Zum 25. Jahrestag der Unterzeichnung der Rom-Verträge. Betrachtungen eines Zeitzeugen
Hans von der Groeben
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Zusammenfassung
Nach einem geschichtlichen Rückblick, in dem über die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden Bemühungen weltweiter und europäischer wirtschaftlicher und politischer Zusammenarbeit, über die Probleme der Montan-Union und das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) berichtet wird, werden die Möglichkeiten und Grenzen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) beschrieben. Die im EWG-Vertrag vereinbarte Errichtung eines gemeinsamen Marktes mit Freiverkehr, europäischer Wettbewerbsordnung, gemeinsamer Handelspolitik und gemeinsamer Agrarpolitik wurde verwirklicht Dagegen gelang es nicht, das Gemeinschaftssystem zu einer Wirtschafts-und Währungsunion auszubauen oder die Grundlagen einer Europäischen Politischen Union zu schaffen. Der Verfasser legt eingehend dar, warum in den sechziger Jahren die verschiedenen Ansätze, die politische Zusammenarbeit zu vertiefen und die politische Integration damit voranzutreiben, gescheitert sind. Behandelt werden in diesem Zusammenhang die Vorschläge Präsident de Gaulles (1960), der grand design Präsident Kennedys (1962) und das Aktionsprogramm der Kommission der EWG (1963 und 1965). Abgesehen von den unterschiedlichen Vorstellungen und Zielsetzungen der Akteure waren es Veränderungen der weltpolitischen Lage, die Auswirkungen der Weltwährungskrise und die zunehmende Ausrichtung der Bevölkerung auf gesellschaftspolitische Anliegen, die eine Fortsetzung des Integrationsprozesses so schwierig machten. Auf der Gipfelkonferenz im Haag wurde Ende 1969 ein neuer Anlauf unternommen. Die Regierungen beschlossen, den Gemeinsamen Markt zu vollenden, die EWG durch den Beitritt Großbritanniens, Irlands, Dänemarks und Norwegens zu erweitern und den Integrationsprozeß zu vertiefen. Die Pläne für eine Wirtschafts-und Währungsunion scheiterten jedoch. Es entstand ein vielschichtiges Integrationssystem, das auf drei Pfeilern beruht: — auf dem durch Gemeinschaftsrecht geprägten und von Gemeinschaftsinstitutionen gesteuerten Gemeinsamen Markt, — auf der im EWG-Vertrag vorgeschriebenen Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und — auf einer recht erfolgreichen politischen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten (EPZ). Dieses System hat sich im letzten Jahrzehnt als lebensfähig erwiesen. Es ist aber jetzt im Zeichen der weltweiten wirtschaftlichen Stagnation bei anhaltender Inflation durch dirigistische und protektionistische Tendenzen schwer gefährdet Die dringendsten Aufgaben sind: die Erhaltung des Gemeinsamen Marktes, die Reform der Agrarpolitik, die Konsolidierung des Europäischen Währungssystems und eine konstruktive — nicht nur pragmatische — Lösung für die Süderweiterung. Das politische Klima für eine Erweiterung der Befugnisse der Gemeinschaftsinstitutionen oder gar für eine föderative Entwicklung ist nicht günstig; auf längere Sicht wird jedoch eine ausgewogenere Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten nicht umgangen werden können. Die direkt gewählten Abgeordneten des Europäischen Parlaments werden diese Entwicklung vorantreiben.
Am 25. März 1957 wurden in Rom die Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft unterzeichnet Der 25. Jahrestag der Unterzeichnung ist Anlaß genug, eine Zwischenbilanz zu ziehen und sich über Erfolge und Mißerfolge des damals begonnenen europäischen Einigungswerkes Gedanken zu machen. Für den Beobachter der politischen Szene wird es von Jahr zu Jahr schwieriger, sich ein zutreffendes Bild vom Stand der europäischen Einigung zu verschaffen und die Möglichkeiten der weiteren Entwicklung zu beurteilen. Zu unterschiedlich und zum Teil widersprüchlich sind die Meinungen und Urteile. Einerseits hören wir von der Stagnation des Integrationsprozesses, von Krisen, die nicht gemeistert werden konnten, von der Unfähigkeit des Ministerrats und der Brüsseler Bürokratie, die anfallenden Aufgaben zu bewältigen. Andererseits ist vor zwei Jahren ein Europäisches Parlament in unmittelbarer Wahl der Abgeordneten durch die Bevölkerung der Mitgliedstaaten gewählt worden; damit wurden neue Hoffnungen auf den Fortgang der europäischen Sache geweckt.
Die Anziehungskraft der Europäischen Gemeinschaft hat sich nicht vermindert; nachdem Griechenland im Jahre 1981 beigetreten ist dringen Spanien und Portugal auf eine Be-
schleunigung der Beitrittsverhandlungen und baldige Teilnahme am Prozeß der wirtschaftli-Chenund politischen Integration. Die handelspolitische Bedeutung der Europäischen Gemeinschaft ist gewachsen; die Länder der Driten Welt erkennen die EG als bedeutenden (srhandlungspartner und Förderer der Ent-
" iCklungspolitik an Der Ostblock hat sich mit e Existenz der Gemeinschaft abgefunden und verhandelt mit den Vertretern der Ge-
meinschaft über vielfältige wirtschaftliche politische Fragen. China bestärkt die Eu°Paer in ihrer Einigungspolitik.
Pläne für Europa sn Urteil darüber, ob die europäische Integra°n ein Erfolg war oder ob die krisenhaften Erscheinungen überwiegen, läßt sich nur abgeben, wenn man das Erreichte mit den Zielvorstellungen vergleicht, die von den einzelnen Betrachtern zugrunde gelegt werden. Der Gedanke, daß im Nationalstaat das Gemeinwohl und die Interessen der Bürger hervorragend verkörpert seien und daß die Vertretung nationaler Interessen für alle Staatsbürger Pflicht und oberstes Gebot wäre, wurde in Europa in den etwa 150 Jahren nach der Französischen Revolution weitgehend anerkannt und von den führenden Gruppen vertreten. Dieses Gefühl beinah religiöser Inbrunst war so stark, daß erst die Schrecknisse und Leiden zweier Weltkriege den politisch Verantwortlichen klar machten, wohin die rigorose Vertretung nationaler Interessen und die mangelnde Bereitschaft, Lebensrecht und Lebensart anderer Menschen und Völker anzuerkennen, geführt hatten. So war der Wille zur Zusammenarbeit und zu gegenseitigem Verständnis gewachsen, die Sehnsucht nach einer haltbaren Friedensordnung stark. In Europa erforderte der Wiederaufbau große wirtschaftliche Anstrengungen, die nach den Erfahrungen der Vergangenheit nur in engem wirtschaftlichem Zusammenwirken der Länder und bei möglichst ungehindertem Austausch der Waren und Kapitalien geleistet werden konnten. Unter den Verbündeten des Zweiten Weltkrieges hatten sich schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten ergeben, die schließlich zum Kalten Krieg führten; während in Europa der Eiserne Vorhang herunterging, wurde ein Zusammenstehen der Europäer auch aus Sicherheitsgründen immer notwendiger, um der totalitären Drohung widerstehen zu können. Die Europäische Bewegung machte sich zum Sprecher dieser Anliegen, indem sie auf die gemeinsamen Wurzeln der christlich-abendländischen Kultur hinwies und die national-staatliche Ideologie durch eine geistig, politisch und wirtschaftlich fundierte Europa-Bewegung zu überwinden hoffte. Neben der Verteidigung der Errungenschaften des 19. Jahrhunderts, des Rechtsstaates, der Rechtssicherheit, der freien Meinungsäußerung, der Koalitionsfreiheit, des demokratisch-parlamentariB sehen Systems, wurden insbesondere von den „Föderalisten" Forderungen für eine tiefgreifende Neuordnung des gesellschaftlichen Lebens in Europa vertreten, die von europäischen Institutionen herbeigeführt werden sollte. Hochfliegende Pläne wurden erörtert, die in Vorschlägen für eine Europäische Föderation oder die Vereinigten Staaten von Europa gipfelten.
Die rauhe Wirklichkeit
„Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen“. Die Alliierten des Zweiten Weltkrieges hatten sich während der Konferenzen von Teheran und Jalta nicht mit Plänen für ein geeintes Europa beschäftigt, sondern — abgesehen von der Erörterung der Kriegsziele — ihr Interesse und ihre Anstrengungen ausschließlich auf die Gründung der Vereinten Nationen gerichtet. Die Vorstellung, daß das eben besiegte Deutschland in irgendeiner Weise ein konstruktives Element eines Vereinigten Europas sein könnte, wäre den damals handelnden Staatsmännern wohl ziemlich absurd vorgekommen. So erlebten wir im westlichen Einflußgebiet eine Restaurierung der vor dem Kriege bestehenden Nationalstaaten, während Deutschland von den Siegermächten besetzt und verwaltet wurde, soweit nicht bereits eine Abspaltung weiter Gebiete durch die grausame Vertreibung der deutschen Bevölkerung erfolgt war.
Auch die Nachkriegspolitik Englands und Frankreichs war — ungeachtet des Appells von Winston Churchill — keineswegs auf eine Versöhnung, Zusammenarbeit oder gar europäische Einigung ausgerichtet In Frankreich herrschte der Gedanke vor, ein Wiedererstarken Deutschlands zu verhindern oder jedenfalls unter Kontrolle zu halten, während Großbritannien danach trachtete, seine frühere Weltgeltung wiederzuerlangen, indem es die besonderen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika auszubauen, die Bande zu den Mitgliedern des Commonwealth zu stärken versuchte und den Kontinentaleuropäern diese weltweiten Beziehungen vermitteln wollte. Alle englischen Nachkriegsregierungen waren sich darüber einig, daß eine Teilnahme Großbritanniens an einem engeren Zusammenschluß der westeuropäischen Staaten nicht in Betracht komme; sie standen auch später den entsprechenden Bemühungen der Kontinentaleuropäer abwartend gegenüber und wollten dafür sorgen, daß ihre eigenen Interessen durch einen solchen Einigungspro zeß nicht beeinträchtigt werden würden.
Es kann deshalb nicht verwundern, daß die Be mühungen um eine engere wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit sich zunächst im weltweiten Rahmen abspielten. Es entstand eine weltweite Währungs-und Handelsord nung, die auf den Prinzipien der Meistbegün stigung, der Nichtdiskriminierung, niedrige! Zölle, Bekämpfung nichttarifärer Handels hemmnisse und der Konvertibilität der Wäh rungen beruhte. Die Abkommen über den in ternationalen Währungsfonds, die Weltbanl und das allgemeine Zoll-und Handelsabkom men (GATT) traten in Kraft. In Europa wurde der Straßburger Europarat gegründet, der zt einer Zusammenarbeit der Mitgliedstaater auf vielen Gebieten führte; in der Europäi sehen Organisation für wirtschaftliche Zusam menarbeit (OEEC) schlossen sich die westen ropäischen Staaten zusammen, um gemeinsan über die Beseitigung von nichttarifären Han delshemmnissen, insbesondere der Kontin gente, zu beraten. Währungsfragen, die Vorbe reitung der Konvertibilität, standen im Vor dergrund eines ständigen Gedankenaustau sches über die Ziele und Maßnahmen der na tionalen Wirtschaftspolitik. In all diesen Orga nisationen wurden große Erfolge erzielt; de Wiederaufbau Europas ging dank dieser Stüt zen einer freiheitlichen Ordnung des Wirt Schaftsverkehrs über Erwarten schnell von statten. Im Europarat und in der OEEC be schränkte man sich aber auf die herkömmli chen Methoden nationalstaatlicher Zusam organi menarbeit, wenn diese auch dauerhaft siert wurde und infolge der Gründung ständi ger Sekretariate eine gewisse Eigenständig keit gewann.
Der Schuman-Plan und das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschal (EVG)
Erst als sich in der französischen Regierun aufgrund der Veränderungen in der weltpolit sehen Lage und des Drängens der Amerikane die inzwischen gegründete Bundesrepubu Deutschland stärker in den Westen zu inte grieren, eine Abwendung von der bisherige 1 restriktiven Deutschlandpolitik anbahnte, “ 2 der Boden für eine Erörterung und Inangr nähme der Pläne und Vorstellungen der Euro päischen Bewegung bereitet. Aufgrund 6 Vorschläge von Jean Monnet ergriff der dani lige französische Außenminister Robert Sc 4 man die Initiative für eine enge organisie 'und institutionalisierte Zusammenarbeit der westeuropäischen Länder, die sich jedoch zunächst auf die Kohle-und Stahlpolitik beschränken sollte. Bundeskanzler Konrad Adenauer nahm diese Vorschläge sehr positiv auf. Mit der Montan-Union machten daraufhin sechs Staaten Westeuropas den Versuch, auf einem beschränkten Bereich über die herkömmliche völkerrechtliche Zusammenarbeit hinauszugehen und ein System von Gemein-’ Schaftsinstitutionen zur Festlegung und Durchsetzung der Wirtschaftspolitik zu schaffen.
Es war ein äußerst kühner Gedanke, das eben besiegte Deutschland nicht nur an dem wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben zu lassen, sondern es als gleichberechtigten Partner in einer Europäischen Gemeinschaft zu akzeptieren, deren unter deutscher Mitwirkung getroffenen Entscheidungen für alle Mitgliedstaaten und Bürger dieser Gemeinschaft verbindlich sein sollten. Es war ein kleiner Kreis weitblikkender Männer, die unterstützt von ihren engsten Mitarbeitern diesen Versuch unternahmen. Viele Politiker und Beamte in Frankreich, Belgien und Holland standen diesem Unternehmen äußerst skeptisch gegenüber und konnten sich nur sehr zögernd entschließen, mit den Deutschen als gleichberechtigtem Partner zusammenzuarbeiten. Wir hatten dafür Verständnis und bemühten uns den Beweis dafür zu erbringen, daß die Bundesrepublik Deutschland zur Verteidigung einer freiheitlichen und demokratischen Ordnung und zur Partnerschaft bereit, geeignet und entschlossen war.
Heute scheint das alles selbstverständlich zu sein; auch wollen viele unter uns an die tiefen Wunden, die die nationalsozialistischen Untaten unseren europäischen Partnern geschlagen haben, nicht mehr erinnert werden. Wir mußten uns damals in Geduld und einiger Zurückhaltung üben und gleichzeitig die Aufgabe wahrnehmen, die deutschen Interessen zu vertreten, was übrigens von den anderen verstanden wurde. Einige bezeichnende Vorfälle sind mir aus dieser Zeit im Gedächtnis geblieben. Ich wurde 1952 zum Generalreferenten des Bundeswirtschaftsministeriums für den Schuman-Plan bestellt; bei der ersten Sitzung in Paris zur Vorbereitung der Errichtung der Hohen Behörde sprach ich „deutsch", worauf mich der französische Vorsitzende entgeistert ansah und mir unmißverständlich zu ver-stehen gab, daß ich mich an die bisherige gute Übung, französisch zu sprechen, halten solle. Im Koordinierungsausschuß, der die Sitzungen des Ministerrates vorzubereiten hatte, hieß es lange Zeit: „nos amis francais, Italiens, beiges, luxembourgois, hollandais", aber „nos collegues allemands". Erst nach einiger Zeit erfolgte der Durchbruch mit der Formel: „nos collgues et amis allemands". Auch auf gesellschaftlicher Ebene mußten erst einige Hürden übersprungen werden, wobei ich dankbar an die stets besonders freundschaftliche Haltung der luxemburgischen und belgischen Kollegen zurückdenke.
Die Montan-Union war kein Erfolg, da das Konzept der wirtschaftlichen Teilintegration mit schwerwiegenden Mängeln behaftet war, so daß sich die Hohe Behörde trotz formeller Befugnisse gegen die divergierenden Interessen der Mitgliedstaaten nicht durchsetzen konnte. Auch der Versuch, die Integration durch Schaffung einer Europäischen Armee (EVG) und einer Politischen Union, d. h. eines für die wirtschaftliche und militärische Integration zuständigen Systems von Gemeinschaftsinstitutionen voranzutreiben, scheiterte an dem Widerstand der Mehrheit in der französischen Nationalversammlung.
Es ist vielleicht für die jüngere Generation ganz hilfreich zu wissen, wie schwierig damals für uns der Einstieg in den Kreis der freiheitlichen westeuropäischen Völker war. Die Verhandlungen über die Errichtung der Montanunion und die EVG, aber auch die Hohe Behörde selbst, haben viel dazu beigetragen, die Zusammenarbeit erfolgreich zu gestalten. Jean Monnet, der erste Präsident der Hohen Behörde, und Franz Etzel, der von der Regierung Adenauer als Vizepräsident benannt worden war, verstanden es, ihre Mitarbeiter und weitblickende Männer und Frauen aus Politik, Wirtschaft und den Gewerkschaften für die europäische Sache zu gewinnen. Luxemburg wurde ein Forum für den Gedankenaustausch, für die Erörterung der Zukunftspläne, für die Abgleichung der Interessen und die Bewältigung von Krisen. So wurden die Deutschen nicht nur theoretisch als gleichberechtigt und als Partner anerkannt, sondern voll in die politische Zusammenarbeit einbezogen. Ganz abgesehen von allen politischen und wirtschaftlichen Überlegungen, die für einen Zusammenschluß der europäischen Länder sprachen, war dies für meine Generation (1907) eigentlich das wichtigste Ergebnis unserer Bemühungen. Wir waren bereit, auf der Basis der vollständigen Gleichberechtigung Frankreich eine führende Rolle im Einigungsprozeß zuzugestehen, sofern Frankreich entschlossen war, die Politik Robert Schumans fortzusetzen.
Wie sollte es weitergehen?
Das Scheitern des EVG-Vertrages und die Schwierigkeiten, in denen sich die Montanunion befand, machten es notwendig, die bisherigen Integrationsansätze einer kritischen Prüfung zu unterziehen, sich über die Ziele der Integration klar zu werden und über die Methoden zu ihrer Verwirklichung zu einigen. Entscheidend kam es aber darauf an, was sich nach den bisher gemachten Erfahrungen im politischen Kräftefeld verwirklichen lassen würden.
Darüber wurden damals (1955) sehr unterschiedliche Meinungen vertreten, die sich etwa wie folgt zusammenfassen lassen:
a) Den europäischen Föderalisten schwebte als Endziel ihrer Bemühungen die Errichtung eines Europäischen Bundesstaates vor.
b) Die Anhänger eines Europas der Staaten oder Vaterländer, die zwar eine verstärkte Zusammenarbeit der europäischen Länder auf allen Gebieten der Innen-und Außenpolitik anstrebten, standen aber einer rechtlichen Einschränkung der nationalen Souveränität sehr kritisch gegenüber und lehnten eine bundesstaatliche Organisation Europas deswegen ab oder hielten sie für verfrüht. Diese Auffassung wurde vor allem von General de Gaulle und seinen Anhängern vertreten, sie wurde aber auch von vielen „nationalbewußten" Politikern der anderen Ländern geteilt.
c) Politiker, Wissenschaftler und Männer der Wirtschaft, denen es wesentlich auf die Sicherung der freiheitlichen Weltwirtschafts-und Weltwährungsordnung ankam, sahen eine engere Zusammenarbeit in Europa weniger als ein politisches Anliegen denn als Beitrag zur Erreichung ihrer weltweiten Ziele an. Zu den Vertretern dieser Richtung gehörten vor allem Wilhelm Röpke und Ludwig Erhard.
Messina und die wirtschaftliche Integration Die in Messina Ende Mai 1955 eingesetzte Re gierungskonferenz erhielt den Auftrag, einen für alle Beteiligten gangbaren Weg zur Fortsetzung des Integrationsprozesses zu finden — eine bei der Vielfältigkeit der Meinungen, die oft zueinander in krassem Gegensatz standen, wahrlich nicht leichte Aufgabe. Die Bun-B desrepublik Deutschland nahm an diesen Verhandlungen zum ersten Mal als völlig freier und gleichberechtigter Partner teil, während bei den Verhandlungen über die Montanunion noch die vielfachen Bindungen des Besatzungsrechts bestanden hatten und die Auseinandersetzungen über den EVG-Vertrag durch die ungelöste Frage eines deutschen Verteidigungsbeitrages belastet waren. Mit dem Deutschlandvertrag waren die wesentlichen Beschränkungen der deutschen Souveränität fortgefallen; durch den Beitritt zur NATO wurde die Bundesrepublik grundsätzlich als gleichberechtigter Bündnispartner anerkannt. Die Handlungsfreiheit nach innen und außen war also wiedergewonnen. Diese veränderte Situation hat es der Bundesrepblik Deutschland gestattet, ihre Interessen in den Regierungsverhandlungen wirksam zu vertreten, ihre Vorstellungen über eine wünschenswerte Wirtschaftsordnung ins Spiel zu bringen und den Vertrag in diesem Sinne maßgebend zu beeinflussen. Die Verhandlungen waren durch zwei umfangreiche Gutachten des wissenschaftlichen Beirats des Bundeswirtschaftsministeriums über die europäische Integration und durch eingehende Vorarbeiten insbesondere im Bundeswirtschaftsministerium vorbereitet worden.
Schon in den Vorverhandlungen des Jahres 1955 konnte zwischen den niederländischen, belgischen, italienischen und deutschen Delegierten weitgehende Übereinstimmung über einige Grundfragen des zukünftigen Gemeinsamen Marktes erzielt werden. Der französische Delegierte hielt sich in diesem Stadium noch sehr zurück und beschränkte sich auf wohlwollende Neutralität und technische Mitarbeit. Man entschied sich für eine Zollunion und nicht für eine Freihandelszone, für die Einbeziehung der Landwirtschaft in den Ge-
meinsamen Markt, für eine wirksame europäische Wettbewerbsordnung und die Freiheit aller Produktionsfaktoren. Der gemeinsame Außentarif sollte dem gewogenen Durchschnitt aller bisher angewandten nationalen Tarife entsprechen. Die Gemeinschaftsinstitubonen sollten in der Lage sein, die Regeln des ertrages in die Wirklichkeit umzusetzen und ur die Beachtung der Vertragsbestimmungen zu sorgen.
ach Vorlage der Ausschußberichte entschied sich der Vorsitzende der Regierungsonferenz, der belgische Außenminister Paul ®nri Spaak, für die Vorlage eines Berichts u er Möglichkeiten, Ziele und Methoden der " stteren Integration an den Regierungen der Mitgliedstaaten der Montan-Union. Spaak ergänzte seinen belgischen Beraterstab durch den Franzosen Pierre Uri und mich. Wir erhielten den Auftrag, den Bericht vorzubereiten; seine einzelnen Teile wurden unter Vorsitz von Spaak von den Vertretern der Regierungen diskutiert und gutgeheißen. Die Schlußredaktion wurde wiederum von Uri und mir vorgenommen. Nach Billigung durch die Vertreter der Mitgliedstaaten konnte der Bericht im Frühjahr 1956 den Regierungen vorgelegt werden. Es war uns gelungen, die marktwirtschaftliche Konzeption durchzusetzen und institutionell abzusichern. In den darauf folgenden Regierungsverhandlungen wurde mir der Vorsitz des Ausschusses Gemeinsamer Markt übertragen, der die Aufgabe hatte, die materiellen Bestimmungen des EWG-Vertrages zu erarbeiten.
Die französische Delegation hatte sich in den Vorverhandlungen des Jahres 1955 mehr rezeptiv verhalten, da die Regierung noch nicht sicher war, ob sie den Gedanken eines Gemeinsamen Marktes aktzeptieren könnte. Erst die Regierung Mollet (ab Januar 1956) beschloß, sich stärker europäisch zu engagieren. Nachdem im Juli 1956 auch die Debatte in der französischen Nationalversammlung günstig für die Fortführung der wirtschaftlichen Integration ausgegangen war, beteiligte sich die französische Delegation aktiv an der Gestaltung des Vertrages. Die Konzeption lag durch die Vorverhandlungen und den Spaak-Bericht bereits weitgehend fest; es gelang aber auch, die französische Zustimmung zu dieser Konzeption zu erhalten. Einerseits mehrten sich auch in Frankreich, besonders in Kreisen der hohen Wirtschaftsbürokratie, die Stimmen, die eine allmähliche Abkehr von den merkantilistischen Traditionen empfahlen, andererseits wurde die Zustimmung zu dieser Integrationskonzeption dadurch erleichtert, daß der Souveränitätsverzicht überschaubar blieb. Der Vertrag wurde in den nationalen Parlamenten ratifiziert, nachdem sich in Frankreich ein Stimmungsumschwung im Zusammenhang mit dem mißglückten Suez-Abenteuer vollzogen hatte. Empörung über die amerikanische Haltung und Enttäuschung über die Briten führten zu einer stärkeren Hinneigung zur europäischen Integration und zu einer Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik Deutschland. Auch der einstimmige Beschluß der Regierungen, den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Professor Dr. Walter Hallstein, zum ersten Präsidenten der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu beB stellen, zeigte, wie sehr sich seit den Zeiten der Schuman-Plan-Initiative die Dinge zugunsten einer gleichberechtigten Mitwirkung der Deutschen verschoben hatten.
Möglichkeiten und Grenzen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)
Zur Durchführung des EWG-Vertrages wurde ein System von Gemeinschaftsinstitutionen geschaffen, deren Befugnisse nach der funktioneilen Methode auf die Erfüllung bestimmter Aufgaben, nämlich die Errichtung und das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes, beschränkt wurden. Der Ministerrat der EWG, der für die Grundsatzentscheidungen und neben der Kommission für viele Einzelentscheidungen zuständig ist, setzt sich aus Ministern der Mitgliedstaaten zusammen, so daß eine Berücksichtigung nationaler Belange bei der Erfüllung der Gemeinschaftsaufgaben gewährleistet ist.
Soweit nicht eine eigene Zuständigkeit der Gemeinschaft gegeben ist, wurde in den Verträgen eine ständige Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken auf allen Gebieten vorgesehen, die für die Errichtung und das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes wichtig sind.
Der Vertrag erfüllte natürlich keineswegs alle Hoffnungen und stieß auch auf erheblichen Widerspruch bei denjenigen, die abweichende Vorstellungen über Ziele und Methoden der Integration geäußert hatten. Die Frage der politischen Organisation Europas blieb offen, wenn auch in der Präambel der Verträge die Hoffnung geäußert wurde, daß die wirtschaftliche Zusammenarbeit diesen Prozeß zu fördern geeignet sein würde. Die Freihändler äußerten Befürchtungen, daß durch den Vertrag die dirigistischen und protektionistischen Tendenzen verstärkt werden könnten; sie waren vor allem darüber enttäuscht, daß England eine Mitwirkung abgelehnt hatte und dann im Jahre 1958 auch die Verhandlungen über eine Freihandelszone zwischen dem Gemeinsamen Markt und den übrigen OEEC-Ländern gescheitert waren. Den Gaullisten gingen die institutioneilen Vorschriften des Vertrages und die darin enthaltene Einschränkung der nationalen Souveränität zu weit; sie haben auch in der Folgezeit versucht, diese für sie lästigen Fesseln möglichst zu lockern.
Auch den Vätern des Vertrages war es keineswegs entgangen, daß die Entstehung eines großen, institutionell abgesicherten Gemeinsamen Marktes in Westeuropa keine rein wirtschaftliche Angelegenheit war, sondern sehr erhebliche politische Auswirkungen auf andere Bereiche innenpolitischer und außen-politischer Art haben würde. Da aber damals die Meinungen, inwieweit dies eine alsbaldige Organisation Europas auch im politischen Bereich erforderlich machen würde, weit auseinander gingen, mußte man sich zunächst mit den Bestimmungen des Rom-Vertrages begnügen, wobei es gelang, die politische Frage offen zu halten und spätere, mehr föderative Lösungen nicht auszuschließen. Sehr viel schwerwiegender war es, daß es damals auch nicht möglich war, eine Vergemeinschaftung der Wirtschaftspolitik vorzusehen, obgleich viele Beteiligten erkannten, daß ein hohes Maß an wirtschaftspolitischer Übereinstimmung erforderlich sein würde, um das mit dem Gemeinsamen Markt geschaffene marktwirtschaftliche System in Europa funktionsfähig zu erhalten. Abgesehen von der Hoffnung auf eine entsprechende Weiterentwicklung des Integrationsprozesses sahen wir damals die unvollkommenen Lösungen des EWG-Vertrages als tragbar an, — weil sich die Regierungen zu einer Politik der Stabilität und des Zahlungsbilanzausgleiches verpflichtet hatten, — weil das Weltwährungssystem gut funktionierte und damit auch die für den Gemeinsamen Markt notwendige Währungsordnung garantierte und — weil sich alle Beteiligten damals darüber einige waren, daß im Zuge der Entwicklung des Gemeinsamen Marktes Mittel und Wege gefunden werden müßten, um die regionalen Probleme zu lösen.
Wir können also feststellen, daß mit den Rom-Verträgen eine zwar unvollkommene, aber entwicklungsfähige Europäische Gemeinschaft geschaffen worden war. Mit seinen auf den wirtschaftlichen Bereich beschränkten Regeln und Institutionen stellte der Vertrag das Minimum dessen dar, was für das Funktionieren eines Gemeinsamen Marktes erforderlich ist, aber das Maximum dessen, was damals politisch erreichbar war. Dies wird bei vielen Betrachtungen und bei der Kritik der Handlungen und Unterlassungen der Gemeinscha häufig vergessen; wenn man die für einen etablierten und in der politischen Geschichte be währten Bundesstaat angemessenen Kriterien an die werdende und mit großen Existenz Schwierigkeiten kämpfende Europäische meinschaft anlegt, so kann man nur zu nega 1 ven, aber der realgeschichtlichen Situation keineswegs angemessenen Urteilen gelangen. Die Möglichkeiten der Vertragsauslegung Vielfältige Vorstellungen über Ziele und Methoden der Integration hatten die Verfasser des Vertrages bewegt Es war dennoch gelungen, sich über einen Wortlaut zu einigen, der einerseits eine feste Grundlage für die weitere Entwicklung bot, andererseits aber verschiedene Möglichkeiten der Auslegung eröffnete. Die Anhänger einer restriktiven Anwendung des Vertrages sahen den Gemeinsamen Markt als eine erweiterte Zollunion mit Freiverkehr, Wettbewerbsordnung und liberaler Außenhandelspolitik an. Der nationalen Außenwirtschaftspolitik sollte ein weiter Spielraum belassen werden. Die gemeinsame Agrarpolitik sollte zwar die Einbeziehung der Agrarprodukte in den Gemeinsamen Markt vorsehen, gleichzeitig aber den Mitgliedstaaten die Steuerung des Agrarhandels mit dritten Ländern ermöglichen. Man hoffte, daß es gelingen werde, die nationalen Wirtschaftspolitiken so zu koordinieren, daß auf eine gemeinschaftliche Globalsteuerung verzichtet werden könne. Diese Auffassung wurde insbesondere von denjenigen Politikern und Wissenschaftlern vertreten, die mit der Errichtung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft weniger ein politisches Ziel als vielmehr einen Beitrag zur Weltwirtschafts-und Welthandelsordnung angestrebt hatten.
Nach dem Gesamtzusammenhang und dem Wortlaut der Verträge ist jedoch auch eine andere, mehr „dynamische" Auffassung der Vereinbarungen und Regeln möglich. Sie wurde dann auch von vielen Politikern und insbesondere von der ersten EWG-Kommission vertre-ten. Es gibt nämlich im Vertrag eine Reihe von Ansatzpunkten, die materiell, institutionell und politisch eine Weiterentwicklung voraussetzen und einzuleiten ermöglichen. In politischer Hinsicht ergibt sich aus der Vorgeschichte, bestätigt durch die Präambel des ertrages, daß die Errichtung des Gemeinsa-men Marktes nicht als Selbstzweck betrachtet " urde, sondern als ein Mittel, die politische andlungsfähigkeit der Gemeinschaft zu be-gunden und weiterzuentwickeln, wenn auch onkrete Ziele und Verfahren hierfür im Verage nicht festgelegt wurden. Über den inne-Ien Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher 7 politischer Integration konnte kaum ein " eifel bestehen. Wirtschaftspolitische Fra-
n sind eben politische Fragen, die die wirt-9 schaftlichen und gesellschaftlichen Zustände und Möglichkeiten entscheidend beeinflussen. Der Integrationsprozeß der Verdichtung und Verflechtung bedarf der Absicherung durch eine gemeinsame Außenwirtschaftspolitik, die wiederum ein immer wichtiger werdender Teil der Außenpolitik ist. So sprach viel dafür, Wirtschaftspolitik und Außenpolitik fortschreitend in den Integrationsprozeß im Sinne einer stärkeren Vergemeinschaftung einzubeziehen.
Die ersten Schritte zur Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes Zwar gelang es wider Erwarten schnell und bis auf die Landwirtschaftspolitik verhältnismäßig reibungslos, den Gemeinsamen Markt zu errichten. Die Zoll-Union bereitete dabei die wenigsten Schwierigkeiten. Die gegen eine verbindliche europäische Wettbewerbsordnung geltend gemachten Bedenken, die sich von französischer Seite hauptsächlich gegen die ausschließliche Zuständigkeit der Kommission und des Europäischen Gerichtshofes richteten, konnten in langen und schwierigen Verhandlungen ausgeräumt werden. Die Entscheidung erfolgte zugleich mit der Festlegung der Grundsätze für die Agrarpolitik, wobei die französische Regierung hauptsächlich an der Landwirtschaftspolitik, die deutsche Regierung an einer funktionierenden Wettbewerbsordnung interessiert waren. Die ursprüngliche Konzeption der Landwirtschaftspolitik war sehr weitgehend marktwirtschaftlichen Grundsätzen verpflichtet. Im Zuge der Verhandlungen im Ministerrat entfernte man sich immer mehr davon, so daß die schließlich angenommene Regelung dem später praktizierten Dirigismus und Protektionismus Tür und Tor öffnete. Die Vertreter marktwirtschaftlichen Denkens konnten diese Entwicklung nicht verhindern. Die französische Regierung hatte nämlich unmißverständlich erklärt, daß sie den Integrationsprozeß nicht fortsetzen werde, wenn die Gemeinschaft ihren Vorstellungen in der Landwirtschaftspolitik nicht folgen würde.
Die Einpassung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in die Außenwelt vollzog sich nach den im Vertrag festgelegten liberalen Grundsätzen. Der gemeinsame Außentarif wurde entsprechend den Vorschriften des GATT festgelegt und in den beiden Zollsenkungsgruppen (Dillon-Runde, Kennedy-Runde) erheblich gesenkt. Die Kommission setzte sich wirksam für die Erhaltung und Beachtung der Welthandelsordnung und für die Beseitigung oder Verminderung aller Handelshemmnisse ein.
Politische Zusammenarbeit oder politische Integration Die Erfolge des Gemeinsamen Marktes machten eine Regelung der politischen Fragen, zumindest eine enge politische Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten immer dringlicher. Nach wie vor wollten die Föderalisten das institutioneile System der Gemeinschaft möglichst schnell ergänzen und den Gemeinschaftsinstitutionen weitere Zuständigkeiten, insbesondere in der Wirtschafts-und Außenpolitik, übertragen, damit Europa mit einer Stimme sprechen und den verlorenen Einfluß in der Welt wiedergewinnen könne. Diese Auffassung hatte angesichts der Haltung einiger Mitgliedstaaten wenig Chancen, verwirklicht zu werden. Präsident de Gaulle legte seinerseits im Jahre 1960, nachdem eine Lösung des Algerien-Konfliktes in Sicht war und seine Position sich konsolidiert hatte, Pläne für eine rein intergouvernementale politische Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten vor, die nach langen, schwierigen Verhandlungen im Frühjahr 1962 scheiterten. Während die Bundesrepublik unter Bundeskanzler Adenauer bereit gewesen wäre, den de Gaulle’schen Plan als ein Minimum politischer Zusammenarbeit unter der Bedingung zu akzeptieren, daß das institutioneile und normative System der EWG intakt blieb, lehnten Belgien und Holland die französischen Vorschläge ab. Diese beiden Regierungen verlangten entweder eine Politische Union mit stärker supranationalem Charakter, wozu die französische Regierung nicht bereit war, oder aber die sofortige Mitwirkung Englands, während Frankreich das Ergebnis der Verhandlungen über den Beitritt Englands zum Gemeinsamen Markt abwarten wollte.
Die Kommission der EWG vertrat eine vermittelnde Auffassung. Es war uns vollkommen klar, daß angesichts des politischen Kräftefeldes ein großer Sprung in eine Föderation nicht möglich sein würde. Wir nahmen auch nicht an, daß sich aus der funktionellen Wirtschaftsintegration gewissermaßen automatisch eine Überwindung der wirtschaftlichen Teilintegration und ein Überschlag in die politische Integration vollziehen könnte. Es kam uns darauf an, die Wirklichkeit behutsam in Richtung auf eine weitergehende wirtschaftliche Integration zu verändern und dann später die politische Integration voranzutreiben. In dem Aktionsprogramm der Kommission für die zweite Stufe des Gemeinsamen Marktes, das im Herbst 1963 veröffentlicht wurde und einen klaren Einblick in die Konzeption der Kommission gibt, wurde über die Errichtung des Gemeinsamen Marktes hinaus die Wirtschafts-und Währungsunion als das nächste Ziel bezeichnet und alle konkreten Maßnahmen vorgeschlagen, die zur Erreichung dieses Ziels notwendig waren. Das erste Anliegen der Kommission war es, die bereits im Vertrag vorgesehene Koordinierung der Wirtschaftspolitik wirksam zu gestalten und damit die Voraussetzung für eine gemeinsame Wirtschaftspolitik zu schaffen. Dies hätte jedoch institutioneile Konsequenzen nach sich ziehen müssen, da eine Wirtschafts-und Währungsunion ohne Verstärkung des institutioneilen Systems, die Errichtung einer Europäischen Zentralbank und die Zuständigkeit der Gemeinschaft für wichtige wirtschaftspolitische Fragen nicht möglich ist.
Der große Plan Kennedys Mit dem grand design, der von Präsident Kennedy vorgeschlagen und von vielen Europäern, u. a. von Jean Monnet, tatkräftig unterstützt wurde, sollte die europäische Integration belebt und gleichzeitig eine Verdichtung der europäisch-amerikanischen Zusammenarbeit auf der Grundlage der Gleichberechtigung erreicht werden. England sollte dem Gemeinsamen Markt beitreten, der durch eine enge politische Zusammenarbeit ergänzt und gestärkt werden sollte. Dieses erweiterte Europa sollte politisch, wirtschaftlich und militärisch eng mit den Vereinigten Staaten von Amerika Zusammenarbeiten, weltpolitisch aktiv werden und einen angemessenen Teil der Verantwortung und der Lasten dieser Politik tragen. Dieses Projekt scheiterte an dem Widerspruch Präsident de Gaulles, der sich im Januar auch Beitritt 1963 dem Englands EWG widersetzte.
Deutsch-französisches Zwischenspiel
Einige Monate davor hatten Präsident de Gaulle und Bundeskanzler Adenauer sich K einer engen deutsch-französischen Zusa menarbeit entschlossen, die im Januar 1 durch den deutsch-französischen Vertrag l°r malisiert wurde. Angesichts des Scheitern 5 der Bemühunge: n, unter den Sechs zu einer nigung über die politische Zusammenarbeit 211 kommen, wurde der deutsch-französische er trag von deutscher Seite als Beginn einer politischen Zusammenarbeit angesehen; man hoffte, daß sich später auch die übrigen Staaten der EWG und England anschließen könnten. Präsident de Gaulle wollte wohl die Bundesrepublik Deutschland für die Ziele seiner „europäischen" Politik einer größeren Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten gewinnen. Es stellte sich dann sehr bald heraus, daß die Zielsetzungen der beiden Partner nicht in Übereinstimmung gebracht werden konnten, weil die Bundesrepublik Deutschland nicht bereit war, die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten zu lockern und sich stärker an Frankreich zu binden, zumal Präsident de Gaulle keinen Zweifel darüber ließ, daß er nicht bereit war, einer Europäischen Föderation seine Zustimmung zu geben.
Stagnation des Integrationsprozesses Nachdem alle diese Bemühungen zur Verstärkung der politischen Zusammenarbeit gescheitert waren, hätte es nahegelegen, die Konzeption der Kommission einer pragmatischen und organischen Entwicklung des Integrationsprozesses wieder aufzugreifen und die dogmatischen Streitfragen beiseite zu lassen. Das Gegenteil trat ein. Die Kommission hatte im Frühjahr 1965, nachdem die wesentlichsten materiellen Entscheidungen über die Agrarpolitik getroffen waren, sehr maßvolle Vorschläge über die Agrarfinanzierung, die Schaffung eigener Einnahmen und eine gewisse Verstärkung der Haushaltsbefugnisse des Europäischen Parlamentes vorgelegt. Alle diese Vorschläge sind im übrigen später mit Zustimmung der französischen Regierung mit wenigen Änderungen realisiert worden. Präsident de Gaulle und die französische Regierung nahmen diesen Vorschlag der Kommission und eine Verzögerung der Verhandlungen über die Agrarfinanzierung zum Anlaß, für sechs Monate die Mitarbeit in der Europäischen Gemeinschaft einzustellen. Hauptgrund für diese anzösische Haltung war wohl, daß Präsident e Gaulle mit der Konsolidierung des wirt-
schaftlichen Integrationsprozesses eine Ver-
därkung der Rolle der Institutionen, insbesonpere der Kommission und des Europäischen paroamentes, einhergehen sah. Je größer die Holge der Gemeinschaft waren, desto eher Wurden sich die Einschränkung der nationa-
en Souveränität und die Übertragung größe-ne Befugnisse auf die Gemeinschaftsorgane durehsetzen lassen; dies widersprach aber den rundüberzeugungen des Präsidenten. So wurde niemals ein Zweifel daran gelassen, daß die französische Regierung gegen die Direktwahl der europäischen Abgeordneten und gegen eine Verstärkung der Befugnisse des Europäischen Parlaments war. Die Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sollte strikt auf die ihr nach dem Vertrage zustehenden Rechte beschränkt und möglichst ihres politischen Charakters entkleidet werden. Anfang 1966 wurde zwar in Luxemburg Übereinstimmung darüber erzielt, die EWG fortzusetzen. Präsident de Gaulle erreichte aber seinen eigentlichen Zweck, die politische Weiterentwicklung der EWG zu blockieren.
Veränderungen zeichnen sich ab Die Kommission bemühte sich dann mit beachtlichem Erfolg, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu vollenden und zu konsolidieren. Im politischen Bereich wartete man darauf, daß sich mit dem Wechsel der Personen auch eine Veränderung der politischen Lage ergeben würde. De Gaulle geriet im Frühsommer 1968 in große Schwierigkeiten, die durch das ihm ausgesprochene Vertrauen bei den anschließenden Wahlen nur vorübergehend überdeckt wurden. Der Einmarsch der Russen in die Tschechoslowakei entzog auch seiner außenpolitischen Konzeption der Auflockerung der Blöcke und des erwarteten Zurückfindens zu den „wahren" nationalen Interessen die Grundlage. So trat er 1969 nach dem gescheiterten Referendum zurück.
Die Entspannungspolitik der Regierung Brandt/Scheel ließ nicht nur einen Wandel in der außenpolitischen Konzeption, sondern auch den Willen zu größerer Eigenständigkeit erkennen, wobei die Treue zum atlantischen Bündnis und der Europäischen Gemeinschaft immer wieder betont wurden. Wenn diese Politik auch von der französischen Regierung unter Präsident Pompidou offiziell begrüßt wurde und den französischen Vorschlägen der letzten Jahre entsprach, so blieb doch die Sorge vor zu großer deutscher Selbständigkeit und die Notwendigkeit, die Bundesrepublik Deutschland fest in das westliche Bündnis einzubinden. Dies veranlaßte Präsident Pompidou, über den englischen Beitritt anders zu denken als Präsident de Gaulle. Auch konnte die französische Politik den inneren Widerspruch zwischen der Ablehnung einer supranationalen Integration und dem Ausschluß Englands nicht länger aufrechterhalten. So waren 1969 die Weichen für eine neue Phase des Integrationsprozesses und die Beendigung des Zwischenzustandes gestellt.
Gründe für das Scheitern der politischen Integration
Bevor wir jedoch auf das gegenwärtige Integrationssystem und seine Möglichkeiten eingehen, ist es notwendig, sich über die Gründe klar zu werden, warum der wirtschaftliche Integrationsprozeß im großen und ganzen geglückt ist, aber die Versuche einer nach ähnlichen Grundsätzen gestalteten politischen Integration gescheitert sind.
Zunächst zur wirtschaftlichen Integration: Die Zielsetzung eines großen gemeinsamen Marktes in Westeuropa entspricht der durch den Verbund von Wissenschaft und Technik möglich gewordenen industriellen Entwicklung in der westlichen Welt, über dieses Ziel bestand auch weitgehende Übereinstimmung zwischen den Politikern, den Wissenschaftlern und der Wirtschaft. In den Brüsseler Regierungsverhandlungen 1955— 1957 war es einer kleinen Gruppe von überzeugten Europäern gelungen, einen realisierbaren Plan für eine marktwirtschaftlich gesteuerte Integration zu entwerfen. Dieser Plan mutete den nationalen Regierungen nur die Souveränitätsverzichte zu, die den übereinstimmenden Zielsetzungen entsprachen. Den Mitgliedstaaten blieben genügend Möglichkeiten, ihrer politischen Verantwortung nachzukommen und im Zuge der weiteren Entwicklung selbst zu entscheiden, inwieweit die Gemeinschaftsinstitutionen verstärkt werden sollten, um neuen Aufgaben gerecht werden zu können. Unter besonders günstigen politischen Bedingungen gelang es, die Ratifizierung der Rom-Verträge durchzusetzen, insbesondere eine Mehrheit im französischen Parlament dafür zu gewinnen. Schließlich zeigte sich sehr bald, daß das System des Gemeinsamen Marktes funktionierte und die wirtschaftlichen Folgen für alle Beteiligten vorteilhaft waren.
Hinsichtlich der politischen Integration fehlten die meisten dieser günstigen Voraussetzungen. Zwar erschien es rein verstandesmäßig einsichtig, daß Europa sich politisch einigen müßte, um sich selbst verteidigen und weltpolitisch Einfluß nehmen zu können. Die Meinungen über die Beurteilung der Lage und die Methoden der politischen Integration gingen aber — wie wir gesehen haben — weit auseinander. Deshalb kam es auch — im Gegensatz zu der Konzeption des Gemeinsamen Marktes — zu keiner Übereinstimmung über eine Politische Union. Besonders bedeutsam ist es aber, daß der Gemeinsame Markt nur beschränkte Souveränitätsverzichte erforderte, während eine Politische Union eine qualitative Veränderung des gesamten politischen Systems mit sich gebracht hätte, wozu die Bereitschaft zwar bei einigen Gruppen, nicht aber bei den Regierungen und den sie tragenden Kräften vorhanden war.
Die Gründe für eine solche Einstellung sind vielfältig und werden keineswegs einheitlich vertreten. Die sozioökonomische Entwicklung, die Strukturen und die Interessen der einzelnen Mitgliedstaaten sind sehr unterschiedlich, woraus sich auch unterschiedliche Ansichten über die Notwendigkeit, die Ziele und die Aufgaben der Integration ergeben; dies betrifft auch die Diskussion über die Grundrechte sowie die „richtige" Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung. Es bestehen ferner Zweifel an der Handlungsfähigkeit und der Legitimation eines mit weitgehenden Zuständigkeiten ausgestatteten Gemeinschaftssystems, die auch durch ein direkt gewähltes Europäisches Parlament nur nach längerer Übergangszeit behoben werden könnten. Ein europäisches Bewußtsein etwa im Sinne des Nationalbewußtseins hat sich noch nicht herausgebildet; die europäische Einigung als solche ohne Konkretisierung der Aufgaben wird nicht als ein dringendes und verbindliches Ziel anerkannt. Es konnte bisher nicht genügend einsichtig gemacht werden, ob und inwieweit eine Europäische Politische Union mit erweiterten Befugnissen bestimmte Aufgaben besser erfüllen könnte, als dies in dem bisherigen System der Europäischen Gemeinschaft, d. h. im Gemeinsamen Markt und mit den Mitteln der wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit möglich wäre.
Im übrigen wurde die politische Situation für solche Pläne sowohl in struktureller als auch in personeller Hinsicht immer ungünstiger. Der Berlin-Krise, dem Mauerbau und der Konfrontation in Kuba folgte eine Periode der Entspannung, die die europäische politische Einigung nicht mehr so dringlich erscheinen lieb. Den großen Europäern de Gaspery, Adenauer, Schuman, Spaak und Mollet, die die europäische Einigung vorangetrieben und die Ratifizierung der Verträge von Rom ermöglicht hatten, folgten Politiker, die mehr nationalstaatlich ausgerichtet waren. Als deren hervorragendster Vertreter muß ohne Zweifel Genera de Gaulle bezeichnet werden. Diese Politiker dachten weniger daran, Europa als eigenständige Kraft mit eigener Willensbildung und demokratischer Legitimation zu gestalten, als daran, das europäische Potential für national-staatliche Ziele einzusetzen, auch wenn dies verbal als europäische Politik ausgegeben wurde. Diese Politik mußte scheitern, weil niemand bereit war, Interessen die des anderen als „europäische“ Politik zu legitimieren. Es heute wurde auch verkannt, daß es nicht nur um die Wahrung oder Durchsetzung nationaler Interessen, sondern um den Wettstreit der Systeme geht.
Mit fortschreitendem Wohlstand und der Veränderung der außenpolitischen Lage änderten sich auch die Zielvorstellungen. Während zur Zeit des Vertragsabschlusses noch das Wohlstandsziel, die Sicherheit und eine westeuropäische Friedensordnung im Vordergrund der Erwägungen standen, traten immer mehr gesellschaftliche Probleme in das Blickfeld. Fragen der Umverteilung, der größeren Gerechtigkeit, des sozialen Netzes für Krankheit und Alter, der Umweltfreundlichkeit und nicht zuletzt der Mitwirkung beim wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und staatlichen Geschehen zogen das Interesse auf sich. Der Inflation der Ansprüche versuchten die Mitgliedstaaten durch Erhöhung der Sozialleistungen und öffentlichen Aufwendungen nachzukommen, was bei unzureichenden nationalen Ressourcen zu einer Steigerung der Inflation führte.
Die hieraus resultierenden unterschiedlichen Entwicklungen in den Mitgliedstaaten der EWG machten eine Koordinierung der Wirtschaftspolitik immer schwieriger. An eine gemeinsame Wirtschaftspolitik war schon gar nicht zu denken.
Im weltweiten Rahmen wurde man sich über die Gefahren für die Umwelt, die Begrenztheit der Rohstoffe und Energiequellen, die Probleme der ungehemmten Bevölkerungsvermehrung klar und fragte sich, wie man wohl mit diesen Problemen fertig werden könne und welche Steuerungsinstrumente dafür eingesetzt werden müßten.
Nachdem die politische Weiterentwicklung der EWG — wie wir sahen — blockiert war, bot die Gemeinschaft weder für die Lösung der gesellschaftspolitischen Probleme noch euch für eine gemeinschaftliche Behandlung und Initiative hinsichtlich der weltweiten Fragen einen ausreichenden institutionellen Rahmen. Die inneren Probleme wurden „national“
geregelt oder vernachlässigt; für die Behand-
ung der weltweiten Fragen konnte die Gemeinschaft nur vorsichtig koordinierend auf-treten, allzu große Meinungsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten zwar verhindern, aber keine neue Aktionseinheit bilden.
Diese Tatsache eines „Versagens" der Gemeinschaft, das sie nicht selbst verschuldet hatte, für das sie aber verantwortlich gemacht wurde, nun wieder zu einer Enttäuschung der jungen Generation über die angeblich unfähige und den Problemen der Zeit gewachsene Organisation und zu einer zunehmenden Europa-Müdigkeit der Bevölkerung. Die junge Generation fühlt sich durch die Gemeinschaft nicht repräsentiert. Es zeigte sich also, daß der Abbruch des politischen Integrationsprozesses durch die Mitgliedstaaten eine kumulative Wirkung ausübte. Auch die Grundlagen des bisher Erreichten wurden gefährdet, da die Zustimmung zum Einigungsprozeß sich abschwächte. Hierzu trugen die Mitgliedstaaten auch dadurch bei, daß sie nicht nur eine weitere politische Integration verhinderten, sondern durch viele Entschließungen und Erklärungen falsche Erwartungen hervorriefen, die dann sehr bald enttäuscht wurden und damit das Unbehagen vermehrten.
Ein neuer Anlauf Die neuen Männer, die zu Beginn der siebziger Jahre die politische Verantwortung übernahmen, erkannten sehr schnell, daß die Stagnation der politischen Integration und das Fehlen einer politischen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten auch die wirtschaftlichen Errungenschaften, ja das ganze Integrationssystem gefährden konnten. So wurde dann auf der Gipfelkonferenz im Haag im Jahre 1969 beschlossen, den Gemeinsamen Markt zu vollenden, den Integrationsprozeß durch eine Wirtschafts-und Währungsunion zu vertiefen und der Erweiterung der EG durch den Beitritt Englands, Irlands, Dänemarks und Norwegens zuzustimmen. Während die Vollendung des Gemeinsamen Marktes glückte und die Erweiterung (mit Ausnahme Norwegens) nach langwierigen Verhandlungen zustande kam, scheiterten die Pläne einer Wirtschafts-und Währungsunion; es kam also nicht zu einer Vertiefung des Integrationsprozesses. Abgesehen davon, daß die weltweiten Währungskrisen und die unterschiedlichen Reaktionen der Mitgliedstaaten hierauf eine gemeinsame Wirtschaftspolitik, die Voraussetzung für eine Währungsunion ist, zunehmend erschwerten, waren die Mitgliedstaaten in Wirklichkeit — trotz gegenteiliger Erklärungen — auch keiB neswegs bereit, die institutioneilen Konsequenzen im Sinne eines föderativen Aufbaus der Gemeinschaft zu ziehen. Die Gründe wurden bereits erläutert. Die Lage hatte sich auch unter der neuen politischen und personellen Konstellation nicht geändert.
Aus dem Scheitern der Bemühungen um eine politische Integration zogen die Regierungen zunächst die Konsequenz einer verstärkten politischen Zusammenarbeit auf intergouvernementaler Basis; lag es doch auf der Hand, daß der Gemeinsame Markt einer solchen Ergänzung bedurfte. Auch aus der Sicht der nationalen Politik hatte sich eine Koordinierung der Tätigkeiten der Gemeinschaft und der nationalen Außenpolitik als unbedingt notwendig herausgestellt. Die europäische politische Zusammenarbeit (EPZ) erwies sich als ein Erfolg. In internationalen Verhandlungen und in internationalen Organisationen, insbesondere der UNO, gelang es auf diese Weise, in vielen Fällen zu einem gemeinsamen Vorgehen oder wenigstens zu einem abgestimmten Verhalten zu kommen und damit das politische Gewicht Europas zu verstärken.
Das gegenwärtige Integrationssystem So bildete sich das gegenwärtig bestehende Integrationssystem heraus, das auf drei Pfeilern beruht:
a) auf dem durch Gemeinschaftsrecht geprägten und von Gemeinschaftsinstitutionen gesteuerten Gemeinsamen Markt, Freiverkehr im Innern, einem gemeinsamen Außentarif und einer gemeinsamen Handelspolitik, einer Europäischen Wettbewerbsordnung und einer gemeinsamen Agrarpolitik;
b) auf der im Vertrag vorgeschriebenen Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, soweit dies zur Erhaltung und zum Funktionieren des Gemeinsamen Marktes notwendig ist oder sonst als im gemeinsamen Interesse nützlich empfunden wird;
c) auf einer recht erfolgreichen politischen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten (EPZ). Schließlich haben sich seit einiger Zeit die Staats-und Regierungschefs im „Europäischen Rat" zusammengefunden, um die politische Zusammenarbeit zu verstärken, der Gemeinschaft Impulse zu geben, Schwierigkeiten zu beheben und ein Auseinanderlaufen der verschiedenen Stränge der Integration zu verhindern. Dieses Integrationssystem hat sich in den letzten Jahren als durchaus lebensfähig erwiesen.
Der Gemeinsame Markt konnte trotz aller Krisen erhalten werden. Der Beitritt Englands, Dänemarks und Irlands wurde mit einigen Schwierigkeiten verkraftet. Die politische Zusammenarbeit der Neun wurde verstärkt und ist ausbaufähig. Die Neun konnten viel dazu beitragen, daß die Währungs-und Wirtschaftskrisen der vergangenen Jahre sich nicht katastrophal auswirkten, über die Rolle des soeben beigetretenen Griechenlands lassen sich angesichts der veränderten Situation dieses Landes noch keine einigermaßen zuverlässigen Aussagen machen.
Dieses Gesamtsystem hat also eine gewisse Eigenständigkeit gewonnen. Die Kräfte des Zusammenhaltes haben sich stärker als die Fliehkräfte erwiesen. Die drei genannen Komponenten ergänzen sich nicht nur, sondern sie sind aufeinander angewiesen und gegenseitig voneinander abhängig.
Ohne die Koordinierung der Wirtschaftspolitik würde der Gemeinsame Markt, der Freiverkehr und die Wettbewerbsordnung nicht erhalten werden können. Die EPZ ist eine notwendige Ergänzung der gemeinsamen Handelspolitik. Der verpflichtende Charakter der Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken gründet sich auf das Interesse an der Erhaltung des Gemeinsamen Marktes.
Auch die politische Zusammenarbeit würde sich verflüchtigen, wenn der Gemeinsame Markt zerfallen und das Brüsseler institutioneile System geschwächt würden.
Was ist zu tun?
Was kann dieses System bewirken, was kann es nicht erreichen? Es ist nicht damit zu rechnen, daß es in absehbarer Zeit zu einer wesentlichen Erweiterung der Befugnisse der Europäischen Gemeinschaft im Sinne eines förde rativen Aufbaues oder gar zu einer Europäischen Verfassung kommt. Auch eine Wirtschafts-und Währungsunion ist nicht in Sicht, da auch hierzu qualitative Änderungen auf institutionellem und normativem Gebiet notwendig wären. Die Nachteile so umfangreicher nationaler Souveränitätsverzichte werden — soweit ich sehe — immer noch als weit höher eingeschätzt als die etwaigen Vorteile einer europäischen Politik; auch emotional gesehen gibt es keine dem Nationalgefühl m etwa vergleichbare europäische Bewegung-
n-soweit hat sich also die politische Situation in den letzten 15 Jahren kaum geändert. Es 15 aber durchaus möglich, unter Einsatz des gegenwärtigen Integrationssystems wichtige Aufgaben zu erfüllen, die den nationalen Aktionsradius überschreiten.
Zunächst gilt es, die Grundlagen des marktwirtschaftlichen Systems mit Zoll-Union und Freiverkehr, Wettbewerbsordnung und liberaler Handelspolitik zu erhalten, die infolge des Strukturwandels durch unkoordinierte staatliche Eingriffe und protektionistische Tendenzen gefährdet sind. Die Weltwirtschaftskrise mit zunehmender Arbeitslosigkeit bei anhaltender Inflation hat diese Gefahren ganz außerordentlich verstärkt, so daß das gesamte System erschüttert werden könnte. Hier liegt eine der Hauptaufgaben der Kommission, die sie bisher mit einigem Erfolg wahrgenommen hat.
Die Reform der Agrarpolitik kann nicht länger aufgeschoben werden, da die Bereitschaft schwindet, die finanziellen Lasten für unabsetzbare und unwirtschaftliche Überschüsse zu tragen. Erfreulicherweise hat sich das direkt gewählte Europäische Parlament schon vor einiger Zeit dieser Frage angenommen und damit Bewegung in die erstarrten Fronten gebracht. Europäischer Rat und Ministerrat werden nicht umhin kommen, hier grundlegenden Wandel zu schaffen und die/sehr vernünftigen Vorschläge der Kommission ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Es ist zu hoffen, daß dabei die ursprüngliche marktwirtschaftliche Konzeption wieder stärker zum Tragen kommt. Wenn sich die landwirtschaftlichen Preise unter dem Schutz eines angemessenen Präferenzsystems grundsätzlich nach Angebot und Nachfrage ausrichten würden, könnte auf viele der heutigen dirigistischen Maßnahmen verzichtet werden und die nicht absetzbaren Überschüsse würden vermieden. Soziale Pro“ lerne und Probleme besonders benachteiligter Gebiete (z. B. Bergbauern) sollten im Wege der direkten Einkommensbeihilfen gelöst Werden. Jeder Einsichtige ist sich darüber klar, daß eine solche Umstellung nicht von heute auf morgen erfolgen kann, sondern einer langen Übergangszeit bedarf, in der die Härten auf Kosten des Steuerzahlers ausgeglichen werden müssen. Hieraus ergibt sich such, daß eine Lösung der Agrarfrage nur im sammenhang aller anstehenden europäi-
schen Probleme gefunden werden kann.
Nach dem Scheitern der Pläne für eine Wirt-Sc afts-und Währungsunion stellte die ungeEgelte Wechselkursflexibilität innerhalb der G eine große Gefahr für den Bestand des emeinsamen Marktes dar. Das Europäische Währungssystem (EWS) ist ein Schritt in die richtige Richtung. Es kann jedoch nur funktionieren, wenn die Mitgliedstaaten die Einsicht und die politische Willenskraft für eine dauerhafte Stabilitätspolitik finden, weil sonst unterschiedliche Inflationsraten immer wieder zu einer Erschütterung des Gefüges des Gemeinsamen Marktes führen werden. Die Kommission wird alles daran setzen müssen, um die Regierungen bei der Wirtschaftspolitik, Energiepolitik, Regionalpolitik und Forschungspolitik zu einer engen Zusammenarbeit, zur Abstimmung ihrer Maßnahmen und zu gemeinsamem Vorgehen zu veranlassen. Der Einsatz von Gemeinschaftsfonds könnte für eine solche koordinierte Politik durchaus nutzbar gemacht werden. Ich übersehe nicht, daß einer solchen engen Zusammenarbeit und Kooperation große Schwierigkeiten entgegenstehen. Die Strukturen sind unterschiedlich, die Interessen zum Teil gegenläufig, die nationalen Geldmittel beschränkt, die Bereitschaft zu einem europäischen Finanzausgleich noch unvollkommen entwickelt. Die Entwicklung der letzten Jahre hat uns zusätzliche Schwierigkeiten gebracht, da die Meinungen über Ziele und Methoden der Wirtschaftspolitik zwischen den Regierungen Mitterand, Thatcher und Schmidt ziemlich weit auseinander gehen. Neben der drohenden Erosion des Gemeinsamen Marktes liegen hier die größten Gefahren für den Bestand der EG und damit auch für die politische Zusammenarbeit und das gesamte Integrationssystem. Es muß also ein dringender Appell an die Regierungen gerichtet werden, eine Einigung über die Grundsätze der Wirtschaftspolitik und die Mittel zur Bewältigung der gegenwärtigen Krise herbeizuführen und damit die Grundlagen für eine erfolgreiche Koordinierung der Wirtschaftspolitik und für eine spätere Vergemeinschaftung zu schaffen. Lehnen die Regierungen wie bisher nicht nur eine Vergemeinschaftung ab, sondern ziehen sie sich auf ihre nationalen Domänen zurück, so ist das Ende aller Bemühungen um eine wirtschaftliche und damit auch politische Integration vorprogrammiert.
Mit der Süd-Erweiterung, d. h.dem bereits vollzogenen Beitritt Griechenlands und dem zu erwartenden Beitritt Spaniens und Portugals, steht das gegenwärtige Integrationssystem allerdings vor seiner entscheidenden Bewährungsprobe. Wird es in absehbarer Zeit gelingen, die Wirtschaft der Beitrittsländer so zu modernisieren, daß sie in der Lage sind, mit der Wirtschaft der Altmitglieder des Gemeinsamen Marktes schrittzuhalten? Abgesehen von den Kräften des Marktes, die bei der Öffnung der Grenzen ihre heilsame Wirkung haben werden, den erhofften Direktinvestitionen und dem Zufluß des Privatkapitals aus den Bereichen der Altmitglieder, der verstärkten Übertragung von Kenntnissen und know how, wird dies im wesentlichen eine Frage einer effektiven Struktur-und Regionalpolitik sein. Da es sich hierbei nicht nur um ein finanzielles Problem, sondern um eine Vielfalt von wirtschaftlichen, finanziellen, administrativen und planerischen Fragen handelt, ist es bedenklich, daß die Regierungen bisher keine Gesamtkonzeption entwickelt haben, sondern in pragmatischer und mehr technischer Weise nach kurzfristigen Lösungen suchen.
Die Rolle des Europäischen Parlamentes
Soviel zu den dringenden Aufgaben der Europäischen Gemeinschaft für die nächste Zeit. Für eine längerfristige Betrachtung wird es sehr darauf ankommen, ob es gelingt, das Integrationspotential zu nutzen, das ein aus direkten Wahlen hervorgegangenes Europäisches Parlament verkörpert. Wenn auch die Wahrscheinlichkeit, daß sich die Regierungen zu zusätzlichen Souveränitätsverzichten entschließen, nicht sehr groß ist, so sollte es doch möglich sein, im Rahmen der bereits bestehenden Gemeinschaftszuständigkeiten die Mitwirkung des Europäischen Parlamentes zu verstärken. Damit würde nicht erneut in nationale Vorbehaltsrechte eingegriffen, sondern nur die fehlende demokratische Legitimation der bereits der Gemeinschaft zuerkannten Regelungs-und Entscheidungsbefugnisse nachgeholt werden. In den supranationalen Bereichen der Zollunion, des Freiverkehrs, der Europäischen Wettbewerbsordnung, der gemeinsamen Landwirtschaftspolitik und gemeinsamen Handelspolitik könnte das Europäische Parlament damit mitwirkend in den Gesetzgebungsprozeß eingeschaltet werden; die Haushaltsbefugnisse könnten nochmals erweitert werden, auch sollte eine Mitwirkung bei der Ernennung der Mitglieder der Kommission nicht ausgeschlossen sein.
In den Bereichen der Koordinierung der Wirtschaftspolitik und der EPZ wird sich das Europäische Parlament zunächst mit dem Recht der Diskussion und der Entschließungen begnügen müssen, da eine Mitwirkung im Sinne eigener Entscheidungsbefugnisse erst bei vollständiger Vergemeinschaftung dieser Politiken sinnvoll wäre. über diese sehr bedeutsamen Einwirkungsmöglichkeiten hinaus hat sich das Europäische Parlament, wie die Erfahrung der letzten beiden Jahre gezeigt hat, zu einem bedeutsamen und einflußreichen Forum für die Diskussion und Abgleichung der noch sehr unterschiedlichen Auffassungen über die Möglichkeiten der Weiterentwicklung der politischen Integration, sei es in der Form der Verstärkung des bisherigen Integrationssystems, sei es in der Form der von Außenminister Genscher vorgeschlagenen Politischen Union, sei es in der Form einer Europäischen Verfassung entwickelt. Wenn auch die entsprechenden Vorschläge des Europäischen Parlaments nicht sogleich verwirklicht werden können, so tragen sie doch zur Meinungsbildung und Aufklärung der Bevölkerung bei und könnten geeignet sein, die gegenwärtige Stagnation des Integrationsprozesses zu überwinden. Auf jeden Fall muß das Europäische Parlament vor der nächsten Direktwahl im Jahre 1984 seine Rolle und seine Möglichkeiten bestimmen, und dadurch für die Wähler Profil gewinnen.
Ausblick
Wir sind zwar von einer Förderation weit entfernt, das gegenwärtige System ist aber lebens-und handlungsfähig und könnte ausgebaut werden. Es hat sich als ein äußerst nützliches Instrument für die Lösung europäischer Aufgaben erwiesen. Wenn man die Situation nach dem Ersten Weltkrieg mit dem heute Erreichten vergleicht, so ist eine qualitative Veränderung, ein bedeutender Fortschritt eingetreten. Das System ist labil, vom politischen Willen der Mitgliedstaaten abhängig und deshalb nach wie-vor gefährdet. Ich sehe mit einiger Sorge, daß diese Gefahren verkannt werden, daß das Erreichte als allzu selbstverständlich gilt und deshalb nicht genügend Anstrengungen zu seiner Erhaltung und Weiterbildung gemacht werden. Die Regierungen gehen die Probleme nur partiell und in akuten Krisenlagen an. Es fehlt eine Gesamtkonzeption, in welcher Weise die Probleme gemeistert und Gefahren vermieden werden können. Mit der Süd-Erweiterung sind alle schon vorhandenen Probleme noch akuter geworden. Die Situation erfordert eine langfristige Politik ohne Illusionen, aber mit der festen Entschlossenheit, nicht wieder in nationalstaatliche Abgeschlossenheit und Isolierung zurückzufallen
Ha n s von de r G roebe n, Dr. rer. pol. h. c., geb. 1907 in Langheim (Ostpreußen); Studium der Ingenieurwissenschaften, der Rechtswissenschaft und der Volkswirtschaft in Berlin, Bonn und Göttingen; 1951— 1958 Generalreferent und dann als Ministerialdirigent Leiter der Unterabteilung Montan-Union im Bundeswirtschaftsministerium; 1955 Sprecher der Bundesregierung bei den Sachverständigenberatungen zur Vorbereitung des EWG-Vertrages; 1955/56 Mitverfasser des sogenannten Spaak-Berichtes (Modell der EWG); 1956/57 Vorsitzender des Ausschusses „Gemeinsamer Markt“ bei den Brüsseler Regierungsverhandlungen; ab 1958 Mitglied der Kommission der EWG. Veröffentlichungen u. a.: Die Europäische Gemeinschaft zwischen Föderation und Nationalstaat, Einleitung zum Handbuch für Europäische Wirtschaft, Baden-Baden 1977; Die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft durch Beitritt der Länder Griechenland, Spanien und Portugal. Sonderband der Reihe „Möglichkeiten und Grenzen einer Europäischen Union", Baden-Baden 1979; Zur Wirtschaftsordnung der Europäischen Gemeinschaft, in: Integration 1/81, Beilage zur Europäischen Zeitung. 1969 hat der Verfasser ein „Programm für Europa" vorgelegt, das in: Der Aufbau Europas, hrsg. v. Jürgen Schwarz, Bonn 1980, abgedruckt ist. Im Herbst 1982 erscheint eine Geschichte des Aufbaus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1958 bis 1966) im Nomos-Verlag Baden-Baden.
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