Gegenstand der hier vorgelegten Untersuchung ist das Wahlkampfabkommen für die Wahl zum 9. Deutschen Bundestag, über das eine von den Parteien gemeinsam eingerichtete Schiedsstelle wachen sollte. Insbesondere galt diese Verpflichtung solchen Tatbeständen, die in der Vergangenheit vielfach zu Unmutsäußerungen bei den Wählern geführt hatten und die am deutlichsten mit dem Vorwurf, daß zuviel „geholzt" statt sachbezogen argumentiert würde, zu beschreiben sind. Zu den in das Abkommen aufgenommenen Verpflichtungen gehörten insbesondere der Verzicht auf jede Art von persönlicher Verunglimpfung und Beleidigung sowie die Verpflichtung, sich von Äußerungen Dritter zu distanzieren, die in Publikationen oder in sonstiger Weise öffentlich unwahre, verleumderische oder beleidigende Behauptungen erheben und diese gleichzeitig mit einer Unterstützungserklärung für eine der beiden Parteien verbinden.
Die Parteien stimmten darin überein — und dies charakterisiert die besondere Bedeutung der Schiedsstelle —, daß politische Auseinandersetzungen grundsätzlich politisch und möglichst nicht auf dem Wege von Rechtsstreitigkeiten vor Gericht ausgetragen werden sollten.
Als Mitglieder der Schiedsstelle wurden ernannt: der frühere Beauftragte der evangelischen Kirche, Bischof Hermann Kunst, der als Unparteiischer den Vorsitz übernahm, der ehemalige Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (CDU); der frühere Bundesfinanzminister Alex Möller (SPD); der ehemalige bayerische Landtagspräsident Rudolf Hanauer (CSU) und der ehemalige Justizminister von Schleswig-Holstein, Bernhard Leverenz (FDP).
Am Anfang herrschte trotz gewisser Unterschiede in der Begründung weitgehende Einmütigkeit in der Ablehnung unsauberer Wahlkampfpraktiken. Für den vormaligen Kanzler-kandidaten der CDU/CSU, Rainer Barzel, stand jedenfalls ein Jahr vor dem anvisierten Termin bei allen sonstigen Unwägbarkeiten eines fest: „Niveau ist gefragt. Wer , holzt', dürfte verlieren“ Für einige Sozialdemokra-ten, die sich zu Beginn des Wahljahres bewußt von der Fixierung auf den 5. Oktober lösten, stellte sich die Frage grundlegend anders: „Eine substanzlose Polarisierung, bei der ideologische Konfrontation nicht Ausdruck, sondern Ersatz für Sachkonflikte ist“, bedeutete für sie nämlich unabhängig vom Ausgang der Wahl eine Gefahr für den Bestand des Gemeinwesens. Der politische Wettbewerb darf nach ihrer Ansicht deshalb „nie auf die — und sei es moralische — Vernichtung des Gegners abzielen; jede Partei muß vielmehr ein Interesse daran haben, daß konkurrierende Parteien intakt bleiben ... Demokratie geht davon aus, daß es Mittel gibt, die jeden Zweck entheiligen. In jüngster Zeit wird Machtkampf häufig mit den verfeinerten Mitteln wissenschaftlicher Semantik und Werbepsychologie ausgetragen. Feindbilder werden entworfen, getestet und durch ständige Wiederholung ins öffentliche Bewußtsein gebracht. Begriffe werden mit generalstabsmäßigen Methoden besetzt, und zwar meist völlig unabhängig von der praktischen politischen Arbeit. So dringen militärische Vokabeln in die politische Sprache ein und beginnen sie zu beherrschen, besonders in der Vorbereitung von Wahlkämpfen. Politische Auseinandersetzung wird zur psychologischen Kriegführung."
Ganz im Sinne der komplementär zu derartigen Strategien vielbeschworenen Gemeinsamkeit der Demokraten kam es im „staatstragenden" Verlautbarungsklima des erst anlaufenden Wahlkampfes am 19. März zwischen den Bundestagsparteien zur Unterzeichnung eines siebzehn Paragraphen umfassenden „Wahlkampfabkommen für die Wahl zum 9. Deutschen Bundestag im Jahre 1980"
I. Die Unergiebigkeit von freiwilligen Kostenbegrenzungen
Obwohl erste Pressestimmen aus mancherlei Gründen befanden, daß die ganze Sache schon dann einen Sinn hätte, wenn es nur gelingen würde, den finanziellen Aufwand einzuschränken wurde dieser Aspekt des Abkommens im nachfolgenden Wahlkampf von den intensiven Diskussionen um den Stil der politischen Auseinandersetzung weitgehend verdrängt. Der praktische Nutzen von derartigen freiwilligen Verzichtserklärungen ohne irgendwelche Konsequenzen ist allerdings auch äußerst fraglich. Denn die Bereitschaft der etablierten Parteien, ihre Ausgaben zu begrenzen (die FDP auf 8 Mio. DM, CSU auf 9 Mio. DM, CDU auf 36 Mio. DM und SPD auf 40 Mio. DM), bezog sich lediglich auf die zentralen Maßnahmen in der Zeit vom 1. April bis zum Oktober 1980, also etwa auf das letzte halbe Jahr eines Wahlkampfes, der im weitesten Sinne nach dem bekannten Wort am Tag nach der Bundestagswahl 1976 bereits wieder begonnen hatte, mindestens aber ein Jahr vor dem neuerlichen Wahltermin mit der Infor-mations-und Vorbereitungsphase planmäßig einsetzte 5). Der gesamte fi Mio. DM, CSU auf 9 Mio. DM, CDU auf 36 Mio. DM und SPD auf 40 Mio. DM), bezog sich lediglich auf die zentralen Maßnahmen in der Zeit vom 1. April bis zum 5. Oktober 1980, also etwa auf das letzte halbe Jahr eines Wahlkampfes, der im weitesten Sinne nach dem bekannten Wort am Tag nach der Bundestagswahl 1976 bereits wieder begonnen hatte, mindestens aber ein Jahr vor dem neuerlichen Wahltermin mit der Infor-mations-und Vorbereitungsphase planmäßig einsetzte 5). Der gesamte finanzielle Aufwand auf regionaler und lokaler Ebene, der nach einer Faustregel noch einmal rund zwei Drittel des Einsatzes der Bundesgeschäftsstellen erreicht, unterlag dagegen ausdrücklich keinerlei Beschränkungen: der CDU-Landesverband Niedersachsen veranschlagte beispielsweise 800 000 DM für den Bundestagswahlkampf, ergänzt durch jeweils 10 000 bis 50 000 Mark aus den Kreisverbänden. Die dortige SPD kalkulierte etwa 700 000 DM ein und der Landesverband der FDP wollte sich mit 300 000 DM beteiligen 6).
Während die Kostenbegrenzung den persönlichen Beitrag der einzelnen Kandidaten in den Wahlkreisen oder die Eigenleistungen der Jungdemokraten, die sich im Gegensatz zu den Jungsozialisten als eigenständiger Verband sehen, nicht limitierte, blieb unklar, inwieweit die Absprache die Vereinigungen der CDU/CSU wie die Junge Union oder den Wirtschaftsrat verpflichtete, die sich als eingetragene Vereine formal-rechtlich von der Partei abgrenzen können 7). Die solchermaßen relativierten Sparsamkeitsgelöbnisse auf Bundesebene klammerten zusätzlich noch alle zentral gesteuerten Einladungen zu Kundgebungen und Versammlungen aus sowie die anfallenden Ausgaben für die Werbung zu Parteitagen und für besondere „Zielgruppenaktionen". Allein die aufwendigen Anzeigen-und Prospektkampagnen und die durch 97 Städte der Bundesrepublik führende Zelttournee „Treffpunkt 8), mit denen die Union neben weiteren Sonderaktionen im Bereich des Mittelstandes und der Kommunalpolitik vor allem ihre Problemgruppen Jungwähler, Frauen und Arbeitnehmer über Familien-Nachmittage „mit buntem Programm und Kaffee und Kuchen" sowie Disco-shows zu erreichen suchte bzw. auch die Senioren verstärkt mobilisieren wollte, dürften beträchtlich zu Buche geschlagen haben, tun dies aber bei der kommenden Rechenschaftslegung nicht, weil sie vereinba-rungsgemäß nicht unter das Wahlkampf-Abkommen fallen.
Neben der folglich a priori begrenzten Gültigkeit wird der Wert der angekündigten Kontrolle der tatsächlichen Aufwendungen durch Wirtschaftsprüfer grundsätzlich dadurch beeinträchtigt, daß Rechenschaftsberichte nach den Kriterien der §§ 30 und 31 des Parteiengesetzes bestenfalls diejenigen Ausgaben nennen, die auch über die offiziellen Konten und Kassen der Parteien gelaufen sind Die Wahlkampfhilfen der parteinahen Stiftungen oder das Finanzgebaren der Fraktionen erfahren dadurch jedenfalls keinerlei öffentlichen Einblick. Während Franz Josef Strauß aufgrund seiner Stellung in der Organisation ohne besondere Rechtfertigung für einen privaten „Kanzlerfonds" sammeln konnte, der ausschließlich seiner persönlichen Kampagne zur Verfügung stehen sollte ist in der CDU dieses Verfahren durch Statuten geregelt: Pa-ragraph 16 der Finanz-und Beitragsordnung der CDU, Landesverband Hamburg e. V., gestattet dem Landesschatzmeister beispielsweise, im Wahlkampf mit den Bundestagskandidaten „Sondervereinbarungen" über eine separate Kassenführung zu treffen Wegen solcher Dispositionsfonds und ähnlicher Praktiken darf man von freiwilligen Verzichtserklärungen nicht allzuviel erwarten Gleichwohl steckt in den Äußerungen von CDU-Generalsekretär Heiner Geißler vor den Delegierten des Mannheimer Parteitages, wo er die Ausgaben der SPD „seit dem 1. Januar 1980" auf über 60 Millionen Mark bezifferte, während die CDU ihren diesbezüglichen Etat um zwei Millionen unterschritten, also nur 34 Millionen DM ausgegeben habe eine kräftige Prise Rest-Wahlkampf, da er hier zwei verschiedene Zeiträume vergleicht, von denen einer nur teilweise unter die vereinbarte Kostenbegrenzung fiel. Der immerhin seriösere, wenn auch nicht präzis belegte Vorwurf seiner Partei, die Sozialdemokraten hätten „ab 1. 4. 1980 an ausweisbaren Kosten, z. B. für Plakate und Anzeigen, die ZaS, Veranstaltungen und Rednereinsatz, Fernsehund Hörfunkspots etc. rd. 55 Millionen D-Mark ausgegeben" mag sogar zutreffen. Aber selbst wenn die SPD gegen Ende ihrer Kampagne angesichts eines drohenden Verlustes schon sicher geglaubten Terrains noch einmal „nachgelegt" haben sollte, so muß sich das nicht notwendigerweise auch auf der Bundesebene als Abbuchung bemerkbar machen, da die Vereinbarungen Kostenverlagerungen aus Zweckmäßigkeitsgründen nicht ausschließen konnten. Denn auch die Christdemokraten vermochten sich nur deshalb nominell im vorgegebenen Rahmen zu halten, weil sie sich oberhalb einer bestimmten Grundausstattung ihre Werbemittelangebote von den unteren Parteigliederungen, den Vereinigungen und befreundeten Verbänden bezahlen ließen — was die Soester . Jugendinitiative Junge Leute für Franz Josef Strauß" bewog, Plakate und Aufkleber lieber kostenlos von der Bonner „Bürgeraktion Demokraten für Strauß des ZDF-Moderators Gerhard Löwenthal zu beziehen Andernfalls wäre angesichts der anhaltenden Preissteigerungen und einer unverminderten Präsenz der CDU im Wahlkampf jedenfalls kaum zu erklären, wie man dort seit 1972 mit dem gleichen Etat ausgekommen sein will
II. Konstruktionsschwächen der Wahlkampf-Schiedsstelle
Im Gegensatz zu den nach wie vor ungelösten Problemen einer wirksamen Kostenbegrenzung des organisatorisch-politischen Wettbewerbs, die erst in der Schlußphase des Wahlkampfes durch die gegenseitige „Polemik mit ungewissen Zahlen" wieder thematisiert wurden und vermutlich auch bis zur Bundestagswahl 1984 nicht befriedigend geregelt sein werden, geriet die Gemeinsame Schiedsstelle zur Überwachung der Wahlkampf-Fairneß gleich mit ihrer ersten Entscheidung in das Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit, besser: in den Meinungsstreit der vertragschließenden Parteien.
Zum Problem der Kriterien für Wahlkampf-Fairneß
Was nämlich der Markenartikel-Werbung aufgrund von Wettbewerbsgesetzen, eigenen Verhaltensregeln der Branche und zusätzlichen Selbstbeschränkungsvereinbarungen untersagt ist, gehört im politischen Straßenverkauf zum alltäglichen Handwerkszeug: Irreführung des Wählers, herabsetzende Vergleiche, Diffamierung des Konkurrenten. So sah beispielsweise eine Wahlkampfbroschüre der CDU einen unersättlichen „Geldhunger des SPD-Staates" und malte in demagogischer Weise gar eine Währungsreform an die Wand. Die Inflationsrate, die gerade wieder unter fünf Prozent sank, wurde dort der besseren Wirkung wegen einfach mit sechs Prozent angegeben. Gleichzeitig versprach die Union per Anzeige „ 500 Mark für alle jungen Mütter" und in einem Werbespot „ein Deutschland, in dem jeder einen Ausbildungs-und Arbeitsplatz erhält, ein Deutschland, in dem jeder Energie zu bezahlbaren Preisen erhält". Ihr Kanzlerkandidat krönte die Versprechen im Fernsehen mit der Erklärung „Wir brauchen Vollbeschäfti-gung und wir garantieren Vollbeschäftigung", obwohl er wissen mußte, daß niemand eine solche Garantie geben kann.
Auch jene SPD-Anzeige mit der alten Dame aus Düsseldorf-Eller, die verständlicherweise „nie wieder Krieg" will, bemühte sich kaum um Aufklärung über die zu erwartenden politischen Schwierigkeiten, sondern zielte ebenso wie die platte Gegenüberstellung „Helmut Schmidt, Kanzler des Friedens, oder F. J. Strauß, Kanzler der Angst“ auf die Emotionen der Zuschauer.
Der im Vergleich zur Wirtschaftswerbung ungleich größere Spielraum der Wahlkampf-Strategen, der nach Ansicht von Werbemanagern allerdings nicht genutzt, sondern verschenkt wird hätte die Mitglieder der Schiedsstelle veranlassen müssen, sich vorab, also bevor die Wogen von kalkulierten Entgleisungen und den unvermeidlichen Gefühlswallungen eines Wahlkampfes über ihnen zusammenschlugen, über eigenständige Kriterien für ihre Tätigkeit zu verständigen. Der grundsätzliche Einwand, ob eine politische Auseinandersetzung in „fairer und sachlicher Weise" vonstatten gehe oder nicht, könne man über die jeweils subjektive Wahrnehmung hinaus kaum objektivieren, läuft im Falle der Gemeinsamen Schiedsstelle leer: Gerade weil sich über Geschmack bekanntlich nicht (oder trefflich) streiten läßt, waren die Fairneßwächter von den vertragschließenden Parteien autorisiert, mit Mehrheit ihr persönliches Empfinden von einem „guten" politischen Stil zum Gradmesser des Wahlkampfes zu machen und auftragsgemäß „jede Art von persönlicher Verunglimpfung und Beleidigung" sowie alle „Behauptungen über andere Parteien, die geeignet sind, diese zu verunglimpfen", als Verstoß gegen das Abkommen zu rügen. Eine frühzeitige Reflexion über die eigenen Möglichkeiten und Grenzen hätte wohl vor allem zu der Einsicht geführt, daß man sich nur sehr bedingt auf das Glatteis juristischer Spitzfindigkeiten und Verfahrensweisen wie umständliche Beweisführung begeben durfte, sondern allein politische Wertungen mit moralischer Rigorosität vorzunehmen hatte Denn auch ohne langes überlegen sollte klar sein, daß der Hinweis der Union auf eine „Moskau-Fraktion in der SPD" oder die Erklärung des CSU-Landesgruppenchefs Friedrich Zimmermann, der Kanzler sei „eine lenkbare Figur des Ostberliner Regieassistenten und des Moskauer Regisseurs", weder sachlich noch sonderlich fair waren; dennoch mochten sich die Schiedsrichter nicht so recht zu einer Rüge durchringen. Solch wenig verständliche Entscheidungen steigerten zwangsläufig die Mimosenhaftigkeit der Sozialdemokraten, die der altbekannten Bolschewismus-Provokation dann mit förmlichen Beschwerden zu begegnen suchten, zumal ihr Fraktionsvorsitzender bereits für seine Äußerung gerügt wurde, die Opposition zeige erneut, „daß sie nicht in der Lage ist, politische Verantwortung zu tragen“, was ja wohl in der Verallgemeinerung den Tenor einer jeden Wahlkampf-Aussage ausmacht. Bei der Humorlosigkeit und dem Bierernst der deutschen Wahlkämpfer nahmen die Streitigkeiten gelegentlich schon groteske Züge an; so erhielt etwa der SPD-Bundestagsabgeordnete Rudolf Schöfberger einen offiziellen Rüffel für seine Formulierung, Strauß sei „der Oberhäuptling der Wucherer und Geldscheffier, ein Mann mit Rasierklingen an den Ellbogen, wer ihn wähle, stimme für eine üble Sym-bolfigur" — als ob der Wähler derartige Kraft-sprüche nicht selbst angemessen einordnen kann. Nach und nach unterhöhlte die wechselhafte Spruchpraxis, in der sich angestrengtes Bemühen um gerichtsähnliche Beweisaufnahme mit glücklicheren Momenten der raschen Beschlußfassung ablösten, überlagert von tastenden Ansätzen semantischer Einfühlungnahme und hilfloser Entgegenahme unfairer, aber nach dem neuen Modewort „Kunst--fest" geredeter Formeln den Rückhalt des Gremiums an Vertrauen bei den arg gebeutelten Sozialdemokraten. So reagierte SPD-Sprecher Lothar Schwartz auf eine Serie von Entscheidungen gegen seine Partei mit der Erklärung, daß andere scharfe Äußerungen wie die, daß es der Kandidat persönlich sei, „der im Namen der Freiheit Faschisten und Rassisten unterstützt", oder jene, man sehe Dinge in der Oppositionspolitik, „die wir für unser Land für lebensgefährlich halten müssen", nicht gerügt worden seien: . Angesichts dieser beachtlichen Bewertung von Grundpositionen in den Aussagen der SPD zur Bundestagswahl müssen die beanstandeten Formulierungen, die von unterschiedlicher Wertigkeit sind, politisch inhaltlich weniger gewichtig erscheinen.“
Die Abhängigkeit der Fairneßwächter von der Gutwilligkeit und dem Gehorsam der agierenden Politiker führte noch drastischer Heiner Geißler vor, der die Schiedsstelle mit seinem Wortspiel verwirrte, er habe mit seiner Formulierung nicht sagen wollen, der Bundeskanzler sei „im strafrechtlichen Sinne" ein Betrüger, seine Äußerung sei „vielmehr im übertragenen Sinne politisch gemeint". Obwohl das Strafrecht ja gar nicht zur Debatte stand, sondern gerade politische Aussagen zu beurteilen waren, sah das Gremium daraufhin von einer Rüge ab, obgleich man durchaus erkannt hatte, daß eine solche Bezeichnung — persönlichkeitsbezogen — „an sich" gegen das Abkommen verstieß. Allerdings gingen die Sittenrichter bei diesem Zugeständnis von der stillschweigenden Hoffnung aus, daß die Union diese Wahlkampf-Polemik nicht weiter verbreiten würde, eine Erwartung, die nach dem Auftreten des Christdemokraten nicht „sine fundamento in re" schien.
Durchsetzungsschwierigkeiten und Kompetenzanmaßung
Mit der ungerührten Wiederholung seiner Rede vom „politischen Rentenbetrüger" wies Heiner Geißler auf eine Konstruktionsschwäche der Gemeinsamen Schiedsstelle hin, die im Gegensatz zu einem immerhin denkbaren Kriterienkatalog für Wahlkampf-Fairneß ein strukturelles Problem für die „elder statesmen" darstellte: der Mangel an tatsächlicher Kompetenz: „Sie kann höchstens moralische Autorität ausüben, aber über Mittel der Sanktionierung verfügt sie nicht und daher ist niemand gezwungen, sich an ihre Urteile zu halten. Wie die Erfahrung lehrt, sind nicht einmal Gerichte imstande, Entgleisungen zu verhindern oder auch nur wirkungsvoll zu ahnden.“ Während Bundesfinanzminister Hans Matthö-fer öffentliche Schelte immerhin noch mit der treuherzigen Versicherung umging, seine Wendung „Und da kommt dieses Pack daher und vergleicht das Ende des Zweiten Weltkrieges mit dem Ergebnis unserer Politik" sei weder auf die Union noch auf ihren Kandidaten gemühzt gewesen, variierte Herbert Wehner denn auch prompt seine gerügte Äußerung von der zur politischen Verantwortung unfähigen Opposition. Der aus durchsichtigen Motiven hartnäckig vorgebrachten Aufforderung des CDU-Generalsekretärs, der Bundeskanzler möge sich doch gerichtlich gegen seinen Anwurf zur Wehr setzen kam in diesem Zusammenhang gleichwohl besondere Symbolkraft zu, da hier einer der persönlichen Unterzeichner nicht nur gegen den „Geist des Abkommens“, sondern sogar gegen dessen ausdrücklichen Wortlaut verstieß. Die vertragschließenden Parteien hatten dort nämlich feierlich ihrer Übereinstimmung Ausdruck gegeben, „daß politische Auseinandersetzungen grundsätzlich politisch und möglichst nicht auf dem Wege von Rechtsstreitig-keiten vor Gericht ausgetragen werden sollen".
Diese gutgemeinte Absichtserklärung, die ja wie das gesamte Abkommen nicht justiziabel war, durfte selbstverständlich nicht die allgemeine Rechtsordnung aussetzen. Aber zweifellos macht es einen Unterschied, ob ein maßgeblich Beteiligter in offenem Widerspruch zu seinem Versprechen handelt oder ob ein unfreiwillig Betroffener sich notgedrungen auf den ordentlichen Instanzenweg begibt, um sein Recht einzuklagen. Außerdem läßt das Strafrecht im Interesse einer freien Meinungsäußerung einen beträchtlichen Raum für Unfairneß. Und gerade weil sich eine gerichtliche Schlichtung persönlich-politischer Kontroversen in aller Regel zu einer langwierigen und unergiebigen Angelegenheit auswächst, wollte die Einrichtung der Schiedsstelle eine zusätzliche Möglichkeit eröffnen, unsauberen Attacken rechtzeitig zu begegnen, wobei das Abkommen im Sinne einer schnellen Intervention noch während des Wahlkampfes sogar den Grundsatz zurückstellte, nicht in einen schwebenden Rechtsstreit einzugreifen. Der Auftrag der Fairneßwächter beschränkte sich nach ihrer Geschäftsordnung darauf, bei diesbezüglichen Beanstandungen politische Äußerungen nicht nach juristischen Kriterien, sondern anhand moralischer Kategorien an der Frage zu messen, ob ein „Verstoß gegen das Wahlkampfabkommen" vorlag oder nicht. Und ihre einzige Sanktion bestand in der für alle Beteiligten bindenden und später auch eingehaltenen Verpflichtung, eine Rüge „unverzüglich in den Pressediensten der betroffenen Parteien zu veröffentlichen“. Dabei ging man freilich stillschweigend davon aus, daß das Risiko, „öffentlich an den Pranger gestellt“ zu werden dämpfend auf die Agitatoren wirken und zumindest beanstandete Formulierungen nicht wiederholt würden — ein gutgläubiger Irrtum, wie die erwähnten Beispiele dann erwiesen.
Auf der Gratwanderung zwischen hohem eigenem Anspruch dem bescheidenen Durchsetzungsvermögen, einem schwankenden good will der Wahlkämpfer und verschiedenen rechtlichen Grenzlinien kamen jedoch auch die Sittenrichter selbst sehr schnell ins
Straucheln. So übersahen sie bei ihrer Mißbilligung einer Strauß-Karikatur in der Wochen-zeitung Vorwärts — zu einer Rüge hatte man sich ausdrücklich nicht entschließen können, obwohl nur das zum Instrumentarium gehörte —, daß sich ihre Befugnisse lediglich auf Mitglieder der vertragsschließenden Parteien erstreckte. Das kritisierte Blatt aber gehört, juristisch von der SPD getrennt, dem Neuen Vorwärts-Verlag und garantiert in seinem Redaktionsstatut den angestellten Journalisten weitgehende inhaltliche Gestaltungsfreiheit. Wenn sich also der Kanzlerkandidat der Union von der Zeichnung verunglimpft gefühlt haben sollte — eine Karikatur erfordert eigentlich besondere Bewertungsmaßstäbe —, wäre allein der Strafrichter zuständig gewesen; für private Genugtuung (Schmerzensgeld, Unterlassung, Widerruf) sind daneben die Zivilgerichte vorgesehen. Wollte Franz Josef Strauß jedoch nach einschlägigen Erfahrungen die Gefahr meiden, dort seinen eigenen massiven Ton vorgehalten zu bekommen so hätte er allenfalls ohne Anrufung der Schiedsstelle die Sozialdemokratische Partei bedrängen können, sich als Unterzeichner des Abkommens vereinbarungsgemäß von beleidigenden Äußerungen Dritter zu distanzieren Nun aber hagelte es Proteste gegen den Spruch, mit dem das Gremium im Eifer des Geschehens seinen engen Kompetenzbereich überschritten hatte: Der Beschwerde-Ausschuß des Deutschen Presserates, der seit 1956 über Stilverstöße in den Medien wacht, nahm die Amtsanmaßung „mit einiger Verwunderung" zur Kenntnis und die Deutsche Journalisten-Union in der IG Druck und Papier warnte mit Hinweis auf die Grundrechte der Meinungs-und Pressefreiheit, daß sich das Laiengericht zu einem „Zensurorgan" zu entwickeln drohe
Zwar lernten die Fairneßkontrolleure an diesem Beispiel, daß man wohl sinnvollerweise einer jeden Entscheidung eine Zuständigkeitsprüfung vorschaltete, und auch Egon Bahr nahm in seiner Doppelfunktion als Bundesgeschäftsführer der SPD und Herausgeber des Vorwärts im frühen Stadium der Erprobung die Mißfallensnote noch in der Hoffnung auf eine positive weitere Entwicklung hin, aber bald untergruben die anhaltenden Instrumentalisierungsbestrebungen von Seiten der CDU/CSU, die eigene Erfolglosigkeit vor dem Gremium und die wachsende Hektik des Wahlkampfes die Basis für solche Kompromißbereitschaft. Willy Brandt wandte sich wegen einer Rüge sogar in einem Offenen Brief an Bischof Hermann Kunst: „Ich soll nicht sagen dürfen, daß ich Herrn Strauß für , auf abenteuerliche Weise unbeherrscht'halte? Das wäre nicht einmal im Deutschen Bundestag gerügt worden. Der . Rentenbetrüger'wäre im Bundestag gerügt worden, aber den hat die Schiedsstelle durchgehen lassen.“ Nach einer Begründung für seine Einschätzung durch Zitate aus Wahlkampfreden des Herausforderers schloß das Schreiben mit den Worten: „Ich habe es nicht nötig, ein einseitiges und unrichtiges Verdikt auf mir sitzen zu lassen. Mein Recht kann ich, politisch gesehen, jetzt ohnehin nur bei den Wählern finden, und darum werde ich mich in der Tat auch bis zum 5. Oktober nach Kräften bemühen.“
III. Die Schiedsstelle als Objekt der Wahlkampf-Strategen
Die zunehmende Empfindlichkeit der Sozialdemokraten in der Schlußphase des organisatorischen Wettbewerbs um die Wählergunst, die sich nach dem bemüht-argumentativen Kampagnenauftakt (Das will die SPD ... /Das will die SPD nicht ...) neben unverhohlener Kritik am „Kunst-Gremium“ in einer stärker kämpferischen Ansprache des Bürgers äußerte, rührte allerdings nicht vorrangig aus einigen — zugegebenermaßen wenig verständlichen — Entscheidungen der Fairneßwächter her. Die wachsende Gereiztheit, die als Folge des „Hirten-Briefes" der katholischen Bischöfe auf dem Höhepunkt des Wahlkampfes noch zusätzlich Nahrung fand folgte allgemein eher aus dem eigenen überheblichen, unverständlichen und schließlich „verkorksten Wahlkampf in dem man trotz (aber auch wegen) des vielversprechenden Erfolges in Nordrhein-Westfalen, trotz der hohen Popularität des Bundeskanzlers und trotz des negativen Images des Herausforderers schon sicher geglaubten Boden verlor. Die aus dem sich abzeichnenden Terrainverlust resultierende Verunsicherung, die sich neben mehreren Beschwerden über mangelnden Anstand des politischen Gegners nicht zuletzt an der voreiligen, weil juristisch nicht ausreichend geprüften Ankündigung ablesen ließ, Franz Josef Strauß wegen der ausgestreuten Gerüchte um eine angebliche Abschaffung des Kirchensteuer-Einzuges durch den Staat zu verklagen, verstärkte sich sicherlich auch nicht allein deshalb, weil die SPD vorwiegend auf die Leistungsbilanz einer Koalition mit dominantem Juniorpartner vertraute, wenngleich die sozialdemokratische Perspektivlosigkeit zweifellos die konsequente Einhaltung der von Herbert Wehner schon im Vorjahr ausgegebenen Parole erschwerte, den Kandidaten nicht „emporzuschmähen“, also auf keinen Fall vorrangig „über das skandalreiche Leben eines alternden Macchiavellisten zu reden, in Not-wehr auf Gegenpropagandaformeln zu setzen oder an der Richtigkeit der eigenen überzeu-gung zu zweifeln" -Und je mehr die Gemeinsame Schiedsstelle zu einer zusätzlichen Wahlkampfarena aufstieg, um so deutlicher stellte sich als Versäumnis der SPD heraus, daß sie als einzige der vertragsschließenden Parteien keine erkennbare Strategie in dieser Frage entwickelt hatte, sondern recht naiv an dieses „Experiment“ für die Solidarität von Demokraten herangegangen war
Demgegenüber überschüttete die CSU das Kunst-Gremium von Beginn seiner Tätigkeit an mit Beschwerden in der Absicht, durch diese Entrüstungskampagne einen — wie Generalsekretär Edmund Stoiber formulierte — „Mitleidsbonus“ bei unpolitischen Wählern für ihren in der Bevölkerung überwiegend abgelehnten Vorsitzenden zu erzielen. Die Richtung für eine Interpretation der befürchteten „Volksfront“ gegen die „verfolgende Unschuld“ lieferten die beiden Schwesterparteien gleich mit: dem ahistorischen „Stoibern“ (Heinz Oskar Vetter) im Umfeld des gelernten Historikers (Generalsekretär: „Die Hetze gegen Strauß gleicht der Hetze gegen die Juden im Dritten Reich“), entsprachen vielfältige Gleichklänge bei der CDU, angefangen mit jenem Gutachten zum Thema „Sozialistische Elemente in der nationalsozialistischen Bewegung", das der Abgeordnete Manfred Abelein bei den Wissenschaftlichen Hilfsdiensten des Deutschen Bundestages anforderte, bis hin zu der Ausstellung „Politische Graphik gegen die Menschenwürde“ im Konrad-Adenauer-Haus. Parallel zu der suggerierten Gemeinsamkeit zwischen Nationalsozialismus und Sozialde-mokraten versuchte die Union mit ihren Schwerpunktthemen Staatsverschuldung und Rentenbetrug die schwierige Aufgabe zu lösen, von der personellen Alternative der Bundestagswahl 1980 abzulenken, die eine Wahl-entscheidung in der „Kanzlerdemokratie" nach wie vor prägt. In der Hoffnung, auch den „affairengeplagten" Franz Josef Strauß ein wenig aus dem öffentlichen Regen holen zu können, sollte deshalb ergänzend am Nimbus von Helmut Schmidt gekratzt werden, den man gemeinhin nicht mit Skandalen in Verbindung bringt. Diesem Ziel diente neben dem CSU-Film „Der Gegenkandidat" das beharrliche Bemühen von Heiner Geißler, den Bundeskanzler in einer Art Schauprozeß vor die Schiedsstelle oder ein Gericht zu zerren, wohl wissend, daß eine Klärung in der Sache dort ohnehin nicht zu erwarten war. Daß diese komplexe Rechnung im Rahmen des Möglichen aufging, zeigt der Tenor der christdemokratischen Kommentare zur Spruchpraxis der Fairneßwächter: so bemängelte der Parteivorsitzende Helmut Kohl an der sozialdemokratischen Kritik, daß das Gremium seine politische Funktion nicht erkannt habe, sich hinter juristischen Finessen verstecke und Gefahr laufe, „Freifahrtscheine für die Verletzung des Wahlkampfabkommens auszustellen", daß es immer dann infrage gestellt würde, „wenn die Schiedsstelle Entscheidungen fällt, die nicht den Wünschen der SPD entsprechen", was eine Verletzung der Vereinbarung bedeute: „Es war Geschäftsgrundlage, daß selbstverständlich die Entscheidungen der Schiedsstelle respektiert werden müssen." Obwohl sie weder als Ankläger noch als Beschuldigte vor Bischof Kunst und seinen Beisitzern erschienen, zogen die Freien Demokraten, die als kleinste der etablierten Parteien auch traditionell ein starkes Interesse an Kostenbegrenzungen bekunden paradoxer-weise den größten Nutzen aus dem Faimeßab-kommen. Gerade die vornehme Zurückhaltung vor den Niederungen des Wahlkampfes liegt voll auf der Linie einer seit Jahren gepflegten Selbstdarstellung der FDP als saubere und sachbezogene Dritte Kraft im bundesdeutschen Parteienspektrum, wobei dieser Marketing-Strategie entgegenkommt, daß ein potentieller Koalitionspartner von beiden Seiten vergleichsweise vorsichtig angefaßt wird. So gehören eigentümlicherweise die Liberalen vor Wahlen zu den eifrigsten Befürwortern von formellen Abkommen nur um anschließend überzeugend darlegen zu können: „Bürger, die an den laufenden Entgleisungen der Politiker Anstoß nehmen, werden registrieren, daß Politiker der F. D. P. mit ihren Äußerungen der Schiedsstelle noch nie Anlaß zum Einschreiten gegeben haben.“ In die gleiche Kerbe schlug Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, der seine Hamburger Wahlrede mit den Worten eröffnete: „Wir Freien Demokraten sind überall dabei — nur vor der Schiedsstelle für Entgleisungen im Wahlkampf sollen CDU und SPD allein bleiben.“ Und mit der Geste des besorgten Demokraten kündigte Generalsekretär Günter Verheugen öffentlich an, daß er angesichts ei-ner inflationär angewachsenen Serie von Beschwerden die Mitunterzeichner der Vereinbarung zu einem klärenden Gespräch einladen wolle, wobei er sich nicht verkneifen konnte, die anderen Parteien schon vorab aufzufordern, „den Wahlkampf endlich mit Sachargumenten zu bestreiten und sich nicht in verbale Beschimpfungen und Schaukämpfe vor der Schiedsstelle zu flüchten" Noch dieser immer wieder variierte Hinweis von Seiten der FDP, wie unangenehm man solche politischen Umgangsformen finde und daß man selbst das Fairneßabkommen eigentlich nicht nötig habe, degradierte das Kunst-Gremium zum ohnmächtigen Objekt einer geschickten Wahlkampf-Konzeption. In einer ähnlichen Statistenrolle mußten die Sittenrichter mitansehen, wie Helmut Schmidt, der sich bei seinen Mitarbeitern ausdrücklich verbeten hatte, bei unfairen Attacken auf seine Person die Schiedsstelle anzurufen, eine politische Antwort auf derartige Angriffe gab: der Bundeskanzler zählte in seinen Reden auf ihn gemünzte Äußerungen seines Herausforderers auf und ließ diese schlicht für sich selbst sprechen: „Friedensschwätzer und Panikprophet ... Kriegskanzler ... reif für die Nerven-heilanstalt .. ."
IV. Bewertung und Reflexion: theoretische Zwischenbemerkungen
Eine übereinstimmende Bilanz der Tätigkeit der Gemeinsamen Schiedsstelle im Bundestagswahlkampf 1980 muß unter den geschilderten Umständen schwerfallen, unabhängig von dem von niemandem angezweifelten ehrlichen Bemühen der „elder statesmen" um Objektivität Die unterschiedlichen Positionen der beteiligten Parteien kristallisierten sich entsprechend der strategischen Ziele und der jeweiligen Erfolgsquote bereits in der Fernsehdiskussion mit den Unterzeichnern des Abkommens — selbst ein drastisches Negativ-Beispiel für einen fairen Umgang mit dem politischen Gegner — heraus, als Heiner Geißler sich mit der bis dahin geleisteten Arbeit zufrieden zeigte, Günter Verheugen von Lappalien sprach, die dort verhandelt würden, und Egon Bahr vielsagend darauf hinwies, daß es sich nach allgemeinem Konsens von vornherein nur um ein Experiment gehandelt habe Die vorliegenden Pressestimmen beurteilen das Gelingen dieses Versuchs, Auswüchse der anhaltenden Polarisierung zu beschneiden und damit den Wahlkampf zu versachlichen, überwiegend skeptisch, wobei sie freilich mit Recht längst nicht alle Unfairneß „in dem nun Gott sei Dank zu Ende gehenden Wahlkampf" möglichen Versäumnissen, wenig verständlichen Sprüchen oder sonstigen Fehlern der Schiedsrichter zuschreiben, die ja lediglich auf Antrag eines Berechtigten eine Angelegenheit aufgriffen und deren Zuständigkeit sich auf Verstöße gegen das Abkommen auf der Bundesebene der vertragschließenden Parteien beschränkte. Denn auch außerhalb des Interventionsspielraumes der Schiedsstelle gab es hinreichend Schmutz: Erinnert sei hier lediglich an die angeblichen Juso-Aufkleber aus der Fälscher-Werkstatt des Friedrich Karl Grau von der sogenannten „Studiengesellschaft für staatspolitische Öffentlichkeitsarbeit" mit dem Text „Lieber die Russen in Heilbronn als Strauß in Bonn. Entspannung" an die geschmacklose „Peep-show“ der Bochumer Jungdemokraten, die Nacktphotos mit Porträts von Franz Josef Strauß versahen oder an den sonderbaren Humor in einer Broschüre, die die Junge Union Dortmund Nord-Ost unter der Adresse der CDU-Kreisgeschäftsstelle verteilte: „Wann ist die Bundesrepublik wieder in Ordnung? — Wenn Bundeskanzler Strauß am Grab von Willy Brandt die Witwe von Herbert Wehner fragt: , Wer hat eigentlich Egon Bahr erschossen?" Selbst wenn die Formel des CSU-Generalsekretärs, der Wahlkampf 1980 wäre „der häßlichste seit Bestehen der Bundesrepublik, seit 1949" ein wenig übertrieben erscheint — mußte in diesem Klima der Konfrontation nicht zwangsläufig jede noch so gut gemeinte ^Schieds-Kunst" zu „brotloser Kunst“ verkommen? Diese Fragestellung führt in der Bewertung der Wahlkampf-Schiedsstelle bewußt weg von Überlegungen, ob das glücklose Sittengericht nicht selbst geradezu einen „dröhnenden Resonanzboden für Unfairneß" (Rolf Zundel) abgab oder wie man derartige Fehlentwicklungen beim nächsten Mal eventuell vermeiden kann. Denn alle Erörterungen der offensichtlichen Konstruktionsschwächen des praktizierten Modells bleiben letztlich immanent, d. h. sie verkörpern einen — wie ich es einmal pointiert nennen möchte — „gehobenen Journalismus", sie sind — anders gewendet — ein sicherlich notwendiges, keineswegs aber ein hinreichendes Kennzeichen für die wissenschaftliche Analyse von politischen Institutionen und gesellschaftlichen Prozessen Denn eine solche reflektierende Betrachtungsweise zeichnet sich — sofern sie diesen Anspruch ernst nimmt — durch einen theoretischen Bezugsrahmen zur Einordnung des empirischen Materials aus In einem weiteren Schritt bleibt dann zunächst festzuhalten, daß die konkurrierenden Gesellschaftstheorien für eine Beschäftigung mit der Gemeinsamen Schiedsstelle wenig bringen. Für wen etwa die Wahl prinzipiell „ein wesentlicher Bestandteil des vom Monopolkapital beherrschten politischen, ideologischen und juristischen Unterdrückungsmechanismus“ ist, der kann eigentlich ein formelles Abkommen zur Einhaltung gewisser Mindestanforderungen an Anstand nur für ein besonders durchtriebenes Mittel „staatsmonopolistischer Wahllenkung" halten: „Das wahltaktische Aufbauschen von Meinungsverschiedenheiten über zweitrangige Fragen und lautstarke Angriffe besonders auf die jeweilige Spitzenkandidaten vernebeln vor den Augen des Wählers das der Sicherung der Monopolmacht dienende tatsächliche Zusammenspiel systemtragender Parteien.“ Und: „Der Wahlkampf hat bei allen vordergründigen Auseinandersetzungen zwischen den etablierten Bundestagsparteien das Ziel, gemeinsam von der wirklichen Alternative bei der Wahlentscheidung abzulenken, die sich gegenüber allen gegenwärtigen Bundestagsparteien in der Kandidatur der Partei der Arbeiterklasse, der DKP, zur Wahl stellt“
Weniger solch einäugige Betrachtungsweisen und der strikt-instrumentelle Charakter wissenschaftlicher Erklärungsmuster machen die diametral entgegengesetzte Pluralismus-Konzeption, die mehr oder minder deutlich den theoretischen Hintergrund für die meisten vorhandenen Wahlstudien abgibt, für eine Analyse der Wahlkampf-Schiedsstelle unfruchtbar, sondern die abstrakt-summarische Auflistung bestimmter „Funktionen der Wahl im demokratischen System“ die eine inhaltliche Beschäftigung mit dem Wahlkampf an sich abblockt. Denn unabhängig davon, ob sich Politiker oder Parteien gerade öffentlich umarmen oder einander verbal ans Leder wollen, artikulieren sich auf jeden Fall irgendwelche politischen Präferenzen, Forderungen und Erfahrungen des Wählers in der Stimmabgabe, wird die Vielzahl der Meinungen und Motive so oder so in Prozentzahlen für die konkurrie-renden Parteien integriert und damit einer bestimmten Konstellation Macht zugewiesen. Unabhängig vom Klima eines Wahlkampfes kann der Bürger theoretisch immer die Regierung kontrollieren, durch die regelmäßige Wiederkehr des Wahlaktes oder über „das Gesetz der antizipierten Reaktionen“, und sie möglicherweise abwählen, also politische Innovation versuchen. Der deutlichen Fixierung auf das statistische Ergebnis der Wahl unterliegen neben der kommerziellen Meinungsforschung, die nach den individuellen Gründen für das Wahlverhalten fragt, auch alle Korrelationen von Wahlstatistik und Sozialstruktur der Gesellschaft bis hin zur politischen Ökologie, die unterschiedliche Ergebnisse in bestimmten Regionen auf Abweichungen in besonderen Merkmalen zurückführt. Sogar die beschreibenden Ablaufstudien zu einem Wahlkampf, die meist ohne ausgesprochene Untersuchungshypothesen an die Arbeit gehen, interessieren sich nur dann für die Umgangsformen im politischen Meinungsstreit, wenn diese selbst zu einem issue zu werden drohen, der die Wahlentscheidung beeinflußt
Kritische Stimmen interpretieren diese vorherrschende Tendenz als bezeichnende Unterstreichung ihrer These, daß Wahlen ohnehin nur inhaltsleere Rituale darstellen abgekoppelt von den konkreten Bedürfnissen der wählenden Menschen, mit der einzigen Funktion, durch „demobilisierende Mobilmachung" (Wolf-Dieter Narr) eine diffuse Massenloyalität gegenüber einer Gesellschaftsordnung zu erzeugen, in der die formale Gleichheit bei der Stimmabgabe lediglich die umfassendere gesellschaftliche Ungleichheit zu verschleiern sucht „Während der empirische Wille der Bürger, wie er etwa in allgemeinen Wahlen... oder auch in der demoskopisch erkundeten . öffentlichen Meinung zutage tritt, für die traditionelle politische Soziologie das erste Glied einer Kette von Entscheidungsprozessen ist, deren weitere Glieder sich jeweils an den Rahmen zuvor gesetzter Prämissen halten, erscheinen diese Phänomene in der hier vertretenen Perspektive als die letzten Reflexe eines institutioneilen Gefüges, das in seinen strukturellen Mechanismen der Alternativen-und Prioritätenbildung funktional bezogen ist auf die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Wirtschafts-und Gesellschaftssystems und das infolge dieser seiner funktionalen Festlegung, seiner daraus resultierenden Filterfunktionen und Entpolitisierungseffekte jenes Fundament loyaler Einstellungen erst erzeugt und konsolidiert, das die . pluralistische’ Schule als das ursprüngliche politischer Prozesse ausgibt." Den praktischen Schwierigkeiten aus diesem anspruchsvollen Programm, nicht nur die Umsetzung ökonomischer Macht in politische Herrschaft am Beispiel des Wahlkampfes zu bestätigen und jene „institutioneilen Filter" und „Selektionsmechanismen“ gegenüber einem aus sozio-ökonomischer Analyse abgeleiteten Veränderungswillen, die sich aus der Struktur des politischen Systems ergeben sollen, dort empirisch zu fassen, sondern auch eine Zuträglichkeitsgrenze hypothetisch zu bestimmen, jenseits derer der emotional aufgeladene rituelle Akt seine politische Überredungskunst verliert, ist die Forschung bislang freilich ausgewichen Kritische Wahlliteratur, sofern sie diese Kennzeichnung überhaupt verdient, -diskutiert vor Bundestagswahlen pragmatisch die Frage, welche denkbaren Durchsetzungschancen in der jeweiligen politischen Gesamtsituation wohl für die eigenen Ambitionen bestehen Ein Fairneßabkommen zwischen den Bundestagsparteien läßt sich folglich auch in die diversen Varianten einer Spätkapitalismus-Theorie nur schwer einfügen, die sich nach der periodischen Projektion ihrer Hoffnungen auf einen potentiellen Träger im Parteiensystem und der theoretischen Abklärung der Legitimationsfunktion des gesamten Organisationsspektrums anderen Problemen zuwendet
Unterhalb dieses Abstraktionsniveaus bietet sich für eine Betrachtung der Wahlkampf-Schiedsstelle das theoretische Konzept der „politischen Kultur" an das die spezifisch politischen Orientierungen und Haltungen der Bevölkerung zum politischen System und seinen verschiedenen Teilbereichen und die individuellen Einstellungen zur Rolle des Bürgers in der jeweiligen Ordnung zu erfassen sucht. Es handelt sich demnach zunächst um einen Sammelbegriff für die Werte und Normen, die das Verhalten des einzelnen im politischen Gefüge leiten; gleichzeitig aber unternimmt dieser Ansatz eine Verbindung von Mikro-und Makroebene, indem er die Gesamtheit aller Einstellungen, Werthaltungen und Umgangsformen, die sich in einer Gesellschaft auf das politische Handeln und die politischen Institutionen beziehen, zum jeweiligen „Nationalcharakter" aggregiert und nach der Verklammerung beider Analyseebenen fragt: „Ein* Konzept also, mit dem sich politische Wertorientierungen, politische Einstellungen, politisches Verhalten von Individuen und Kollektiven sowie deren Vermittlung und Aneignung in Prozessen politischer Sozialisation empirisch darstellen lassen sollen." Demnach geht es im folgenden nicht darum, den Bundestagswahlkampf „als spezifische Form politischer Kommunikation" zu untersuchen sondern umgekehrt um den Versuch, von der Praxis der besonderen Wettbewerbs-situation auf den allgemeinen Gesellschafts-zustand zu schließen. Das entspricht durchaus dem Selbstverständnis der handelnden Akteure. So erklärt Werner Wolf, der Wahlkampfleiter der hessischen CDU, in seinem Buch über Theorie und Praxis des Wahlkampfes: „Das Niveau des Wahlkampfes ist ein Spiegel des allgemeinen Kulturniveaus einer Gesellschaft." Und SPD-Schatzmeister Friedrich Halstenberg hielt es für „ein positives Zeichen unserer politischen Kultur“, daß sich die Bundestagsparteien auf einen Fairneßvertrag zu einigen vermochten
V. Fairneßabkommen: ein Produkt „made in Germany"?
In kritischer Wendung führen derartige Äußerungen zu der leitenden Fragestellung, ob das formell-feierliche Fairneßversprechen der etablierten Parteien nicht eine „typisch deutsche“ Konstruktion war Drückt sich in der Installierung einer besonderen Wahlkampf-Schiedsstelle nicht jene „verstellte Haltung zu sozialen Konflikten" aus, „die die deutsche Gesellschaft durchgehend bestimmt und die Entfaltung des demokratischen Prinzips in ihr hemmt" Wirkt hier etwa jene bedenkliche Mentalität des unpolitischen Deutschen nach, die ein Grundzug autoritären politischen Denkens ist? Indizien für einen so verstandenen „Mangel an politischer Kultur" lieferte der Bundestagswahlkampf 1980 durchaus: Da gab es fristlose Kündigungen wegen Tragens einer „Stoppt Strauß" -Plakete am Arbeitsplatz bis in die Gewerkschaften hinein und Suspendierungen vom Unterricht aus demselben Grund, als ob die grundgesetzlich verbürgte Meinungsfreiheit vor dem Werkstor endet oder erst mit der Volljährigkeit beginnt.
Allenfalls dürfen brave Schüler im öffentlich-rechtlich ausgewogenen Fernsehen mit den routinierten Parlamentspräsidenten der norddeutschen Küstenländer und Berlins „diskutieren", aber gar einen leibhaftigen Grünen zu einem Streitgespräch mit so gestandenen Politikern wie Gerhard Baum, Volker Hauff, An-ton Jaumann und Gerhard Stoltenberg über Energiepolitik einzuladen, führt schon wieder zu weit, könnte er doch womöglich in den 45 Sendeminuten Millionen von unbedarften Zuschauern zu überzeugten Kernkraftgegnern machen. Dieselbe Konfliktscheu als Angst des Politikers vor dem Bürger zeigte sich auch beim „Ärgernis von Bielefeld" als sorgfältig ausgewählte Fragesteller und ein zurückhaltender Moderator die Kulisse für eine ungetrübte Selbstdarstellung des Herausforderers bildeten. „Spontane" Wähler-Initiativen und Unterschriften-Aktionen wurden sicherheitshalber gleich von oben inszeniert und evangelische Pastoren, die die von Franz Josef Strauß vertretene Politik an ihrem christlichen Anspruch gemessen hatten, mußten ein förmliches . Amtszucht-Verfahren" über sich ergehen lassen.
Für die Annahme einer spezifisch deutschen Erscheinung spricht außerdem eine Konti-nuitätslinie von Wahlkampf-Abkommen in der Bundesrepublik, die nur bisher nicht so spektakulär in das Blickfeld der Öffentlichkeit rückte wie im letzten Bundestagswahlkampf. Diese — gebrochene — Tradition konnte sich deshalb weitgehend im Stillen festigen, weil es sich zunächst lediglich um technische Absprachen zur Begrenzung des Wahlspektakels handelte, die beispielsweise in Schleswig-Holstein seit 1950 regelmäßig abgeschlossen und dort sogar im Amtsblatt veröffentlicht werden Ähnlich problemarme Vereinbarungen gab es zumindest auch 1967 in Berlin zu den Landtagswahlen 1974 in Hessen und Bayern sowie 1975 in Nordrhein-Westfalen, in Rheinland-Pfalz und im Saarland In Niedersachsen sind wie in weiteren Bundesländern gelegentliche mündliche Absprachen der Parteien, vereinzelt ergänzende regionale Abkommen von Untergliederungen über Begrenzungen der Plakatausstellung, der Klebezeiten und der Verteilung von Werbematerialien bis hin zu Übereinkommen örtlicher Kandidaten bekannt, nur eine festgelegte Anzahl von Podiumsveranstaltungen zu absolvieren Parallel zu den Bemühungen auf Bundesebene, die im Wahlkampfabkommen von 1965 einen frühen Höhepunkt fanden vollzogen sich also vergleichbare Entwicklungen in den Ländern, die dann allmählich auch um Fairneßversprechen erweitert wurden. So verabredeten CDU, SPD, FDP und SSW zur Landtagswahl 1971 in Schleswig-Holstein, „persönliche Verunglimpfungen sowie Unterstellungen" zu vermeiden, „die geeignet sind, die Ehre des politischen Gegners in Frage zu stellen oder zu verletzen“. Weiter heißt es: „Da die an dieser Vereinbarung beteiligten Parteien auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, verpflichten sie sich, darauf zu achten, daß während des Wahlkampfes das Ansehen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und der parlamentarischen Demokratie keinen Schaden leidet.“ Denn „alle am Wahlkampf Beteiligten gehen davon aus, daß das Wohl des Landes und seiner Bürger Voraussetzung und Ziel der politischen Tätigkeit ist ... In Fällen berechtigter Beschwerden" wollten die Parteivorsitzenden oder ihre unmittelbar Beauftragten „durch unverzügliche Kontaktaufnahme Mißstände zu beseitigen trachten", wobei für die Veröffentlichung einer Rüge die Einstimmigkeit des Beschlusses erforderlich war
In ähnlicher Weise sahen das Hamburger Fairneßabkommen 1972, die Vereinbarung anläßlich der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus 1979 und das Übereinkommen in Rheinland-Pfalz im gleichen Jahr bei etwaigen Verstößen sofortige Konsultationen der vertragschließenden Parteien über „entsprechende Maßnahmen" vor, wobei im letztgenannten Abkommen noch die besondere Absprache auffällt, „auf die Teilnahme an Veranstaltungen zu verzichten, wenn dazu auch Vertreter links-oder rechtsextremer politischer Parteien eingeladen sind“ -Eigene Schiedsgerichte installierten dann die Abmachungen zur Bremer Bürgerschaftswahl 1979, zu den Landtagswahlen 1980 im Saarland und in Nordrhein-Westfalen Vor diesem Hintergrund sei noch einmal gefragt: Bestätigt nicht auch der erkennbare Perfektionismus die These von der „typisch deutschen" Einrichtung? Für diesen Anschein spricht schließlich, daß ausländische Beobachter auf den Stil der politischen Auseinandersetzung mit Kopfschütteln reagierten, zumal sie gravierende innenpolitische Gegensätze zwischen den bundesdeutschen Wahlkämpfern nicht zu erkennen vermochten. Motto: „Je schwächer das Argument, desto schriller die Stimme." Daniel Dagan, dem Europa-Korrespondenten der israelischen Zeitung Haaretz fiel dabei „der permanente Zweifel an der demokratischen Sub-stanz des anderen" besonders auf Jonathan Carr von der Londoner Financial Times fand das Spektakel „alles andere als aufregend“, eher enttäuschend und „merkwürdig": „Als ob dies nicht schon genug wäre, bemüht sich die . Gemeinsame Schiedsstelle'unter Bischof Hermann Kunst eifrig um den guten Ton im Wahlkampf... Ich kann da nur sagen (auch auf die Gefahr eines öffentlich zurechtweisenden Zeigefingers hin): , Wie schade'."
VI. Schlußbemerkung: Wahlkampf der Verständigungsschwierigkeiten
Eine fundierte Antwort auf die entwickelten Fragen und damit eine solide Grundlage für die Bewertung der Wahlkampf-Schiedsstelle läßt sich forschungsstrategisch aus zwei Richtungen erwarten: Einmal aus einem interkulturellen Vergleich, also durch die empirische Prüfung, ob nicht auch in anderen Ländern entsprechende Versuche, den Wahlkampf zu befrieden, unternommen werden. Hier wekken allerdings die österreichische Parallele und das amerikanische Fair Campaign Practices Committee zumindest Zweifel an der verbreiteten These von der „typisch deutschen" Einrichtung Und wenn man zum anderen neben einem solchen internationalen Querschnitt den historischen Längsschnitt, der ja zu der Annahme einer traditionellen Konflikt-scheu des unpolitischen Deutschen führt, wenigstens ansatzweise auf seine Bestätigung oder Differenzierung durch jüngere Untersuchungen zum Wertewandel in den westlichen Industriegesellschaften hin abklopft, so signalisieren auch diese — trotz verbleibender Nuancen — als Tendenz die Einebnung ausgeprägter Profile im „Nationalcharakter" Diese Trendaussage, die vorerst lediglich die Brauchbarkeit des hier diskutierten Beispiels für die vorgestellte Interpretation bestreitet, läßt sich für die Bundesrepublik präzisieren: Noch im Mai 1965 befürworteten nach einer repräsentativen Erhebung 74 Prozent der westdeutschen Bevölkerung das damalige Wahlkampfabkommen zwischen den großen Parteien wohingegen nach Unterzeichnung der Vereinbarung vom März 1980 gut 71 Prozent glaubten, daß sich ohnehin niemand daran halten werde Daß die Bundestagsparteien mit ihrem Fairneßvertrag einem weit-verbreiteten Verlangen im Wahlvolk entgegenkamen, kann man angesichts solcher Skepsis nur schwerlich behaupten. Nachwahlbefragungen ergaben später, daß der verbale Schlagabtausch überwiegend als „übertriebene und unangemessene Auseinandersetzung" empfunden wurde, in der die tatsächlichen Gegensätze zwischen Regierungskoalition und Opposition „maßlos übertrieben" worden seien Auch diese Aussage läßt sich kaum als eine traditionell verstellte Haltung zu Konflikten interpretieren; sie weist meines Erachtens eher auf eine gesunde Portion Realismus hin. Daran ändert die Feststellung, daß die FDP mit ihrem seit längerem gepflegten Image der Vernunft zweifellos vom politischen Klima des Wahlkampfes profitierte, ebensowenig wie ein Umfrage-Ergebnis, wonach 37 Prozent aller Wähler die Kampagnen als ausgesprochen unfair einstuften Die verständliche Kritik am „rhetorischen Bürger-krieg" in der demonstrierten Weise gründet sich darauf, daß ein beträchtlicherTeil derjenigen, für die das ganze Schauspiel eigentlich ja inszeniert wird, die inhaltlichen Differenzen, die allein die Härte (nicht Unfairneß) einer politischen Kontroverse erklären könnten, nicht zu erkennen vermochte. Die Verdrängung der anstehenden Probleme durch Debatten über die öffentlichen Umgangsformen einiger Politiker signalisiert Unsicherheit in einer gesellschaftlichen Umbruchphase. Das Schwanken der etablierten Parteien zwischen forcierter Konfrontation und vertraglicher Rückversicherung verrät, was Negative Campaigning als überwiegend auf Angriff programmierte Wahlkampfführung im Grunde ist: „ein strategisches Ablenkungsmanöver in schwierigen politischen Situationen"
Daß der Stil der Auseinandersetzung selbst — wie demoskopisch ermittelt wurde — Informationsdefizite und Verunsicherungen geschaffen hat. die sich erst nach der Stimmabgabe als Besorgnisse und Ängste voll auswirken bleibt bei dem leitenden Interesse, ob das Institut der Gemeinsamen Schiedsstelle ein bezeichnendes Schlaglicht auf die politische Kultur der Bundesrepublik wirft, nur am Rande anzumerken, da methodisch zwischen längerfristig stabilen Einstellungen und solchen kurzfristigen Stimmungslagen unterschieden werden muß. Mir scheint, daß die Antwort auf die hier diskutierte Frage heute weniger in der gleichsam „klassischen" Mentalität des unpolitischen Deutschen, in seiner Harmonieseligkeit und seinen autoritären Neigungen zu finden ist, die eine Verlagerung von politischen Konflikten vor scheinneutrale Instanzen wie Schiedsstellen oder Gerichte ratsam macht, sondern daß das zentrale Dilemma darin liegt, daß das bundesdeutsche Parteiensystem infolge von verfestigten Struk-turmängeln das notwendige Mindestmaß an Synchronisation zwischen der gesellschaftlichen Entwicklung und dem Handeln der politischen Akteure auf Parlaments-und Regierungsebene nicht mehr gewährleistet.