Die Theorie der „Frankfurter Schule", d. h. die Sozialphilosophie der Mitglieder des 1923 gegründeten Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt, stellt ein seltenes Beispiel für die erhebliche politische Auswirkung und Breitenwirkung einer Gesellschaftsphilosophie dar. Sie hat die Haltung einer ganzen jungen Generation — insbesondere während der sogenannten Studentenrebellion der sechziger und siebziger Jahre — nachhaltig beeinflußt und weist auch heute noch Fernwirkungen auf. Die sogenannte alternative Bewegung, feststellbare Einstellungswandlungen in der jungen Generation und die Kritik an überkommenen Werten des ökonomischen und gesellschaftlichen Erfolges sowie des Leistungsprinzips sind zweifellos ohne die Kritische Theorie nicht denkbar gewesen. Oft hat man Wissenschaftler wie Horkheimer, Adorno und auch in jüngeren Zeiten Habermas als Marxisten und Neomarxisten abgestempelt und ihnen mehr oder minder ausgesprochen vulgär-marxistische Ansichten unterstellt. Dies ist sicherlich zu pauschal und in solcher vergröbernder Allgemeinheit falsch.
Schon in den zwanziger Jahren begannen manche Autoren der Kritischen Theorie traditionell marxistische Thesen (etwa hinsichtlich der nichtmanuellen Arbeit und des Verhältnisses von Basis und Überbau) sowie Phänomene des realisierten marxistischen Sozialismus in der Sowjetunion zu kritisieren. Insbesondere wurde durch Hineinnahme von sozialwissenschaftlichen, sozialpsychologischen und tiefenpsychologischen Gedanken die interdisziplinäre sozialphilosophische Diskussion ausgeweitet und stärker an Fragen des gesamtgesellschaftlichen Systems, der mit seinen Problemen verbundenen Einstellungen und des Verhältnisses von Theorie und Praxis orientiert. Soziales Engagement und moralischer Akzent prägen die Theoriebildung innerhalb des Instituts für Sozialforschung. Der Zusammenhang von Denken und Handeln wurde durchaus nicht einseitig gesehen — etwa als bloßes Überbauphänomen wie im Marxismus —, sondern als Wechselwirkungs-Vorgang analysiert. Die Bedeutung der Theorie für das Handeln wurde besonders betont, über andererseits das Wissen und die Theorie jeweils an der Praxis orientiert. Das reine theoretische Wissen als L'art-pour-l'art-Spiel erschien den Sozialphilosophen der Kritischen Theorie verdächtig. Die Sozialphilosophie muß also interdisziplinär sein, wissenschaftliche Erkenntnisse einbeziehen, aber sich wiederum in den sozialen Lebens-und Handlungsprozeß einbetten lassen. Man versuchte Trennungen zwischen Wissenschaft und Leben ebenso zu überwinden wie Gegensätze zwischen Idealismus und Materialismus, Leib und Geist usw. Die Frankfurter Schule ging zwar vom Marxismus aus, indem sie ihn studierte, analysierte, weiterentwickelte, sie kritisierte aber auch zentrale marxistische Thesen. Obwohl sie grundsätzlich die Praxis-orientierung marxistischer Ansätze beibehielt, unterschied sie sich doch später sehr in bezug auf die Rolle der Theorie: Die Kritische Theorie blieb bewußt Theorie, wollte die gesellschaftliche Wirklichkeit über die kritische Einsicht verändern bzw. beeinflussen, nicht durch unmittelbaren politischen Aktionismus. Dies provozierte später Kritik und führte zu Mißverständnissen auf Seiten der politisch agierenden Neuen Linken. Das gilt insbesondere für die besonders bekannt gewordenen Vertreter der Frankfurter Schule — Horkheimer, Adorno, Marcuse und Habermas —, deren Ansätze im folgenden etwas ausführlicher diskutiert werden sollen.
Die Kritische Theorie ist insbesondere den Problemen der Rolle und Wechselwirkung von Vernunft, Wissenschaft und Philosophie in entwickelten Industriegesellschaften nachgegangen. Sie kann als Versuch der Auseinandersetzung mit dem Industrialismus und dem anscheinend alle Lebensbereiche überwältigenden Triumph der angewandten Naturwissenschaften angesehen werden. Die Rolle von Wissenschaft und Technik als sozialen Einflußfaktoren, ja Determinanten, und die Aufgabe sowie die Möglichkeiten der philosophischen Vernunft angesichts des technokratischen und szientistischen Triumphes angewandter Einzelwissenschaften stellen zentrale Themenkomplexe der Kritischen Theorie dar. Dies läßt sich besonders an den Schriften Max Horkheimers (seit 1929 bis zur Emigration in den dreißiger Jahren und wieder ab 1949 Lehrstuhlinhaber für Sozialphilosophie an der Universität Frankfurt) belegen. „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft" — dieser Titel eines bekannten Buches von Horkheimer könnte als Motto das gesamte intellektuelle Vorhaben der Kritischen Theorie kennzeichnen.
Daß der Name „Kritische Theorie" zum Eigennamen gewählt wurde, läßt sich auf einen programmatischen Aufsatz von Horkheimer zurückführen. Dieser Ausdruck muß nicht etwa bedeuten, daß andere Ansätze nicht auch bestehende Gesellschaftszustände kritisierten,'daß es außer der „Kritischen Theorie" nicht auch andere kritische Theorien gäbe. In dem Namen „Kritische Theorie" liegt also eigentlich eine unzulässige Einschränkung, die unterstellt, es gäbe nur eine oder nur die gesellschaftskritische Theorie, während es sich doch nur um eine Variante möglicher kritischer Theorien handelt.
Bedeutung und Grenzen des Denkansatzes der Kritischen Theorie werden deutlich, wenn man sich die philosophischen Grundpositionen vor Augen führt, von denen die Frankfurter Schule ausgegangen ist.
Als erstes ist die Beeinflussung durch Marx zu nennen. Aber die Marxrezeption der Frankfurter Schule ist nie bis zum harten Kern der Marxschen Theorie, der ökonomischen Theorie des „Kapital", vorgedrungen, die den umfassenden Begründungszusammenhang für Marx'Entfremdungs-, Revolutions-und Emanzipationstheorie bildet, sondern hat sich auf die allgemeinen gesellschaftskritischen Aussagen der Marxschen Theorie beschränkt.
Die Marxsche Theorie ist heute teilweise veraltet, sie ist auf der Ebene der Theorie durch neuere Hypothesen, die die Wirklichkeit besser erfassen, überholt worden, und die heutige soziale Wirklichkeit ist einfach nicht mehr die des Hochkapitalismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Dennoch kann die Marxsche Theorie heute gerade für den gegenwärtigen Marxismus und die philosophischen Richtungen, die beanspruchen, in der Nachfolge von Marx zu denken, ein Vorbild sein. Denn Marx hat in seinem Werk philosophische, ökonomische und soziologische wie auch historische Überlegungen zu einer Einheit verbunden und damit eine Vielseitigkeit demonstriert, die den heutigen Marxisten zumeist fremd ist. Das Marxsche Gesamtwerk bildet eine Verbindung von Ökonomie und Philosophie, wie es eine solche etwa schon bei Adam Smith gegeben hatte. Es wäre heute wichtig, die Marxsche Theorie weiterzuentwickeln, indem mal sie auf den neuesten Stand der nationalökono mischen Kenntnisse bringt und die dergestal reformierte Theorie auf eine veränderte Wirk lichkeit bezieht. Das wird jedoch in der Rege von den Marxisten unter den Ökonomen nicht geleistet, die ein durchaus einseitiges Bild dei Gegenwart entwerfen oder sich um eine Apologie von Marxschen Theoremen bemühen die Philosophen dagegen haben sich zumeist auf wenige Aspekte der Marxschen Theorie beschränkt, auf die Entfremdungstheorie, die angeblich dialektische Methode bei Marx sowie ideen-und begriffsgeschichtliche Untersuchungen, deren Wert bzw. Notwendigkeit damit keineswegs bestritten werden soll. So ist auch die Kritische Theorie schon im programmatischen Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie" von Horkheimer nur als eine Theorie gesellschaftlicher Entfremdung konzipiert worden, deutlicher: als eine Theorie, die das entfremdete Bewußtsein in der kapitalistischen Gesellschaft einschließlich des entfremdeten wissenschaftlichen Bewußtseins zum Gegenstand hat, nicht aber als konkrete Kritik an ökonomischen Theorien. Dieses Programm hat die Frankfurter Schule in eine bestimmte Bahn gelenkt, die einzelne Mitglieder zu, Extrempositionen geführt hat, die man durchaus als theoretische Sackgassen bezeichnen könnte, Sackgassen insofern, als es notwendig wurde, umzukehren, Behauptungen zurückzunehmen und sich neuen Themen zuzuwenden.
Zur Verdeutlichung hier einmal eine knappe Charakteristik der Marxschen Theorie: Das „Kapital" enthält — eine Kritik der bürgerlichen ökonomischen Theorie, —: eine systematische Theorie der kapitalistischen Gesellschaft, — eine idealtypisch vereinfachte historische Herleitung des Kapitalismus (sie ist in der systematischen Theorie enthalten; deshalb sprechen Marxisten gemeinhin von der Einheit von Logischem und Historischem bei Marx), — eine Theorie gesellschaftlicher Entfremdung, die aus der bürgerlichen Wirtschaftsweise resultiert, — eine Theorie einer befreiten kommunistischen, rational planenden Gesellschaft (sie läßt sich aus den im Gesamtwerk verstreuten Bemerkungen zu diesem Thema zusammenstellen), — eine Theorie über die zukünftige Entwicklung des Kapitalismus (Zusammenbruchstheorie, hergeleitet aus den dem System innewohnenden Trends), — eine Theorie über die notwendige politische Praxis, die zur Erringung des Zustandes einer unentfremdeten Gesellschaft führt (Theorie des Klassenkampfes).
All diese begrifflich isolierbaren Aspekte sind allerdings in der Marxschen Theorie miteinander verbunden und ergänzen sich dialektisch. Demgegenüber erscheint das Programm der Kritischen Theorie eindimensional als Ideologiekritik bzw. allgemeine Kritik am technokratischen Bewußtsein und der instrumentellen Vernunft.
Man kann aber mit guten Gründen die gegenteilige Auffassung vertreten, daß durch die Absolutsetzung eines einzigen Aspektes die Theorie sich zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Es führt daher ein direkter Weg von der „Dialektik der Aufklärung" zur „Negativen Dialektik" Adornos.
Der zweite Bezugspunkt der Kritischen Theorie ist die Kritik an der Erkenntnistheorie des Neopositivismus, dem ein ethischer Irrationalismus vorgeworfen wird. Diese Kritik hat bewirkt, daß die Frankfurter Schule im erkenntnistheoretischen Streit zwischen analytischer Philosophie und hermeneutischer Geisteswissenschaftstheorie sich auf die Position der Verstehenstheoretiker stützte, ohne sie entscheidend weiterentwickeln zu können. Gleichzeitig hat die Kritik die Mitglieder der Frankfurter Schule dazu verführt, einen universalen Positivismusverdacht gegen alle real-wissenschaftlichen Theorien zu formulieren. Dieser Positivismusverdacht nährte sich an einem Unbehagen gegenüber der formalen Logik und exakter systematischer Beschreibung und Erklärung, wie es die Frankfurter, hierin dem Selbstverständnis der Geisteswissenschaften folgend, dem naturwissenschaftlichen Denkstil gegenüber empfanden. Hatte bei Horkheimer der Angriff gegen den Positivismus der Wiener Schule noch einen aktuellen Bezug, so ist besonders bei Adorno der Positivismusvorwurf zu einem Mythologem erstarrt. Nur so läßt sich beispielsweise das Vorwort erklären, das Adorno für den Aufsatz-band „Der Positivismusstreit" geschrieben hat, in dem keine wirkliche Auseinandersetzung mit den Argumenten der Gegenseite vorgenommen wird, sondern, kaum beeinflußt, geschweige denn korrigiert durch die inzwischen stattgefundene Diskussion, stereotype Vorurteile über den sogenannten Positivismus reproduziert werden.
Der Name „Kritische Theorie" leitet sich her von dem programmatischen Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie" von Max Horkheimer aus dem Jahr 1937, in welchem dieser im Gegenentwurf zur sogenannten traditionellen den Grundgedanken einer kritischen Gesellschaftstheorie herausstellte.
Als „traditionelle Theorie" bezeichnet Horkheimer all jene empirischen Theorien, die die Erweiterung unseres Tatsachenwissens zum Ziel haben. Diese Theorien sind alle, auch wenn sie den Menschen bzw. die Gesellschaft zum Gegenstand haben, nach dem Vorbild naturwissenschaftlicher Theoriebildung ausgerichtet. Die wissenschaftstheoretische Reflexion richtet sich in diesen Disziplinen auf das Auffinden allgemeiner normativer Verfahrensregeln, die das Aufstellen bzw. Überprüfen empirischer Hypothesen ermöglichen sollen. Diese Regeln sind notwendigerweise rein formal, da sie für die Wissenschaften insgesamt Gültigkeit beanspruchen.
Dieses Verfahren wird von Horkheimer kritisiert, jedoch nicht wegen irgendwelcher nachweisbarer Fehler innerhalb des Regelgebäudes, sondern im Hinblick auf eine verengte Sichtweise der Wirklichkeit; denn indem die analytische Wissenschaftstheorie sich darauf beschränkt, rein formal die Regeln einer allgemeinen Wissenschaftslogik aufzustellen, versäumt sie es nach Ansicht Horkheimers, die über die reine Wissenschaftslogik hinausführende Frage nach der Wirklichkeit selbst zu stellen. Wissenschaftliche Vernunft versteht sich damit nach Horkheimer nicht mehr als Gesamtvernunft, sondern als partielle Vernunft. Sie will lediglich den Fortschritt der Erfahrungswissenschaften als wertfreier Wissenschaften sicherstellen.
Richtige Aussagen über die Wirklichkeit, die aus zutreffenden Theorien abgeleitet sind, lassen sich umformen in technologische Anweisungen, d. h. wahre bzw. bewährte Theorien lassen sich instrumentalisieren. Mit Hilfe dieses instrumentalisierten Erfahrungswissens können Menschen die Welt verändern, sie können sowohl im naturwissenschaftlichen als auch im sozialwissenschaftlichen Bereich Handlungsanweisungen für zielgerichtetes technisches Handeln formulieren. Aber die Ziele menschlichen Handelns, konkret also die Frage, ob ein angestrebter zukünftiger Zu-43 stand besser ist als der gegenwärtig vorhandene, bleiben außerhalb der wissenschaftlichen Rationalität. Die Handlungsziele werden im vorwissenschaftlichen Raum der Gesellschaft formuliert und ohne irgendeine vernünftige Kontrolle von den Wissenschaftlern akzeptiert, die sich im Hinblick auf normative Fragen für unzuständig erklären.
Horkheimers Schlußfolgerung lautet daher: Die traditionelle Theorie hat sich losgelöst von der neuzeitlichen Entwicklung des Denkens, das als ein Prozeß der Durchsetzung von immer mehr Vernunft in der Wirklichkeit zu verstehen ist Rationalität verkümmert unter der Forderung nach Wertfreiheit zur bloßen Zweck-Mittel-Rationalität Vernunft wird nur noch als „instrumentelle Vernunft" mißverstanden. Das aber sei eine halbierte Rationalität Die instrumentelle Vernunft bleibe formal frei verfügbar für beliebige Zwecke, also gleichermaßen für vernünftige wie unvernünftige, einsetzbar. Dagegen kämpft die „Kritische Theorie", und Horkheimers Buchtitel „Zur Kritik der instrumenteilen Vernunft" ist so etwas wie deren Grundmotto. Ihr Grundinteresse ist das Interesse an einer vernünftigen Gesellschaft. Sie betrachtet daher die bestehende Wirklichkeit nicht als vorgegeben: w .. die kritische Anerkennung der das gesellschaftliche Leben beherrschenden Kategorien enthält zugleich seine Verurteilung"
Die bestehenden Tatsachen in der Gesellschaft werden von der Kritischen Theorie als Produkte menschlicher Tätigkeit begriffen, „die grundsätzlich unter menschliche Kontrolle gehören und jedenfalls künftig unter sie kommen sollen" sie verlieren damit den Charakter bloßer Tatsächlichkeit, den ihnen die traditionelle Theorie verleiht, indem sie ihr Interesse lediglich auf die Organisation des Wissens richtet. Denn dadurch bleiben ihre Theorien dem Gegenstandsbereich bloß äußerlich, weil die Tatsachen nicht auf ihr historisches Gewordensein und die in ihnen liegenden und sie verändernden Spannungsmomente hin untersucht werden.
Das bedeutet in Hinsicht auf die kritische Gesellschaftstheorie: Die bestehende Gesellschaft soll nicht nur zutreffend beschrieben werden, damit man technisch erfolgreich in ihr handeln kann, vielmehr wird sie zugleich kritisch gemessen an der normativen Vorstellung einer (nicht nur denkbaren, sondern real als möglich nachzuweisenden) herrschaftsfreien und gerechten Gesellschaft Aus dieser Konfrontation des Bestehenden mit der normativen Idee einer vernünftigen Gesellschaft läßt sich die Unvernünftigkeit der Wirklichkeit erkennen; ihre Antagonismen und „Widersprüche" werden sichtbar. Die Widersprüche, d. h. die existierenden Gegensätze und Inhomogenitäten, die von der traditionellen Theorie als factum brutum hingenommen werden, mit dem man „rechnen“ kann, bilden den Zentralpunkt einer „kritischen Theorie der Gesellschaft". An ihnen wird die Willkür des Wirklichen deutlich; hier ist der Ansatzpunkt dafür, das Gegebene als etwas Gewordenes und sich weiter Veränderndes in Richtung auf eine vernünftige Gesellschaft aufzuzeigen. Dieses Programm ist allerdings von der Kritischen Theorie nie zur Gänze verwirklicht worden. Nach Horkheimer ist das Schicksal der modernen, von der abendländischen Zivilisation geprägten Welt im wesentlichen durch die Geschichte der Vernunft bestimmt — und davon, wie Vernunft aufgefaßt wurde und wird.
Horkheimer unterscheidet zwischen einer objektiven Theorie in der Vernunft, „derzufolge Vernunft ein der Wirklichkeit innewohnendes Prinzip ist" und einer Theorie der bloß „subjektiven" Vernunft, nach der „einzig das Subjekt in einem genuinen Sinne Vernunft haben" kann, wobei sich Vernunft eben als Einstellung, als subjektive „Fähigkeit" erweist, „Wahrscheinlichkeiten zu berechnen und damit einem gegebenen Zweck die richtigen Mittel zuzuordnen"
Horkheimers These ist, daß große philosophische Systeme ursprünglich als objektive Theorien der Vernunft entwickelt worden sind, daß aber im Laufe der geistesgeschichtlichen Entwicklung die subjektive Vernunft die Ober-hand gewonnen und zur „gegenwärtigen Krise der Vernunft" geführt habe. Die Vernunft wurde „subjektiviert", „formalisiert”, konnte dann nicht mehr „helfen zu bestimmen, ob irgendein Ziel an sich wünschenswert ist"
Ziele wurden von der Vernunftkritik ausgenommen. Die Vernunft entfaltete „eine Tendenz. .., ihren eigenen objektiven Inhalt aufzulösen" trennte sich von der Religion, von inhaltlich-objektiver Wahrheit und von ethischer und moralischer Einsicht. Mit der Auf-gäbe ihrer Autonomie wurde die Vernunft „zu einem Instrument" Die Ideen wurden instrumentalisiert, entsubstanzialisiert, formalisiert, auf bloße Zweck-Mittel-Schemata unter dem Anwendungs-und Operationalisierungsaspekt reduziert Die eigentlichen Ideeninhalte, die die abendländische Kultur und die von ihr in Gang gesetzte Zivilisation initiiert hatten, werden „durch die Formalisierung der Vernunft unterhöhlt" Falsch verstandene Aufklärung griff zwar die Religion und die Kirche an, brachte letztlich aber „die Metaphysik und den objektiven Begriff der Vernunft" „zur Strecke" Subjektivierung und Formalisierung führen zur „Neutralisierung der Vernunft“ und zur „Verdinglichung" aller Proaesse und Denkgegenstände und schließlich zu einer totalen „Reduktion der Vernunft auf ein bloßes Instrument" In der Instrumentalisierung verliert die subjektive Vernunft „alle Spontaneität, Produktivität, die Kraft, Inhalte neuer Art zu entdecken und geltend zu machen — sie verliert, was ihre Subjektivität ausmacht" sie zerstört also ihre eigenen Grundlagen, löst sich gleichsam in ihrer eigenen Selbstanwendung auf. Der Pragmatismus, der Instrumentalismus obsiegt: „Das Prinzip der Herrschaft ist das Idol, dem alles geopfert wird" Subjekt und Natur, Subjekt und Objekt würden einander entfremdet, die Natur beherrscht, vergewaltigt, ausgebeutet und „zu bloßem Material degradierte Natur, bloßer Stoff, der zu beherrschen ist, ohne jeden anderen Zweck als eben den seiner Beherrschung" das Individuum wird entleert auf die bloße Funktion seiner Selbsterhaltung, wird isoliert, manipuliert, konform organisiert: Individualität wird beeinträchtigt oder gar zerstört: So „ist das Zeitalter der ungeheuren industriellen Macht dabei, das Individuum zu liquidieren" Aber: „Der Sieg der Zivilisation ist zu vollständig, um wahr zu sein"
Horkheimers Diagnose ist äußerst pessimistisch. Dennoch hofft er auf eine sprachkritische und gesellschaftskritische Philosophie, die den Menschen zur Einsicht über diesen historischen Entwicklungsprozeß hilft, „sozusagen als ein Korrektiv der Geschichte wirken" kann und den Automatismus der inneren Selbstzerstörung der Vernunft durch Formalisierung, Subjektivierung und Instrumentalisierung aufheben kann, so daß „ein neues Zeitalter" sich ankündigen kann, „in dem die Individualität als Element in einer weniger ideologischen und humaneren Daseinsform neu erstehen kann" Dazu bedarf es, meint Horkheimer, allerdings einer kritisch negierenden, einer denunzierenden Philosophie, die alles das aufdeckt, dingfest und damit überwindbar macht, „was die Menschheit verstümmelt und ihre freie Entwicklung behindert" „Wenn es der Philosophie gelingt, den Menschen zu helfen, diese Faktoren zu erkennen, wird sie der Menschheit einen großen Dienst erwiesen haben" Diese Kritik „beruht auf dem Vertrauen in den Menschen" (das „den sogenannten aufbauenden Philosophien" fehlt). Gegenüber der Tendenz der subjektiven Vernunft, ihrer rationalen Grundlagen beraubte Ideen „zum Kern einer neuen Mythologie" werden zu lassen meint Horkheimer — mit besonderem Blick auf die mythologisierten gesellschaftlichen Zwänge: „Wenn wir unter Aufklärung und geistigem Fortschritt die Befreiung des Menschen vom Aberglauben an böse Kräfte, an Dämonen und Feen, an das blinde Schicksal — kurz, die Emanzipation von Angst, verstehen, dann ist die Denunziation dessen, was gegenwärtig Vernunft heißt, der größte Dienst, den die Vernunft leisten kann." Im Namen der Vernunft muß also die subjektive Vernunft kritisiert werden, muß nach Horkheimer die Subjektivierung, Formalisierung und Instrumentalisierung wenn nicht aufgehoben, so doch weitgehend gemindert und reduziert werden. Die Philosophie hat nach Horkheimer die Aufgabe, Vehikel der kritischen Vernunft zu sein, dem Übergewicht der Formalwissenschaftlichkeit, der bloßen Ziel-Mittel-Rationalität wirksam zu begegnen.
Horkheimers Diagnose — so pessimistisch und pauschal sie ist — enthält zweifellos einen wahren Kern. Tendenzen zur Technokratisierung und zur Herrschaft formaler organisierender Wissenschaftlichkeit, also zum Szientismus, sind tatsächlich festzustellen, wenn auch das Menetekel etwas überzeichnet scheint. Ob der Mechanismus einer sich selbst entobjektivierenden Vernunft mit Notwendigkeit zur Entmenschlichung führt, nichts übrig läßt als den verdinglichenden, entfremdenden und manipulierenden Ausbeutungswillen, das bleibt fraglich. Wenn die angewandte Wissenschaft sich auf die Diskussion von Mitteln bei gegebenen Zielen beschränkt, so bleibt dennoch für die Philosophie eine rationale Diskussion der Ziele und Werte offen. Im übrigen konnte und kann die Wissenschaft — zumindestens die reine oder Grundlagenwissenschaft — nie ausschließlich instrumentalistisch unter dem technischen Herrschaftsinteresse des Menschen gedeutet werden (eine Fehldeuturig, wie sie Habermas später insbesondere den Naturwissenschaften unterstellen sollte). Ob die Subjektivierung der Vernunft in einem notwendigen dialektischen Prozeß der Selbstzerstörung jegliche inhalts-gebundene Vernunft beenden muß, kann füglich bezweifelt werden, ergibt doch eine Subjektivierung auch Freiheits-und Deutungschancen. Gerade die Subjektivierung der Vernunft im Sinne einer zu erstrebenden, möglichst zu verwirklichenden Leitorientierung kann Anlaß geben zur moralischen Verpflichtung, zu einem aktivierenden Appell, Aufklärung zu wagen und zu leisten. Ein Fatalismus der objektiven Vernunft böte keineswegs notwendig die Garantie einer besseren Welt. Mit seiner Kritik an einer totalen Instrumentalisierung der Vernunft und der vollständigen Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche hat Horkheimer sicherlich im Endergebnis recht. Bloße formale Rationalisierung kann niemals zur Humanität führen. Wissenschaft liefert keine Garantie moralischer Vervollkommnung. Philosophisches Nachdenken und humanes Handeln lassen sich durch bloß formal-rationale Wissenschaft weder erzeugen noch ersetzen. Wertorientierungen mässen mehr denn je den Menschen bewußt gemacht und in der Gesellschaft diskutiert werden, „hinterfragt" und „problematisiert" werden, wie es ein modischer Jargon im Gefolge der Kritischen Theorie nennt. Horkheimer war zweifellos einer der ersten von denen, die die Krise der europäischen Wissenschaften und der mit ihnen verbundenen überhöhten Wissenschaftsgläubikeit sozialphilosophisch diskutierten und die Gefahren einer überzogenen szientistischen Vereinseitigung, einer totalen Instrumentalisierung und Beherrschung von Natur und Gesellschaft klar in den Blick nahmen. Horkheimer und die Frankfurter Schule haben auch das Verdienst, das Zusammenspiel von Wissenschaft, Gesellschaft, technischer Entwicklung, Kulturveränderung und Konventionsstilisierung zum Thema der Sozialphilosophie gemacht zu haben.
Die Frankfurter Schule erreichte ihre größte Publizität und meinungsbildende Wirkung aber erst sehr viel später durch den Versuch von Habermas, in Auseinandersetzung mit der analytischen Philosophie die wissenschaftstheoretische Möglichkeit einer kritischen Gesellschaftstheorie zu begründen. An die Stelle einer ausgeführten, auf die aktuelle gesellschaftliche Lage bezogene Theorie der Gesellschaft, die in erfolgreiches Handeln umsetzbar sein müßte, wie sie Marx im „Kapital" für seine Zeit hatte, trat die Reflexion über die Möglichkeit des kritischen Bewußtseins. Theorie wurde zu ihrer eigenen Metatheorie und konnte sich von ihrer ersten Fragestellung nicht mehr entfernen. In dieser Weise sind z. B. die Beiträge Adornos zur Kritischen Theorie zu bewerten. In der von ihm gemeinsam mit Horkheimer verfaßten Dialektik der Aufklärung wird die Horkheimerische Kritik an der traditionellen Theoriebildung, die auf die neopositivistische Wissenschaftsphilosophie bezogen war, erweitert zur globalen Vernunftkritik. Der Vorwurf gegen die Aufklärung ist, daß sie in einen Widerspruch zwischen Intention und Verwirklichung gerät. Ihr Anspruch richtet sich auf die Befreiung des Menschen aus der Bindung an irrationale mythische Vorstellungen, die ihm die Unveränderlichkeit der Wirklichkeit suggerieren. Aber anstelle der Befreiung des Menschen von den irrationalen Autoritäten fällt die Aufklärung in den Mythos zurück: „Denn Mythologie hat in ihren Gestalten die Essenz des Bestehenden: Kreislauf, Schicksal, Herrschaft der Welt als die Wahrheit zurück-gespiegelt und der Wahrheit entsagt. In der Prägnanz des mythischen Bildes wie in der Klarheit der wissenschaftlichen Formel wird die Ewigkeit des Tatsächlichen bestätigt und das bloße Sein als der Sinn ausgesprochen, den es versperrt." Aufklärung führt damit ebenso zur Knechtung des Menschen wie der Mythos; der wissenschaftliche Fortschritt schlägt um in gesellschaftlichen Rückschritt, insofern die Technik es ermöglicht, den Menschen immer perfekter zu manipulieren und zu unterdrücken. Der Aufklärung wohnt also ein dialektischer Widerspruch inne, aber die Widersprüche der Wirklichkeit erscheinen unter dem von der Logik ausgesprochenen Diktat der Widerspruchsfreiheit nicht mehr in der Theorie. „Der dialektische Widerspruch drückt die realen Antagonismen aus, die innerhalb des logisch-szientistischen Denksystems nicht sichtbar werden."
Wie viele Autoren vor und nach ihnen deuten Adorno und Horkheimer allerdings die Aufklärung eher als geschichtsphilosophische These denn als normative Leit-und Zielvorstellung, Aufklärung als These von der geschichtlichen Siegessicherheit oder gar der „Allmacht" der Vernunft und Aufklärung als Appell (ohne Unterstellung der Erfüllbarkeit, der Realisierungsgewißheit der Vernunft in der Geschichte) wurden und werden allzu-leicht verwechselt: Aufklärung kann aber nur als teilweise und schrittweise zu verfolgendes ideales Leitprogramm ohne optimistische historische Siegessicherheit, ohne Hoffnung auf den totalen Gesamterfolg der Vernunft verstanden werden: als normative Leitorientierung, als utopische (als regulative ) Idee, nicht als historische Prognose oder Versprechung. Sie darf Verstand und Vernunft nicht absolut setzen, den Menschen nicht nur als das „Vernunfttier" mißverstehen. Dennoch kann die Vermehrung der Eigenvernunft eines jeden, das Kantsche „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!", ein sinnvolles Leitbild sein, das der Erziehung zur historischen Eigenständigkeit, zur Mündigkeit voransteht. Aus der These von der Dialektik des Fortschritts, der zum Rückschritt wird, hat Adorno schließlich die Vorstellung einer „negativen Dialektik" abgeleitet, einer Dialektik des Verfalls bzw.der fortschreitenden Entfremdung.
Herbert Marcuse hat in seinen Schriften den Grundgedanken der Kritischen Theorie durch die Aufnahme von Erkenntnissen der Psychoanalyse mit einer neuen Nuance versehen. In seinem Werk „Der eindimensionale Mensch" untersucht er die der Wissenschaft vorgeworfene halbierte Vernunft im Hinblick auf ihre Auswirkungen im Bewußtsein der Menschen, die im Spätkapitalismus in einem auf ständige Konsumausweitung angelegten Wirtschaftssystem leben. Er stellt gewichtige Unterschiede zur Marxschen Ausgangslage fest. Die Entfremdung hat ihren Charakter geändert. Die Menschen werden nicht mehr unterdrückt, indem ihr Konsum auf das Existenzminimum reduziert wird, sondern im Gegenteil durch das Verführen zum Konsum um des Konsums willen. Die Repression erfolgt durch Entsublimierung: Die Menschen denken nur noch in Kategorien des Konsums und in vorgegebenen Wertvorstellungen, ihr Bewußtsein wird eindimensional, und sie sind zur Emanzipation, zur Wertkritik und zur Selbstbefreiung nicht mehr fähig. Durch die weitgehende Integration der Arbeiterschaft, der ursprünglich revolutionären Klasse, in das Konsumsystem, ist das von Marx gesehene Subjekt einer möglichen Gesellschaftsveränderung verschwunden. Allenfalls in nicht integrierten Randgruppen der Gesellschaft, den Studenten, die noch nicht im Produktionsprozeß stehen, oder den Intellektuellen könnte ein neues revolutionäres Subjekt entstehen.
Marcuses Anweisung zum praktischen Handeln mit dem Ziel einer Gesellschaftsveränderung lautet daher, sich dem Konsum und der dadurch bewirkten Selbstentfremdung zu verweigern, alternative Lebensformen und eine neue Sensibilität zu entwickeln. Aber dieses Alternativmodell der Gesellschaft, „eine Gesellschaft ohne Krieg, ohne Ausbeutung, ohne Unterdrückung, ohne Armut und ohne Verschwendung" bleibt leider ebenso wünschenswert wie abstrakt. Konkrete Überlegungen, wie eine solche Gesellschaft organisiert sein müßte, und wie der konkrete Weg aus der Gegenwart in die wünschbare Zukunft aussehen soll, finden sich bei Marcuse nicht. Es fehlt also jedes technische Wissen über Möglichkeiten der Veränderung — das ist nicht zuletzt eine Folge der Abwertung des sogenannten instrumenteilen Wissens.
„Befriedete Gesellschaft" — „eine Gesellschaft ohne Krieg, ohne Grausamkeit, ohne Brutalität, ohne Unterdrückung, ohne Dummheit, ohne Häßlichkeit", so definierte Marcuse 1967 im Spiegel „Die (echten) Bedürfnisse, die ich meine, sind ... heute unterdrückte organische Bedürfnisse: Das organische Bedürfnis nach Frieden, nach Ruhe, nach Schönheit, kurz: befreite Sensibilität. Sie gehört wesentlich zum Bilde einer befriedeten Gesellschaft." „Daß eine solche Gesellschaft möglich ist, daran zweifle ich überhaupt nicht, wenn ich mir die heutigen technischen, wissenschaftlichen und psychologischen Bedingungen ansehe. Die Frage ist: Wie kann man dazu kommen?" Marcuse sieht genau, daß diese neue befriedete Gesellschaft einen neuen Menschen — mit anderen Bedürfnissen, mit einer neuen Triebstruktur — voraussetzt: Solange die ökonomische Konkurrenz, der demonstrative Konsum, das Einander-Ausstechen-Wollen, Machtwünsche, Ausbeutung, Aggression und Leistungszwang durch Erziehung in den Bedürfnissen verankert werden, solange Herrschaft, Konkurrenz, Leistung und Unterdrükkung das soziale Klima bestimmen, sieht er keine Möglichkeit für eine freie, befriedete Gesellschaft. „Das Bedürfnis, technische Gebrauchsartikel, Apparate, Instrumente und Maschinen zu besitzen, zu konsumieren, zu bedienen und dauernd zu erneuern ... ist zu einem . biologischen Bedürfnis ... geworden.
Die(se) zweite Natur des Menschen widersetzt sich jeder Veränderung, welche diese Abhängigkeit der Menschen von einem immer dichter mit Handelsartikeln gefüllten Markt sprengte oder vielleicht abschaffte — seine Existenz als Konsument aufhöbe ... Die von diesem System geschaffenen Bedürfnisse sind deshalb stabilisierende, konservative Bedürfnisse: die Konterrevolution ist in der Trieb-struktur verankert." 30a)
Industrieller Wohlstand in kapitalistischen Gesellschaften führt nach Marcuse zur sozialen Korruption: Man unterwirft sich freiwillig dem-Diktat der Konsumwertungen. Verführt vom steigenden Wohlstand, teilt nach Marcuse auch die Arbeiterschaft die systemstabilisierenden Bedürfnisse, die ihr die Konsumgesellschaft angenehm einflüstert: Obwohl objektiv noch der „Träger der Revolution", ist die Arbeiterklasse nach Marcuse korrumpiert. „So wird in der Triebstruktur der Ausgebeuteten ein handfestes Interesse am bestehenden System befördert, und der Bruch mit...der Repression — eine notwendige Vorbedingung der Befreiung — findet nicht statt. Hieraus ergibt sich, daß der radikale Wandel, der die bestehende Gesellschaft in eine freie transformieren soll, ... hineinreichen muß ... (in) die biologische Dimension, in der die vitalen Bedürfnisse und Befriedigungen des Menschen sich geltend machen ... Eine Befreiung (setzt)
Veränderungen in dieser Dimension voraus, das heißt andere Triebbedürfnisse, andere Reaktionen des Körpers wie des Geistes." 30b)
Wettbewerbseifer, Besitzstreben, Prestige-sucht, Machtwünsche, Leistungsmotivation — diese Strebungen müssen nach Marcuse sozial entschärft, als repressiv, also als unterdrükkend, entlarvt und ihrer Sonderbetonung beraubt werden, damit ein befriedetes Dasein ohne ökonomischen Konkurrenzdruck und Leistungszwang, ohne Aggression möglich ist. überflüssige Luxusgüter, durch Werbung manipulierte unechte Bedürfnisse, Produktion um der Produktion und des bloßen Profites willen, nationale Rüstungs-und Prestigeproduktion, Produktion mit eingeplantem baldigem Verschleiß — auf all diese Kennzeichen kapitalistischer Wirtschaftssysteme könnte und müßte die befriedete Gesellschaft Marcuses verzichten. Nein, nicht verzichten — denn die Menschen erstrebten dies gar nicht mehr, ihre Triebstruktur wäre ja verändert.
Nur fragt sich: Wie kann man die Triebstruktur selber ändern? Marcuse erkennt selbst den Teufelskreis: Er führt die Revolution der Gesellschaft auf die Revolution der Triebstruktur zurück, auf die Umwälzung der historisch überformten „biologischen" Bedürfnisse. Aber die Revolution der Triebstruktur ist nur in einer befreiten Gesellschaft möglich. Kurz: Erst der neue Mensch kann die befriedete Gesellschaft schaffen. Doch die befriedete Gesellschaft schafft erst den neuen Menschen. Der Kreis scheint nicht zu sprengen zu sein.
Entlarvt Marcuse damit sich selber als Phantasten? In seinen Büchern „Triebstruktur und Gesellschaft“ und „Versuch über die Befreiung" versucht er nachzuweisen, daß das ökonomische Konkurrenz-und Leistungsprinzip der hoch-entwickelten Industriegesellschaften in seiner Vorrangstellung abgelöst werden könne durch das Lustprinzip (nach Freud): eine Kultur, geschaffen vom Spieltrieb statt durch das Leistungsprinzip, durch freiwillige, mühelos und spielerisch vollbrachte, nicht-verwaltete Arbeit statt vom organisierten Leistungszwang. „In einer wahrhaft menschlichen Kultur wird das Dasein viel mehr Spiel als Mühe sein, und der Mensch wird in der spielerischen Entfaltung statt im Mangel leben.“ „Der Spieltrieb ist das Vehikel dieser Befreiung." . Marcuse setzt schon in seinem Buch „Der ein-dimensionale Mensch", besonders aber in sei-* nem „Versuch über die Befreiung" alle seine Hoffnungen auf diese neue ästhetisch gefaßte Technik, in der nicht die Herrschaft des Leistungsapparates verkörpert ist: „Ist es immer noch nötig zu wiederholen, daß Wissenschaft und Technologie die großen Vehikel der Befreiung sind .. .?" Er spricht „von einer Technologie der Befreiung, dem Produkt einer wissenschaftlichen Imagination, die frei ist, die Formen eines menschlichen Universums ohne Ausbeutung und Mühsal zu entwerfen und zu planen": „Ein Bündnis von befreiender Kunst und befreiender Technologie", Technik „als Kunst“, „als . Organon der . Kunst des Lebens“' „Wir haben ja hier und heute ein geschichtliches Novum, insofern die technische und wissenschaftliche Entwicklung der Produktivität eine Stufe erreicht hat, an der dieser neue Mensch nicht mehr eine Sache der mehr oder weniger willkürlichen Spekulation ist, sondern — ich möchte beinahe sagen — aus dem Stand der Produktivkräfte abgeleitet werden kann." „Freiheit hängt in der Tat großenteils vom technischen Fortschritt, von der Fortentwicklung der Wissenschaft ab." „Die geplante Nutzung der Ressourcen zur Befriedigung der Lebensbedürfnisse bei einem Minimum an harter Arbeit, die Umwandlung der Freizeit in freie Zeit, die Befriedung des Kampfes ums Dasein" die Freisetzung der vitalen Triebe von jeder Unterdrückung, die Abschaffung des Leistungszwangs und der Herrschaftsstrukturen im industriellen Apparat — all dies, glaubt Marcuse, sei heute realisierbar, und zwar aufgrund der erreichten oder erreichbaren technologischen Perfektion. Die Errungenschaften der industriellen Technik im Zeitalter der Automation erlauben, die neue Technik und den neuen Menschen zu verwirklichen. Das Leistungsprinzip habe seine historische Schuldigkeit getan: Man könne nun über das Leistungsprinzip selbst hinausgehen und Wissenschaft und Technik sowie deren industrielle Verwertung relativ herrschaftsfrei — eben unter dem Spieltrieb — organisieren.
Diese Thesen Marcuses sind selber „technokratisch", obwohl Marcuse die Technokratie kritisiert: Rein technische Vorbedingungen entscheiden auch für ihn über soziale Problemlösungen. Wenn aber jede verwaltete Technologie schon als rationales Verfahren die Logik der Herrschaft in sich verkörpert, wie Marcuse in „Triebstruktur und Gesellschaft" behauptet, dann ist eine für Bestand und Entwicklung der Menschheit ausgedehnte und also organisierte herrschaftsfreie Technik als freie Kunst möglich. Eine bloße Hippiekultur könnte nicht die nötige umfassende Versorgungstechnologie aufbauen, auch nicht, wenn die Genußideologie sich wirksam polarisierte.
Die historische Durchsetzung des Lustprinzips, die Aufhebung der ökonomischen Zwangskonkurrenz wären nach Marcuse gleichbedeutend mit der Aufgabe des Leistungsprinzips; denn das Leistungsprinzip drückt seiner Meinung nach aus, „daß unter seiner Herrschaft die Gesellschaft entsprechend der konkurrierenden ökonomischen Leistung ihrer Mitglieder geschichtet ist" Ob er nur die „zusätzliche“, „unnötige" Repression durch „entfremdete" Arbeit dem „Leistungsprinzip“ zurechnet, bleibt nach seinen Schriften unklar.
Leistungen der Phantasie, des Künstlers, des Wissenschaftlers, des Erfinders — sie fallen für Marcuse gar nicht unter das Leistungsprinzip. Sie repräsentieren schlicht „die Kritik am Leistungsprinzip". Da ihm aber das Leistungsprinzip wiederum auch als Selbstdarstellungsmittel, als Prinzip der Selbstbewährung, gilt, wird seine Theorie hier widerspruchsvoll oder bestenfalls mehrdeutig. Der Zwang zur beruflichen Arbeit, der Kauf-und Tauschwert dieser Arbeit, Arbeit als Existenzsicherungsinstrument sowie als puritanische Tugend, die Prämiierung des ökonomischen Erfolges und die dadurch bestimmte, angeblich dadurch allein bestimmte Gesellschaftsschichtung, die soziale Wirkung der Publicity und des öffentlichen Images einer scheinbar vollbrachten Leistung, der als persönliche Leistung präsentierte Wahlerfolg, die erzwungen und widerwillig ausgeführte Routinearbeit und dagegen die freiwillig, durch harten Einsatz vollbrachte, oft mühevolle schöpferische (etwa wissenschaftliche oder künstlerische) Leistung, die Leistung als Ausdruck und Selbstdarstellungsmittel der Persönlichkeit — all dies wird von Marcuse (wie auch übrigens von den Ideologen der Leistungsgesellschaft) in einen großen Topf geworfen. Echte Leistungen sind aber von Scheinleistungen sorgsam zu trennen, ebenso freiwillige von erzwungenen. Marcuse hat es nach dieser groben Vermengung leicht, berechtigte Kritiken gegen die erzwungene unwürdige Fließbandarbeit auf die Leistungsmotivation, auf das Leistungsprinzip überhaupt zu übertragen und eine Art Leistungsdefaitismus zu predigen. Der Fehler sitzt schon in der globalen Voraussetzung. • Wer das Leistungsprinzip in allen seinen Varianten diffamiert, wer das kulturell mühsam erworbene Sachwissen und dessen Weiterentwicklung diskriminiert, der könnte auch gar keine neue Technik der ausreichenden Versorgung planetarisch etablieren oder aufrechterhalten. Im Zeichen wachsender Bevölkerung und knapper Rohstoffe kann die einmal erreichte Perfektion der Technik nicht auf Dauer genügen. Der technische und wissenschaftliche Fortschritt läßt sich nicht einfach einfrieren, statisch halten, ohne bald zum fatalen Rückfall zu werden. Ohne Leistungsmotivation und deren Kultivierung kann die Menschheit nicht mehr überdauern.
Damit ist nicht behauptet, daß unter allen Umständen der berufliche Leistungszwang für alle aufrechterhalten bleiben müßte. Die Wohlfahrtsgesellschaft tendiert ja dahin, gewisse Existenzgärantien zu geben — besonders für Kranke, Alte, Schwache. Und sie setzt die Arbeitszeit herab — freilich nicht so sehr aufgrund des technologischen Fortschritts allein, wie Marcuse meint, sondern wesentlich auch aufgrund des organisierten Arbeitskampfes.
Marcuses Utopie von der künftigen Alleinherrschaft des Lustprinzips ist allzu pauschal, sie ist regressiv, unrealistisch, letztlich unsozial — so progressiv sie sich gibt. Wenn Marcuses Appell gegen das Leistungsprinzip weltweit befolgt würde, vervielfachte sich die anlaufende Hungerkatastrophe in der Dritten Welt in nicht sehr ferner Zukunft. Und ungefähr ein Drittel der Menschheit hungert schon heute. Geradezu absurd und irreal sind sowohl Marcuses Thesen von der absoluten Abschaffbarkeit und Überwindung des Leistungsprinzips als auch die von der mühelosen technologischen Befriedigung aller Bedürfnisse.
Freilich hat Marcuse recht damit, daß aus Profitinteressen allzu viel überflüssiges produziert und die Verschwendung geradezu kultiviert wird, daß bei rationellem Einsatz aller technologischen Mittel (auch der Rüstungsaufwendungen) für die Versorgung der Darbenden sehr viel mehr Not verhindert werden könnte. Fraglich ist dagegen, ob die heutigen technischen und ökonomischen Mittel zur Beseitigung aller Hungers-und Versorgungsnöte ausreichen. Nur genaue Analysen und detaillierte Schätzungen könnten dies entscheiden. Doch daß dazu in der nächsten Generation die Menschheit sich verdoppeln wird, in der ein Drittel, wie erwähnt, schon heute hungert — diese höchst realen und lawinenartig die Probleme multiplizierenden Nebenbedingungen tauchen in Marcuses Analyse gar nicht auf. Statt dessen predigt Marcuse die Befreiung von der Überflußgesellschaft und die Totalbefolgung des Lustprinzips. Dies ist keine realistische und human verantwortliche Strategie. Marcuse glaubte es auch nicht nötig zu haben, detaillierte Resultate der empirischen Sozialwissenschaften, vor allem der Demographie, Ökologie, Ökonomie, Ethologie überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Marx als Ökonom hätte nie die Relevanz der Erfahrungswissenschaften für die Gesellschaftstheorie geleugnet wie Marcuse. Auch über Ergebnisse der Humanbiologie geht Marcuses Historismus allzu großzügig hinweg: Die Triebstruktur ist für Marcuse ausschließlich historisch-gesellschaftlich bedingt und demgemäß veränderbar. Seine Zukunftsvision malt eine Idylle von der aggressionsfreien, befriedeten Gesellschaft, die ihre Interessenkonflikte „ohne Brutalität, ohne Grausamkeit und ohne Aggression" zu lösen vermag. Marcuses Großzügigkeit gegenüber biologischen Grunddynamiken ist die Groteske, in der die Ignoranz die Titelrolle spielt: Er vollendete mit leichter Hand die idealistische und anthropomorphistische Elimination der Biologie, als er gefragt wurde, ob auch Tiere gegen die Grausamkeit anderer Tiere zu schützen seien:..... soweit als Grausamkeit unter den Tieren einfach durch Unsicherheit, Schwäche und Not bedingt ist, ja ... Ob man je verhindern können wird, daß der große Fisch den kleinen frißt? Vielleicht kommen wir noch einmal dazu, wenn nämlich der große Fisch genug Nahrung hat, so daß er den kleinen nicht braucht... Die Idee der Befriedung der Natur ist eine geschichtliche, keine metaphysische ..
Ein neuer Franziskus predigt also künftig zu den großen Fischen? Doch Paradieses-Grotesken — als kritische Theorie, verkappt als Narkotika verkauft — sind unverantwortlich, pädagogisch u. U. fatal und letztlich inhuman — trotz des respektablen humanen Antriebs, den man Marcuse nicht bestreiten kann. Marcuses Theorie ist Opium der Menschheit, eine säku-lare Paradiesutopie, technizistisch-ideologisch begründet, akademisch-romantisch verbrämt, in idealistischem Vokabular präsentiert.
Die total befriedete, aggressions-und konflikt-lose Gesellschaft ist Fiktion, wie Marcuse eigentlich selbst zugibt: „Konflikte wird es immer geben." Man kann den Menschen nicht biologisch so verändern, daß jeder Konflikt aggressionsfrei ausgeglichen werden kann. Aggression ist schon begrifflich an alle Konflikte gekoppelt. Doch man kann Konflikte regeln, ohne die Aggression zum Ausbruch kommen zu lassen, ohne Brutalität, ohne Grausamkeit.
Dies aber ist nicht durch biologische Manipulation und Umprogrammierung des Menschen zu leisten, sondern durch effektiv ineinander-greifende demokratische Kontrollen unter rationaler Kritik. Die Erziehung zu demokratischer Kontrolle und Kompromißbereitschaft leistet mehr als überfliegende utopische Appelle. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.
Marcuse freilich mißtraut den Wirkungen von Predigten und Kontrollen: „Sie können nicht von Menschen, die in ihren Instinkten verkrüppelt sind, eine freie Entwicklung erwarten. Eben deswegen ist ja ein therapeutischer Prozeß notwendig. Der Doktor greift ja auch ein, wenn einer krank ist..., wenn nötig mit Gewalt: die heilende, verbessernde Gewalt gegen die zerstörende Gewalt der Krankheit. So, glaube ich, ist es auch mit der Gesellschaft."
Marcuses bekannter Schluß in seinem Aufsatz über „Repressive Toleranz", daß die abstrakte Toleranz in der Gesellschaft stets die Minderheitenopposition schwächt, stets die Gewalt des „Establishments" stützt und daß es daher „für unterdrückte und überwältigte Minderheiten ein . Naturrecht’ auf Widerstand" gebe, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich erwiesen haben“ 38a) — dieser Schluß Marcuses ist stets als Legitimierungsversuch für Gegengewalt verstanden worden.
Welche Früchte soll aber die Saat von Gewalt und Gegengewalt bringen — außer wieder gewaltmäßige Unterdrückung? Aggression ist nicht durch Gegenaggression zu dämpfen. Noch jede Revolution durch Gewalt führte zu einer zumindest zeitweiligen Eskalierung der Gewalt, keineswegs aber endgültig zur erhofften Befreiung. Gewalt ist immer repressiv. Repressivität gegen Repression schließt Befriedung sicher aus. Macht korrumpiert siegreiche Revolutionäre. Die These von der Um-programmierbarkeit des Menschen ist illusionistisch, Marcuses Strategie der „Großen Verweigerung" jeder Mitarbeit, die Ohne-mich-Haltung, unverantwortlich. „Die Ausbreitung ... von Unzufriedenheit..., Untüchtigkeit, Arbeitswiderstand, Verweigerung der Pflichterfüllung, Fahrlässigkeit und Gleichgültigkeit — alles ... Faktoren, die einen höchst zentralisierten und koordinierten Apparat dort träfen, wo der Zusammenbruch an einem Punkt leicht den großer Teile des Ganzen nach sich ziehen könnte .. ." diese von Marcuse gepredigte Art des passiven oder reaktiven Widerstandes, soweit sie auf den Zusammenbruch des ganzen soziotechnischen Systems zielt, hätte dieselben nicht zu verantwortenden inhumanen Folgen wie die weltweite Aufgabe des Leistungsprinzips: Menschen würden der Illusion einer besseren Welt der Zukunft geopfert. Kein historischer Kalkül der Revolution, der das Chaos, die Anarchie einbezieht und die bloße utopische Hoffnung auf eine heile Welt zur Grundlage hat, kann für hochentwickelte Industriegesellschaften heute humanerweise vertreten werden. Aber in einer explosiv wachsenden Erdgesellschaft, die auf Hunger-katastrophen, Energie-und Wasserversorgungskatastrophen, auf ökologische Verunreinigungen kontinentalen und bald globalen Ausmaßes zusteuert, wenn nicht der Großteil aller sozialen und technologischen Kräfte für die Abwendung oder Milderung dieser Katastrophen eingesetzt wird — in einer solchen Erdgesellschaft wäre der Durchgang durch die Anarchie, durch den Zusammenbruch der Technostruktur und der ökonomischen Systeme erst recht fataler als jede historische Revolution. Um viele Größenordnungen höher wären die Opferzahlen als die Opfer jetziger Systeme, wenn man sich überhaupt, wie Marcuse, auf die brutale historische Bilanzierung einläßt. Und die Konsolidierung eines neuerlichen umfassenden Versorgungssystems nach einem Totalzusammenbruch des technisch-ökonomischen Apparats bliebe unwahrscheinlich. Revolution durch Anarchie liefert keine historische Verbesserungsalternative für die Gesamtheit komplexer Industriegesellschaften: Zu eng hängen zu viele Millionen in ihrer Existenz vom Funktionieren des Technosystems ab.
Marcuses Neigung zum Schwarz-Weiß-Denken, zu klischeehaften Dichotomien in allen Bereichen, hat ihm die realistische Erfassung solcher gesellschaftlichen Veränderungen verbaut. Leistungsprinzip gegen Lustprinzip, Herrschende gegen Beherrschte, Manipulateure gegen Manipulierte, falsche gegen wahre, echte Bedürfnisse, Effizienz, Arbeit, Heroismus gegen Bedürfnis nach Frieden, nach Ruhe, nach Schönheit, Aggression und Konkurrenz gegen befriedetes Dasein, Gewalt und Ausbeutung gegen ästhetische Sensibilität, Unterdrückung gegen Befreiung, repressive Verwaltung gegen freie Solidarität, zementierte Hoffnungslosigkeit gegen Revolution — auf so einfache Entweder-Oder-Klischees läßt sich keine haltbare Theorie hochkomplexer pluralistischer Gesellschaften gründen. Das Schwarz-Weiß-Denken ebenso wie die demonstrative Mißachtung der empirischen Sozialwissenschaften kann nur um den Preis der Unangemessenheit der Theorie erkauft werden. selbst ist sozialpsychologisch als Variante und Syndrom autoritärer Denkmuster erwiesen. Marcuse als autoritärer Denker? Doch wohl nicht. Aber totalitär sind seine Globalklischierungen sicherlich — ein idealistisches Erbe des allumfassenden Anspruchs Hegelscher Begriffsentwicklungen, das ganze Universum der Menschheitsgeschichte ohne viel Rücksicht auf empirische Details in die Dialektik weniger Begriffe zu fassen. Philosophische Utopisten sind meist intellektuelle Totalitaristen. Die Hoffnung, daß sich Marcuses dogmatischer, spekulativer Marxismus auf das jeweils gegenwärtige soziale Leben wirklich anwenden läßt —. diese Hoffnung hat McIntyre als schon logisch unmöglich erwiesen. Auch Marcuses These von der vollständig eindimensionalen Gesellschaft nur verwalteter Manipulierter und von den systemstabilisierenden Wirkungen der unterstellten technisch-verwaltungsmäßigen Gleichförmigkeit ist ebenso pauschal-klischeehaft wie falsch.
Nicht die totale durchdringende Gleichheit und verwaltungsmäßige Verfügbarkeit stabilisiert komplexe industrielle Gesellschaften, sondern viel eher die Vielzahl der Subkulturen, der Ausweichmöglichkeiten, ja, der Divergenzen-und Spannungen. Marcuse hat den sozialen Pluralismus nicht erkannt, nicht genügend berücksichtigt. Sein Zwei-Klassen-Denken, seine Schwarz-Weiß-Dichotomien verhinderten dies. Erst wer nicht nur in Gegensätzen ausschließlich zweier Klischees denkt, kann adäquater pluralistische Sozialsysteme deuten: Er kann freilich nicht mehr das Lustprinzip gegen das Leistungsprinzip als Totalprinzip der Gesellschaft ausspielen. Beide sind zu undifferenzierte Klischees. Nicht jeder, der ein Lustprinzip bejaht, muß Leistungen negieren — und umgekehrt. Im Sozialen gilt kein durchgängiges scharfes Entweder-Oder. Monolithischer Radikalismus führt stets zu falschen Theorien.
Wer von den Repräsentanten des sogenannten „Establishments“ bestreitet die Berechtigung der Bedürfnisse nach Frieden, nach Ruhe, nach Schönheit? Wer wollte diese nicht befriedigen? Wer möchte ausschließlich Leistung, Effizienz, Arbeit, Heroismus kultivieren? Soziale Unterschiede und Entwicklungen drücken sich in detaillierteren Zusammenhängen aus. Konkreter: Die neue Sensibilität Marcuses kann durchaus gesellschaftlichen Einfluß gewinnen, ohne daß die historisch notwendige Leistungsmotivation verschwinden müßte oder dürfte. Die durch gewerkschaftliche Forderungen erzwungene Verringerung der Arbeitszeit und die ästhetische Jugendrebellion könnten Hand in Hand spielen. Erhöhte Wahlmöglichkeiten und Vielfalt der Teilnahme und Selbstspiegelung in verschiedensten kulturellen Gruppen und Organisationen erhöhen die Möglichkeit der Persönlichkeitsdifferenzierung und -entwicklung. Rationale Kontrolle — totale Demokratisierung in allen Bereichen — fördert keineswegs notwendig die Vernunft. Demokratische Kontrolle — ja, aber unter Nebenbedingungen — das ist unerläßlich: Leistungen in Wissenschaft und Wirtschaft lassen sich nicht in bloßen demokratischen Konsensus auflösen noch durch Solidarisierungsappelle allein erreichen. Wissen entsteht nicht durch Majoritätsentscheid. Die pauschale Kritik der radikalen Linken gegen jede Leistungsmotivation und jedes Sachwissen, gegen die Kriterien wissenschaftlichen Leistungsniveaus, führt zu inhumanen Folgen und Gefährdungen — zumindest tendenziell, so berechtigt die Kritik an totaler fachidiotischer Selbstbeschränkung und Scheuklappenblindheit war und bleibt Dem selbstlosen Engagement der früheren kritischen Generation war Bewunderung zu zollen. Doch die rationale Disziplinierung der Kritik und die Erkenntnis der Unerläßlichkeit von Leistungsmotivation und Sachwissen — diese konstruktiven Fermente mußte die kritische Generation dem radikalen Elan erst noch beimischen, um humane Erfolge zu sichern. Die antiwissenschaftliche und besonders antinaturwissenschaftliche Einstellung und die zu pauschale Kritik an jedwedem Leistungsprinzip gehen zum merklichen Teil auf Marcuse zurück. Marcuse ernst zu nehmen, heißt hier über ihn hinauszugehen, ohne deshalb die Technokratie oder die soziale Erstarrung zu verfechten.
Jürgen Habermas, eine Generation jünger als die vorgenannten, hat sich bei seinem Versuch einer wissenschaftstheoretischen Fundierung der Kritischen Theorie auf die oben dargestellten Grundpositionen gestützt. In Anknüpfung an zwei Grundsatzreferate von Popper und Adorno auf der Tübinger Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 1961 entwikkelte er in einem programmatischen Aufsatz . Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik" in expliziter Gegenüberstellung mit der traditionellen Wissenschaftstheorie die Hauptthesen einer gesellschaftskritischen dialektischen Theorie.
Horkheimer hatte mit seiner Kritik an der traditionellen Theorie ein bestimmtes mögliches Verhalten moderner Wissenschaftler gegenüber praktisch-normativen Fragen treffen wollen. Er glaubte, nachweisen zu können, daß die Forderung nach Wertfreiheit der Wissenschaft — in den Sozialwissenschaften Vorbedingung für die Möglichkeit objektiver Wahrheitsfindung überhaupt — vom einzelnen Wissenschaftler dahin gehend ausgelegt wird, als sei jeder Gedanke, der über die gedankliche Abbildung der Realität hinausgeht, verboten. Die Folge einer solchen Denkhaltung ist das Entstehen einer lediglich instrumenteilen Vernunft. Eine solche „instrumentelle Vernunft“ ist dadurch charakterisiert, daß sie es unterläßt, die vorliegende soziale Wirklichkeit auf ihre historische Entstehung hin zu befragen und statt dessen das Bestehende, weil es besteht, legitimiert und ihr Erkenntnisinteresse nur darauf richtet, innerhalb des nicht mehr problematisierten Bestehenden technisch erfolgreiches Handeln zu ermöglichen.
Eine solche Haltung bezeichnet man dann gewöhnlich als Pragmatismus; dieser verdächtigt nach Horkheimers Auffassung jeden Veränderungswillen als Utopismus.
Wichtig für den Ansatzpunkt der Kritischen Theorie ist nun, daß diese instrumentelle Vernunft sich in Übereinstimmung weiß mit den von der analytischen Philosophie entwickelten formalen Regeln des wissenschaftlich korrekten Denkens.
Daher ist es erklärlich, daß die Kritische Theorie ihren Angriff gegen die moderne Wissenschaftstheorie als die angebliche Legitimationsinstanz der bekämpften instrumentellen Vernunft richtet. Es ist aber auch unmittelbar einsehbar, weshalb dieser Angriff dem falschen Gegner galt. Denn indem die analytische Philosophie zu ihrem Untersuchungsobjekt die Logik wissenschaftlichen Forschens und Beweisens erklärte, erfaßte sie eine allgemeine formale Methodologie vernünftigen Denkens und damit eine notwendige Bedingung zutreffender Theorien, nicht jedoch jede hinreichende Bedingung. Das bedeutet konkret: Eine methodologisch korrekt entwikkelte und experimentell vermeintlich abgesicherte Theorie kann eine total verkürzte und einseitige Sichtweise der Wirklichkeit enthalten. Diese Einseitigkeit aufzuheben, ist daher nun keine Frage der Verbesserung der bestehenden oder der Entwicklung einer alternativen wissenschaftlichen Methodologie, sondern ein Problem, das durch die Entwicklung inhaltlich umfassenderer Hypothesen über die Wirklichkeit gelöst werden muß. Eine Kritik der lediglich instrumenteilen Vernunft ist aber auch auf dem Boden der sogenannten traditionellen Theorie möglich. Allerdings wird die Kritik an einem bestimmten gesellschaftlichen Verhalten der Wissenschaften bzw.der Wissenschaftler von der Frankfurter Schule nicht als Kritik an ideologischen Aspekten einzelner Theorien aufgefaßt, sondern auf das systematisch-logische Denken überhaupt bezogen. Die Position, von der aus das logische Denken in seiner Beschränktheit angegriffen wird, ist das dialektische Denken. Der Vorwurf, den die Dialektik den Wissenschaften macht, ist derjenige, daß in der klassischen Methode der Wissenschaften eine „harmonistische Tendenz" verborgen ist, welche die Antagonismen der Wirklichkeit verschwinden läßt. „Sie bringt wesentlich Ungleichnamiges, einander Widerstreitendes, durch die Wahl der Begriffsapparatur und im Dienst von deren Einstimmigkeit, auf den gleichen Begriff“
Die logisch-systematischen Wissenschaften konstruieren also eine „Totalität der Denkbe-Stimmungen" die der Wirklichkeit nicht gerecht wird, während nur „der dialektische Widerspruch die realen Antagonismen ausdrückt .. ," die innerhalb des logisch-szientistischen Denksystems nicht sichtbar werden. Die Frankfurter Schule vertritt also die Auffassung, daß das logische Denken ein einseitiges, harmonistisches Bild der Wirklichkeit entwerfe. Die Ursache dafür ist, daß das logische Denken sich bestimmten Axiomen unterwirft: dem der Widerspruchsfreiheit und dem des ausgeschlossenen Dritten. Gemäß diesen positivistischen Forderungen sind keine Widersprüche in wissenschaftlichen Aussagen zugelassen, bzw. Widersprüche werden für die Wirklichkeit ausgeschlossen. Nun glauben aber die Dialektiker der Frankfurter Schule, die Existenz von Widersprüchen in der Wirklichkeit aufzeigen zu kühnen, etwa im Sinne der Dialektik der Aufklärung. Deren Widerspruch liegt darin, daß ein und dasselbe Phänomen zugleich Fortschritt und Rückschritt bedeutet, was die Logik nicht zu denken vermöge. Daher erhebt die Dialektik den Anspruch, auch dasjenige zu begreifen, was in der Logik als Widerspruch erscheint und deshalb entweder außerhalb der Theorie bleibt oder gewaltsam des Widerspruchs entkleidet und in die Theorie hineingepreßt wird — z. B.: „Treten jedoch in sozialwissenschaftlichen Sätzen logische Widersprüche auf wie der nicht eben irrelevante, daß das gleiche soziale System die Produktivkräfte entfessele und fessele, dann vermag theoretische Analyse derlei logische Unstimmigkeiten auf Strukturmomente der Gesellschaft zurückführen, muß sie nicht als bloße Inkonzinnitäten (Unangemessenheiten) ...des wissenschaftlichen Denkens wegschaffen, wo sie doch nur durch Veränderung der Realität beseitigt werden könnten"
An dieser Selbstauslegung der Dialektik muß jedoch folgendes kritisiert werden. Dasjenige, was die Dialektiker als logische Widersprüche bestimmen, die sich in der Einheit von Fortschritt und Rückschritt, von Aufklärung und Mythos manifestieren sollen, erscheint nur in der absichtlich paradoxen Formulierung als logischer Widerspruch. Die prägnant klingenden Ausdrücke, die empirische Widersprüche wiederzugeben scheinen, sind in Wirklichkeit ungenau. Das, was die Dialektiker mit ihren dialektischen Begriffen ausdrücken wollen, ist der auch für Systematiker und Logiker erkennbare Sachverhalt, daß bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen und historische Epochen in ihrer Wirkung und Bedeutung ambivalent und wandelbar sind sowie u. U. viele verschiedene Komponenten und Tendenzen (mit Systemeigenschaften, wie wir heute sagen) enthalten. Daß das gleiche soziale System die Produktivität fesselt und entfesselt, oder daß Aufklärung in Mythologie zurückfällt, der sie entrinnen will, ist sofort verstehbar, wenn berücksichtigt wird, daß verschiedene Hinsichten, Aspekte und unterschiedliche Systemkomponenten bei der Betrachtung berücksichtigt werden. Aus dieser Perspektive gesehen, erfüllt die dialektische Theorie von der Gesellschaft, die sich als kritische versteht, die wichtige Aufgabe, einseitige ideologische Vorstellungen von der Wirklichkeit, etwa ein naives Fortschrittsdenken, zu zerstören. Der dialektische Widerspruch als in der Wirklichkeit existierender „Widerspruch" berührt demnach überhaupt nicht das Axiom der Widerspruchsfreiheit, da dieses lediglich besagt, daß nicht zur gleichen Zeit in der gleichen Hinsicht eine bestimmte Eigenschaft einem Objekt zukommen und nicht zukommen kann, d. h., daß auch nicht gleichzeitig diese Eigenschaft in der gleichen Hinsicht dem Objekt zu-und abgesprochen werden kann, wie schon Aristoteles wußte. Es wäre daher falsch, wollte man die These vom Rückfall der Aufklärung in den Mythos mit der Behauptung eines logischen Widerspruchs gleichsetzen, indem die Dialektik der Aufklärung darin bestehe, daß der bloß technische Fortschritt der Rationalität die von der Aufklärung intendierte Emanzipation ebenso verhindere wie der Mythos. Aufklärung und Mythos haben in dieser Hinsicht ein gleiches Ergebnis, obwohl Aufklärung sich ursprünglich als Gegensatz zum Mythos versteht.
Die prinzipielle Kritik am systematischen Denken, die von der Frankfurter Schule ausgesprochen wird, beruht lediglich auf der unzureichenden Kenntnis der Logik.
Für die wissenschaftstheoretische Position der Frankfurter Schule ist neben der antilogischen Dialektikinterpretation von entscheidender Bedeutung die Stellung gewesen, die sie in der Kontroverse zwischen Natur-und Geisteswissenschaften über die korrekte Methode wissenschaftlichen Denkens bezogen hat.
Die Trennung von Natur-und Geisteswissenschaften ist ursprünglich einmal, wie wir das von Dilthey wissen, als Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Bereichen der Wirklichkeit aufgestellt worden — auf der einen Seite die physikalische Welt, in der alle Vorgänge nach unveränderlichen, ewigen Gesetzen ablaufen, in der das einzelne durch Rückführung auf ein allgemeines Gesetz erklärt wird, und auf der anderen Seite die Welt des Menschen, die für uns, da wir selbst Menschen sind, verstehbar ist, in der Kulturen, menschliche Handlungen etc. gerade nicht als regelhafte Vorgänge begreifbar sind, sondern als höchst individuelle einmalige Geschehnisse, die nicht determiniert ablaufen, sondern aus willkürlichen menschlichen Entscheidungen resultieren. War die Unterscheidung von Erklären und Verstehen zunächst wertfrei eingeführt worden, so ist sie von der geisteswissenschaftlich betriebenen Philosophie in Deutschland inzwischen herangezogen worden zur Charakterisierung zweier verschiedener menschlicher Erkenntnisarten: einer niederen, deren Erklärungen dem erklärten Gegenstandsbereich bloß äußerlich bleiben, und einer höheren, die in die Phänomene wirklich eindringt, die sie nicht nur erklärt, sondern versteht.
Diese Vorstellung, die schon immer den Hintergrund für die Kritische Theorie der Frankfurter Schule gebildet hat, ist von Jürgen Habermas zur Theorie von den erkenntnisleitenden Interessen weiterentwickelt worden, die spezifische Wissenschaftstypen konstituieren. Habermas unterscheidet drei verschiedene Interessen, unter denen wir die Wirklichkeit betrachten können: das technische, das praktische und das emanzipatorische Interesse. Die entsprechenden Wissenschaften sind:
1. die technischen Disziplinen, die uns die Wirklichkeit unter dem Aspekt ihrer instrumentellen Nutzbarmachung durch die menschliche Arbeit erschließen, 2. die hermeneutisch verfahrenden Wissenschaften, deren Ziel im Unterschied zu den technischen das Herstellen eines Konsensus zwischen einander verstehenden Subjekten ist;
3. die emanzipatorische Theorie, deren Aufgabe die dialektische Aufklärung des Menschen über die ihn beherrschenden gesellschaftlichen Strukturen ist mit dem Ziel der Überwindung der Herrschaft von Menschen über Menschen, der Ersetzung der Herrschaftsverhältnisse durch den herrschaftsfreien Diskurs mündiger Subjekte.
Diese Unterscheidung beansprucht nun, mehr zu sein als eine Klassifizierung, vielmehr behauptet Habermas, Kategorien des Denkens und Methoden wissenschaftlicher Forschung seien bezogen auf die jeweiligen Erkenntnis-interessen und demnach immer nur für diejenigen Wissenschaften gültig, die sich gemeinsam aus ein und demselben Erkenntnisinteresse herleiten. Folglich wird ein Einheitskonzept der Wissenschaften abgelehnt, wie es der Kritische Rationalismus Poppers mit der Forderung aufstellte, Theorien in Natur-wie Geisteswissenschaften als Hypothesen aufzufassen, die mit jeweils geeigneten, also von Fall zu Fall verschiedenen Mitteln zu überprüfen und, sollten sie versagen, durch bessere Theorien zu ersetzen seien. Habermas hat daher in seinem bereits erwähnten Aufsatz . Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik" aus dem Jahre 1963 sich mit Poppers Konzept auseinandergesetzt und eine Reihe von Argumenten gegen die analytische Wissenschaftstheorie angeführt, die seine technische Deutung der Naturwissenschaften und sozialwissenschaftlichen Disziplinen plausibel machen sollen. Er hat vier Einwände gegen die analytische Wissenschaftstheorie erhoben, die Grenzen der systematisch-deduktiven Denkweise aufzeigen sollen.
So bleibt seiner Interpretation zufolge der Begriff des Systems dem analysierten Erfahrungsbereich äußerlich. Es gibt keine ontologische Entsprechung zwischen wissenschaftlichen Kategorien und Strukturen der Wirklichkeit. Theorien sind beliebig konstruierte Ordnungsschemata, die aus einer abstrakten Methodologie entwickelt werden. Eine tatsächliche Übereinstimmung zwischen Theorie und der Wirklichkeit ist prinzipiell zufällig. Demnach sind Theorien nicht wahr oder falsch, sondern sie sind brauchbar, nämlich dann, wenn die Erscheinungen der Wirklichkeit sich ihnen fügen. Sobald aber, wie Habermas es formuliert, „das Erkenntnisinteresse über Natur-beherrschung und das heißt hier: über die Manipulation naturwüchsiger Bereiche hinaus-zielt, schlägt die Gleichgültigkeit des Systems gegenüber seinem Anwendungsbereich um in eine Verfälschung des Objekts. Die zugunsten einer allgemeinen Methodologie vernachlässigte Struktur des Gegenstandes verurteilt die Theorie, in die sie nicht eindringen kann, zur Irrelevanz"
Mit anderen Worten: Die systematisch-deduktiv verfahrenden Wissenschaften liefern ein Wissen, das lediglich technische Manipulationen der Wirklichkeit ermöglicht. Der Grund dafür liegt darin, daß diese Wissenschaften, fixiert auf die Einhaltung einer abstrakten Methodologie, die spezifische Struktur des jeweiligen Gegenstandes unberücksichtigt lassen. Die „vermeintliche Freiheit in der Wahl der Kategorien und Modelle" die eine Verfälschung der Objekte bewirkt, gilt es daher nach Habermas in den Wissenschaften, die sich mit der vom Menschen hervorgebrachten Welt beschäftigen, zu ersetzen durch die hermeneutische Methode der Explikation von Sinn. Die Ergebnisse hermeneutischer Bemühungen bleiben demnach dem analysierten Gegenstandsbereich nicht äußerlich, da die hermeneutisch verfahrenden Wissenschaften sich „vorgängig der Angemessenheit ihrer Kategorien an den Gegenstand versichern“
Diese Argumentation von Habermas gegen die systematisch-deduktiven Wissenschaften muß befremden, denn gerade der Kritische Rationalismus, den Habermas zum Gegner erklärt hat, wird nicht getroffen, da ja Poppers Konzeption der „Trial-and-error-Methode" die Forderung an die Wissenschaften stellt, sich durch prüfende Experimente der Angemessenheit ihrer Kategorien an den Gegenstand immer von neuem zu versichern.
Ein zweiter Einwand gegen die analytisch-empirischen Verfahrensweisen ist, sie duldeten nur einen einzigen Typ von Erfahrung, die „kontrollierte Beobachtung physischen Verhaltens, die in einem isolierten Feld unter reproduzierbaren Umständen von beliebig austauschbaren Subjekten veranstaltet wird" 46a). Eine solche eingeschränkte Erfahrung, die nur noch eine schon analytisch zurechtgebogene Wirklichkeit erfaßt, lehnt Habermas für die sich kritisch verstehenden Sozialwissenschaften ab und möchte auf den Fonds vorwissenschaftlich akkumulierter Erfahrung zurückgreifen. Aber auch dieser Kritikpunkt von Habermas ist nicht stichhaltig, denn die systematischen Wissenschaften können ohne Schwierigkeiten auf die vorwissenschaftliche Erfahrung zurückgreifen. Sie unterscheiden sich von den Vorstellungen der Lebenswelt nur durch die Präzisierung ihrer Begriffe sowie durch die Systematisierung ihrer Aussagen und Forschungsmethoden, sie sind also problemlos in der Lage, Vorstellungen der vorwissenschaftlichen Lebenswelt aufzugreifen, sie genauer zu formulieren und sie so in wissenschaftlich prüfbare
Ein weiterer Punkt, Hypothesen zu verwandeln. den Habermas anspricht, betrifft das Verhältnis von Theorie und Geschichte. Die analytisch-empirischen Verfahrensweisen kennen keine historischen Gesetzmäßigkeiten, Gesetze also, die die geschichtliche Entwicklung unmittelbar bestimmen. Die in den historischen Wissenschaften angewandten Gesetze haben den gleichen Status wie alle übrigen Naturgesetze, sie gelten Geschichte. Für die Kritische für alle Epochen der Theorie reklamiert Habermas nun einen Typ von historischen Gesetzen, die jeweils nur für die Epochen gelten sollen, für die sie aufgestellt worden sind. „Historische Gesetzmäßigkeiten dieses Typs bezeichnen Bewegungen, die sich, vermittelt durch das Bewußtsein der handelnden Subjekte, tendenziell durchsetzen.“ Aus der Formulierung von Habermas geht aber hervor, daß er offensichtlich als Gesetz bezeichnen will, was man mit Popper zweckmäßigerweise als Trend, als sich tendenziell durchsetzende singuläre Bewegung kennzeichnen sollte.
Der letzte Einwand von Habermas gegen die analytisch-empirisch verfahrenden Wissenschaften beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Theorie und Praxis. Die empirischen Wissenschaften haben zum Ziel des Forschens die Erkenntnis von Gesetzen. Sind Gesetzmäßigkeiten bekannt, dann lassen sich daraus durch Einsetzen von Randbedingungen Voraussagen gewinnen. Prognostisches Wissen ist für beliebige technische Zwecke verwertbar. Aber die Zwecke selbst werden durch die Erforschung der Tatsachen nicht mit erfaßt. Die lediglich instrumentelle Vernunft, die nur instrumentelles Wissen erzeugt, führt nach Habermas zu einer positivistisch halbierten Rationalität, die der Ergänzung bzw. Korrektur durch eine explizit praktische und kritische Vernunft bedarf, eine Theorie, die es erlaubt, Wertungen aus der Analyse der Fakten abzuleiten, und damit eine wissenschaftliche Orientierung im praktischen Handeln ermöglicht Hier wäre anzumerken, daß, wie Habermas richtig sieht, auf Grund des Dualismus von Tatsachen und Entscheidungen die empirischen Wissenschaften keinerlei Handlungsanweisungen liefern können. Nun bedeutet das aber nicht, daß Entscheidungen überhaupt abgelehnt werden, vielmehr haben ja gerade die von Habermas beharrlich des Positivismus verdächtigten Kritischen Rationalisten selbst ein Konzept zur vernünftigen Diskussion über Wertungen entwickelt.
Für die historisch-hermeneutischen Wissenschaften, deren Ziel die Ermöglichung zwischenmenschlicher Kommunikation ist, schränkt Habermas die Verbindlichkeit der Logik eii^ denn seiner Interpretation zufolge ist die Logik eine abstrakte Methodologie, deren Zweck es nur sein kann, in den technischen Wissenschaften den deduktiven Aufbau der Systeme zu ermöglichen: „Streng deduktive Zusammenhänge gestatten Ableitungen, keine Kommunikationen." Die Aufgabe der Logik in den Naturwissenschaften übernehmen daher in den Geisteswissenschaften die Regeln der Hermeneutik. Theorien sind also nicht deduktiv aufgebaut, sie entspringen vielmehr hermeneutischer Interpretation, die ja bekanntlich nicht deduktiv vorgeht, sondern in einer Kreisbewegung ein zunächst noch ungefähres Vorverständnis schrittweise immer mehr verdeutlicht und schließlich als das richtige erweist.
Gegen den Versuch, einen Gegensatz zwischen Logik und Hermeneutik zu konstruieren, ist folgendes einzuwenden: Die Regeln der Hermeneutik sind ebenso logisch auf die besondere Struktur ihres Objektes bezogen wie Experimente auf Theorien. Sinnverstehen und zwischenmenschliche Kommunikation vollziehen sich keineswegs in einer dem logischen Denken fremden Sphäre, man wird vielmehr erwarten dürfen, daß die zwischenmenschliche Kommunikation durch die Befolgung der Regeln logischen Denkens, wie sie W. Kamlah und P. Lorenzen in ihrer „Logischen Propädeutik" lehren, nur gewinnen kann. Auch lassen sich die Wissenschaften nicht immer säuberlich in logische und hermeneutische trennen. Die Jurisprudenz beispielsweise verfährt einerseits hermeneutisch verstehend bei der Auslegung von Rechtssätzen, andererseits aber auch als logische Disziplin, da der juristische Schluß, die Subsumtion, nach dem Modus ponens gebildet wird.
In seiner Interpretation der emanzipatorischen Wissenschaften — den Prototyp dafür stellt die Psychoanalyse dar — reißt Habermas nun die Schranken, die er zwischen den von ihm benannten Wissenschaftstypen aufgerichtet hatte, selbst wieder nieder. „Die Psychoanalyse verbindet nämlich Hermeneutik mit Leistungen, die genuin den Naturwissenschaften Vorbehalten zu sein schienen." Zudem zeigt sich an den von Habermas angeführten Beispielen, nämlich an Psychoanalyse und Marxscher Ideologiekritik, daß gerade hier die Parallelisierung von Interessen und Wissenschaftstypen fehlgeht. Denn Marx und Freud haben beide ihre Theorien als Theorien im naturwissenschaftlichen Sinn verstanden, also als Theorien jenes Typus, den Habermas als lediglich technisch abqualifiziert hat. Habermas bzw.seine Schüler Negt und Wellmer werfen denn auch Freud und Marx positivistische Selbstmißdeutung vor. Demnach hätten Marx und Freud sich über ihre eigenen Interessen getäuscht, sie hätten aus einem falschen Interesse heraus die richtige, also emanzipatorische Theorie entwickelt Dieses Beispiel zeigt eindeutig, daß die Zuordnung von Interessen und Denkmethoden nicht in der Weise vorgenommen werden kann, wie es Habermas möchte. Wahre Sätze sind eben gerade nicht in ihrer Gültigkeit durch die Interessen eingeschränkt, von denen sich ihre Entdecker haben leiten lassen. Theorien sind nicht nur technisch wahr, sondern, weil sie wahr sind, lassen sich unter anderem auch Techniken aus ihnen ableiten, ebenso lassen sie sich aber auch je nach Erkenntnisinteresse des Interpreten für z. B. emanzipatorische Bestrebungen fruchtbar machen.
Die Parallelisierung von Interessen und Wissenschaftstypen ist deswegen verhängnisvoll, weil aus ihr Denkverbote abgeleitet werden, weil die Anwendung von Methoden und Denkmodellen damit nicht mehr den tatsächlichen Bedürfnissen der Einzelwissenschaften überlassen bleibt, sondern dogmatisch eingeengt wird. Eine Unterscheidung von systematischen und Geschichten erzählenden Wissenschaften wäre vom Standpunkt der Habermassehen Theorie aus undenkbar, da sie die dort gebotene Klassifizierung durchbricht. Die Paläontologie beispielsweise gehört wie die übrigen historischen Disziplinen in die Gruppe derjenigen Wissenschaften, die eine Geschichte erzählen, während sie Habermas zufolge als technische Theorie angesprochen werden müßte.
Ein letzter Einwand gegen Habermas’ Wissenschaftstypen liegt auch darin, daß die von ihm gewünschte kritische und emanzipatorische Wissenschaft durch die institutionelle Trennung von den als bloß technisch abqualifizierten Tatsachenwissenschaften sich aller Handlungsmöglichkeiten beraubt. Das technisch verwertbare Wissen, das für praktisches Handeln unerläßlich ist, bleibt außerhalb des Bereichs der emanzipatorischen Theorie. So führt der Versuch, die lediglich instrumentelle Vernunft durch eine praktische zu ergänzen, nur zur Konstituierung einer ebenso unvollkommenen und halbierten, d. h. um die technische Dimension verkürzten praktischen Theorie.
Nach dem zuvor Erörterten über die Bedeutung der Wissenschaften und ihre Methoden-57 lehren in der Frankfurter Schule wird deutlich, daß der sogenannte Positivismusstreit in der Deutschen Soziologie entweder ein Scheingefecht oder ein Aneinandervorbeireden auf beiden Seiten gewesen ist. Positivisten oder Neopositivisten waren an dem Streit gar nicht beteiligt. Terminologische Ungeschicklichkeiten wie die Gesamtetikettierung der Vertreter analytischer Wissenschaftstheorie als „Positivisten“ taten ein übriges. Die soge-nannten Kritischen Rationalisten im Anschluß an Popper, die flugs von der Frankfurter Schule als Positivisten angegriffen wurden, hatten sich jedoch von vornherein als methodologische Gegner des Neopositivismus (also die Lehre, allgemeine Gesetze seien immer auf einzelne Beobachtungsaussagen zurückzuführen und nur ein voll durch Beobachtung bewahrheiteter Satz sei wissenschaftlich) verstanden. Statt dessen richtete sich die Kritik Horkheimers und seiner Nachfolger eher gegen den Szientismus, eine Lehre, die menschliche Subjekte in der Wissenschaft nach Methode und Vorbild der Naturwissenschaften wie manipulierbare Objekte im Labor behandeln möchte. Eine solche szientistischeHumanwissenschaft versteht sich dann als wertfrei. Szientistische Wissenschaftler — so wird unterstellt — wollen also Menschen wie Elektronen behandeln und die exakten Methoden der Naturwissenschaften auf die Bereiche der Humandisziplinen übertragen. Die Philosophen der Frankfurter Schule haben in der Tat frühzeitig die Probleme des Szientismus und der Technokratie („Machbarkeit", „Verwissenschaftlichung", „Zweck-Mittel-Rationalität" „Effektivität“ und „Effizienz“ seien unter dem Gesichtspunkt der auszudehnenden Herrschaft des Menschen über die Natur und über andere Menschen fast, ausschließlich die einzigen Leitwerte) in die sozialphilosophische Diskussion einbezogen. Dabei wurde allerdings ein komplexes Syndrom festgestellt und nicht zwischen verschiedenen Komponenten des Szientismus unterschieden: Die Orientierung der Methoden ausschließlich an den Vorbildern der Naturwissenschaft muß keineswegs Hand in Hand gehen mit der Auffassung, Menschen seien wie Gasgemische im manipulativen experimentellen Zugriff der Human-wissenschaften zu unterwerfen, ohne Rücksicht auf irgendwelche moralischen Skrupel, und auch nicht mit der sozialutopischen szientistisch-technokratischen Vorstellung, Gesellschaften ließen sich nach objektiven Regeln der Wissenschaft bilden, organisieren und lenken. Angesichts der besonders in den letzten Jahren aktuell gewordenen Diskussion um Verantwortung der Wissenschaftler und Techniker, um das weithin lautgewordene „Unbehagen" in Wissenschaft und Technik ist eine präzisere Diskussion der Teilaspekte des Szientismusstreits, der den Positivismusstreit abgelöst hat oder ihm eigentlich zugrunde-liegt, sehr nötig. Hierauf den Finger gelegt zu haben, ist zweifellos das Verdienst der Kritischen Theorie und der Frankfurter Schule.
Fraglich hingegen ist, ob man die berechtigte Kritik gegen den moralischen Szientismus einfach auf den methodologischen Szientismus (Verwendung naturwissenschaftsähnlicher Methoden in den Sozialwissenschaften) übertragen kann, ob man das moralische Engagement und wertende Urteile in die Theorie der Wissenschaften selbst mit aufnehmen kann, wie es die Kritische Theorie in ihrer Konzeption einer normativen Sozialwissenschaft versuchte. Normative, d. h. wertende und vorschreibende Aussagesysteme lassen sich aber nicht empirisch nach „wahr“ und „falsch" überprüfen: Ein Wunsch, ein Befehl, ein Werturteil kann nicht auf Wahrheit getestet werden. In dem Maße, in dem Disziplinen normative Teile aufnehmen, verlieren sie an wissenschaftlichem Erfahrungsgehalt. Die normative Diskussion ist nicht (erfahrungs) wissenschaftlich, sondern philosophisch. Will man die normative rationale Diskussion auch „wissenschaftlich" nennen, so ist das eine terminologische Konvention, die möglich, wenn auch ungeschickt, weil verwirrend oder mißverständlich, ist. Man sollte besser von metatheoretischen oder philosophischen. Disziplinen und Aspekten sprechen. Dabei ist in keiner Weise geleugnet, daß auch die Naturwissenschaften von sozialen Voraussetzungen und methodischen Normen abhängen, die allerdings ihrerseits nicht als wertende oder vorschreibende Aussagen in die jeweilige Theorie der Wissenschaft selbst mit eingehen.
Problemauswahl und geschichtliche Entwicklung auch der Naturwissenschaften hängen natürlich von Bewertungen und auch von sozialen Normen, denen etwa die Wissenschaftler folgen, ab. Man muß aber zwischen dem Handlungsgefüge der Wissenschaft als Forschungsorganisation, als eines sozialen Teilsystems und den Motiven und Handlungsorientierungen der Wissenschaftler einerseits und Aussagensystem der Theorie andererseits Dies ist in der Diskussion dem über den Szientismus oft nicht genügend getan Die methodische Orientierung der Natur-und Sozialwissenschaften ist eines, die moralische Beurteilung und gegebenen-B falls Steuerung ihrer Anwendungen ein anderes.
Ähnliches gilt für die dritte Variante, den sozialen und politischen Szientismus: So wie es nicht gelingt, eine Gesellschaft ausschließlich nach wissenschaftlichen Kriterien aufzubauen, zu organisieren und zu lenken, eine Ethik zirkelfrei aus wissenschaftlichen Verfahrens-regeln abzuleiten, so gelingt es auch nicht, eine wirksame politische Gesellschaftskritik einsichtig auf dem Umweg über Wissenschaftskritik zu betreiben, wie es manche Vertreter der Frankfurter Schule versucht haben. Horkheimer sah die Aufgabe der Gesellschaftskritik noch ausdrücklich bei der SozialPhilosophie, später sollte die Gesellschaftskritik in den Kanon der sozial wissenschaftlichen Aussagensysteme aufgenommen werden. Moralische Kritik wurde im falschen Gewände am falschen Adressaten geübt. So verwandelte man ein Thema der Moralphilosophie und des Zusammenhangs von Theorie und sozialer Praxis in ein methodologisch-theoretisches Argument gegen den Typus der analytisch-empirischen Wissenschaft, ein Vorgehen, das zur Verwirrung erheblich beitrug. Das Aufgabenspektrum der Wissenschaft wurde bis ins nahezu Unermeßliche ausgedehnt; die Sozialphilosophie blieb dabei nahezu funktionslos oder wurde in die normative Sozialwissenschaft integriert. Habermas'Lehre von Erkenntnisinteressen erhebt Anspruch darauf, eine ganze Typologie der aller Erkenntnis zugrunde liegenden lebenspraktischen Interessen zu liefern und zugleich Sinn und Geltung von wissenschaftlichen Aussagen festzulegen. Dies war eine Vermengung der Bereiche: Wissenschaftstypen und ihre Untergliederung wurden an Bedürfnis-und Interessenarten gekoppelt. Es war methodologisch falsch, daraus nun einen neuen Typus von Wissenschaft herzuleiten, der in dialektischem Gewände kritisch verfahren, den Regeln des üblichen analytischen wissenschaftlichen Denkens nicht unterworfen sein und gesellschaftskritische Wertungen in das wissenschaftliche Aussagesystem übernehmen sollte. Gesellschaftskritik und Sozialphilosophie im Namen der humanen Vernunft sind aber keineswegs an einen neuen Typus von Wissenschaft gebunden. Wollte man dies behaupten, so verfiele man selbst — in negativer Weise — einem Szientismus. Gesellschaftskritik kann nicht als Wissenschaftskritik betrieben werden. Ferner schließt die Unterscheidung von Tatsachen und Wertungen keineswegs rationale, wertende Kritik aus, wenn diese letztere auch nicht erfahrungswissenschaftlich, sondern sozial-philosophisch(z. B. ethisch) oder explizit politisch erfolgt. Für die Unterscheidung zwischen Wertungen und Tatsachenaussagen gibt es gute (methodologische) Gründe (Effizienz der Prüfung, Sicherung des Erfahrungsgehalts). Um einen Versuch zur Diskriminierung der philosophischen praktischen Vernunft handelt es sich hierbei nicht. Im Gegenteil: Ethische Bedenken weisen höhere Dringlichkeit auf als die Durchführung eines totalen experimentellen Szientismus in der Humanforschung oder eines Sozialszientismus, der Gesellschaften nach wissenschaftstheoretischen Kriterien organisieren wollte. (Mit einem belustigenden, das Groteske zum Ausdruck bringenden Wortungeheuer könnte man diesen letzteren Versuch als „Epistemologokratie" bezeichnen: Adepten der Kritischen Theorie waren häufig negative Epistemologokraten.) übrigens erscheint selbst ein methodologischer Szientismus nicht total durchführbar, da geistes-und sozialwissenschaftliche Disziplinen sich nicht vollständig auf bloße naturgesetzliche Zusammenhänge reduzieren lassen, wie sich etwa in der Diskussion um die Gesetzesartigkeit von sozialwissenschaftlichen Hypothesen und der gescheiterten Reduktionsversuche von Psychologie und Soziologie auf Physiologie gezeigt hat. Dies bedeutet freilich nicht, daß man nicht heuristisch so weit wie möglich nach sozialwissenschaftlichen Gesetzen suchen und die Humanwissenschaft auf ihnen (wenn auch nicht ausschließlich auf ihnen) aufbauen sollte. Weder äntiszientistische Wissenschaftsstürmerei noch totale ideologische Wissenschaftsgläubigkeit ergeben eine gangbare Alternative. Weder die empirischzweckrationale „instrumentelle Vernunft" noch die „aufklärerisch-emanzipatorische Vernunft" dürfen verabsolutiert werden. Die Vernunft muß sich der Herausforderung durch die Entwicklung der Wissenschaften und der technisierten Welt und ihrer sozialen Praxis stellen, sie darf aber ihren praktisch-philosophischen Impuls als eine normative Leitidee für das sittliche Handeln nicht außer acht lassen. Philosophische Reflexion und Bewertung bleibt weiterhin nötig — vielleicht heute mehr denn je. Weder ein extremer aggressiver Szientismus im moralischen oder sozialen Sinne noch der polemische Antiszientismus können einen Ausweg liefern. Es gilt, einen „vernünftigen", abgewogenen Mittelweg zu finden, eine ebenso pragmatische wie realistische Verbindung der Rationalität und der Humanität zu suchen, Vernunft als normative Leitorientierung mit Appellfunktion als verpflichtend anzuerkennen und anzustreben, ohne in Wissenschaftsfeindlichkeit zu verfallen. Die Kritik an der überzogenen Instrumentalisierung der Vernunft braucht weder zu einer ohnmächtigen Unterwerfung unter das von Horkheimer wohl übertrieben dargestellte historische Schicksal des Verfallens der Vernunft noch zur Kritik an jeglicher Vernunft überhaupt ausgeweitet zu werden. Vernunft ist eben kein historischer Entwicklungsautomatismus, kein reales psychisches Vermögen des Menschen, sondern eine symbolische Leitidee. Hatte Horkheimer ursprünglich den Objektivismus und die historis(tis) che Schicksalsmächtigkeit der Vernunft übertrieben, so hatte Habermas wohl die soziale Wirksamkeit /der Erkenntnistypen der in Wissenschaften und im philosophischen Diskurs dargestellten Vernunft überschätzt. Auch die diskurstheoretische Grundlegung der Vernunft führt nur zu einer Leitidee von symbolischem und appellativ-normativem Charakter. Es wird immer einsichtiger, daß in diesem Sinne die moralische Vernunft keineswegs vollständig zugunsten der sogenannten instrumenteilen Vernunft abgedankt habe. Es ist deutlich geworden und zeigt sich in der aktuellen Diskussion um das Verhältnis von Wissenschaft und Technik zur Gesellschaft immer mehr, wie sehr die instrumentelle Vernunft der Ergänzung und Weitung durch praktische Vernunft gerade auch heute bedarf. Dies zeigt sich deutlich in der neuerlichen Aktualität der ethischen Probleme von Wissenschaft und Technik. Die Überlegungen der Kritischen Theorie gaben hierzu wichtige vorbereitende Anstöße.
Auf einen sozial verstandenen Humanismus, auf die verpflichtende Tradition der Moralphilosophie und auf deren Praxisnähe immer wieder hingewiesen zu haben, ist ein wichtiges Verdienst der Kritischen Theorie, das angesichts mancher methodischen und methodologischen Mängel, mancher Unklarheiten der Theorie, mancher fallweise und gelegentlich sogar fälschlich an sie anschließenden überzogenen neomarxistischen Gesellschaftskritiken nicht vergessen werden sollte.