I. Die Bundeswehr und die aktuelle sicherheitspolitische Diskussion
Vor einem Jahr, im April 1981, kam es zu einer großen, öffentlichen Diskussion auf der Hardthöhe zu den Themen Tradition und Selbstverständnis der Bundeswehr in einem demokratischen Rechtsstaat, an der sich Vertreter der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen sowie eine Anzahl Wissenschaftler beteiligten. Dabei wurden einige konkrete Ergebnisse erzielt, wie z. B. die Aufhebung des Traditionserlasses aus dem Jahre 1965. Doch die wichtigste Erkenntnis dieser Gespräche dürfte zweifellos die Einsicht gewesen sein, daß die Probleme der Streitkräfte mit der Gesellschaft nicht innerhalb des Militärs allein zu lösen sind.
Was sich an der Traditionsdebatte der Bundeswehr entzündet hatte, wurde angesichts des NATO-Doppelbeschlusses und des sich rapide verschlechternden Klimas zwischen den Machtblöcken schnell zu einer allgemeinen Diskussion um Sicherheits-und Verteidigungspolitik, die auch die Grundlagen westlicher Friedens-und Freiheitsdoktrinen nicht mehr ausnahm. Plötzlich wurde auch die Strategie-Diskussion öffentlich und quer durch alle politischen Lager geführt — bis dahin eine Sache für nur einige wenige Spezialisten.
Es stellte sich sehr bald heraus, daß der allgemeine Konsens, auf den sich die amtliche Sicherheitspolitik jahrelang gestützt hatte, im Grunde nur aus Unwissenheit und vielfach auch aus Desinteresse bestand. Schon 1978 hatte das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr in einer Untersuchung festgestellt, daß die Kenntnisse in der Bevölkerung zum Thema Sicherheitspolitik und Streitkräfte derart gering waren, daß in hohem Maße inkonsistente Meinungsbilder in diesem Bereich festgestellt wurden. So wollten damals zwar knapp zwei Drittel der Befragten die Bundesrepublik Deutschland auch dann verteidigt sehen, wenn sich der Krieg auf westdeutschem Boden abspielt; mit dem Einsatz von Atomwaffen in einem solchen Fall mochten sich indes nur noch knapp 20% einverstanden erklären — die Mehrheit wußte nicht, daß die NATO-Konzeption der „flexible response“ den Atomwaffeneinsatz auf dem Gebiet der Bundesrepublik im Kriegsfall ausdrücklich vorsieht
Mit dem erwachenden Interesse der Öffentlichkeit an strategischen Fragen und im Bewußtsein der Verschlechterung der weltpolitischen Lage wurden bei vielen Bürgern Ängste artikuliert: In den Medien häuften sich Schlagzeilen wie z. B.: „Im Volk wächst die Angst vor dem Krieg", . Apokalypse jetzt“ oder INHALT I. Die Bundeswehr und die aktuelle sicherheitspolitische Diskussion II. Motivationsprobleme der Gesellschaft
III. Wehrmotive in der heutigen Zeit IV. Problemfeld Jugend V. Erfahrungen der Jugendoffiziere an den Schulen VI. Demokratisches Dialogverhalten VII. Fazit „Mehrheit fürchtet Weltkrieg". Nach einer Emnid-Umfrage vom Januar 1980, also kurz nach dem Einmarsch der Sowjets in Afghanistan, hat sich die Sorge um die Zukunft vergrößert: 10% der Bundesbürger halten einen Weltkrieg in absehbarer Zeit für wahrscheinlich, 48% der Befragten halten es für möglich, daß es innerhalb der nächsten drei Jahre einen neuen Weltkrieg gibt. Offensichtlich schlägt diese Furcht vor einer Weltkrise nun um in ein Unbehagen am NATO-Bündnis, vor allem am wichtigsten Partner, Amerika, und an den notwendigen Verpflichtungen, die die-ses Bündnis für die Bundesrepublik mit sich bringen muß. Gleichzeitig wendet sich dieses Unbehagen an der NATO — das vor allem von der Jugend im Rahmen der „neuen Friedensbewegung" nachdrücklich artikuliert wird — nach innen gegen die Bundeswehr als bewaffnete Macht.
Viele Probleme, die den Bürger, insbesondere den jungen Menschen, heute berühren, werden mit den Wehrpflichtigen in die Kasernen und damit in die Streitkräfte getragen. Das beginnt bei dem Unverständnis für Inhalt und Ziele der amtlichen Sicherheitspolitik, führt über Zweifel an Sinn und Zweck der Landesverteidigung bis zur Kritik am Prinzip von Befehl und Gehorsam. Freilich wären die Streitkräfte überfordert, wollte man zuerst von ihnen den Abbau dieses Defizits verlangen. Elternhaus, Schule und Universität sind gleichermaßen gefordert, die Politik der Friedenssicherung zu erklären.
Zugleich müssen die Streitkräfte mit immer komplizierteren Strukturen und Waffensystemen fertig werden. Moderne Waffen und Geräte verlangen von allen Soldaten intellektuelle Fähigkeiten in früher nicht gekanntem Ausmaß. Technische Entwicklung geht parallel mit wachsenden Anforderungen an Können und Motivation des einzelnen Soldaten.
II. Motivationsprobleme der Gesellschaft
Die Bundeswehr ist nach wie vor eine Wehrpflichtarmee, und die Bundesregierung ist entschlossen, am Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht festzuhalten: „Nichts macht den Selbstbehauptungswillen einer freien Gesellschaft deutlicher als das persönliche Engagement der Bürger für die Landesverteidigung. Unsere Sicherheitsinteressen und Bündnisverpflichtungen erfordern, auch weiterhin Streitkräfte im gegebenen Umfang zu unterhalten. Im Verteidigungsfall müssen ausgebildete Reservisten den Verteidigungsumfang der Bundeswehr sicherstellen. Ohne Wehrpflicht ist das nicht möglich.“
Fraglich ist aber, wie lange die allgemeine Wehrpflicht noch möglich ist. Die Bundeswehr als Armee eines demokratischen Staates bezieht ihren Verteidigungsauftrag nicht aus eigenem Recht, sondern von den verfassungsmäßigen politischen Vertretern der Gesellschaft als einen gesamtgesellschaftlichen Auftrag. Die Gesellschaft hat jederzeit das Recht, diesem Verteidigungsauftrag, der einen Teilaspekt im Rahmen der Gesamtpolitik darstellt, einen bestimmten Stellenwert beizumessen und ihn anderen Aufgaben über-oder unterzuordnen, etwa weil sie die zivilen Zukunftsaufgaben für sehr viel dringlicher als ihre Sicherheitsprobleme ansieht. In diesem Sinne argumentierte Gustav Heinemann, wenn er sagte: „Die Streitkräfte dieses Staates sind nicht Selbstzweck, sie sind nicht ein Instrument, mit dem politische Lösungen zu erzwingen wären. Sie haben allein den Auftrag zu verhindern, daß uns Gewaltlösungen von außen aufgezwungen werden."
Die Gesellschaft ist auch nicht gehindert, diesen Auftrag umzuformulieren, zu erweitern oder einzugrenzen. Bei all diesen Freiheiten ist sie aber dennoch gebunden: Solange der Auftrag in dem einen oder anderen Umfang besteht, muß die Gesellschaft den Bedingungen gerecht werden, die jedem Auftragsverhältnis wesensgemäß ist. Einen Auftrag zu erteilen und seine Bedingungen zu ignorieren, hieße widersprüchlich handeln. Hierzu stellte Helmut Schmidt bereits 1969 fest: „Die Soldaten können die Aufgabe, sich als Armee eines demokratischen Staates zu bewähren, der aus innerer Überzeugung bejaht wird, nur dann erfüllen, wenn Staatsführung, Gesellschaft und öffentliche Meinung bereit sind, die Aufgabe der Bundeswehr als eine notwendige gesellschaftliche Funktion anzuerkennen und die Soldaten der Bundeswehr nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch uneingeschränkt in die Gemeinschaft aufzunehmen."
III. Wehrmotive in der heutigen Zeit
Warum scheint es nun in weiten Kreisen der Bevölkerung keinen Willen mehr zu einer solchen Aufnahme, und das heißt letztlich zur Verteidigungsbereitschaft, zu geben? Die Verteidigungsbereitschaft setzt die Einsicht in die Verpflichtung zur Solidarität mit der Gemeinschaft voraus, in der man lebt. Das ist eine Solidarität, die den Verzicht auf Eigeninteresse zumindest für die Zeit der Ausbildung und erst recht für den Ernstfall bedeutet. Diese Bereitschaft ist das Resultat zahlreicher Faktoren, wobei man sowohl Elementen begegnet, die von außen her einwirken (z. B. Fragen der internationalen Gesamtpolitik), als auch solchen, die den innersten Kern ausmachen (z. B. Wehrmotiv).
Die Wehrmotive stellen also die übergreifenden sittlichen und geistigen Werte dar, die eine Verteidigung begründen. Häufig werden diese Wertentscheidungen durch das Gefühl, die Tradition, die Gewohnheit und durch die Meinung der Umwelt wesentlich beeinflußt. Daher ist für die Schaffung einer Verteidigungsbereitschaft nicht nur eine offene Diskussion und eine ausreichende Information notwendig, sondern auch eine positive Grundhaltung in der ganzen Bevölkerung als unabdingbare Voraussetzung anzusehen. Die Wehrmotivation, die auch im persönlichen gründet, Gewissen kann von der Bundeswehr allein nicht hergestellt werden.
Das Kernproblem liegt wahrscheinlich darin, daß die politische Kultur in unserer Gesellschaft zunehmend von Wunschvorstellungen beherrscht wird. Eine schweigende Mehrheit ist nicht mehr in der Lage, ihre realistische Auffassung von der Bedrohung und der NotWendigkeit zum Waffeneinsatz für die Verteidigung der Freiheit im Prozeß der demokratischen Willensbildung zu artikulieren. Darüber hinaus besteht die allgemeine Neigung, lautstark vertretenen Positionen mehr Aufmerksamkeit zu widmen, als sie eigentlich im Hinblick auf ihr geistiges und moralisches Gewicht verdienen. Offenbar kann und will sich unsere Gesellschaft nicht vorstellen, daß wir eines Tages zur Abwehr eines bewaffneten Angriffs gezwungen werden könnten. Militärische Existenzsicherung durch eine organisierte bewaffnete Verteidigung hat für viele den Charakter des Unwirklichen. Der derzeitige Staatssekretär des Bundesministeriums der Verteidigung, Dr. Joachim Hiehle, erklärte erst vor kurzem anläßlich eines Seminars der Friedrich-Ebert-Stiftung: „Der im Wortsinn tödliche Ernst, der die Existenz der Streitkräfte umgibt, nämlich im Verteidigungsfall zu kämpfen, Menschenleben einzusetzen und unter Umständen das eigene Leben zu verlieren, ist eine so unangenehme Wahrheit, daß man darüber nicht spricht. Aus dieser Tabuzone müssen wir heraus."
Dabei wäre es aber doch die Angelegenheit jedes Bürgers, mittelbar oder unmittelbar für die Aufrechterhaltung unserer staatlichen, gesellschaftlichen und privaten Existenz in Frieden und Freiheit zu sorgen. Nachdem aber die Gesellschaft der Bundesrepublik von Anfang an dazu neigte, ihren Verteidigungswillen gleich -sam in die Bundeswehr zu evakuieren und auf sie zu delegieren, stiehlt sich der einzelne aus seiner Mitverantwortung und überläßt die Sorge um die äußere Sicherheit allein den Soldaten. Da kann man dann leicht moralisch argumentieren und Krieg und Gewaltanwendung persönlich verabscheuen. Vor allem in Teilen der jungen Generation ist diese Haltung weit verbreitet und gewinnt zunehmend Einfluß in der derzeitigen Friedensbewegung.
IV. Problemfeld Jugend
Wenn man heute über die Jugend spricht, macht sich bei der älteren Generation zunehmend Ratlosigkeit breit. Die Bereitschaft zum ialog auf beiden Seiten wird durch eine Tenenz zur Verweigerung eingeschränkt; nicht nur der Kriegsdienst mit der Waffe wird verweigert, sondern auch das Engagement in vieen anderen Bereichen der Gesellschaft.
Nun darf man aber jene große Mehrheit von rund drei Vierteln der Jugendlichen nicht vergessen, vornehmlich der mittleren und unteren Bildungs-und Sozialschichten, die heute noch weitgehend zufrieden sind. Aber auch deren Zustimmung zum politischen System ist unsicher, weil es ja weithin nur auf die wirtschaftliche und soziale Leistungsfähigkeit gegründet ist „Um es zugespitzt zu formulieren: Weniger der intellektualisierende, aus gesicherten Verhältnissen vorgetragene Protest von heute als die labile Zustimmung der großen Mehrheit wohlstandsorientierter und wohlstandsgewöhnter Jugendlicher könnte das zentrale Problem jugendlichen Protests und der staatlichen Legitimität in den nächsten Jahren werden."
Es ist nur ein relativ kleiner Teil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, der seine Proteste in öffentlichen Aktionen und in ungewohnten Ausdrucksformen äußert; die Mehrheit bejaht zwar grundsätzlich die politische und wirtschaftliche Ordnung der Bundesrepublik, nimmt aber kaum Notiz von der offiziellen Politik. Auf gut 15 % der Jugendlichen wird die Zahl derer geschätzt, die sich nicht in das Modell der obrigkeitlichen Wohlstandsdemokratie einfügen und sich auch nicht einfügen lassen wollen.
Stephanie Hansen und H. J. Veen schrieben Ende 1980 hierzu in der „Zeit“: „Sie sind das Protestpotential unserer Tage. Die Jugendlichen haben zur Demokratie in der Bundesrepublik, zur industriellen Leistungsgesellschaft und zu den herkömmlichen sozialen und wirtschaftlichen Wertorientierungen eine wesentlich kritischere Einstellung und lehnen das gesamte . System'der Bundesrepublik mehr oder weniger‘ab. 15 %, das sind immerhin 1, 3 Millionen Jugendliche von 14 bis 21 Jahren. Zugleich sind das allerdings jene, deren überdurchschnittliches Engagement sie in der Öffentlichkeit entsprechend deutlich in Erscheinung treten läßt. Diese Jugendlichen geben ein Bild der bundesrepublikanischen Jugend, das weitaus kritischer, unruhiger erscheint, als die Jugendlichen in ihrer Gesamtheit tatsächlich sind. Politisch neigen sie den Grünen und anderen . alternativen'Parteigruppierungen zu. Ideologisch ordnen sie sich selbst vornehmlich extrem links bis links ein und sind überwiegend Schüler höherer Schulen oder Studenten an Hoch-und Fachhochschulen. Daß sie stark überproportional Kinder der Oberschicht und der oberen Mittelschicht sind, ist nur scheinbar ein Paradox. Ein . gesichertes Leben', eine gute Ehe', . beruflicher Erfolg'und . Sicherheit im Glauben'sind ihnen vergleichsweise unwichtiger als den übrigen, ihre Frei-zeit verbringen sie seltener als der Durchschnitt der Jugendlichen in Diskotheken und zu Hause, sehr viel häufiger dagegen in Freundeskreisen, wo auch mehr politisch diskutiert wird als anderswo."
Diese Jugendlichen sind auch selbstkritischer; Einsamkeitsgefühle, Zweifel an sich selbst, die Angst, Fehler zu machen und zu versagen, überhaupt Zukunftsängste kommen deutlich stärker zum Vorschein. Diese Gruppe leidet offenbar stärker als die große Mehrheit der Jugendlichen unter den Gegebenheiten und den Perspektiven der Bundesrepublik. Häufiger als andere glauben diese Jugendlichen, sich in unserem Gesellschaftssystem nicht entfalten zu können. Sie sind aber um so ernster zu nehmen, weil sie überproportional in sogenannte Multiplikatorenfunktionen hineinwachsen, also beispielsweise Lehrer, Journalisten oder Sozialpädagogen werden. Dieses Protest-potential, das für die Gesellschaft völlig brachliegt und eventuell verlorengeht, hat besondere Qualität. Sich zu entschließen, nicht mehr mitzumachen, dazu gehört Mut, Kopf und Bewußtsein: Eine Minderheit wohl immer noch, sicherlich, aber eine wachsende und eine sehr wirksame.
Aus der Flut der Untersuchungen, Studien und Analysen zum Thema „Jugend", die allein im letzten Jahr veröffentlicht wurden, läßt sich folgendes feststellen
— ein verbreitetes politisches Desinteresse an „großen" Politikthemen, — relativ hohe Empfindlichkeit, Sensibilität, Reizbarkeit und Ich-Bezogenheit, — Rückzug in die Privatheit, in den persönlichen Freiraum, — ausgeprägte individuelle Leistungsbereitschaft zum persönlichen Nutzen.
Eine Auseinandersetzung mit den Argumenten der anderen findet nicht mehr statt, logi-sehe Denkstrukturen sind nicht gefragt und auch nicht erkennbar. Die gleiche Sprache spricht man schon lange nicht mehr. Heinrich Böll sagte dazu in einem Gespräch mit Heinrich Vormweg: „Was ich feststelle ist, daß eben eine neue Sprache entsteht. Es ist ein bestimmter Jargon, der sehr reduziert ist und in dem mit einem Wort ganze Komplexe ausgedrückt werden.“
Die Bereitschaft zum Verstehen, zum Miteinandersprechen, scheint manchmal völlig verlorengegangen zu sein. In den Thesen zu den Jugendunruhen 1980, aufgestellt von der Eidgenössischen Kommission für Jugendfragen im November 1980, wird dazu festgestellt: „Wenn wir nicht zwischen und auch innerhalb der Generationen verlernt hätten, miteinander zu reden, so wären die Jugendunruhen nicht ausgebrochen“. Die Kommission stellt weiter fest, daß „... eine der Hauptursachen der Unruhen der verlorene Dialog ist. Dialog setzt eine gemeinsame Sprache voraus. Wenn die Erwachsenen aufgrund ihrer Lebenserfahrung tatsächlich mehr Sicherheit und Über-blick haben, darf man von ihnen und besonders von den Politikern erwarten, daß sie den ersten Schritt tun, die neu entstandene Sprache der Jugendlichen zu verstehen, und dies nicht nur aus dem eigenen Blickwinkel und von den eigenen Interessen her.“
Die Jugendlichen sind heute zum großen Teil von einer latenten Unzufriedenheit erfüllt. Sie haben ihre teilweise recht deprimierenden Zukunftsaussichten erkannt, sind unzufrieden über ihre Lebens-und Umweltbedingungen—, vor allem die unwohnlich verbauten Städte und der bürokratisch verwaltete Alltag erscheinen den jungen Leuten wie eine erdrückende Einsicht, unter der das wirkliche Leben eingefroren ist; die Irritation der Sinnfrage und die Relativierung der Werte haben Ängste und Unsicherheit ausgelöst.
Die sehr unterschiedlichen Motivationen der Jugendlichen haben aber eine gemeinsame emotionale Basis mit einem tiefsitzenden Mißtrauen gegen den Staat, gegen Machtstrukturen aller Art, eine Abneigung und Ablehnung, die einhergeht mit einem erschrekkenden Unverständnis der demokratischen Ordnung. Sie empfinden den Staat als anony-mes Gebilde, undurchschaubar und mächtig, bedrohlich, als Betrieb, von dessen Aktivitäten sie ausgeschlossen sind und der ihnen verweigert, was sie haben möchten, der für andere da ist, nur nicht für sie. Man hört bei ihnen kein Wort darüber, daß es Wahlen gibt, daß 99 % der Wahlbeteiligten bei den letzten Bundestagswahlen für die demokratischen Parteien gestimmt haben, und daß damit unsere staatliche Ordnung auf einem Konsens der Mehrheit beruht. In dem Züricher Kampfruf der jüngsten Jugendunruhen „Macht aus dem Staat Gurkensalat" tritt ein tiefes latentes Mißtrauen gegenüber unseren gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen zutage. Die neue Jugendbewegung — wie sie sich besonders in den gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Schweiz herauskristallisiert hat — läßt folgende drei systematische Besonderheiten erkennen:
— Der Protest der Jugendlichen kommt ohne Führungskader, ohne handlungsverpflichtende Weltanschauung und institutionell geregelte Diskussions-und Entscheidungsstrukturen aus. Der Protest entzieht sich Verallgemeinerungs-, Vereinheitlichungs-und Repräsentationsansprüchen von Organisationen schlechthin und bezieht gerade davon seine eigentümliche Unberechenbarkeit.
— Das kodierte Recht verliert bei den Jugendlichen zeitweilig seine bindende Kraft und Legitimation. Was Recht und Unrecht ist, wird von Fall zu Fall von den Jugendlichen selbst festgelegt.
— Klar formulierte und logisch strukturierte Ziele der gegenwärtigen Jugendbewegung gibt es nicht. Die Jugend von 1968 brach im idealistischen und ideologischen Schwung dazu auf, für die ganze Gesellschaft bessere Gesetze und eine bessere Ordnung zu erkämpfen. Demgegenüber haben die Jugendlichen, die heute auf die Straße gehen, konkrete Probleme erlebt, und was sie wollen, ist die Abschaffung von Mißständen aus ihrer Sicht, ohne daß sie sich um weitere Zusammenhänge kümmern. Also sind an die Stelle ideologischer Ziele pragmatische Forderungen getreten, die den unmittelbaren Lebenskreis und nicht die gesellschaftlichen Gesamtstrukturen betreffen. Die jetzige Bewegung verlangt nach autonomen Freiräumen gegenüber der bestehenden Gesellschaft, ohne sich auf diese einzulassen und ohne eine missionarische Botschaft. Im Selbstverständnis der Bewegung existiert wenig Verbindendes; es gibt kaum Brücken und Kommunikationswege zur offiziellen Gesellschaft. Vielleicht darf man das alles nicht zu tragisch nehmen, da Unzufriedenheit stets ein Vorrecht der Jugend war. Junge Leute haben aus den geistigen, sozialen und politischen Spannungen einer Zeit heraus das Bedürfnis, die Belastbarkeit von überlieferten Lebensformen und Wertmaßstäben auf die Probe zu stellen. Trotzdem muß jeder nachdenkliche Bürger unseres Landes die Veränderungen im moralischen Habitus und im sozialen Verhalten der jungen Menschen mit Sorge betrachten, zumal sich diese Verschiebungen im intelligenteren Jugend und sensibleren Teil der vollziehen.
Die Begegnung zwischen Alt und Jung war nie problemlos, aber die Gegensätze von heute scheinen unüberbrückbar zu sein. In unserer rapide sich wandelnden Welt mit ihrer permanenten technischen Revolution, in der es schwer ist, Wertmaßstäbe zu finden, an denen man sich orientieren kann, erscheinen alle bisherigen Werte in Frage gestellt zu sein. Dieses Gefühl haben jedenfalls junge Menschen, die ohne Antriebskraft, ohne Engagement außerhalb ihrer Clique und ihres Freundeskreises kein Gemeinschaftsgefühl zu kennen scheinen. Kommt es daher, daß immer mehr Jugendliche versuchen, neben dieser Gesellschaft zu leben, sich als Randgruppe in irgendeiner Form alternativ durchzuschlagen?
Manchmal hat man das Gefühl, es sei das Ziel der Jugendlichen, sich aus allem Erwachsen-sein herauszuhalten: Sie wollen weder politisch erwachsen werden, noch persönlich sich in diese neue Rolle hineindrängen lassen; sie möchten verweilen im Unvollkommenen, erleben Selbstzufriedenheit im Nicht-Weiterkommen, bauen Denksperren auf vor bedrohenden Fragestellungen — sie wollen einfach leben, alles mitnehmen, wenn möglich sofort.
Politik hat offensichtlich für diese Generation ihren Ernst verloren. Deutlich ist eine Abwendung, die sich nicht so sehr als Aufbegehren gegen politische Parteien äußert (wie dies in den sechziger Jahren bei einem Großteil der studentischen Jugend der Fall war), sondern schlimmer: als Gleichgültigkeit gegenüber den Parteien. „Politik muß heute nicht mehr Weltverbesserung, sondern Veränderung des konkreten Lebenszusammenhanges, nicht mehr Agitation der Gegner, sondern Erfolgs-erlebnisse für die Aktiven selbst, nicht mehr den zähen Kampf um Positionen, sondern das Berauschen an , action'und Symbolen beinhalten. Deutlich wird dieser Trend an vielen Demonstrationen gegen Atomkraftwerke: Diese Demos sind bunter und phantasievoller, aber auch symbolischer und moralischer geworden. Nicht mehr die klare politische Parole, sondern die Einheitsfront der Gleichgesinnten zählt. Begeisterung hat vielfach Bewußtsein ersetzt."
Dazu gehört, daß die Distanz zu politischen Institutionen einhergeht mit einer Hinwendung auf den eigenen, überschaubaren Lebensbereich, den man leichter selbst unmittelbar gestalten und beeinflussen zu können glaubt: etwa auf den Freizeitbereich, den Wohnbe -reich. Dies hat allerdings nichts mit dem Rückzug ins Private oder mit politischem Aussteigen zu tun. Die Jugend ist deshalb nicht unpolitisch, sondern sie hat vermutlich nur ein anderes Verständnis von Politik: weg von der Delegierung gesellschaftlicher und auch persönlicher Problemlösungen auf große Organisationen, deren Strukturen erstarrt sind und die Partizipation eher verhindern, hin zu Selbstverantwortung und Eigeninitiative.
Die „großen Politikthemen" sind vielen Jugendlichen zu weit entfernt. Manche dieser Themen haben zwar große ethische und moralische Attraktivität, wie etwa „Friedensdienst", aber sie werden erst dann handlungsrelevant, wenn man sie sozusagen in den eigenen Handlungsbereich mit einbeziehen kann. Hier dürfte für viele der Stellenwert der Kriegsdienstverweigerung liegen. Ob die Staaten abrüsten oder nicht, dies glauben Jugendliche nicht beeinflussen zu können. Aber ob sie selbst eine Waffe in die Hand nehmen, das können sie schon eher beeinflussen. Kriegsdienstverweigerung ist für sie auch der Versuch, das eigene Ohnmachtsgefühl bei solch einem existenziellen Thema aufzuheben und quasi einen persönlichen Beitrag zu leisten. Politik wird eben auch von den Jugendlichen heute anders erlebt: „Es herrscht eine große Lust vor, etwas für sich selbst zu tun, lebens-praktische Alternativen zu entdecken, in der Hochstimmung des . Etwas-Tuns’ zu verweilen, sich selbst zu verwirklichen. Verpönt sind die alten Tugenden der Politik: die Anstrengung der politischen Diskussion, die Beschäftigung mit der Theorie-Reflexion, der linke Asketismus einer Vertröstung auf den roten Morgen. Statt dessen regieren andere Inhalte diese Alternativ-Bewegung: das Drauf-Sein, , Gut-Fühlen', das . Gefühl, etwas getan und nicht nur im-mer geschwätzt zu haben', das . Austoben, Ausleben und Nachholen', das . Etwas Starkes machen, das törnt', die . Veränderung, die frei macht'.“
Fraglich bleibt, ob die lautstarke Minderheit nicht Probleme und Wünsche artikuliert, die auch die schweigende Mehrheit bedrücken. Werden die Proteste und Verweigerungen denn nicht von der Mehrheit auch toleriert und insgeheim unterstützt? Nochmals die Eidgenössische Kommission für Jugendfragen: «Die Jugendlichen weisen in Form von Forderungen auf Probleme hin, die sich unter dem vielzitierten Stichwort . Verlust von Lebensqualität'zusammenfassen lassen — Verlust von menschlichen Dimensionen in Lern-und Arbeitswelt, im Wohnen, in der Politik und im persönlichen Zusammenleben. Es sind im Grunde unsere Probleme, generationenübergreifend ... Die gesellschaftspolitischen Forderungen der Jugendlichen sind oft wirr und widersprüchlich. Die Jugendlichen wissen tatsächlich nicht genau, was sie konkret alles wollen und wie eine Gesellschaft nach ihren Vorstellungen im einzelnen aussehen sollte. Sie leben in einer Art vorbewußtem Zustand. Das ist eine Chance. Es geht ihnen im Grunde nicht anders als uns, nur daß wir vieles von dem, was die Jugendlichen unbestimmt fühlen und ansprechen, verdrängt und vergessen haben."
V. Erfahrungen der Jugendoffiziere an den Schulen
Die Frage nach dem Verhältnis von Jugend und Bundeswehr muß in den Zusammenhang des geschilderten Verhältnisses der Heranwachsenden zu den gesellschaftlichen Institutionen gestellt werden. Die Jugendlichen übertragen Erfahrungen, anderen sie die mit Institutionen gemacht haben, auf die Bundeswehr. Die Bundeswehr ist also so etwas wie ein Ernstfall für das Verhältnis der Jugendlichen zur Gesellschaft, und zwar insofern, als hier ja gesellschaftliche Erwartungen am härtesten geltend gemacht werden. Die Forderungen der Gesellschaft sind für den Wehrpflichtigen kaum mit individuellen Vorteilen, mit Karriere und ähnlichen Dingen in Verbindung zu bringen.
An dieser Nahtstelle zwischen Bundeswehr und Gesellschaft arbeiten derzeit 57 hauptamtliche und 590 nebenamtliche Jugendoffiziere Sie haben den schwierigen Auftrag, im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit der Bundeswehr Kontakte zu den Schulen, Jugendverbänden und Jugendorganisationen sowie zu den Multiplikatoren der politischen Bildungsarbeit zu halten. Im September 1981 wurden durch die zuständige Stelle im Streitkräfteamt der Bundeswehr 44 Jahresberichte der hauptamtlichen Jugendoffiziere ausgewertet und vorgelegt Diese Berichte enthalten aufschlußreiches Material über das Verhältnis Jugendlicher zur Landesverteidigung, über die Zusammenarbeit der Bundeswehr mit Kultusund Schulbehörden sowie über die Resonanz sicherheitspolitischer Themen in den Schu-Jugendverbänden und bei den und -organisationen.
Alle Berichte zeigen dabei Übereinstimmung in folgenden Aussagen und Feststellungen:
— Die öffentlich geführte Diskussion über Bundeswehr, Landesverteidigung und Sicherheitspolitik im allgemeinen hat erheblich zugenommen. Dabei verlagerten sich die Diskussionsschwerpunkte und -inhalte vom Themen-gebiet „Bundeswehr und Gesellschaft" (Auseinandersetzung um die Tradition und die Innere Führung) im zweiten Halbjahr 1980 auf die Ebene der „internationalen Sicherheitspolitik" im ersten Halbjahr 1981, beginnend im November 1980 (Wahlen in den USA, neue amerikanische Administration, Krefelder Appell). — Die Zweifel an der Zuverlässigkeit und der Friedensliebe der amerikanischen Regierung und des NATO-Bündnisses haben sich erheblich verstärkt. Dagegen wird der Sowjetunion die Bereitschaft zum Friede unterstellt und Verständnis für aufkommende Bedrohungsgefühle entgegengebracht.
— Eine scharfe Abgrenzung hinsichtlich des Engagements bei der Diskussion und in der ideologischen Festlegung wird deutlich: Einer sich in der Schule weitgehend indifferent verhaltenden Gruppe von Jugendlichen steht die in Parteien, Kirchen und Friedensvereinigungen organisierte Jugend gegenüber. Je größer die Identität beider Gruppierungen, desto stärker wird die Ablehnung gegenüber der derzeitigen Sicherheitspolitik.
— Ebenso wird ein Stadt-Land-Gefälle deutlich. Die oben aufgeführte Identität der Gruppen, mithin die maßgeblich emotional meinungsbildenden Faktoren, nehmen mit zunehmender . Provinzialisierung'ab. Die Einstellung der „Landjugend" zur Landesverteidigung ist merklich positiver, ihre Haltung unkritischer als die der „Stadtjugend".
— Unsicherheit, Mißtrauen, Kriegsangst und die Komplexität der Thematik haben zu einer übertriebenen Emotionalisierung und Radikalisierung des Meinungsaustausches geführt. Während in vier Berichten Ausschreitungen/Tätlichkeiten oder deren Androhung gegen den Jugendoffizier gemeldet wurden, bestätigen 31 Berichte dennoch eine sachliche Auseinandersetzung, stellen aber fest, daß sowohl Ablehnung und Mißtrauen wachsen wie auch extreme Positionen im außerschulischen Bereich zunehmend Einfluß gewinnen, wobei deren Erfolg nur schwer einzuschätzen ist.
— In 23 Berichten wird Klage geführt über die fehlende bzw. mangelnde Bereitschaft der aktiven Soldaten, sich an der öffentlichen sicherheitspolitischen Diskussion zu beteiligen. Darüber hinaus beklagen sich alle hauptamtlichen Jugendoffiziere, daß es bisher nicht gelungen ist, den aktiven oder Wehrpflichtigen als einen „positiven" Multiplikator zu gewinnen. Ihre in der Regel negativen Erlebnisberichte prägen nach wie vor sehr stark das Bild der Bundeswehr in der Öffentlichkeit.
Die Breite der sicherheitspolitischen Thematik und Diskussion hat ein weit gefächertes Meinungsspektrum erzeugt, das nur schwer abgrenzbar ist. a) Der schweigenden und reservierten Mehrheit der jungen Bürger wird vorwiegend eine positive Grundeinstellung zu Fragen der Landesverteidigung zugeschrieben. Beklagt wird: Diese Mehrheit — die man in allen Zielgruppenbereichen findet — äußert sich nicht oder selten, dann aber nur im kleinen Kreis oder in Einzelgesprächen. b) Eine große Anzahl Jugendlicher und Lehrer zeigt sich aufgeschlossen, kritik-und diskussionsfreudig, ohne sich einseitig in ihrer Meinung festgelegt zu haben. Sie sind skeptisch, oberflächlich neugierig und bereit, Argumente auszutauschen. Eine zunehmende Emotionalisierung ist zu beobachten. Diese Jugendlichen und Multiplikatoren, zu finden in allen Schulen ländlicher Regionen und in den Realschulen, Berufsschulen sowie in Gymnasien/Sekundarstufe I der Großstädte und Ballungszentren, sind der eigentliche „*Umschlagplatz und der Spiegel der vorherrschenden Meinungen der Jugend. c) Beiden Gruppen stehen die engagierten Kritiker/Gegner des westlichen Bündnisses und seiner Politik gegenüber. Hier muß aber unterschieden werden zwischen ideologisch-politisch festgelegten und radikal agierenden Organisationen und Initiativen, deren offensichtliches Ziel die Verschiebung des Gleichgewichts zugunsten des Ostens und die Auflösung des NATO-Bündnisses ist (u. a. DKP, DFG-VK, DFU, KOFAZ), und den Angst, aus Zweifeln und Verunsicherung in die „aktive Friedensarbeit“ geflüchteten Kritikern/Gegnem, deren ethisch-moralische Ansprüche an die Wirklichkeit den Realitäten nicht entsprechen. Ihr ernsthafter und verständlicher Wunsch nach Frieden in der Welt wird überschattet von einer allzu naiven und kaum rational durchsetzbaren Betrachtungs-und Verhaltensweise („Ohne Rüstung leben", „Frieden schaffen ohne Waffen", „Pax Christi").
VI. Demokratisches Dialogverhalten
Mit einem gewissen Recht konnte man früher davon ausgehen, daß das Bedürfnis für Sicherheitspolitik jedermann unmittelbar einleuchtete. Doch die oben aufgezeigten Tendenzen in der Jugend demonstrieren, daß es eigentlich kaum noch etwas gibt, das als selbstverständlich hingenommen wird. Mit zunehmender zeitlicher Distanz zu den Kriegen der Vergangenheit kann ein Sich-bedroht-Fühlen nicht mehr erwartet werden. Was natürlich nicht heißen soll, daß die Bedrohung spürbarer gemacht werden müßte — wohl aber, daß in offenem, vorurteilslosem Dialog bei der Jugend um Verständnis dafür geworben wird, daß die ältere Generation die sicherheitspolitische Ausgangslage anders sieht. Wenn eine aktuelle Bedrohung nicht mehr unmittelbar spürbar ist, so muß jeder einzelnen nachwachB senden Generation aufs neue mit Geduld und Ausdauer erklärt werden, wozu Sicherheitspolitik nötig ist. Der Prestigeverlust, den die Offiziellen durch eine solche offene Diskussion befürchten, ist bei weitem nicht so groß wie der sonst eintretende Verlust an Glaubwürdigkeit. Mit jedem Stück Politik, das für die öffentliche Diskussion unzugänglich gemacht wird, geht auch ein Stück Demokratie verloren. Viele Jugendliche haben den Eindruck, daß auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik in besonderem Ausmaß Pannen oder unangenehme Wahrheiten verborgen werden. Andererseits wird Kritik an einzelnen Maßnahmen der Sicherheits Politik von offizieller Seite nur allzu oft als direkter Angriff auf die Grundfesten des Staates mißverstanden und damit als diskussionsunwürdig angesehen
Demokratisches Dialogverhalten sollte anders aussehen. Zunächst ist es erforderlich, daß über alle Aspekte der Sicherheitspolitik, die nicht der Geheimhaltung bedürfen, offen und vorurteilsfrei debattiert werden kann. Und der Willensbildungsprozeß in einer Demokratie setzt eben auch voraus, daß um die Legitimation einzelner politischer Handlungen gerungen wird, und zwar ohne daß das Ergebnis dieses Ringens von vornherein feststeht. Wenn also im Prozeß der politischen Auseinandersetzung klar wird, daß einzelne Teile der Sicherheitspolitik von der Bevölkerung anders gesehen werden als von der politischen Führung, so wird man auf die Dauer nicht darum herumkommen, auch abweichende Positionen zu berücksichtigen — genauso, wie dies in jedem anderen Politikbereich auch selbstverständlich ist
VII. Fazit
Für einen sinnvollen Dialog zum Thema . Jugend und Bundeswehr" müßten folgende Voraussetzungen geklärt sein:
1. Die Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland muß ein Diskussionsthema in der Öffentlichkeit werden. Dazu genügt es aber nicht, nur „einfache" Reizthemen wie Frauen in Uniform, Kriegsdienstverweigerung, Subkultur in der Bundeswehr, Gelöbnisfeier, Traditionspflege etc. zu diskutieren, sondern es wird darauf ankommen, unter Berücksichtigung von internationalen Zusammenhängen — ohne utopische und falsche Vorstellungen von Möglichkeiten und Spielräumen der Bundesrepublik — eine richtige Mischung zur Wahrung unserer innen-und außenpolitischen Interessen zu finden. Diese —vielleicht erste wirklich offene — sicherheitspolitische Debatte muß die Verteidigungspolitik an ihrer einzigen Aufgabe messen, nämlich die Bundesrepublik vor militärischer Aggression und politischer Erpressung zu bewahren. Konstruktive Kritik an der NATO, der Bundeswehr oder in sicherheitspolitischen Grundsatzfragen untergräbt noch lange nicht die Verteidigungsbereitschaft der Bundesrepublik. 2. Die Politiker, Parteien, Verbände und Kirchen, also die gesellschaftlichen Eliten, sollten die Notwendigkeit der Landesverteidigung und der Bundeswehr stärker verdeutlichen und sich an entsprechenden Veranstaltungen beteiligen. Ein solches Vorgehen, das kritische Betrachtungen keineswegs ausschließt, dürfte ebenfalls sehr wesentlich dazu beitragen, den Bestand unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu sichern und dabei den Dialog vor allem mit der jungen Generation zu fördern. 3. Im Schul-und Bildungsbereich müssen verstärkte Anstrengungen unternommen wer-51 den, um die Jugend intensiver an Fragen der Landesverteidigung und der Wehrpflicht heranzuführen. Erste Ansätze dazu wurden offensichtlich mit dem Beschluß der Kultusministerkonferenz in Freiburg vom 5. Dezember 1980 erreicht Demnach soll das Thema „Friedenssicherung in Europa" in Zukunft Unterrichtsthema in den Schulen der Bundesrepublik werden Dies ist allerdings nur dann erfolgversprechend, wenn die Beschäftigung mit diesen Themen auch ein Thema in der Öffentlichkeit wird. Man kann ein politisches Thema, das jeden Bürger dieses Staates existenziell angeht, nicht aus der Öffentlichkeit in die Schulen abschieben und hoffen, daß der erwünschte Erfolg sich von allein einstellen wird.
4. Für die Behandlung derartiger Themen in den Schulen fehlen noch die dazu notwendigen Sozialkunde-Lehrbücher. Schulbuchautoren und Verlage müssen angehalten werden, brauchbare Informationen über Verteidigung dort zu bieten, wo sie bisher fast völlig fehlten. Das bedeutet nicht Wehrkundeunterricht im Stil der DDR mit Erziehung zum Haß und einem klaren Feindbild, sondern sachliche Information. Eine Studie über die Behandlung von Sicherheitsfragen in Schulbüchern aus dem Jahr 1979 kommt zu folgenden Ergebnissen
— Eine umfassende und zusammenhängende Darstellung von Sicherheitspolitik und Streitkräften findet sich in keinem der Bücher. Die Thematik wird jedoch im Zusammenhang mit anderen Themenkomplexen durchaus häufig angesprochen.
— Die Scheu vor einer problemorientierten Darstellung läßt die Autoren in Institutionen-kunde ausweichen.
— Im Gegensatz zum NATO-Bündnis wird die Bundeswehr nicht einmal institutionenkundlich behandelt.
— Wehrpflicht und das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung werden völlig unzureichend abgehandelt.
Es kommt daher darauf an, evtl, durch Forschungsaufträge an wissenschaftliche Institute auch außerhalb der Bundeswehr dafür zu sorgen, daß diese Lücke geschlossen wird.
5. Im Bereich der Lehrerausbildung muß an den Universitäten das Problem der Sicherheitspolitik und des Militärs einen breiten Raum einnehmen. Ralf Zoll stellt dazu fest, daß entsprechend einer Informationsschrift aus dem Jahre 1977 für „Studien-und Berufswahl" an 33 Hochschulen in der Bundesrepublik ein Soziologiestudium mit einem Diplom-oder Magisterexamen abgeschlossen werden kann. Von 27 Hochschulen wurden insgesamt 70 Semester-Lehrangebote der Fakultäten bzw. Fachbereiche für das Wintersemester 1977/78 und das Sommersemester 1978 untersucht. Anhand der Ankündigungen in den Vorlesungsverzeichnissen konnten an zwei der 27 Hochschulen ganze drei Veranstaltungen ermittelt werden, die sich mit dem Thema „Militär“ befaßten
Ergänzend zu der oben bereits zitierten Schulbuch-Studie führte das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr Ende 1979 eine (noch nicht endgültig ausgewertete) repräsentative Befragung von 877 Sozialkundelehrern an weiterführenden Schulen aller Bundesländer durch. Dabei stellte sich heraus, daß die befragten Lehrer während ihres Studiums Zugang hatten zu den Themen:
nein (%) ja (%) Abrüstung 65 35 Bundeswehr 71 29 Friedens-/Konfliktforschung 53 47 Bündnissysteme 49 51 Atomwaffen/-krieg 72 28 Wiederbewaffnung 67 33 6. Im Bereich der Lehrerweiterbildung müssen parallel mit der Erstellung von curricularen Lehrplänen durch die Lehrer Handreichungen für den Unterricht erarbeitet werden unter Beteiligung von Experten aus dem Bereich der Sicherheitspolitik und Friedensforschung.
7. Das Bundesministerium der Verteidigung sollte überlegen, ob die konzeptionelle und inhaltliche Ausgestaltung der Öffentlichkeitsarbeit ausreicht. Dabei ist es notwendig, Verständnis und Unterstützung für die Offentlich-keitsarbeit der Bundeswehr und die in ihr Tätigen zu fördern
Da die Integration der Streitkräfte in die staatliche und gesellschaftliche Ordnung nicht nur institutioneile Aspekte besitzt, sondern eine geistige und politische Verarbeitung der Landesverteidigung in der Bevölkerung voraussetzt, kann die Einsicht in die Notwendigkeit militärischer Verteidigungsbereitschaft nicht auf dem Verwaltungs-und Verordnungswege über die Lehrer den Schülern abverlangt werden. Dies ist eine Aufgabe, die jeden angeht.