Partei eine gefährliche Sache. Aus diesem INHALT I. Die innenpolitische Stellung der sowjetischen Streitkräfte II. Zur Rolle der Streitkräfte von der Oktoberrevolution bis zum Zweiten Weltkrieg III. Streitkräfte als Instrument sowjetischer Hegemonialpolitik IV. Die Bedeutung der Streitkräfte für den Aufstieg der Sowjetunion zur Welt-macht Nah-Ost-Krise Berlin-Krise Kuba-Krise V. Zur Bedeutung der Streitkräfte im Zeichen sowjetischer Weltmachtpolitik China Indochina Mittlerer und Naher Osten Afrika und die sowjetische Flottenpolitik Kuba Westeuropa VI. Schlußbemerkung Grunde muß sie auch kontrolliert werden. Sie darf sich auf keinen Fall verselbständigen und möglicherweise die eigene Herrschaft gefährden. Andererseits weiß die Partei den politischen Nutzen militärischer Macht sehr zu schätzen; so ist sie selbst die beste Befürworterin der Interessen und Ziele der Streitkräfte. Im Prinzip sind Breshnew und seine Generale der gleichen Meinung. Sie alle glauben, daß man den Lauf des Weltgeschehens in erster Linie nur noch mittels der militärischen Präsenz der Sowjetunion beeinflussen kann
II. Zur Rolle der Streitkräfte von der Oktoberrevolution bis zum Zweiten Weltkrieg
Der Einsatz militärischer Macht in Form von Krieg und Bürgerkrieg erschien den Bolschewiki von Anfang an als eine Selbstverständlichkeit, ja Notwendigkeit. So schrieb zum Beispiel Lenin in seiner im Jahre 1915 erschienenen Broschüre über „Sozialismus und Krieg (Die Stellung der SDAPR zum Krieg)": „Die Sozialisten haben den Krieg unter den Völkern stets als eine barbarische und bestialische Sache verurteilt. Aber unsere Stellung zum Krieg ist eine grundsätzlich andere als die der bürgerlichen Pazifisten und ... Anarchisten. Von den ersteren unterscheiden wir uns durch unsere Einsicht in den unabänderlichen Zu-sammenhang der Kriege mit dem Kampf der Klassen im Innern eines Landes, durch die Erkenntnis der Unmöglichkeit, die Kriege abzuschaffen, ohne die Klassen abzuschaffen und den Sozialismus aufzubauen, ferner auch dadurch, daß wir die Berechtigung, Fortschrittlichkeit und Notwendigkeit von Bürgerkriegen voll und ganz anerkennen .. ”
Der Theorie entsprach dann auch das praktische Handeln. Abgesehen davon, daß die Bolschewiki ihre Herrschaft in Rußland durch Revolution und Bürgerkrieg erobert haben, versuchten sie auch außenpolitische Ziele, wie die Wiederherstellung der Grenzen des zaristischen Rußland, mit kriegerischen Mitteln zu erreichen. Im Kaukasus, in der Ukraine und in Weißrußland hatten sie Erfolg, gegenüber dem Baltikum und Polen zunächst nicht.
Auch Lenins Nachfolger Stalin hielt einen Krieg für unvermeidbar. Zu einer Zeit, wo sich das übrige Europa darum mühte, den Krieg als Mittel der Politik zwischen den Staaten auszuschalten (1925: Locarno-Konferenz; 1926: Vorbereitende Kommissionssitzung für eine Abrüstungskonferenz des Völkerbundes; 1928: Kellog-Pakt), vertrat er die Meinung, daß Voraussetzungen für einen neuen Krieg heranreiften, der in einigen Jahren unvermeidlich werden könnte: Das Banner der Sowjetunion sei zwar nach wie vor das Banner des Friedens, sollte aber der Krieg beginnen, werde sie nicht untätig zusehen können. Sie werde auf dem Kriegsschauplatz jedoch als letzte auftreten, ..... um das entscheidende Gewicht in die Waagschale zu werfen, ein Gewicht, das ausschlaggebend sein dürfte". Stalin zog dann folgende Schlußfolgerung: „Wir müssen auf alles vorbereitet sein, wir müssen unsere Armee vorbereiten .... die technische Ausrüstung verbessern, die Chemie, das Flugwesen verbessern und überhaupt unsere Rote Armee auf die gebührende Höhe bringen. Das fordert von uns die internationale Lage. Darum meine ich, daß wir entschieden und unwiderruflich den Forderungen der Militärbehörde entgegenkommen müssen."
Der damalige Verteidigungsminister, W. M. Frunse, äußerte sich — wie könnte es anders sein — ähnlich Schließlich (1928) begründete Stalin auch den ersten Fünfjahresplan, der zu 75% die Erzeugung von Produktionsmitteln vorsah, unter anderem mit dem Hinweis auf die notwendige Verteidigungsfähigkeit
Kurz: seit der Mitte der zwanziger Jahre lief die Modernisierung und Technisierung der Roten Armee, bei der die Zusammenarbeit mit der Reichswehr übrigens keine geringe Rolle gespielt hat. Ihre personelle Verstärkung — den niedrigsten Stand seit dem Bürgerkrieg hatte sie im Jahre 1927 mit 586000 Mann erreicht — setzte erst wieder am Anfang der dreißiger Jahre ein. Als Ursache dafür nennt später Chruschtschow „die Aggression des japanischen Imperialismus im Fernen Osten und die faschistische Machtübernahme in Deutschland .. . Bis zum Jahre 1937 wurden die sowjetischen Streitkräfte wieder auf 1 437 000 Mann gebracht, vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion (22. Juni 1941) waren bereits 4207000 unter Waffen. Die personelle Verstärkung wurde von der Verbesserung der Streitkräfteorganisation begleitet. Das in der Zwischenzeit eingeführte Territoriale Milizsystem hatte man wieder abgeschafft. Die Bedeutung der Streitkräfte für die Außenpolitik der Sowjetunion bis zum Zweiten Weltkrieg liegt, abgesehen von gewissen Aktionen in der Anfangsphase, in erster Linie im Aufbau und in der Sicherung der Verteidigungsfähigkeit des Landes.
III. Streitkräfte als Instrument sowjetischer Hegemonialpolitik
Der Zweite Weltkrieg brachte der Sowjetunion die Gelegenheit, sich von einer Großmacht zu einer Hegemonialmacht zu entwikkeln. Einen ersten Schritt in diese Richtung ermöglichte ihr der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt (23. August 1939) mit seinem geheimen Zusatzprotokoll, in dem bekannt-lieh für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung eine Abgrenzung von beiderseitigen Interessensphären vereinbart wurde. Danach sollte die Sowjetunion in Finnland, Estland und Lettland freie Hand haben, ebenso in Ostpolen und Bessarabien 10).
Nach dem Einmarsch in Ostpolen (17. September 1939) und dem Abschluß eines deutsch-sowjetischen Grenz-und Freundschaftsvertrages (28. September 1939), in dem nunmehr auch Litauen in einem geheimen Zusatzprotokoll der sowjetischen Interessensphäre zugeschlagen wurde griff die Sowjetunion mit 30 Divisionen Finnland an (30. November 1939). Trotz des zähen Widerstandes mußte Finnland nach einem erneuten sowjetischen Vorstoß, den Marschall Timoschenko mit 27 Divisionen gegen die Mannerheim-Linie führte (2. Februar 1940), schließlich aufgeben und in dem bald darauf unterzeichneten Frieden von Moskau März 1940) den sowjetischen Forderungen nachkommen. Sie lauteten: Abtretung der karelischen Landenge und eines Gebietes an der Nordbucht des Ladogasees mit Viborg, Kexholm und Sortavala sowie Teile der Fischerhalbinsel und mehrerer kleiner Inseln im Finnischen Meerbusen; Zurückverlegung der Grenze nach Westen im Bezirk von Kamdalakscha und Verpachtung der Halbinsel Hanko (Hango) mit den anliegenden Inseln an die Sowjetunion zur Errichtung eines Marinestützpunktes. Außerdem mußte sich Finnland verpflichten, jeder gegen sie Sowjetunion gerichteten Koalition fernzubleiben 12).
Ein anderes Unternehmen war die Einverleibung der baltischen Staaten. Sie begann mit der Mitteilung Molotows an den estnischen Gesandten, daß die Sowjetunion die Souveränität Estlands über dessen Küstengewässer nicht mehr anerkennen könne und den Schutz des Wasserraumes selber übernehmen würde (19. September 1939). Anlaß dazu war die Flucht eines im Revaler Hafen internierten polnischen U-Bootes. Noch am gleichen Tag erschienen in den estnischen Hoheitsgewässern sowjetische Seestreitkräfte, die mehrere Zwischenfälle verursachten. Sowjetische Flugzeuge begannen, estnisches Staatsgebiet zu überfliegen. Kurz darauf forderte die Sowjetunion die Genehmigung zur Errichtung von Stützpunkten an mehreren Stellen der estnischen Küste, vor allem in Reval und Pernau, ££yie den Abschluß eines militärischen Bei-Standspaktes (23. September 1939). Sollte Estland diesen Forderungen nicht nachkommen, erklärte Molotow dem estnischen Außenminister, müßte sie die Sowjetunion mit Gewalt durchsetzen. Was blieb — angesichts der sowjetischen Militärmacht — Estland anderes übrig, als den gewünschten Beistandspakt zu unterzeichnen (28. September 1939). Er räumte der Sowjetunion auch das Recht ein, auf den Inseln Osel, Dagö und in Baltischport Marine-stützpunkte zu errichten und für die Luftwaffe einige Flugplätze zu bauen. Ebenso durfte die Sowjetunion im Bereich der Stützpunkte eine begrenzte Anzahl von Truppen unterhalten. Die Forderung nach Stützpunkten in Reval und Pernau hatte die Sowjetunion fallengelassen.
Auf ähnliche Weise verhandelte die Sowjetunion auch mit Lettland und Litauen. Der sowjetisch-lettische Pakt (5. Oktober 1939) enthält die Vereinbarung zur Errichtung von Marinestützpunkten in Libau und Windau und eines Stützpunktes für Küstenartillerie. Der Beistandspakt mit Litauen (10. Oktober 1939) sieht die Erweiterung Litauens um das bis dahin zu Polen gehörende Wilna-Gebiet vor und die Errichtung von Land-und Luftstützpunkten zur gemeinsamen Verteidigung der litauischen Staatsgrenzen
Damit war es für die sowjetischen Streitkräfte möglich, in die baltischen Staaten ihren Fuß zu setzen. Dank der militärischen Präsenz und einer bedrohlichen Streitmacht im Hintergrund fiel es der Sowjetunion im Sommer des nächsten Jahres nicht schwer, auch den Rest der Selbständigkeit der baltischen Staaten zu liquidieren. Der Vorwurf von Provokationen, Vertragsbruch und einer gegen die Sowjetunion gerichteten Politik gipfelte schließlich in einem Ultimatum, das nichts weniger als das Einverständnis der baltischen Staaten zu einem Einmarsch sowjetischer Truppen verlangte. Vom 15. Juni an wurden Litauen, Lettland und Estland innerhalb weniger Tage besetzt. Unter dem Schutz sowjetischer Besatzungstruppen erfolgte dann die Bildung von volksdemokratischen Regierungen, die Abhaltung von Einheitsblockwahlen und schließlich die Umwandlung in Sowjetrepubliken. Mit ihrer Eingliederung in die Sowjetunion auf der VI. Tagung des Obersten Sowjets (Anlang August 1940) hatte die kurze Existenz selbständiger baltischer Staaten ihr Ende gefunden Auf der gleichen Tagung des Obersten Sowjets konnte die Sowjetunion auch ihre territorialen Interessen in Südosteuropa unter Dach und Fach bringen: Bessarabien wurde in Form einer neu gebildeten Moldauer Sozialistischen Sowjetrepublik der Sowjetunion angegliedert, die Nördliche Bukowina der ukrainischen Unionsrepublik einverleibt. Molotow hatte bereits am 23. Juni 1940 den deutschen Botschafter in Moskau wissen lassen, daß die Lösung der Bessarabienfrage keinen weiteren Aufschub gestatte, daß die Sowjetunion auch die Bukowina beanspruche (sie begnügte sich dann mit ihrem nördlichen Teil) und daß man entschlossen sei, Gewalt anzuwenden, falls die rumänische Regierung eine Einigung ablehne. Molotow konnte sich diese Sprache leisten, weil an der sowjetischen Westgrenze zu diesem Zeitpunkt an die 100 sowjetische Divisionen standen, während sich das Deutsche Reich wegen des Frankreich-feldzuges im Osten mit schwachen Verbänden begnügen mußt Juni 1940 den deutschen Botschafter in Moskau wissen lassen, daß die Lösung der Bessarabienfrage keinen weiteren Aufschub gestatte, daß die Sowjetunion auch die Bukowina beanspruche (sie begnügte sich dann mit ihrem nördlichen Teil) und daß man entschlossen sei, Gewalt anzuwenden, falls die rumänische Regierung eine Einigung ablehne. Molotow konnte sich diese Sprache leisten, weil an der sowjetischen Westgrenze zu diesem Zeitpunkt an die 100 sowjetische Divisionen standen, während sich das Deutsche Reich wegen des Frankreich-feldzuges im Osten mit schwachen Verbänden begnügen mußte. Drei Tage später erhielt dann Rumänien ein entsprechendes Ultimatum, das es — auf Anraten der Reichsregierung — annahm (28. Juni 1940). Noch am gleichen Tage überschritt die Rote Armee die rumänische Grenze 15). Viel Zeit hatte sich Stalin beim Einstreichen der Gewinne aus seinem Pakt mit Hitler nicht gelassen.
Auch nach dem deutschen Angriff (22. Juni 1941) fand die Sowjetunion noch die Kraft, gemeinsam mit Großbritannien Persien zu besetzen (25. August 1941). Der Zweck dieser Aktion lag in der Absicht, Deutschland daran zu hindern, Persien als südliche Operationsbasis gegen die Sowjetunion zu benutzen, ihm den Zugriff auf die Ölfelder zu verwehren und für die westlichen Alliierten einen Nachschubweg vom Persischen Golf zum Kaspischen Meer zu erschließen.
Die große Stunde der sowjetischen Hegemonialpolitik schlug jedoch mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Nachdem sich das Kriegsglück gewendet hatte, war es der Sowjetunion in einer enormen Anstrengung, die auch dann imponierend bleibt, wenn man die westlichen Pacht-und Leih-Lieferungen in Rechnung stellt 16), gelungen ihre Streitkräfte laufend zu verstärken und entsprechend auszurüsten. Sie zählten zum Kriegsende 11365000 Mann 17) und hielten — die balti-sehen Staaten nicht mitgerechnet — 16 Länder in Europa und Asien ganz oder teilweise besetzt. Flächenmäßig handelte es sich dabei um rund drei Millionen Quadratkilometer. Allein in Europa hatte die Sowjetunion ein Gebiet von 475300 qkm mit 24 Millionen Einwohnern annektiert und kontrollierte darüber hinaus weitere sieben Staaten (einschließlich der DDR) mit einer Fläche von 1019200 qkm und 91, 9 Millionen Einwohnern 18).
Auch wenn die Sowjetunion ihre Streitkräfte bis zum Jahre 1948 auf 2874000 Mann demobilisierte und sich aus einigen der von ihr besetzten Staaten wieder zurückgezogen hat 19), verbleibt ihr, vor allem in Ost-, Südost-und Mitteleuropa, ein Hegemonialbereich, der in der neueren Geschichte seinesgleichen sucht „Die siegreiche Offensive der sowjetischen Streitkräfte", so heißt es in einer sowjetischen Darstellung dieser Vorgänge....... schuf günstige Bedingungen für die Aktivierung der revolutionären Kräfte, für demokratische Umgestaltung und für die Herausbildung der volks-demokratischen Ordnung in mehreren Staaten Europas und Asiens." 20)
Obwohl die Sowjetunion ihren neuen Hegemonialbereich keineswegs allein durch Streitkräfte gesichert hat — seine innere Umstrukturierung im Sinne der Angleichung an die eigene politische, ökonomische und soziale Struktur (Sowjetisierung), wirtschaftliche Verflechtung und Bündnisverträge erscheinen hier als mindestens ebenso wichtig —, bleiben die Streitkräfte bis heute die ultima ratio der Herrschaftssicherung.
Mit der Begründung, der imperialistische Westen habe „... Pakte und Blöcke mit klar ausgeprägter antisowjetischer Stoßrichtung...“ 21) gebildet, begann die Sowjetunion ab 1949, ihre Streitkräfte erneut zu vermehren. Sie erreichten bis 1955 einen Stand von 5763000 Mann, der wegen der atomaren Waffenentwicklung bis 1958 wieder auf 3623000 reduziert wurde 22). Fast genau den gleichen Umfang, nämlich 3658000 Mann, haben sie auch heute 23) -Die Rolle der sowjetischen Streitkräfte gegenüber den kleineren Warschauer Pakt-Staaten läßt sich folgendermaßen umreißen: Seit dem Einmarsch in die Tschechoslowakei im Jahre 1968 haben sie den gesamten ostmitteleuropäischen Bereich, einschließlich Ungarn, besetzt. Lediglich in Bulgarien und Rumänien sind keine sowjetischen Truppen stationiert. In allen anderen Ländern unterhält die Sowjetunion ihre sogenannten Gruppen der Truppen; und zwar: die Gruppe der Truppen Nord in Polen mit zwei Panzerdivisionen, die Gruppe der Sowjetischen Truppen in Deutschland (GSTD) in der DDR mit zehn Panzerdivi -sionen und zehn motorisierten Schützendivisionen, die Zentralgruppe der Truppen in der Tschechoslowakei mit zwei Panzerdivisionen und drei motorisierten Schützendivisionen sowie die Südgruppe der Truppen in Ungarn mit zwei Panzerdivisionen und zwei motorisierten Schützendivisionen Hinzu kommen entsprechende Luftstreitkräfte und Raketentruppen. Die sowjetischen Seestreitkräfte üben in der Ostsee die Seeherrschaft aus. Das Stärke-verhältnis der sowjetischen Streitkräfte zu den nationalen Streitkräften ist länderweise unterschiedlich und wechselt auch aufgrund der jeweiligen politischen Situation. Außerdem ist die Sowjetunion jederzeit in der Lage, aus ihren drei westlichen Militärbezirken (Baltikum, Weißrußland und Karpaten) innerhalb weniger Tage weitere 33 Divisionen nach Westen zu führen
Die Rechtsgrundlage für die Anwesenheit der sowjetischen Streitkräfte in den Staaten der Verbündeten bilden Truppenstationierungsverträge, durch die der Warschauer Pakt-Vertrag ergänzt worden ist
Auch die Organisationsstruktur des War-schauer Pakts enthält eine Reihe von Elementen, welche die Dominanz der Sowjetunion deutlich machen. So gibt es gemäß Artikel 5 des Warschauer Vertrages ein Vereintes Oberkommando für integrierte Streitkräfte. Ihm unterstehen bestimmte Einheiten in der Sowjetunion, alle sowjetischen Streitkräfte, die außerhalb der Sowjetunion in Warschauer Paktstaaten stationiert sind, die gesamte Nationale Volksarmee der DDR (seit 1958) sowie gewisse Kontingente aus anderen Bündnisländern (seit 1969). Der Oberbefehlshaber ist stets ein sowjetischer Marschall, der gleichzeitig den Posten eines der drei Ersten Stellvertreter des sowjetischen Verteidigungsministers bekleidet (jetziger Amtsinhaber: Marschall V. G. Kulikow).
Zum Vereinten Oberkommando gehören ein gemeinsamer Generalstab (Chef des Stabes und gleichzeitig Erster Stellvertreter des Oberbefehlshabers: Armeegeneral A. J. Gribkow) und ein Militärrat, dessen Vorsitz wiederum beim Oberbefehlshaber der War-schauer Pakt-Truppen liegt. Auch wenn in diesen Gremien Vertreter nationalen Volks-armeen mitarbeiten, dürfte ihr Einfluß verhältnismäßig gering sein. Die operative Planung für die Streitkräfte in Mitteleuropa erfolgt ohnehin im Verteidigungsministerium der Sowjetunion. Außerdem ist das Vereinte Oberkommando auf die Zusammenarbeit mit den sowjetischen Stäben und Verwaltungen angewiesen. Hingegen ist es dank seiner Aufgaben, die sich vornehmlich auf Koordinierung der allgemeinen Planung, Ausbildung und Kontrolle der Gefechtsbereitschaft erstrecken, sehr wohl in der Lage, auf eine Vereinheitlichung der nationalen Bündnisarmeen nach sowjetischem Vorbild hinzuarbeiten. In der gleichen Richtung wirkt die Standardisierung der Waffen, für die ein Komitee zur Koordinierung der Waffentechnik sorgt. Je mehr die nationalen Bündnisarmeen mit modernen Waffen ausgerüstet werden, und das ist seit Mitte der sechziger Jahre der Fall, desto stärker entwickelt sich auch auf diesem Wege der sowjetische Einfluß. Hoffnungen der Volksdemokratien, daß ihnen eine Reorganisation der Organisationsstruktur des Warschauer Paktes (März 1969) mehr Mitsprache im militärischen Entscheidungsprozeß bringen würde, haben sich nicht erfüllt.
Zur Hegemonialfunktion der sowjetischen Streitkräfte gehört auch ihr Einfluß auf die Außenpolitik der kleineren Bündnispartner. Mit Ausnahme Rumäniens, das manchmal eigene Wege geht, steht die Außenpolitik der Bündnispartner ganz im Dienste der Sowjetunion: Bei Abstimmungen in der UNO, auf multinationalen Konferenzen, beim Einbringen außenpolitischer Initiativen, bei Waffen-exporten, Militärhilfe und Handelsbeziehungen verfügt hier die Sowjetunion über eine sichere Klientel formal souveräner Staaten, auf die sie sich, trotz aller Spannungen und Differenzen im einzelnen, verlassen kann. Der außenpolitische Nutzen, den die Sowjetunion daraus zieht, ist beträchtlich.
Wann immer in der Vergangenheit die Sowjetunion den Eindruck hatte, daß ihr Hegemonialbereich im östlichen Mitteleuropa gefährdet sei, hat sie vom Einsatz militärischer Gewaltmittel Gebrauch gemacht. Die jedermann bekannten Vorgänge des 17. Juni 1953 in der DDR, der Ungarischen Revolution im Oktober 1956 und der Besetzung der Tschechoslowakei im August 1968 lassen keinen Zweifel daran aufkommen, daß es die Sowjetunion gegebenenfalls bei leeren Drohungen nicht bewenden läßt. Auch bei der gegenwärtigen Krise in Polen versäumt sie es nicht, ihre Entschlossenheit zu demonstrieren, die Kontrolle ihres Hegemonialbereichs notfalls durch Einsatz von Streitkräften aufrechtzuerhalten.
Um Mißverständnisse zu vermeiden: Selbstverständlich ist von der Hegemonialfunktion der sowjetischen Streitkräfte ihre Sicherheitsfunktion, das heißt die Verteidigung des sowjetischen Machtbereichs nach außen, nicht zu trennen. Beides geht Hand in Hand. Der Beweis, daß bei einem geringeren Rüstungsstand der Sowjetunion die Vereinigten Staaten ihre in den fünfziger Jahren propagierte „rollback" -Politik nicht vielleicht doch zu realisieren versucht hätten — die ungarische Revolution von 1956 hätte dazu eine Gelegenheit geboten —, läßt sich zwar nicht führen. Fest steht jedenfalls, daß der sowjetische Hegemonialbereich im östlichen Mitteleuropa von den Westmächten bis heute de facto akzeptiert worden ist.
Aus europäischer Perspektive wird leicht übersehen, daß die Sowjetunion den Zweiten Weltkrieg auch zur Erweiterung ihres Macht-und Einflußbereiches im Fernen Osten wahrgenommen hat. Die früher zu Japan gehörenden Kurilen und Südsachalin sind bis heute Bestandteil des sowjetischen Staatsgebietes, obwohl sich die Sowjetunion anläßlich der Beendigung des Kriegszustandes mit Japan (19. Oktober 1956) zur Rückgabe der Kurilen bereit erklärt hat. Aus Nordkorea haben sich die sowjetischen Streitkräfte (sie hatten es bis zum 38. Breitengrad besetzt) zwar wieder zurückgezogen, doch reichte ihre dreijährige Anwesenheit aus, um unter ihrem Schutz mit Hilfe der Koreanischen Kommunistischen Partei in diesem Land eine Volksdemokratie zu etablieren (9. September 1948).
Auch in der sowjetischen Außenpolitik gegenüber China haben die sowjetischen Streitkräfte eine wichtige Rolle gespielt. Stalin hatte auf der Konferenz in Jalta von Churchill und Roosevelt die Anerkennung des Status quo in der Äußeren Mongolei, die Verpachtung von Dairen als Handelshafen, Port Arthur als Flottenstützpunkt und eine gemeinsame sowjetisch-chinesische Verwaltung der Ostchinesischen und der Südmandschurischen Einsen-bahn zugestanden bekommen. Nach der Kriegserklärung der Sowjetunion an Japan (8. August 1945) marschierten sowjetische Truppen in die Mandschurei ein und besetzten die gesamte Provinz innerhalb von dreizehn Tagen. Auf Grund eines Vertrages mit der chinesischen Nationalregierung in Tschunking (14. August 1945) hatte sich die Sowjetunion verpflichtet, die Mandschurei spätestens drei Monate nach der japanischen Kapitulation wieder zu räumen. Die letzten japanischen Truppen haben am 24. Oktober 1945 kapituliert. Der Abzug der sowjetischen Streitkräfte verzögerte sich jedoch dreimal, bis zum 3. Mai 1946.
Begründet wurde die längere Anwesenheit mit Transportschwierigkeiten und damit, daß sich auch amerikanische Truppen in China aufhielten. In Wirklichkeit dürften zwei Gründe für das längere Verbleiben maßgeblich gewesen sein: einmal der Abschluß der Demontage (die Mandschurei war während des Krieges von den Japanern stark industrialisiert worden), die ungefähr mit 6 Milliarden Dollar bewertet wird, zum anderen das Einsikkern von chinesischen Kommunisten, zu denen die Sowjetunion offiziell keinerlei Beziehungen unterhielt. Unter dem Schutz der sowjetischen Streitkräfte konnten die chinesischen Kommunisten sowohl die von den Japanern in der Mandschurei zurückgelassenen Waffen übernehmen als auch eine von ihnen kontrollierte zivile Verwaltung errichten 2’). Daß dem sowjetischen Versuch, in China Einfluß zu gewinnen, auf die Dauer kein Erfolg beschieden war, gehört zu den Wechselfällen der Geschichte. Immerhin besaß die Sowjetunion in dem ab 1949 kommunistisch regierten China bis in die Mitte der fünfziger Jahre einen von ihr ziemlich abhängigen Bundesgenossen (Vertrag vom 14. Februar 1950), der für ihre Außenpolitik von beträchtlichem Nutzen war. Der Beitrag, den die sowjetischen Streitkräfte in der ersten Nachkriegsphase dazu geleistet haben, sollte, nur weil die Konstellation heute anders aussieht, nicht vergessen werden.
IV. Die Bedeutung der Streitkräfte für den Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht
Seit den fünfziger Jahren befindet sich die Sowjetunion auf dem Wege zur Weltmacht. Diesen Weg ermöglichten ihr vor allem militärische Anstrengungen. Bereits im Sommer 1949 konnte sie den erfolgreichen Test einer Kernspaltungsbombe verzeichnen. Im August 1953 führten die Versuche zur Herstellung einer Kernverschmelzungsbombe zu einem positiven Ergebnis. Am 26. August 1957 meldete TASS den Start einer mehrstufigen Interkontinentalrakete und am 4. Oktober des gleichen Jahres erreichte auch der erste Satellit seine Umlaufbahn. Der Westen erlebte den soge-nannten Sputnik-Schock.
Die neue Waffentechnik beeinflußte auch die sowjetischen Vorstellungen vom Kriege. Auf dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (1956) erklärte Chruschtschow, daß sich zwar nicht der Charakter des Imperialismus verändert habe, dieser sei immer noch kriegslüstern, wohl aber hätten sich die Kräfteverhältnisse in der Welt im Vergleich zur Zeit Lenins geändert. Die „friedliebenden Kräfte", angeführt von der Sowjetunion, seien nunmehr so stark, daß es eine «schicksalhafte Unvermeidbarkeit von Kriegen" nicht mehr gäbe. Fünf Jahre später hat Chruschtschow seine Behauptung differenziert. Er meinte (in einer Rede vor Mitgliedern der Parteihochschule am 6. Januar 1961), daß keineswegs alle, sondern nur bestimmte Kriege, nämlich die internationalen (nach westlicher Terminologie der sogenannte general war) vermeidbar wären. Nationale Befreiungskriege müsse es jedoch so lange geben, so lange Imperialismus und Kolonialismus existierten. Mit dieser Doktrin legitimiert die So-wjetunion die Unterstützung von Guerilla-Be-wegungen in der Dritten Welt bis heute. Zur politischen Bewältigung der neuen Waffen-technik und einer realistischen Einschätzung der von ihr ausgehenden Wirkungen benötigte die Sowjetunion einige Jahre. Erst in der Auseinandersetzung mit China konnte sie sich zu der Auffassung durchringen, daß sich die Atombombe nicht nach dem Klassenprin-Z 1P richte, sondern jeden vernichte, der in den Igreich ihrer Zerstörungskraft geriete
Welche Verwendung findet nun die neue Waffentechnologie in der Außenpolitik der Sowjetunion und welche Erfolge vermochte sie mit ihr zu erzielen?
Von der Mitte der fünfziger bis Anfang der sechziger Jahre entwickelte sich die Sowjetunion zum (ebenbürtigen) Kontrahenten der Vereinigten Staaten in der Weltpolitik. Die auf dem XX. Parteitag der KPdSU (14. — 25. Februar 1956) verkündete Koexistenz-Theorie bedeutete bekanntlich keineswegs Bewahrung des Status quo, sondern „günstigere Kampfmöglichkeiten" zur Ausweitung des sozialistischen Lagers, wenngleich unter Vermeidung eines großen Krieges, so doch mit Deckung und unter Einsatz militärischer Mittel als Drohung. Dazu boten ihr drei weltpolitische Krisen Gelegenheit: eine Nah-Ost-Krise, eine Berlin-Krise und die Kuba-Krise.
Die Nah-Ost-Krise Die Sowjetunion nutzte den arabischen Sozialismus, der auch starke sozialrevolutionäre Züge aufwies, indem sie sich für ihn zunächst propagandistisch engagierte, dann ökonomisch durch den Ankauf ägyptischer Produkte (Baumwolle), die im Westen nicht absetzbar waren, und schließlich durch die Lieferung von Waffen.
Da sie selber — zumindest offiziell — als Waffenlieferant nicht in Erscheinung treten wollte, veranlaßte sie die Tschechoslowakei, mit Ägypten ein entsprechendes Abkommen zu schließen. Im Frühjahr 1956 meldete das sowjetische Außenministerium Interesse an Mitsprache im Nahen Osten an. Als Israel, Großbritannien und Frankreich im Schatten der ungarischen Revolution Ende Oktober 1956 in Ägypten militärisch eingriffen — es ging um die Wiederherstellung der Kontrolle über den Suez-Kanal —, ließ Bulganin die drei Regierungen wissen, daß die Sowjetunion fest entschlossen sei, die Aggressoren durch Gewaltanwendung zu zerschlagen und den Frieden wiederherzustellen. Außerdem richtete er an Großbritannien die Frage, was es wohl dazu sagen würde, wenn es von einem stärkeren Land etwa mit Raketenwaffen angegriffen werden sollte (Schreiben vom 5. November 1956). Gleichzeitig schlug Bulganin den Vereinigten Staaten vor, gegen die Aggressoren militärisch gemeinsam vorzugehen. Seine Begründung lautete, beide Länder wären Groß-11 machte und besäßen „alle modernen Waffengattungen, einschließlich Atom-und Wasserstoffwaffen" Sie trügen für die Wiederherstellung des Friedens im Nahen Osten deshalb eine besondere Verantwortung.
Die Vereinigten Staaten haben diese Aufforderung abgelehnt und zur Regelung des Nah-Ost-Problems auf die Vereinten Nationen verwiesen. Immerhin dürfte unter den zahlreichen Gründen, die sie davon abgehalten haben, die ägyptische Aktion ihrer westlichen Verbündeten zu unterstützen, auch die Befürchtung eine Rolle gespielt haben, in einen Konflikt mit der anderen Atommacht zu geraten. Die sowjetische Führung, so geht es jedenfalls aus ihren offiziellen Äußerungen hervor, war fest davon überzeugt, durch die Drohung mit militärischer Gewalt den Frieden im Nahen Osten wiederhergestellt und den Ausbruch eines neuen Weltkrieges verhindert zu haben
Der Nah-Ost-Konflikt schwelte jedoch weiter, und die Vereinigten Staaten wurden in zunehmendem Maße in ihn hineingezogen. Bereits die Linksschwenkungen in Ägypten und Syrien und der Zusammenschluß der beiden Staaten zur Vereinigten Arabischen Republik wirkten auf die Westmächte irritierend und ließen sie gegen die sowjetische Nah-Ost-Politik mißtrauisch werden. Durch den Sturz der prowestlichen Monarchie im Irak (14. Juli 1958) wurde der Bagdad-Pakt in seinem Zentrum getroffen. Noch am gleichen Tage ersuchte der libanesische Präsident Chamoun die Vereinigten Staaten um die Entsendung von Truppen. Zwei Tage später erging ein gleiches Ersuchen seitens Jordaniens an Großbritannien. Beiden Ersuchen wurde stattgegeben. Gegen dieses Vorgehen der Westmächte erhob die Sowjetunion Protest. Sie erklärte, daß sie gegenüber Ereignissen, die in einem ihr benachbarten Raum eine Gefahr heraufbeschwören würden, nicht teilnahmslos bleiben könne-, sie hielt im Kaukasus und in Turkestan Manöver ab. überdies machte Chruschtschow — wieder — darauf aufmerksam, daß sowohl die Vereinigten Staaten als auch die Sowjetunion über Atom-und Wasserstoffbomben verfügen würden; er verlangte, um einen Krieg zu vermeiden, die sofortige Einberufung einer Gipfelkonferenz, an der auch Macmillan, de Gaulle und der indische Ministerpräsident Nehru teilnehmen sollten. Auch wenn das Projekt einer Gipfelkonferenz vor allem am Desinteresse der Amerikaner scheiterte, so zeigt es doch, worauf die Sowjetunion hinaus wollte. Ihr Ziel hieß Ebenbürtigkeit mit der anderen Weltmacht.
Die Berlin-Krise Ende der fünfziger Jahre wechselten die Initiativen der sowjetischen Außenpolitik auf einen anderen Schauplatz. Grund dafür war der Entschluß der Vereinigten Staaten, angesichts der sowjetischen Waffenentwicklung die europäische NATO-Front zu verstärken. Sie beschlossen, dem Oberbefehlshaber in Europa Nuklearwaffen und Mittelstreckenraketen zur Verfügung zu stellen, wobei die Sprengköpfe selbst unter amerikanischem Verschluß bleiben sollten (19. November 1957). Als sich im März 1958 abzeichnete, daß in dieses Programm auch die Bundesrepublik einbezogen wird, begann die sowjetische Außenpolitik fieberhafte Aktivitäten zu entfalten -Noten-wechsel, Reden, Presseerklärungen, Initiativen im Sicherheitsrat der Vereinigten Nationen, Abrüstungsvorschläge sollten die Realisierung der Aufrüstung verhindern. Vermutlich versuchte Chruschtschow sogar, die Chinesen zu überreden, sich in Sachen Atomwaffen ganz auf die Sowjetunion zu verlassen und den — mit sowjetischer Unterstützung begonnenen — Bau einer eigenen Atombombe einzustellen. Auf diese Weise hätte er den Vereinigten Staaten für den Verzicht auf eine Aufrüstung in Europa ein Tauschobjekt anbieten können. Allerdings traf er damit in China auf taube Ohren Als alle Bemühungen, die NATO von ihrem Vorhaben abzubringen, mißlangen, setzte er an der schwächsten Stelle des Westens, in Berlin, an. Die zweite Berlin-Krise begann. Auch sie war nur auf dem Hintergrund von starken, sich möglicherweise dem Westen sogar überlegen fühlenden Streitkräften denkbar, deren angedrohten Einsatz der Gegner auch ernst nehmen mußte. Chruschtschow hatte die Absicht, West-Berlin in eine „selbständige politische Einheit“ umzuwandeln. Aus diesem Grunde sollten die Westmächte innerhalb eines halben Jahres ihre Truppen aus West-Berlin abziehen. Geschähe dies nicht, würde die Sowjetunion mit der DDR einen Friedensvertrag schließen und ihr die Kontrollrechte über die westlichen Militärtransporte nach West-Berlin übertragen. Sollten die Westmächte die dann kontrollierenden DDR-Organe nicht zur Kenntnis nehmen, käme es zur Anwendung von Waffengewalt Im übrigen würde die Sowjetunion jeden Aggressionsakt auf einen beliebigen Teilnehmerstaat des Warschauer Vertrages als einen Überfall auf alle ansehen und entsprechende Maßnahmen ergreifen (sowjetische Note an die USA vom 27. November 1958). Ähnliche Drohungen und Einschüchterungsversuche waren aus Moskau in den nächsten Wochen und Monaten noch häufiger zu hören. Reihum ließ Chruschtschow die europäischen NATO-Staaten wissen, daß er sich im Kriegsfall nicht scheuen würde, jeden von ihnen dem Erdboden gleichzumachen, der auf seinem Territorium amerikanische Stützpunkte geduldet habe
Unmittelbar erreichte Chruschtschow mit seinem Vorgehen in Berlin nichts. Die Berlin-Krise machte die Grenzen deutlich, die jedem Versuch gezogen sind, mittels atomarer Drohung einem gleich gerüsteten Gegner Vorteile abzutrotzen, die den Nerv seiner politischen Lebensinteressen tangieren. Die Präsenz der Westmächte in Berlin hat sich als ein solches Interesse erwiesen. Die Abschreckung funktionierte, und die Sowjetunion mußte sich wieder aufs Verhandeln verlegen. Ähnliches widerfuhr ihr auch in der dritten Krise.
Die Kuba-Krise
Sie begann mit einem zunehmenden Interesse der Sowjetunion an der Zuckerinsel, das nach einem Besuch Mikojans in der Unterzeichnung eines Handels-und Zahlungsabkommens Ausdruck fand (13. Februar 1960), dem ähnliche Verträge mit anderen kommunistisch regierten Ländern folgten. Die Sowjetunion verpflichtete sich, von Kuba Zucker zu kaufen; ihrerseits lieferte sie Rohöl, Maschinen, Industrieanlagen und andere Güter. Im Sommer 1960 traf in Kuba die erste Schiffsladung mit Gewehren aus der Tschechoslowakei ein. Andere Waffenlieferungen folgten. Chruschtschow erklärte, die sowjetischen Streitkräfte seien, „bildlich gesprochen", notfalls auch imstande, von der Sowjetunion aus dem kubanischen Volke mit Interkontinental-raketen Feuerschutz zu geben (9. Juli 1960). Äus dieser Erklärung eine Interventionsgarantie zu konstruieren, gelang Castro jedoch nicht. Gegen Jahresende unterzeichnete Moskau mit Kuba weitere Abkommen, in denen die Abnahmequote für Zucker erhöht wurde, und ein Kommunique versprach den Kubanern, wenn auch in etwas schwacher Form, daß Beistand ein „w ichtiger Aspekt" der sowjetischen Hilfe sei (19. Dezember 1961).
Trotz einer zeitweisen Verschlechterung der sowjetisch-kubanischen Beziehungen in der ersten Jahreshälfte 1962 dürften die ersten Überlegungen über Möglichkeiten und Risiken eines militärischen Engagements in Kuba in der sowjetischen Führung im April 1962 begonnen haben. Der Entschluß, in Kuba Mittel(MRBM) und Langstreckenraketen (IRBM) zu stationieren, ist dann wohl im Mai/Juni gefallen — wahrscheinlich ohne vorhergehende Abstimmung mit Castro. Obwohl sich die Sowjetunion die Verfügungsgewalt über die Waffen und die Bedienungsmannschaft vorbehielt, gab Castro sein Einverständnis. Einige SAM-Luftabwehrraketen wurden bereits Ende August in Stellung gebracht; Anfang September trafen die ersten Boden-Boden-Raketen ein. Insgesamt brachten sowjetische Frachter 42 Mittelstreckenraketen, 42 Düsenbomber (11-28) und rund 20 000 Mann Militärpersonal nach Kuba.
Als Kennedys „Quarantäne" am 23. Oktober in Kraft trat, waren jedoch erst zwei MRBM einsatzbereit. Die letzten Schiffe der sowjetischen Transportflotte mußten umkehren, so daß weitere sechs MRBM und sämtliche vorgesehenen 16 IRBM ihre kubanischen Bestimmungshäfen nicht mehr erreichten Das Unternehmen war gescheitert.
Wäre es geglückt, hätte die Sowjetunion mit einem Schlag das strategische Übergewicht der amerikanischen Raketenrüstung ausgleichen können, das Berlin-Problem hätte sich in einem neuen Licht dargestellt und die Einflußmöglichkeiten in Lateinamerika wären um ein Vielfaches gestiegen. Doch wiederum wurde deutlich, daß die Abschreckung funktionierte und sich durch atomare Drohungen gegen einen gleich gerüsteten Gegner unmittelbar greifbare Vorteile nicht erzielen lassen. Wohl ergaben sich für die Sowjetunion aus der Demonstration ihres Waffenarsenals langfristige Vorteile.
Zieht man im Sinne unserer Frage, welche Bedeutung die Streitkräfte in der Außenpolitik der Sowjetunion haben, die Schlußfolgerung, so ist festzustellen, daß es der Sowjetunion innerhalb eines knappen Jahrzehnts gelungen ist, aus ihrer Begrenzung auf den osteuropäisch-nordasiatischen Raum herauszutreten und sich zum weltpolitischen Gegenspieler der Vereinigten Staaten zu profilieren. Im Nahen Osten ist sie seit der Suez-Krise (1956) der große Rivale geblieben. In Europa vermittelte die Berlin-Krise (1958— 1961/62) den westlichen Staaten den nachhaltigen Eindruck, daß in absehbarer Zeit an eine Wiedervereinigung Deutschlands nicht zu denken und zumindest eine De-facto-Anerkennung der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands kaum zu umgehen sein dürfte. Die Genfer Außenministerkonferenz von 1959 war denn auch die letzte Zusammenkunft der Siegermächte, auf der die Regelung der Deutschlandfrage einen Tagesordnungspunkt bildete. Auch die Kuba-Krise endete für die Sowjetunion keineswegs nur mit einem (vorübergehenden) Prestigeverlust. Es gelang ihr, ihre Beziehungen zu Kuba zu festigen und seine Vasallität, wie sich später herausstellte, für weitere Expansionen zu nutzen. In den sich ebenfalls aus der KubaKrise herausentwickelnden Rüstungskontrollverhandlungen tritt die Sowjetunion gegenüber den Vereinigten Staaten als einziger ebenbürtiger und gleichberechtigter Kontrahent auf. Kurz: der außenpolitische Einsatz ihrer Streitkräfte hat ihr zum Status einer Welt-macht verholfen.
V. Zur Bedeutung der Streitkräfte im Zeichen sowjetischer Weltmachtpolitik
Seitdem die Sowjetunion als Weltmacht agiert, ist die Bedeutung der Streitkräfte in der sowjetischen Außenpolitik um ein Vielfaches gestiegen. In dem gleichen Maße, in dem die Außenpolitik globaler, vielschichtiger und mehrbödiger geworden ist, rückte auch der militärische Faktor in den Vordergrund. Die klassische Funktion der Verteidigung der Sowjetunion gegenüber dem kapitalistischen Westen hat durch die notwendig gewordene Sicherung gegenüber China einen neuen Aspekt gewonnen. Die Hegemonialfunktioh im ostmitteleuropäischen Machtbereich ist — wie die Vorgänge in Polen zeigen — problematischer geworden. Schutz und Unterstützung von revolutionären Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt erfordern ständig wachsende Mittel und Anstrengungen. In Afghanistan müssen die sowjetischen Streitkräfte gegen die islamischen Guerillas kämpfen und die außenpolitische Expansion in Afrika erfordert den Ausbau der Seestreitkräfte, einer Waffengattung, die bisher vernachlässigt war. Auch durch die Gleichzeitigkeit von Rüstungskontrolle und die Aufrüstung ist die sowjetische Militärpolitik im letzten Jahrzehnt nicht gerade übersichtlicher geworden. Um die Fülle von Planungen, Verhandlungen, Verträgen, Maßnahmen, Einsätzen und Aktivitäten etwas zu ordnen, soll im letzten Abschnitt unsere Untersuchung nicht mehr der Chronologie, sondern der Geographie folgen. Auf diese Weise tritt auch der globale Charakter der sowjetischen Außenpolitik zutage.
China Seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre häuften sich an der chinesisch-sowjetischen Grenze die Zwischenfälle. Ein sowjetischer Autor behauptet, daß allein im Jahre 1967 die Chinesen die sowjetische Grenze etwa zwei-tausendmal verletzt hätten. Die Möglichkeit eines sowjetisch-chinesischen Krieges wurde von beiden Seiten nicht mehr ausgeschlossen. Im Frühjahr 1969 ereignete sich der dramatische Schußwechsel am Ussuri, bei dem 31 sowjetische Soldaten getötet und 14 verletzt wurden (2. März 1969). Wahrscheinlich sind die meisten Grenzprovokationen von den Chinesen ausgegangen. Die Sowjetunion versuchte, das Problem auf dem Verhandlungswege zu lösen, gleichzeitig drohte sie mit Krieg.
Zu den Signalen, die den Ernst der Drohung unterstreichen sollten, gehörte ein von ihr arrangierter Zwischenfall an der Grenze zur Provinz Sinkiang (13. August 1969), die Übertragung des Kommandos im fernöstlichen Militärbezirk an den General der Raketentruppen V. F. Tolubko und Sondierungen sowjetischer Diplomaten in den westlichen Hauptstädten, wie man sich im Falle eines sowjetischen begrenzten Präventivschlages auf China verhalten würde. Schließlich erschien in den Londoner „Evening News" (vom 16. September 1969) ein Artikel des Moskauer Journalisten Victor Louis, der auf die Möglichkeit hinwies, daß die Sowjetunion — ähnlich wie in der Tschechoslowakei — auch in China intervenieren könnB te. Nach diesen Warnschüssen hielt es China für ratsam, sich an den Verhandlungstisch zu begeben. Das sowjetisch-chinesische Verhältnis wurde auf der Staatsebene zunächst einmal „normalisiert".
Haben damit die sowjetischen Kriegsdrohungen tatsächlich den gewünschten Erfolg gehabt? Selbst wenn man davon ausgeht, daß China über kurz oder lang seine durch die Kulturrevolution herbeigeführte außenpolitische Isolierung ohnehin aufgegeben hätte und wieder in die internationale Politik zurückgekehrt wäre, so war es für die sowjetische Politik sicher kein Vorteil, diesen Vorgang zu beschleunigen. China suchte für den Fall eines sowjetischen Angriffs nach Bundesgenossen. Es arrangierte sich in der Grenzfrage mit der Sowjetunion und näherte sich gleichzeitig den Vereinigten Staaten Damit traf es eine Entscheidung, welche die bipolare Struktur einer von zwei Weltmächten dominierten internationalen Politik auflöst und einer von drei Weltmächten geprägten Konstellation zustrebt. Daß sich für die Sowjetunion dieses Problem auf Dauer mit noch mehr Rüstung lösen ließe, ist wenig wahrscheinlich.
Indochina Je mehr sich die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und China verschlechterten, desto wichtiger wurde für die Sowjetunion das Engagement in Indochina. Während des Vietnam-Krieges haben beide Mächte versucht, im Kampf um die Führung im Weltkommunismus und um ihre Rolle in der Dritten Welt Nordvietnam auszunutzen. Obwohl die chinesische Militärhilfe (nach chinesischen Angaben) doppelt so hoch wie die sowjetische war, ist es der Sowjetunion vor allem nach der Beendigung des Vietnam-Krieges gelungen, den Chinesen in Vietnam das Wasser abzugraben. Die Einstellung jedweder chinesischer Hilfe, der Abzug der chinesischen Ingenieure (1978) und schließlich die chinesische „Strafaktion''(1979) ermöglichten es der Sowjetunion, aus Vietnam eine Art asiatisches Kuba zu machen. Hanoi wurde Mitglied des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe und schloß mit der Sowjetunion einen Freundschafts-und Kooperationsvertrag (3. November 1978), der auch eine militärische Beistandsverpflichtung enthält.
Die sowjetische Militärhilfe für Vietnam betrug (ohne Wirtschaftshilfe) in den Jahren 1965— 1975 insgesamt 5 Milliarden Dollar. Sie wird heute zwischen 0, 6 Milliarden (amerikanische Angaben) und 1, 1 Milliarden (thailändische Angaben) geschätzt. In Vietnam, Laos und Kambodscha sind heute etwa 6 000— 8 000 sowjetische Berater tätig. Die Sowjetunion nutzt in Vietnam die Häfen Da Nang und Cam Ranh Bay, die von den Amerikanern mit modernen Einrichtungen ausgestattet worden sind, als Flottenbasen. In Kambodscha kontrolliert sie den Hafen Kompong Som. Die Operationsmöglichkeiten der sowjetischen Seestreitkräfte im Südchinesischen Meer werden durch die günstige Lage dieser Häfen, die sich ungefähr auf halbem Wege zwischen den sowjetischen Stützpunkten an der Ostküste Indiens und Wladiwostok befinden, wesentlich verbessert. Die Zahl der Besuche sowjetischer Kriegsschiffe in vietnamesischen Häfen hat sich im letzten Jahr verdoppelt. Die Region wird von sowjetischen Aufklärungsflugzeugen vom Typ Tu-95 überwacht, die auf vietnamesischen Flugplätzen stationiert sind Der politische Nutzen der militärischen Präsenz der Sowjetunion in Indochina liegt in einem gewissen Mitspracherecht in Asien, in der Hebelwirkung gegen China, das gleichzeitig an einer Ausdehnung nach Süden gehindert wird, und nicht zuletzt in der Kontrolle wichtiger Seewege, einschließlich der Straße von Malakka.
Mittlerer und Naher Osten
Eine besonders augenfällige Nutzung militärischer Macht erfolgte im Mittleren Osten, als sowjetische Streitkräfte am 27. Dezember 1979 in Afghanistan einmarschierten. Für den sowjetischen Einmatsch dürften im wesentlichen folgende Gründe maßgeblich gewesen sein: das kommunistische, prosowjetische Regime Amin-Karmal war durch den wachsenden Widerstand der islamischen Glaubens-kämpfer gefährdet. Bei seinem Sturz wäre möglicherweise auch die enge wirtschaftliche Verflechtung mit der Sowjetunion aufgelöst worden. Ihr Wert lag vornehmlich in der Lieferung afghanischen Erdgases — bis 1985 sollten es 70 Milliarden Kubikmeter sein —, das in der Sowjetunion zur Energieversorgung der transkaukasischen und zentralasiatischen Republiken verwendet wird. Vielleicht hoffte sie auch, auf diese Weise ein übergreifen der „Reislamisierungsbewegung" auf ihre eigene islamische Bevölkerung besser verhindern zu können. Schließlich lag Afghanistan in der alten strategischen Stoßrichtung des zaristischen Rußland nach den „warmen Meeren", die von der Außenpolitik der Sowjetunion allenthalben weiterverfolgt wird. Mit modernen Waffen und 85 000 Soldaten, die nach Afghanistan gebracht wurden, sowie entsprechenden Truppenkonzentrationen an der sowjetisch-afghanischen Grenze ließ sich das Unternehmen bewerkstelligen
Mit der Besetzung hat die Sowjetunion nicht nur einige akute Probleme „gelöst", sondern auch ihre Ausgangslage für weitere Expansionen — sollte sie solche beabsichtigen — verbessert. Der Iran könnte jetzt von zwei Seiten angegriffen werden; die Straße von Hormuz, durch die 60% des für Westeuropa bestimmten Ols befördert werden, ist näher gerückt (Luftlinie bis Afghanistan 700 km); auch der Jemen und Äthiopien lassen sich besser erreichen. Vom afghanischen Sprungbrett aus ließe sich aber auch ein unter sowjetischer Kontrolle stehender Küstenstaat Beludschistan mit sowjetischen Flotten-und Luftstützpunkten am Arabischen Meer ins Leben rufen Spekulationen sind hier kaum Grenzen gezogen.
Im Nahen Osten sind es vor allem folgende Staaten, in denen die militärische Präsenz der Sowjetunion eine Rolle spielt oder gespielt hat: Syrien, der Irak, die beiden Jemen und Ägypten. Daraus ergibt sich, daß die sowjetische Politik dort mit der der Vereinigten Staaten rivalisiert und gegen Israel gerichtet ist.
Ägypten war für die Sowjetunion in dieser Region lange Zeit der wichtigste Verbündete. Entsprechend wurde es auch mit Militärhilfe bedacht. Als sich die Beziehungen der beiden Staaten abkühlten (seit 1974) und die Israelpolitik Sadats zusehens in eine den sowjetischen Interessen entgegengesetzte Richtung lief, stellte die Sowjetunion die Militärhilfe ein. Daraufhin hat Ägypten seinen Freundschaftsund Kooperationsvertrag mit der Sowjetunion (vom 27. Mai 1971) gekündigt (am 15. März 1976).
Die ersten Lieferungen sowjetischer Waffen in den Nahen Osten (Ägypten, Syrien, Jemen) erfolgten im Februar 1956, also noch vor der Suez-Krise. Seitdem wurden sie trotz der sich häufig ändernden Konstellationen über die Jahre hinweg, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität und wechselnden Schwerpunkten, bis in die Gegenwart fortgeführt. Bemerkenswert ist, daß die Sowjetunion auch an Regierungen Waffen lieferte, welche die Kommunistische Partei im eigenen Lande verfolgten. Die sowjetische Militärhilfe ist ein schlagendes Beispiel dafür, daß die sowjetische Außenpolitik zwar ideologisch legitimiert wird, in Wahrheit jedoch imperialen Weltmachtinteressen folgt.
Die Sowjetunion sieht im Nahen Osten eine ihrer Interessensphären. Die Positionen, die sie dort — vor allem durch ihre Militärpolitik — einnimmt, lassen sie wie folgt skizzieren: Zum wichtigsten Partner der Sowjetunion hat sich nach der Kursänderung Ägyptens Syrien entwickelt, über Syrien kann die Sowjetunion Druck auf Israel ausüben und ihr Mitspracherecht im Nahen Osten geltend machen. Syrien befürwortet die Einberufung der Genfer Nah-Ost-Konferenz, steht auf Seiten der PLO und vertritt in der Arabischen Liga einen gegen die konservativen Mitgliedstaaten gerichteten Kurs. Die syrisch-sowjetischen Beziehungen gipfelten im Abschluß eines Freundschafts-und Kooperationsvertrages (8. Oktober 1980), der auch eine Vereinbarung über militärische Zusammenarbeit enthält. Sie lautet: „Die Hohen Vertragschließenden Seiten werden die Zusammenarbeit auf dem militärischen Gebiet auf der Grundlage von entsprechenden Abkommen, die zwischen ihnen abgeschlossen werden, im Interesse der Festigung ihrer Verteidigungsfähigkeit weiterentwickeln.“
Die Sowjetunion hatte Syrien ohnehin in den letzten Jahren aufgerüstet, so daß auch heute schon —von geringfügigen Ausnahmen abgesehen — das gesamte Waffenarsenal der 247 000 Mann starken syrischen Armee sowjetischer Herkunft ist
Auch der Irak ist mit der Sowjetunion durch einen Freundschafts-und Kooperationsver-trag verbunden (9. April 1972). Allerdings ist die sowjetische Position hier schwächer als in Syrien. Die Kommunistische Partei wird im Irak verfolgt (seit Mai 1978), weil tatsächliche oder angebliche Pläne eines kommunistischen Putschversuches bekannt wurden, der im Einvernehmen mit der Sowjetunion stattfinden sollte. Außenpolitisch gibt es Differenzen wegen der — nach sowjetischer Auffassung — zu radikalen Israel-Politik des Irak, der sowjetischen Unterstützung Syriens, mit dem der Irak verfeindet ist, wegen der Waffenkäufe des Irak im Westen und der sowjetischen Politik im Südjemen und in Äthiopien
Der Irak tendiert zu einer Politik, die den Rückzug der Großmächte, also auch der Sowjetunion, aus dem Nahen Osten anstrebt und auf eine von arabischen Staaten garantierte Neutralität dieser Region hinausläuft („Panarabische Deklaration" vom 8. Februar 1980). Auch mit dem Krieg gegen den Iran ist die Sowjetunion nicht ganz einverstanden. Sie meint, es handele sich um imperialistische Machenschaften, in die sich der Irak habe hineinziehen lassen Trotz dieser Differenzen haben beide Seiten versucht, einen Bruch zu vermeiden. Obwohl der Irak zu größeren Waffenkäufen im Westen übergegangen ist (seit 1978), kämpfen seine 200 000 Mann zählenden Streitkräfte immer noch mit vorwiegend sowjetischen Waffen
Einen festen Brückenkopf besitzt die Sowjetunion auf der arabischen Halbinsel in der Demokratischen Volksrepublik Jemen (Südjemen). Die dort herrschende kommunistische Regierung ist auch durch intensive Parteibeziehungen mit der Sowjetunion verbunden, ebenso durch einen Freundschafts-und Kooperationsvertrag (25. Oktober 1979). Der Sicherheitsdienst wird durch sowjetische und DDR-Berater kontrolliert; außerdem befinden sich etwa 400 sowjetische und 250 kubanische Militärberater im Lande Die militärische Präsenz im südlichen Jemen ist für die Sowjetunion aus mehreren Gründen wertvoll. Von hier aus läßt sich sowohl der Ausgang des Roten Meeres (Aden) wie auch die Golfregion kontrollieren. Anscheinend ist die Sowjetunion dabei, ihre Stützpunkte im Südjemen weiter auszubauen. Gemeldet wurden der Ausbau des Flughafens von Aden für sowjetische Langstreckenflugzeuge, die Installierung eines Frühwarnsystems und die Aufstellung mehrerer Raketenbatterien. Bei Mukalla sollen weitere Luft-und Marinebasen entstehen, auch von einem Flottenstützpunkt gegenüber der Insel Perim ist die Rede, der Atom-U-Boote und flugkörperbestückte überwasserschiffe aufnehmen soll. Ein elektronisches Überwachungssystem auf der Insel Sokotra soll bis in den Persischen Golf und nach Somalia hineinreichen. In Aden soll sich auch das Hauptquartier für die sowjetischen Operationen im Persischen Golf und am Horn von Afrika befinden, das mit etwa 1 500 sowjetischen, 1 000 kubanischen und 750 ostdeutschen Militärs besetzt sein dürfte
Von Südjemen gehen — mit sowjetischer Billigung — auch kriegerische Aktivitäten aus. In Richtung Osten unterstützt Südjemen eine Guerillabewegung in Oman, indem er die Guerillas ausbildet und ihnen Waffen liefert. Im Westen sind südjemenitische Truppen in den Nordjemen eingedrungen (23. Februar 1979). Dort hat die prokommunistische „Demokratische und nationale Befreiungsfront" die Gelegenheit ergriffen, sich gegen die Regierung zu erheben. Durch amerikanische Waffenlieferungen an den Nordjemen und diplomatischen Druck anderer arabischer Staaten wurden die Kampfhandlungen inzwischen wieder eingestellt 47).
Waffen hat die Sowjetunion sowohl an den Nordjemen als auch an den Südjemen geliefert — mehr jedoch an den Südjemen, dessen Streitkräfte fast ausschließlich mit sowjetischen Waffen augerüstet sind
Delikat ist die Situation im Nordjemen, dessen Streitkräfte mit sowjetischen und amerikani-sehen Waffen ausgerüstet sind und ebenso von amerikanischen und sowjetischen Militär-beratern trainiert werden
Mittlerer und Naher Osten sind nicht zuletzt dank der sowjetischen Militärpolitik eine neuralgische Zone der Weltpolitik. Vor allem durch Waffenlieferungen vermochte die Sowjetunion einige Staaten auf ihren außenpolitischen Kurs festzulegen, so daß sie über den arabisch-israelischen Konflikt die Spannungen in dieser Region erhalten, notfalls auch erhöhen kann. Genauso wichtig ist für sie die Möglichkeit, von ihren Flotten-und Luftstützpunkten aus den Persischen Golf und das Rote Meer zu kontrollieren und damit auf den Nerv der westlichen und japanischen Ölversorgung zu drücken. Die USA, in zunehmendem Maße wohl auch andere NATO-Staaten, sind deshalb gezwungen, in den Mittleren und Nahen Osten einen großen Teil ihrer diplomatischen, ökonomischen und auch militärischen Energien zu investieren. Außerdem ist der Nahe Östen für die Sowjetunion ein Sprungbrett nach Afrika.
Afrika und die sowjetische Flottenpolitik Zu den klassischen Verhaltensmustern sowjetischer Außenpolitik gehört die Unterstützung Revolutionärer Befreiungsbewegungen. Die Dekolonisierung Afrikas nach dem Zweiten Weltkrieg bot ihr dazu reichlich Gelegenheit. Allerdings hat die Sowjetunion keineswegs jede Befreiungsbewegung unterstützt, auch nicht jede marxistisch orientierte, sondern lediglich solche, von denen sie sich außenpolitischen Nutzen versprach. Was die sowjetische Afrikapolitik unter anderem bezweckte, wurde spätestens Mitte der siebziger Jahre deutlich, als sie rings um Afrika zu einer Reihe von Küstenstaaten besonders „gute Beziehungen“ hergestellt hatte. Gestützt auf diese Länder wäre die Sowjetunion in einem Krieg in der Lage, die Verbindungslinien zwischen den USA und Europa im Atlantik zumindest empfindlich zu stören. Das gleiche gilt auch für den Seeweg Rotes Meer-Suezkanal-Mittelmeer-Westeuropa und für den Indischen Ozean.
Auch im Frieden läßt sich durch maritime Präsenz und koerzive Diplomatie auf diesen für die Rohstoffversorgung Westeuropas und Japans unentbehrlichen Routen Macht demonstrieren. Voraussetzung für entsprechende Einsätze ist selbstverständlich eine global operierende Flotte. Das Programm für ihren Bau hat die Sowjetunion Mitte der sechziger Jahre aufgelegt. Die konzeptionelle Grundlage lieferte Admiral Gorschkows „ausgewogene Flottendoktrin“ Sie hatte offensichtlich aus der KubaKrise und dem Vietnamkrieg Konsequenzen gezogen und war zu dem Ergebnis gekommen, daß U-Boote mit atomar bestückten Raketen für angemessen flexible Reaktionen gegenüber der amerikanischen Überwasserflotte nicht ausreichten. Innerhalb von zehn Jahren war aus einer relativ unbedeutenden Küsten-marine eine Hochseeflotte geworden, die den Anforderungen einer Weltmacht auch in maritimer Hinsicht gerecht wird -Allerdings sind wegen der mangelhaften Logistik-Komponente die Amerikaner noch im Vorteil, wenn auch zahlenmäßig die sowjetische Flotte heute bereits größer ist als die amerikanische „Die sowjetische Seekriegsflotte ist dazu übergegangen, aktiv außenpolitische Maßnahmen und Aktionen der UdSSR zu unterstützen.“
Flottenrüstung und Suche nach Stützpunkten waren in der sowjetischen Weltmachtpolitik der letzten Jahre zwei Initiativen, die sich gegenseitig bedingen. Auch wenn sich heute eine Hochseeflotte lange Zeit selbst versorgen kann, gibt es mindestens vier Gründe, die Stützpunkte wünschenswert erscheinen lassen: Erstens lassen sich moderne Aufklärung und Nachrichtenübermittlung nicht ausschließlich auf Schiffen stationieren oder auf ein Satellitenverbundsystem verlagern. Zweitens können auf hoher See keine größeren Reparaturen durchgeführt werden. Drittens verbessert die Unterstützung vom Lande die Kampffähigkeit der Flotte beträchtlich. Viertens spielt für die sowjetische Flotte speziell die kontinentale Lage Rußlands eine Rolle. Die sowjetische Flotte kann ihre Heimathäfen nur über Randmeere erreichen, die sich in Kriegszeiten vom Gegner relativ leicht kontrollieren lassen.
Die Bemühungen der sowjetischen Außenpolitik, in Afrika — auch militärisch — festen Fuß zu fassen, sind vielfältig und wechselvoll. Hier soll nur auf diejenigen eingegangen werden, die aus heutiger Sicht erfolgreich waren, dauerhaft zu sein scheinen und für die Sowjetunion von besonderer strategischer Bedeutung sind. Unter diesem Gesichtspunkt handelt es sich um Äthiopien, Mosambik, Angola und neuerdings auch um die Volksrepublik Kongo.
In Äthiopien konnte sich die Sowjetunion wegen des Bürgerkrieges zwischen der Zentralregierung in Addis Abeba und den Befreiungsbewegungen in Eritrea und im Ogaden einmischen. In diese Auseinandersetzung ist auch Somalia verwickelt, wo sich die Sowjetunion, ebenso wie im Sudan bereits Ende der sechziger Jahre militärisch engagiert hatte.
In Somalia hatte die Sowjetunion das Regime des Obersten Barre unterstützt. Er war durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen (21. Oktober 1969). Barres „Somalische Demokratische Republik" steuerte einen prosowjetischen Kurs, der durch einen Freundschaftsund Kooperationsvertrag (11. Juli 1974) gefestigt wurde. Umfangreiche sowjetische Waffenlieferungen versetzten Somalia in die Lage, gegen Äthiopien einen Krieg um das Ogaden zu führen. Als Gegenleistung erhielt die Sowjetunion Stützpunktrechte. Berbera im Golf von Aden wurde zu einer der wichtigsten sowjetischen Marinebasen. Hinzu kamen die Flughäfen Hargeisa und El Bur.
In Äthiopien hatte inzwischen das prosowjetisch orientierte Regime des Oberstleutnants Mengistu so viel Widerstände geweckt, daß es sich aus eigener Kraft kaum noch an der Macht halten konnte. Der Gedanke, sich in der Sowjetunion um Waffenhilfe zu bemühen, war naheliegend. Im Dezember wurde in Moskau ein entsprechendes Abkommen unterzeichnet, das Waffenlieferungen in Höhe von 100 Millionen Rubel vorsah; in der Lage, in der sich Äthiopien befand, konnte das nur ein Anfang sein.
Nach sechzehnjährigem Kampf schien die Revolutionäre Befreiungsbewegung in Eritrea ihr Ziel erreicht zu haben. Fast die ganze Provinz, von wenigen Städten abgesehen, befand sich in ihrer Hand. Im Ogaden hatte Somalia Erfolge erzielen können. Äthiopien war in Bedrängnis. Für die Sowjetunion stellte sich die Frage, ob sie zusehen sollte, wie Eritrea selbständig und damit Äthiopien zu einem reinen Binnenstaat wird. Da sie daran kein Interesse haben konnte, wechselte sie die Allianzen, setzte eindeutig auf das Regime Mengistu, ließ die von ihr lange Jahre unterstützte Revolutionäre Befreiungsbewegung in Eritrea fallen, warnte Somalia, daß man „Invasionen in ein Land durch Streitkräfte eines anderen Landes" (Prawda vom 14. August 1977) nicht dulden würde und riskierte den Bruch mit Mogadishu. Nach einer Reise Barres nach Moskau (29. — 31. August 1977), bei der es darum ging, die sowjetischen Absichten auszuloten, sah Somalia in der Fortsetzung seiner bisherigen Beziehungen zu Moskau keinen rechten Sinn mehr. Es kündigte den Kooperationsvertrag (13. November 1977) mit der Sowjetunion, entzog ihr die Basisrechte und wies die sowjetischen Militärberater aus.
Seit dem Sommer 1977 wurde Äthiopien von der Sowjetunion aufgerüstet. Der Transport der sowjetischen Waffen erfolgte auf dem Seewege durch den Suezkanal in dem am Roten Meer liegenden äthiopischen Hafen Assab und auf dem Luftwege über den Südjemen bzw. über Libyen. Außerdem entsandte die Sowjetunion etwa 1 000 Militärberater. Bei der ganzen Unternehmung wurde sie vor allem von Kuba, aber — laut somalischen Angaben — auch vom Südjemen, der DDR, der Tschechoslowakei und von Libyen unterstützt. Die Zahl der kubanischen Militärs wurde zwischen 20 000 (gemäß somalischen Angaben) und 3 000 (westliche Angaben) geschätzt. Wie hoch auch immer die Militärhilfe im einzelnen gewesen sein mag — von Juni bis Dezember 1977 sollen 50 sowjetische Schiffe mit Waffen an Bord den Suezkanal durchquert haben und etwa 12 % der militärischen Transportflotte der Sowjetunion (225 Maschinen) im Einsatz gewesen sein —, mit der Aufrüstung Äthiopiens hat die Sowjetunion bewiesen, daß sie zu bedeutenden Lufttransportunternehmen fähig ist
Im Frühjahr 1978 konnte das aufgerüstete Äthiopien sowohl in Eritrea als auch im Ogaden Erfolge erzielen. In Eritrea setzte dann im Sommer des gleichen Jahres eine Großoffensive ein, die von sowjetischen Generälen geplant und geleitet wurde. Auf äthiopischer Seite sollen 120 000 Soldaten eingesetzt gewesen sein. „Die Spitze dieser Streitmacht bildeten Hunderte sowjetischer Panzer, gepanzerter Fahrzeuge, Raketenwerfer und Geschütze. Begleitet wurde der Vormarsch von pausenlosen Flächenbombardements sowjetischer Bomber mit Napalm-und Splitterbomben." Sowjetische Zerstörer haben von See aus in die Schlacht um Massaua eingegriffen. Einer solchen Übermacht konnten weder die Befreiungsfront in Eritrea noch die Somalis im Ogaden standhalten. Beide mußten schwere Niederlagen hinnehmen. Dank der sowjetisch-kubanischen Unterstützung hat das Mengistu-Regime das Feld behauptet. Zum Jahresende unterzeichneten die Sowjetunion und Äthiopien einen Freundschafts-und Kooperationsvertrag (20. November 1978). Damit wurden die Beziehungen zwischen den beiden Staaten auch rechtlich auf eine feste Grundlage gestellt. Daß die äthiopische Armee (229 500 Mann) heute fast ausschließlich über sowjetische Waffen verfügt, ist aufgrund der Entwicklung nicht weiter erstaunlich. Von den 640 Panzern sind 600 sowjetischer Herkunft (100 T-34 und 500 T-54/-55). Das gleiche gilt für 500 gepanzerte Fahrzeuge (Typ BTR-40/-60/-152 APC). Von den 23 Schiffen stammen noch drei Viertel aus amerikanischen Lieferungen. Von den sechs Kampfgeschwadern der Luftwaffe sind fünf mit sowjetischen Maschinen ausgerüstet (eins mit 17 MiG-17, drei mit 50 MiG-21 und eins mit 20 MiG-23). Transportmaschinen, Hubschrauber und Übungsflugzeuge sind verschiedener Herkunft. Außerdem befinden sich 19 000 Kubaner, 2 500 Militärberater aus der DDR und 200 aus der Sowjetunion im Lande
Trotz dieser beachtlichen Streitmacht konnte eine Pazifizierung der Region bis heute nicht erreicht werden. Zwar soll Somalia seine regulären Truppen seit März 1978 aus dem Ogaden abgezogen haben, doch geht die Guerilla-Tätigkeit weiter. Das gleiche gilt auch für die Befreiungsbewegung in Eritrea. Nach letzten Meldungen kontrolliert sie inzwischen wieder drei Viertel des eritreischen Territoriums (März 1981) Da Somalia seit dem Sommer des vergangenen Jahres von den Vereinigten Staaten Waffenhilfe erhält, können die Kämpfe am Horn von Afrika noch lange weitergehen. In Mosambik begann der sowjetische Einfluß mit der militärischen Ausbildung von Guerillakämpfern in den Basislagern an der Grenze zu Tansania. Die sowjetischen Instrukteure haben sich die Aufgabe mit Chinesen und Kubanern geteilt. Die Revolutionäre Befreiungsbewegung (Frente de Libertacao de Mocambique — FRELIMO) hatte sich aus mehreren nationalistischen Gruppen zusammengeschlossen (25. Juni 1962) und war zunächst ideologisch nicht festgelegt. Im Herbst 1964 begann der bewaffnete Kampf gegen die portugiesische Herrschaft. Im Laufe der nächsten Jahre setzte sich nach heftigen Auseinandersetzungen um die Führung in der FRELIMO Samora Machel durch (Ende 1969). Er gab ihr eine marxistisch-leninistische Richtung. Nicht zuletzt wegen der beträchtlichen sowjetischen Finanz-und Militärhilfe behielt die FRELIMO gegenüber anderen revolutionären Gruppen die Oberhand Sie schloß im Sommer 1974 mit der portugiesischen Regierung einen Waffenstillstand und übernahm nach der Unabhängigkeitserklärung (am 25. Juni 1975) in Mosambik die Herrschaft. Von da an wurde das Land nicht nur dem Namen nach, sondern auch tatsächlich in eine Volksrepublik umgewandelt. Aus der Revolutionären Befreiungsbewegung wurde die einzige in Mosambik zugelassene politische Partei (1977). Parteiführung und Staatsführung sind identisch. Die Wahlen zu den lokalen und regionalen Körperschaften erfolgen in einem öffentlichen Verfahren. Das gleiche gilt für den gewählten Teil der Nationalversammlung. Die Einführung eines sozialistischen Wirtschaftssystems und der Auszug der portugiesischen Siedler und Fachleute haben die wirtschaftliche Lage verschlechtert. Auch die Schließung der Grenze gegenüber Zimbabwe/Rhodesien wirkte sich wirtschaftlich negativ aus (März 1976)
Die Sowjetunion hat mit Mosambik einen Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit geschlossen (31. März 1977), in dessen Präambel festgestellt wird, daß beide Staaten natürliche Verbündete seien. Die Ausrüstung der 24 300 Mann starken Armee kommt zum größten Teil aus der Sowjetunion. Sämtliche Panzer und gepanzerte Fahrzeuge lieferte Moskau (350 T-34/-54/-55, an die 50 PT-76, 150 BRDM und 250 BTR-40/-152 APC); von insgesamt neun Schiffen der Marine (Küsten-Patrouillienboote) stammen drei aus der Sowjetunion, sechs sind noch portugiesischer Herkunft; auch die 36 Kampfflugzeuge der Luftwaffe hat die Sowjetunion geliefert (MiG-17/-19/-21), dazu einige Transportflugzeuge und zehn Mi-8-Hubschrauber. Die restlichen Maschinen (20 Stück) sind unterschiedlicher Herkunft. Die Armee Mosambiks wird von Militärberatern aus der Sowjetunion, China, Kuba, Rumänien und der DDR betreut Mosambik ist für die Sowjetunion vor allem wegen der Lage des Landes am Indischen Ozean (Häfen: Maputo, Beira, Nacala, Pemba, Metangula) und wegen der Nachbarschaft zur Republik Südafrika strategisch wichtig.
In Angola hat die Sowjetunion die Entsendung einer süfafrikanischen Streitmacht im Sommer 1975 zum Anlaß genommen, in den angolanischen Bürgerkrieg zu intervenieren. Allerdings hat sie diesen Anlaß insofern selbst herbeigeführt, als sie eine der drei Bürgerkriegs-parteien, die MPLA (Volksbefreiungsbewegung Angolas), in so großzügiger Weise mit Waffen unterstützt hatte, daß sich für die beiden anderen die Existenzfrage stellte und sie sich um Hilfe bemühten. Im November 1975 flog dann die Sowjetunion kubanische Truppen ein, deren Zahl bis Anfang Februar 1976 auf 14 000 Mann angewachsen sein soll. Auch wenn man von der Version ausgeht, das Kuba in eigener Verantwortung gehandelt hat, so ist eine aktive Mitwirkung der Sowjetunion nicht zu übersehen. Mit Sicherheit lag die Aktion auch in ihrem Interesse, sonst hätte sie nicht die Waffen geliefert und den Transportraum gestellt
Nach amerikanischen Schätzungen sind allein in der Zeit von April bis Oktober 1975 in Angola 27 Schiffsladungen mit sowjetischen Waffen eingetroffen; zusätzlich erfolgten noch zahlreiche Versorgungsflüge mit Maschinen vom Typ Antonov-22 Infolge dieser Unterstützung befanden sich bis zum Frühjahr 1976 alle größeren Orte in der Hand von Kubanern und MPLA Die Sowjetunion schloß mit Angola einen Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit (8. Oktober 1976). Außerdem wurde Angola „assoziiertes Mitglied“ des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Das Land wurde innenpolitisch umstrukturiert, die MPLA in eine „Marxistisch-leninistische Arbeiterpartei" umgewandelt. An den Schaltstellen der Macht sitzen „Experten" aus der Sowjetunion, aus Kuba, der DDR und anderen Ostblockländern. Angola ist fest im sowjetisch-kubanischen Griff Trotzdem hält die Guerilla-Tätigkeit auf dem flachen Lande an. Die 32 500 Mann starke angolanische Armee ist — wie nicht anders zu erwarten — fast ausschließlich mit sowjetischen Waffen ausgerüstet. Aus der Sowjetunion kommen sämtliche Panzer und gepanzerte Fahrzeuge (85 T-34, 150 T-54, an die 50 PT-76, 200 BRDM-2 und 150 BTR-40/-50/-60/-152), 18 von 25 Schiffen (Patrouillien-und Landungsboote) sowie 27 von 29 Kampfflugzeugen (15 MiG-17 F und 12 MiG-21 MF). Lediglich die Transportmaschinen, die Hubschrauber (49 Stück) und die Übungsmaschinen sind verschiedener Herkunft. Außerdem halten sich im Lande noch 19 000 Soldaten aus Kuba, 2 500 aus der DDR und 200 Berater und Techniker aus der Sowjetunion auf
Offen ist noch die Frage, wie sich die Beziehungen der Sowjetunion zur Volksrepublik Kongo entwickeln werden. Bisher ist die kleine kongolesische Armee (5 525 Mann) mit Waffen verschiedener Herkunft ausgestattet, unter anderem mit chinesischen Panzern (15 ChT-59, 14 ChT-62), gepanzerten Fahrzeugen aus der Sowjetunion (3 PT-76, 15 BRDM-1 und 20 BTR-50), 3 chinesischen Kanonenbooten und sowjetischen Kampfflugzeugen (9 MiG-15, 1 MiG-17) Ob das auch in Zukunft so bleiben wird, ist fraglich, nachdem eine Regierungsdelegation unter Präsident Sassou-Ngouesso in Moskau mit der Sowjetunion einen Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit unterzeichnet hat (13. Mai 1981). Breshnew hat zwar anläßlich des Vertragsabschlusses betont, daß aus Afrika ein Kontinent des Friedens, frei von ausländischen Militär-stützpunkten und Kernwaffen werden solle doch muß das die Sowjetunion nicht unbedingt daran hindern, sich zum Beispiel für den Hafen Pointe Noire zu interessieren. Er soll bereits in der Mitte der siebziger Jahre für östlichen Nachschub im Angola-Krieg benutzt worden sein. Daß die Beziehungen der Sowjetunion zum Kongo, zumindest aus ihrer Sicht, einen hohen Grad von Intensität annehmen sollen, geht schon daraus hervor, daß neben dem Kooperationsvertrag auch Vereinbarungen zur Zusammenarbeit der KPdSU und der kongolesischen Arbeiterpartei getroffen worden sind.
Die sowjetische Afrikapolitik ist ein eklatantes Beispiel für eine Außenpolitik, die sich vorwiegend militärischer Mittel bedient. Im Jahrzehnt zwischen 1967 und 1977 war die sowjetische Rüstungs-und Militärhilfe für ganz Afrika ungefähr doppelt so hoch wie die Wirtschaftshilfe 69). Allein in den beiden Jahren 1977 und 1978 betrug die sowjetische Militär-hilfe 26 Milliarden Dollar. Ende der siebziger Jahre sollen sich in Afrika aufgehalten haben: 37 000— 42 000 Soldaten aus Kuba, 4 700— 5 200 Militärberater aus der Sowjetunion, 3 500 militärische und zivile Berater aus der DDR sowie mehrere Tausend Techniker aus der Sowjetunion. Außerdem wurden in den Jahren 1956 bis 1977 rund 12 000 afrikanische Militärs in der Sowjetunion, 1 200 in der DDR und 2 675 in China ausgebildet Auch wenn diese Zahlen nur annähernd richtig sein sollten, sind sie für den militärischen Einfluß der Sowjetunion in Afrika aufschlußreich.
Eine besondere Form der Abhängigkeit der kleinen afrikanischen Staaten von der Sowjetunion ergibt sich aus den Verträgen über Freundschaft und Zusammenarbeit (Kooperationsverträge). Während sie selbst wegen ihrer wirtschaftlichen und militärischen Schwäche außerstande sind, die in den Verträgen enthaltenen Konsultations-und Koordinierungsklauseln für sich in gleichberechtigter Weise in Anspruch zu nehmen, kann die Sowjetunion jederzeit und über jedes beliebige Thema Konsultationen herbeiführen und die Zustimmung für ihre Politik erzwingen. Die Sowjetunion pflegt solche Verträge weitgehend und nach ihrem Belieben zu interpretieren. Zum Beispiel wurde im Falle Afghanistan der Kooperationsvertrag zu einem Bündnis-und Beistandspakt umgedeutet. Ob ein Vertragspartner die Rolle eines Verbündeten oder Nicht-verbündeten zu spielen hat, liegt im Ermessen der Sowjetunion. Allerdings werden die Vertragspartner von der Sowjetunion auch gestützt und protegiert. Unter diesem Gesichtspunkt werden diese Verträge auch als „Patronage-Verträge" bezeichnet. Offenbar verfolgt die Sowjetunion mit ihnen globalstrategische Ziele.
„Die von der Sowjetunion mit Klienten-Regimen'geschlossenen . Patronage-Verträge'ersparen es ihr, nach dem Muster traditioneller Großmachtpolitik einzelne Militär-und Versorgungsstützpunkte durch Eroberung, Pachtung, Kauf oder auf andere Weise . erwerben'zu müssen. Statt dessen engagiert sie jetzt mit dem modernen Instrument der politisch militärischen Kooperationsverträge gewissermaßen ganze Länder für die Zwecke ihrer expansiven Interessenpolitik, d. h. für die politische, militärische und logistische Untermauerung ihres globalen Mitsprache-und Mitbestimmungsanspruchs."
Wie steht es mit der gelegentlich geäußerten Vermutung, daß die Sowjetunion in Afrika nach einem langfristigen Plan zur Eroberung der Welt vorgehe? Sie kann schon deshalb nicht zutreffen, weil auch für die Sowjetunion die innerafrikanischen Entwicklungen mit ihrem oft chaotischen Charakter schlechterdings nicht planbar sind. Doch offensichtlich verfolgt sie diese Entwicklungen mit großer Aufmerksamkeit und nutzt jede sich bietende Chance, sie zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Dieses Verhalten befindet sich im Einklang mit ihrer Doktrin, wonach revolutionäre Be-freiungskriege unvermeidbar sind — solange es Imperialismus gibt — und von der sozialistischen Staatengemeinschaft unterstützt werden sollen. Afrika ist für die Sowjetunion ein wichtiger Schauplatz für ihre Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten. Unter dem Gesichtspunkt einer möglichen bewaffneten Auseinandersetzung mit Westeuropa hätte Afrika für die Sowjetunion die Funktion einer strategischen Reserve. Schon aus diesem Grunde dürfte der Ausbau der militärischen Präsenz weitergehen. Genügend Konfliktpotential ist vor allem im Süden Afrikas vorhanden.
Kuba Auch in den Beziehungen der Sowjetunion zu Kuba spielten Streitkräfte und Militärhilfe eine nicht unwichtige Rolle. Großes Aufsehen erregte die Stationierung einer sowjetischen Kampfbrigade im Herbst 1979. Sie soll eine Stärke von 2 000 bis 3 000 Mann haben, mehrere motorisierte Infanteriebataillone, Artillerie-, Panzerabteilungen sowie Versorgungseinheiten umfassen, jedoch über keine eigene Luft-oder Seetransportkapazität verfügen. Außerdem sollen sich in Kuba zwischen 1 500 bis 2 000 sowjetische Militärberater und Ausbilder sowie an die 8 000 Zivilbedienstete aufhalten
Die kubanischen Streitkräfte (206 000 Mann) sind mit sowjetischen Waffen ausgerüstet und teilweise von sowjetischen Militärberatern ausgebildet worden. Das Heer verfügt über 600 Panzer (Typen: T-34/-54/-55, 50 T-62 und 60 IS-2 Hy); die Marine über drei U-Boote und 101 überwasserschiffe (Patrouillenboote verschiedener Größe, Küstenwachboote, Minensucher); die Luftwaffe über 168 Kampfflugzeuge (drei Kampfbombergeschwader, davon zwei mit 30 MiG-17, eins mit 10 MiG-23, acht Geschwader mit Abfangjägern, davon drei mit 48 MiG-21 F, zwei mit 30 MiG-21 MF, zwei mit 40 MiG-19 und eins mit 10 MiG-23). Hinzu kommen Transportflugzeuge, Hubschrauber und Übungsflugzeuge Die Sowjetunion soll in den Jahren 1960— 1975 an Kuba Waffen im Wert von 3 Milliarden Dollar geliefert haben, und zwar — einer Aussage Castros zufolge — völlig kostenlos
Abgesehen von dem allgemeinen politischen Einfluß, den die Sowjetunion auf Kuba über die Rüstungs-und Militärhilfe ausüben kann, ist Kuba für die Operationen der sowjetischen Flotte vor der amerikanischen Ostküste von Nutzen. Auch wenn die Funktion Kubas als strategische Plattform gegenüber den Vereinigten Staaten wegen der zielsicheren land-und seegestützten sowjetischen Interkontinentalraketen heute weitgehend überholt ist, bleibt Kuba für die Marine ein wichtiger Versorgungsstützpunkt, der seit dem Ende der sechziger Jahre von sowjetischen Einheiten regelmäßig angelaufen wird (Hafen: Cienfuegos). Nicht ohne Grund hat sich Kuba bisher geweigert, dem Vertrag von Tlatelolco (12. Februar 1967) beizutreten, in dem die Bildung einer atomwaffenfreien Zone in Lateinamerika vereinbart wurde. Zwischen der Sowjetunion und Kuba gibt es weder einen Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit noch einen Beistandsvertrag nach dem Muster der mit anderen sozialistischen Ländern abgeschlossenen Verträge. Die Sowjetunion scheint sich der kubanischen Gefolgschaft auch ohne solche Verträge sicher zu sein.
Westeuropa Schließlich sei noch die Frage angeschnitten, welchen politischen Nutzen die sowjetische Militärmacht gegenüber Westeuropa hat oder haben könnte. Die Sowjetunion hat seit der Mitte der sechziger Jahre kontinuierlich aufgerüstet. In den siebziger Jahren haben die Verteidigungsausgaben um real 4, 5 % pro Jahr zugenommen und machen heute ungefähr 11 % bis 13% des Bruttosozialprodukts aus Nicht zu übersehen ist, daß sich der gesamte Vorgang der Aufrüstung im Schatten von Rüstungskontrollverhandlungen abgespielt hat. Das Ergebnis läßt sich etwa folgendermaßen zusammenfassen: Auf der nuklearstrategischen Ebene hat die Sowjetunion im Vergleich zu den Vereinigten Staaten eine „angenäherte" Parität erreicht. Im Bereich der Nuklearwaffen mit mittlerer Reichweite, die vor allem in Europa einsetzbar sind (TNF-Theatre Nuclear Forces in Europe), ist sie überlegen. Ein steigendes Übergewicht bei konventionellen Waffen zeichnete sich schon seit langem ab. Schließlich wurden Einsatzmittel für globale Interventionen entwickelt, so daß sie die Fä-higkeit besitzt, militärisches Potential über weite Entfernungen in und außerhalb Europas an etwaige Krisenpunkte zu transportieren
In unserem Zusammenhang interessieren vor allem die sowjetischen Mittelstreckenpotentiale in Europa. Sie sind durch die 1974 begonnene Dislozierung des Backfire-Bombers und mehr noch durch die der SS-2O bekanntgeworden. Beide spielen in der Diskussion um den Nachrüstungsbeschluß der NATO (vom 12. Dezember 1979) eine spektakuläre Rolle. Daneben gibt es jedoch eine ganze Reihe anderer Waffen, die auch dieser Kategorie zuzurechnen sind
Der Vergleich dieses Potentials ist aus einer Reihe von Gründen umstritten. Unterschiede in der Bewertung ergeben sich zum Beispiel in der Frage, welche Waffen beim Vergleich berücksichtigt werden sollen. Soll man Flugzeuge mit einer Reichweite von 1 000 km in den Vergleich mit einbeziehen oder nicht? Noch stärkere Bewertungsunterschiede entstehen durch die Gewichtung der einzelnen Waffensysteme mit Faktoren, die etwas über ihre Eigenschaften (Qualität) aussagen. Wie hoch ist etwa die „Zuverlässigkeit eines Trägersystems über große Entfernungen" (reliability) zu veranschlagen, oder die „Uberlebensfähigkeit bei einem gegnerischen Erstschlag" (survivability), oder die aus der Reparaturanfälligkeit hochtechnologischer Systeme resultierende „Einsatzbereitschaft“ (serviceability)? Schließlich gipfelt diese Gewichtung in der Frage, wie viele Sprengköpfe im Falle eines mit diesen Waffen geführten Krieges beim Gegner ankommen (arriving warheads). Auch Autoren, die bei ihrer Analyse mit solchen Faktoren arbeiten, weisen auf deren Subjektivität hin. Trotzdem sind sie der Meinung, daß man damit der Wirklichkeit näher kommt als durch bloße numerische Aufrechnungen
Bei einem Kräftevergleich, der dem gesamten Warschauer Pakt die gesamte NATO, also auch das globalstrategische Potential der Vereinigten Staaten gegenüberstellt, kann man immer noch zu dem Ergebnis kommen, daß zwischen den beiden Bündnissen annähernd Parität besteht. Bedenklich wird das Kräfte-verhältnis zwischen dem Warschauer Pakt auf der einen und Westeuropa auf der anderen Seite im Bereich der Nuklearkräfte in und für Europa (TNF). Hier hat der Warschauer Pakt eine Überlegenheit von ungefähr 3: 1. Zählt man die 400 Sprengköpfe der Poseidon C 3 Raketen der U-Boote hinzu, die von den Vereinigten Staaten dem NATO-Oberbefehlshaber-Europa (SACEUR) assigniert worden sind, so reduziert sich die Überlegenheit des War-schauer Paktes auf 1, 5: 1 Problematischer jedoch als das gegenwärtige Kräfteverhältnis, dessen Bewertung, wie gesagt, umstritten ist, muß die Tatsache erscheinen, daß die Tendenz zur Aufrüstung der Mittelstreckenpotentiale in der Sowjetunion anhält. Werden hier nicht in absehbarer Zeit Rüstungskontrollvereinbarungen getroffen, so ist ein Rüstungswettlauf kaum noch zu umgehen. Die Möglichkeit eines auch in Europa mit atomaren Waffen geführten Krieges würde dann immer wahrscheinlicher werden. Geht man andererseits von der Annahme aus, daß die Sowjetunion in bezug auf ihre Sicherheit an einem Inferioritätskomplex leidet, so stellt sich die Frage, wie hoch die Überlegenheit sein müßte, damit sie sich nach eigener Auffassung sicher fühlen könnte. Die bisherige sowjetische Argumentation kann hier nicht sehr zuversichtlich stimmen. Vor allem, so ist weiter zu fragen, wie würde die Sowjetunion eine militärische Überlegenheit politisch nutzen, die etwa beim acht-bis zehnfachen des westeuropäischen TNF-Potentials läge?
Die Versuchung, sich durch atomare Erpressung einen lang gehegten Wunsch zu erfüllen, wäre groß. Unter solchen Umständen könnte sich zwischen Westeuropa und den Vereinigten Staaten eine divergierende Interessenlage ergeben, die auf die Dauer den Rückzug der Amerikaner aus Europa zur Folge hätte. Die Vereinigten Staaten würden zwar ihre Gegenküste verlieren, eine Bedrohung ihrer Existenz wäre damit nicht unbedingt verbunden, jedenfalls zunächst nicht. Für die Sowjetunion hingegen würde sich die Möglichkeit bieten, mit dem technologischen Potential Westeuropas ihre eigene Volkswirtschaft zu ergän-zen. Daß eine solche Entwicklung ohne tief-greifende Veränderungen der politischen Kultur und Lebensweise Westeuropas erfolgen könnte, ist kaum vorstellbar.
VI. Schlußbemerkung
Das Thema behandelte die Frage, welche Rolle die Streitkräfte in der Außenpolitik der Sowjetunion spielen. Die Fragestellung ist in doppelter Hinsicht einseitig. Zum einen beziehen sich alle Aussagen ausschließlich auf die Sowjetunion, gelegentlich auf ihre Verbündeten. Ein Vergleich mit der Rolle der Streitkräfte in der Außenpolitik anderer Staaten wurde nicht vorgenommen. Zum anderen wurde ausschließlich der Faktor Streitkräfte untersucht, womit hier Soldaten, deren Bewaffnung, Waffenlieferungen, Militärhilfe, Rüstung und entsprechende rechtliche Vereinbarungen gemeint sind. Selbstverständlich sind in einem Gesamturteil über die sowjetische Außenpolitik noch zahlreiche andere Bestimmungsfaktoren zu berücksichtigen. Die Bedeutung der Streitkräfte mag es jedoch als gerechtfertigt erscheinen lassen, sie auch gesondert zu betrachten.
Ausgehend von der Feststellung, daß die sowjetischen Kommunisten die Anwendung militärischer Mittel in der Politik von Anfang an für notwendig und damit auch für legitim hielten, sollte gezeigt werden, wie sich außenpolitische Aufgabe und Funktion der Streitkräfte im Laufe der Jahrzehnte gewandelt haben.
In einer ersten Phase waren innenpolitische und außenpolitische Funktion der Roten Armee gewissermaßen identisch. Es galt, den Bürgerkrieg gegen die Weißen zu gewinnen, die ausländischen Interventionstruppen zu vertreiben und — soweit wie möglich — den Bestand des zaristischen Rußland wiederherzustellen. Diese Ziele waren mit der Eingliederung der Fernöstlichen Republik in die Russische Sowjetrepublik erreicht (10. November 1922). In einer zweiten Phase, die von den frühen zwanziger Jahren bis in den Zweiten Weltkrieg hineinreicht, obliegt den sowjetischen Streitkräften die klassische Funktion der Sicherung des eigenen staatlichen Territoriums. Sie mußten es dann auch gegen den Angriff des Deutschen Reiches verteidigen. In ei-
ner dritten Phase, die das Ende des Zweiten Weltkrieges und die ersten Nachkriegsjahre umfaßt, erweitert sich die Sicherheitsfunktion.
Die sowjetischen Streitkräfte werden Besatzungsarmee. Unter ihrer Herrschaft vollzieht sich die Umwandlung des ostmitteleuropäischen Staatengürtels und der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands in Volksdemokratien. Zur Sicherheitsfunktion ist eine Hegemonialfunktion hinzugetreten. Eine vierte Phase, die sich ungefähr vom Ende der vierziger bis zum Ende der fünfziger Jahre datieren läßt, ist durch die Adaption moderner Waffen-technologie (nukleare und elektronische Kriegsführung) charakterisiert. Da diese Bemühungen erfolgreich sind, kommt die sowjetische Außenpolitik in die Lage, in zunehmendem Maße als Weltmacht zy agieren. Eine fünfte Phase zeichnet sich seit der Mitte der sechziger Jahre ab. Je mehr es der Sowjetunion gelingt, ihren Weltmachtanspruch zu verwirklichen, desto mehr werden die Streitkräfte aufgerüstet. Schließlich gewinnen sie eine neue Funktion hinzu: die globale Einsatzfähigkeit. Abgesehen von der australisch-süd-pazifischen Region und Lateinamerika, das allerdings über Kuba und Afrika dem außenpolitischen Aktionsradius der Sowjetunion in den nächsten Jahrzehnten näher rücken könnte, dürfte es auf der Erde keine außenpolitische Krise geben, die sich ohne (potentielle) Beteiligung der Sowjetunion lösen ließe. Schon aus diesem Grunde ist die Wahrscheinlichkeit gering, daß die Bedeutung der Streitkräfte für die Außenpolitik der Sowjetunion in den nächsten Jahren abnimmt. Eher wird das Gegenteil der Fall sein. Starke Streitkräfte haben in der russisch-sowjetischen Geschichte Tradition. Sie sind die Antwort auf eine empfindliche geopolitische Lage.
Für ein politisches System, daß die Gewaltenteilung nicht kennt und seine Probleme lieber durch Befehl als durch Diskussion regelt, sind auch aus inneren Gründen starke Streitkräfte unentbehrlich. Schließlich haben alle aus der Geschichte bekannten Imperien ihre Macht — und das hieß immer auch ihre militärische Macht — so lange vermehrt, wie es innere und äußere Umstände zuließen. Wird die Sowjetunion eine Ausnahme bilden?