In den Überlegungen von Horst Heimann sind dessen eigene Gedanken und Auffassungen eng mit einer Interpretation der „Kritischen Theorie" verknüpft. Dabei erscheint der Begriff der Kritischen Theorie als eine pauschale Kennzeichnung. Auch bestimmte Aussagen einzelner Denker, insbesondere Max Horkheimers, stehen zumeist als Beleg für „die Kritische Theorie".
Für seine Interpretation benutzt Horst Heimann ein „Krisenerklärungsmodell..., mit dem sowohl die Ursache für die Auslösung der Krise als auch die Mittel zu ihrer Lösung zu erkennen sind: Tiefgründigste Ursache für die Auslösung der Krise unserer Zeit ist der Abfall vom religiösen und transzendenten Denken. Daher ist diese Krise nur zu lösen... durch die Rückgewinnung der verlorenen transzendenten Dimension des Denkens."
Nach der Auffassung Horst Heimanns hat die Kritische Theorie zwar zunächst in der Tradition der Aufklärung und des Marxismus Unbehagen am gegenwärtigen System artikuliert und Impulse zu seiner Beseitigung gegeben. Infolge ihrer Fixierung auf „das Andere" habe sie es jedoch abgelehnt, die notwendigen Verbesserungen in die Praxis umzusetzen, statt dessen habe sie betont, daß evolutionäre Verbesserungen dem System verhaftet bleiben und es daher eher stabilisieren. Dies bedeute „Diffamierung" konkreter Praxis zur Verbesserung der Verhältnisse und „Verzicht auf gesellschaftsverändernde Zielvorstellungen"
Die Bemerkung Horkheimers, daß in Adornos Begriff des Negativen letzten Endes eine negative Theologie stecke, und zwar nicht in dem Sinne „daß es Gott nicht gibt, sondern in dem Sinn, -daß er nicht darzustellen ist", ist für Horst Heimann der Schlüssel dafür, „um das Praxis-Defizit, besser das Praxis-Vakuum der Kritischen Theorie zu erklären und auf einen theorieimmanenten Faktor zurückzuführen"
Dementsprechend wirft Horst Heimann der Kritischen Theorie folgenschweres Versagen vor: „Da sie keine handlungsorientierenden Erkenntnisse zu vermitteln vermochte, Handlungsspielräume sogar verschleierte, hat sie indirekt den blinden Aktionismus der Studentenbewegung gefördert."
Der Gedankengang Horst Heimanns ist in sich stimmig und, sofern man ihn als Erklärungsmodell ohne Rückkoppelung auf das Erklärte betrachtet, höchst plausibel. Überprüft man jedoch, ob diese Interpretation den Schriften der Vertreter der Kritischen Theorie gerecht wird, so zeigen sich Unstimmigkeiten. Beispielhaft sei nur auf zwei Fragenkomplexe hingewiesen, die für die Interpretation Heimanns von zentraler Bedeutung sind:
1. Unter Berufung auf das bekannte Gespräch, das Max Horkheimer mit Helmut Gumnior geführt hat, erklärt Horst Heimann, daß die Vertreter der Kritischen Theorie jede politische Reformpraxis als systemstabilisierend und als Verrat an der emanzipatorischen Zielsetzung verdammten. Wie das Interview ausweist, hat sich Max Horkheimer jedoch alle Mühe gegeben, einer derartigen Fehlinterpretation vorzubeugen. Schon zu Beginn betont er, daß wir alle ein „originär menschliches Interesse daran" haben, „eine Welt zu schaffen, in der das Leben aller Menschen schöner, länger, besser, leidfreier und ... für die Entfaltung des Geistes günstig ist"
Darüber hinaus gesteht er zu: „Vielleicht können auch in der verwalteten Welt Kräfte entfaltet werden, die einen nicht ausschließlich technischen Fortschritt hervorbringen. Zunächst einmal im Hinblick auf die Gerechtigkeit, den Fortfall der durch den chaotischen Zustand der Welt bedingten Konflikte, ja vielleicht auch das Bewußtsein einer universalen Solidarität."
Eine solche Feststellung ist einfach falsch. Selbst Herbert Marcuse unterstreicht in seinem Hauptwerk „Der eindimensionale Mensch“, daß die moderne Industriegesellschaft gerade deshalb in ihrer Konzeption so unentrinnbar ist und zum Totalitären tendiert, weil letzten Endes niemand auf ihre positiven Errungenschaften verzichten will, bzw. weil sie in diesem Sinne höchst vernünftig ist. Wenn Marcuse sich diesem System mit all seinen Errungenschaften schließlich doch verschließt, so muß diese Ablehnung gerade deshalb den Charakter der „Weigerung" annehmen, weil man die positiven Seiten des abgelehnten Systems nicht leugnen kann. Immerhin beginnt das von Maurice Blanchot übernommene Bekenntnis Herbert Marcuses mit dem Satz: „Was wir ablehnen, ist keineswegs ohne Wert und ohne Bedeutung; deshalb eben ist Weigerung notwendig.“
Allerdings geht es ihnen — hierin hat Heimann recht — nicht um eine Perfektionierung des funktionalen wissenschaftlich-technischen Systems. Für eine solche Perfektionierung ist in der Tat jeder Gedanke an Transzendenz überflüssig, unter Umständen sogar hinderlich. Es geht vielmehr darum, daß der Blick geöffnet wird für eine Dimension der Wirklichkeit, die für die instrumentelle Vernunft nicht wahrnehmbar ist.
Horst Heimann kann Adorno und Horkheimer mit gewissem Recht den Vorwurf machen, daß sie diese andere Komponente über weite Strecken ihrer Darlegungen nur durch Aufweis eines Defizits der wissenschaftlich-technischen Weltdeutung und Weltgestaltung andeuten, dagegen kaum positiv kennzeichnen. Er kann jedoch nicht behaupten, daß diese Komponente schlechthin unerkennbar bleibe, wenn man beide Autoren unbefangen und verständnisvoll liest. Im übrigen sind diese Gedanken inzwischen im Rahmen eines Groß-projektes unseres Institutes aufgenommen und weitergeführt worden. Insbesondere in der Untersuchung „Chance und Risiko der Gegenwart — Eine kritische Analyse der wissenschaftlich-technischen Welt"
Leider ist es in dieser kurzen Stellungnahme nicht möglich, im einzelnen hierauf einzugehen. Aber es sei wenigstens andeutungsweise darauf hingewiesen, daß alle den Menschen als Person kennzeichnenden Begriffe wie Liebe, Achtung, Ehrfurcht, Treue und Dankbarkeit oder auch Verachtung, Gemeinheit und Haß oder auch Anmut, Güte und Liebenswürdigkeit keine Begriffe des wissenschaftlich-technischen Denkens sind. In einer wissenschaftlich-technisch gestalteten Welt werden sie im Extremfall entweder zu Mitteln politischer Manipulation degradiert oder als Fremdkörper bzw. reine Privatsache in den letzten Freiräumen des Systems eben noch geduldet. Tatsächlich jedoch gebührt dem Personalen, sofern wir eine menschenwürdige Gesellschaft suchen, eine Priorität gegenüber dem Funktionalen. Das bedeutet selbstverständlich keine Verteufelung oder Ablehnung funktionaler Verbesserungen. Eine Fabrik, eine Schule, ein Krankenhaus, ein Altersheim, ein Kindergarten, in dem nichts funktioniert, ist nicht erstrebenswert. Ebenso wenig erstrebenswert jedoch ist eine Gesellschaft, die nur funktioniert. Vorbedingung für eine angemessene Berücksichtigung der personalen Komponente der Wirklichkeit ist eine Haltung, die von Adorno als Hinwendung zum Konkreten, Einzelnen und Besonderen gekennzeichnet wird. Es geht um eine Bejahung des konkreten und besonderen Einzelnen mit dem Willen, daß es bleibe. Diese Haltung setzt einer absoluten Verfügbarkeit Grenzen. Als Komponente der Gesamtdeutung der Welt steht sie in Span-'nung, ja im Gegensatz zur Dialektik, die sowohl das idealistische wie das materialistische Denken unserer Zeit beherrscht. Wie ich hier nicht näher ausführen kann, gründet sie letzten Endes in der Dreifaltigkeit Gottes, in der die Einheit die Differenzen der Personen einschließt und die Differenzen der Personen die Einheit voraussetzen, in der also die Einheit nicht durch Beseitigung der Differenzen in einer alles absorbierenden höchsten „Synthese" erzwungen wird.
Gewiß bedürfen die Überlegungen der Frankfurter Schule der Weiterführung. Diese Weiterführung wird den Intentionen, wie sie insbesondere von Adorno und Horkheimer vertreten worden sind, jedoch nur gerecht, wenn sie zu einer neuen Offenheit hintendiert und nicht zu einer neuen Geschlossenheit
In diesem Zusammenhang sei auch nochmals an das kirchliche Engagement zur Verbesserung der irdischen Verhältnisse erinnert. Wie Horkheimer betont, ist es durchaus legitim und sollte nicht diffamiert werden, wenn sich die Kirchen um soziale Gerechtigkeit bemühen und hierfür einen aktiven Dienst leisten.
In diesem Bemühen allein transzendieren sie jedoch das weltimmanente Denken noch nicht. Hier stehen sie Seite an Seite mit anderen beachtenswerten Organisationen. Transzendiert jedoch wird das auf registrierbare Erfolge abzielende Denken, wenn Christen Euthanasie und Abtreibung auch in Fällen ablehnen, in denen eine solche Tötung höchst vernünftig erscheinen muß, oder wenn Schwestern und Brüder in Indien und anderen Ländern Sterbende auflesen, um ihnen wenigstens noch einige Stunden liebevolle Betreuung zuzuwenden. Hier geschieht etwas gegen die weltimmanente Vernunft. Denn ihr muß ein solches Tun unsinnig erscheinen, da es effektiver wäre, sich Leuten zuzuwenden, denen wirklich noch geholfen werden kann. „Hilfe zur Selbsthilfe" ist eine durchaus beachtenswerte und gute Parole. Das andere Denken, das der herrschenden Vernunft unsinnig erscheinen muß, jedoch dem Gebot Jesu Christi entspricht, setzt jedoch erst dort ein, wo wir nicht nur Hilfe zur Selbsthilfe leisten, sondern auch denen helfen, die sich selbst nie mehr zu helfen vermögen