Wenn auch gegenwärtig Namen wie Horkheimer, Adorno, Marcuse nicht mehr so im Mittelpunkt anregender geistiger Kontroversen stehen wie in der Aufstiegsphase der Studenbewegung bis 1968, so ist dennoch die Wirkungsgeschichte der mit diesen Namen eng verbundenen Kritischen Theorie oder Frankfurter Schule noch keineswegs endgültig abgeschlossen. Daher dürfte es auch noch zu früh sein, bereits jetzt ein abschließendes Urteil über das Bleibende in diesem einflußreichen Theorieansatz zu fällen.
Während unterschiedliche Varianten des Marxismus und des Marxismus-Leninismus in der Niedergangs-und Zerfallsphase der Studentenbewegung zu weitgehend verbindlichen ideologischen Grundlagen für bestimmte Organisationen und Mini-Parteien wurden, gab es nie eine ähnliche enge Verbindung zwischen der Kritischen Theorie und einer institutionalisierten politischen Bewegung oder Organisation auch nicht in der Aufstiegs-phase der Studentenbewegung, der die Kritische Theorie erst ihre große Resonanz in einer breiteren Öffentlichkeit zu verdanken hatte. Trotz der fehlenden Verbindung zu festgefügten politischen Organisationen sind aber von der Kritischen Theorie Anregungen und Impulse ausgegangen, die auch heute noch weiterwirken, wenn auch oft mit neuen Ideen vermischt und vielfältig modifiziert oder differenziert. Nicht wenige Begriffe, Denk-und Erklärungsmuster dieser Theorie wurden zum Allgemeinbesitz zahlreicher Intellektueller, die sich selbst gar nicht mehr als Anhänger der Frankfurter Schule verstehen. Nicht nur die abgeschlossenen Werke der Begründer der Kritischen Theorie, sondern auch die Gedanken und Theorien derjenigen, die auf unterschiedliche Weise von der Frankfurter Schule beeinflußt wurden oder auf dieser Grundlage weiterdenken, stellen einen wichtigen Faktor in der geistigen und politischen Kultur unserer Gesellschaft dar.
Da die tiefgreifende Krise unserer Zeit, oft als Sinn-und Orientierungskrise charakterisiert, eine Herausforderung an alle geistig-theoretischen Strömungen darstellt, drängt sich natürlich die Frage auf, ob auch das Erbe und das theoretische Instrumentarium der Kritischen Theorie zur Lösung dieser Krise beitragen könnte. Die Antwort auf diese Frage hängt weitgehend davon ab, welches Krisenerklärungsmodell man vertritt, d. h., welche Faktoren man als Ursache für ihre Auslösung und als Mittel für ihre mögliche Lösung ansieht.
Unabhängig von unterschiedlichen politischen und weltanschaulichen Standpunkten dürfte darüber Übereinstimmung bestehen, daß auch geistig-theoretische Faktoren sowohl für die Auslösung als auch für die Lösung dieser Krise eine wichtige Rolle spielen. Denn eine Krise entsteht noch nicht allein durch objektive politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklungen und Fakten, sondern erst dann, wenn die Menschen auf der Grundlage eines spezifischen Denkens jene Entwicklungen auch als Ausdruck einer Krise erleben und bewerten. Wenn also spezifische Denkweisen, nämlich Veränderungen des Denkens, der Wert-und Zielvorstellungen, entscheidende Momente bei der Auslösung der Krise sind, könnten entsprechende erneute Veränderungen des Denkens auch zu Hebeln für ihre Lösung werden.
Abwendung vom religiösen Denken als Ursache der Krise unserer Zeit?
Auf dieser Voraussetzung ließe sich das folgende Krisenerklärungsmodell, formulieren, mit dem sowohl die Ursachen für die Lösung der Krise als auch die Mittel zu ihrer Lösung zu erkennen sind: Tiefgründigste Ursache für die Auslösung der Krise unserer Zeit ist der Abfall vom religiösen und transzendenten Denken. Daher ist diese Krise nur zu lösen durch eine erneute Hinwendung zum transzendenten und religiösen Denken, durch die Rückgewinnung der verlorenen transzendenten Dimension des Denkens.
Das religiöse Denken bringt, übrigens genau wie das kritische Denken, das menschliche Gefühl des Ungenügens an der erfahrbaren irdischen Wirklichkeit zum Ausdruck. Doch anders als beim kritischen Denken hat das Gefühl des Ungenügens an der Wirklichkeit im religiösen Denken nicht die Auslösung eines Krisenbewußtseins zur Folge. Denn das Ungenügen an der Wirklichkeit wird im religiösen Denken nicht nur artikuliert, sondern auch „aufgehoben". Da die befriedigende Alternative zur unbefriedigenden Wirklichkeit in eine jenseitige Dimension des Seins transzendiert und damit irdischem menschlichen Bemühen entrückt ist, braucht das natürliche Gefühl des Ungenügens nicht den Wunsch nach Veränderung dieser unzulänglichen Wirklichkeit und damit Krisenbewußtsein zu produzieren. Im religiösen Denken ist die Alternative zur unbefriedigenden Wirklichkeit nicht als Veränderung und Verbesserung dieser irdischen Realität zu verstehen, sondern als das „ganz andere". Dieses „ganz andere", das dem Menschen als Perspektive des unbefriedigenden irdischen Daseins gewiß ist, bewahrt ihn davor, die bestehende Wirklichkeit zu verwerfen und sich um die Konzipierung und Realisierung einer irdischen Alternative zu bemühen. Erst wenn das Ungenügen nicht mehr im religiösen Denken „aufgehoben" wird, wenn es sich also direkt gegen die unzulänglichen Verhältnisse richtet und den Wunsch weckt, diese Verhältnisse zu verändern und zu verbessern, entsteht das Bewußtsein einer Krise.
Mit diesem Modell wäre leicht zu erklären, auf welche Weise die Kritische Theorie zur Auslösung der Krise unserer Zeit beigetragen hat: In der Tradition der Aufklärung und des Marxismus stehend, gehörte es zum Programm der Kritischen Theorie, die Alternative zum ungenügenden Bestehenden aus dem Jenseits ins Diesseits herabzuholen und zu einer diesseitigen Alternative zu machen. Da aus diesem Grunde das Ungenügen am Bestehenden nicht mehr durch die transzendente'Hoffnung auf das „ganz andere" „aufgehoben" werden konnte, wurde es zu einem kritisch-oppositionellen Potential, das mit dem Wunsch nach Veränderung der diesseitigen Wirklichkeit das Bewußtsein einer tiefgreifenden Krise produzierte. Auf der Grundlage dieses Krisenerklärungsmodells könnte die Kritische Theorie unter folgenden Voraussetzungen auch einen positiven Beitrag zur Lösung der von ihr selbst mit ausgelösten Krise leisten: Die Kritische Theorie enthält als dialektische Konzeption — quasi als List der Dialektik — einen theoretischen Gegenpol in sich selbst, der die vom anderen theoretischen Pol ausgelöste Krise lösen helfen kann. Dieser Gegenpol wäre eine religiöse Dimension der Kritischen Theorie, die sie befähigt, sich vom selbstverschuldeten Sündenfall kritisch-progressiven Denkens selbst zu erlösen.
Kritische Theorie — negative Theologie
Untersucht man einige längere Interviews Horkheimers aus den Jahren 1969 und 1970, so findet man durchaus frappierende Argumente für die These, daß die Kritische Theorie eine selbstheilende Komponente jenes konservativen Denkens enthält, das sich immer wieder berufen dünkt, die vom kritisch-progressiven Denken ausgelösten Krisen lösen zu können. Ein längeres Gespräch mit Helmut Gumnio erlaubt durchaus die Schlußfolgerung, daß auch Horkheimer die Ursache für die bedrohlichen Entwicklungen der modernen Gesellschaft und für die Krise unserer Zeit in der Abwendung vom religiösen Denken sieht und eine Wende zum Besseren und eine Lösung der Krise nur von einer erneuten Hinwendung zum religiösen Denken zu erwarten scheint. Und auch nach Horkheimers Meinung könnte die Kritische Theorie zu einer solchen Tendenzwende des Denkens einen Beitrag leisten, da sie ja selbst diese heilsame Dimension des Denkens enthält: „Die kritische Theorie enthält zumindest einen Gedanken ans Theologische, ans andere." Auch in einem Spiegel-gespräch im August 1969 erklärte Horkheimer unter Verweis auf das „andere", daß die Kritische Theorie eine „negative Theologie" enthalte, „aber nicht negative Theologie in dem Sinn, daß es Gott nicht gibt, sondern in dem Sinn, daß er nicht darzustellen ist" In dem bereits zitierten Gespräch mit Gumnio interpretierte Horkheimer die gesellschaftliche Funktion der Religion ganz im Sinne des oben dargelegten Krisenerklärungsmodells.
Ausdrücklich verweist er auf den Zusammenhang zwischen dem menschlichen Ungenügen an den bestehenden Verhältnissen und der Religion, die ihre Kraft gerade aus diesen irdischen Unzulänglichkeiten schöpft: „Im Gottes-begriff war lange Zeit die Vorstellung aufbewahrt, daß es noch andere Maßstäbe gebe als diejenigen, welche Natur und Gesellschaft in ihrer Wirksamkeit zum Ausdruck bringen. Aus der Unzufriedenheit mit dem irdischen Schicksal schöpft die Anerkennung eines transzendenten Wesens ihre stärkste Kraft. In der Religion sind die Wünsche, Sehnsüchte und Anklagen zahlloser Generationen niedergelegt." In dieser Ablenkung der „Wünsche, Sehnsüchte und Anklagen zahlloser Generationen" auf eine transzendente Lösung sieht Horkheimer die heilsame „gesellschaftliche Funktion der Religion", die sie zu seinem Bedauern immer weniger zu erfüllen vermag, nicht zuletzt wegen des wachsenden Einflusses moderner, liberaler und sozialer Tendenzen in der Theologie und in den Kirchen: „Die moderne Liberalisierung der Religion führt, wie mir scheint, zum Ende der Religion. Es muß doch jeder, bewußt oder nur halbbewußt, die Überzeugung gewinnen, daß die Liberalisierung der Theologie der gängigen Politik entgegenkommt. Man macht Konzessionen, schließt Kompromisse, paktiert mit der Wissenschaft ... Religion kann man nicht säkularisieren, wenn man sie nicht aufgeben will. Es ist eine vergebliche Hoffnung, daß die aktuellen Diskussionen in der Kirche Religion erhalten werden, wie sie in ihrem Anfang lebendig war; denn der gute Wille, die Solidarität mit dem Elend und das Streben nach einer besseren Welt haben ihr religiöses Gewand abgeworfen."
Diesen Aussagen Horkheimers schließt Gumnio die Frage an: „Bleibt also für die Religion nur die Sehnsucht nach dem Unendlichen?" Worauf Horkheimer antwortete: „Die Sehnsucht nach vollendeter Gerechtigkeit. Diese kann in der säkularen Geschichte niemals verwirklicht werden." Die heilsame Funktion der Religion sieht Horkheimer bedroht, wenn die Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen die Menschen veranlaßt, nach gesellschaftlichen Veränderungen zu streben, wenn sie versuchen, die in der Religion „aufgehobene" Alternative auf die Erde herabzuholen. Mit anderen Worten: Auch das zunehmende soziale Engagement der Christen für die leidenden, unterdrückten und gequälten Mitmenschen wird zu einer Gefahr für den wahren Gehalt der Religion: „Es ist doch bemerkenswert, daß der Niedergang der Religion fast synchron verläuft mit dem Beginn sozialer Revolutionen, mit dem Wunsch nach einer besseren Gestaltung des Lebens. Ich glaube, indem die Ideen der Auferstehung von den Toten, des Jüngsten Gerichts, des ewigen Lebens als dogmatische Setzungen negiert werden, wird das Bedürfnis des Menschen nach unendlicher Seligkeit ganz offenbar und tritt zu den schlechten irdischen Verhältnissen in Gegensatz."
Freiheit oder Gerechtigkeit?
Was geschieht, wenn dieses Bedürfnis des Menschen nicht mehr auf die jenseitige Alternative transzendiert wird, sondern „zu den schlechten irdischen Verhältnissen in Gegensatz (tritt)", formuliert präzise Horkheimers wohlwollender Interpret Staudinger: „Wenn die diesseitige Wirklichkeit die einzige und letzte Wirklichkeit ist, dann muß das Bedürfnis nach unendlicher Seligkeit in dieser Welt abgegolten und eine absolute Gerechtigkeit in der Gesellschaft hergestellt werden. Das jedoch wird, wie Horkheimer in aller Nüchternheit erkennt, mit der Freiheit bezahlt und führt faktisch zu Unterdrückungssystemen, deren Ungerechtigkeit und Gewalttätigkeit im Endeffekt in vielen Fällen die Ungerechtigkeit der zuvor herrschenden Zustände bei weitem übersteigt ... Wie Horkheimer klar erkennt, drängt das Streben nach Gleichheit im Sinne . sozialer Gerechtigkeit zusammen mit der Konsequenz der wissenschaftlich-technischen Weltgestaltung selbst zu einer immer stärkeren Einschränkung der Freiheit."
Bei diesen Schlußfolgerungen Staudingers handelt es sich keineswegs um eine überspitz-te, sondern durchaus um eine zutreffende Interpretation der Gedanken Horkheimers, der ja selbst im Sinne reaktionär-konservativer Ideologie und Propaganda unzweideutig formulierte: „Gerechtigkeit und Freiheit sind nun einmal dialektische Begriffe. Je mehr Gerechtigkeit, desto weniger Freiheit; je mehr Freiheit, desto weniger Gerechtigkeit. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, das ist eine wundervolle Parole. Aber wenn Sie die Gleichheit erhalten wollen, dann müssen Sie die Freiheit einschränken, und wenn Sie den Menschen die Freiheit lassen wollen, dann kann es keine Gleichheit geben."
Auch andere Äußerungen Horkheimers im Gespräch mit Gumnio scheinen eine konservative Neuinterpretation der Kritischen Theorie zu rechtfertigen. Während er sich ausdrücklich gegen moderne und liberale Tendenzen in Theologie und Kirche wandte, rechtfertigte er noch einmal die Enzyklika des Papstes, in der er den Gebrauch empfängnis-verhütender Mittel untersagt hatte; und schließlich schien er die erst jüngst im linken Milieu einsetzende Nietzsche-Renaissance mit folgendem Bekenntnis zu antizipieren: „Ich meine, Nietzsche hatte völlig recht, als er sagte, die Frau wird mit der Gleichberechtigung das Wichtigste verlieren, was sie hat: das nicht verdinglichte, das nicht bloß pragmatische Denken."
Wenn jene oben dargestellten Argumentationsmuster Horkheimers, vor allem über die Unvereinbarkeit von Freiheit und Gerechtigkeit, sowie von Religion und Streben nach Verbesserung der irdischen Lebensverhältnisse, tatsächlich das Bleibende und die bisher verkannte Quintessenz der Kritischen Theorie enthüllten, dann wäre in der Tat eine konservative Neuinterpretation und „Rehabilitation" dieser Theorie gerechtfertigt. Dann wäre sie nicht mehr als geistige Wurzel des linksextremistischen Terrorismus zu diffamieren, dann hätte sie die philosophische Begründung für die einprägsame politische Losung „Freiheit oder Sozialismus" geliefert, die ja nicht von Politikern erfunden wurde, sondern ein Produkt deutschen Denkens darstellt
Horkheimers Thesen über die Unvereinbarkeit von Freiheit und Gerechtigkeit sowie von Religion und Bemühen um Verbesserung der irdischen Lebensverhältnisse widersprechen nicht nur den tatsächlichen Verhältnissen und Zusammenhängen in unserer Welt, sie widersprechen auch den grundsätzlichen Intentionen und Programmen der Kritischen Theorie. Diese bleibt eine wichtige Strömung kritisch-progressiven Denkens, das die bestehenden Verhältnisse in der Perspektive einer besseren Gesellschaft kritisiert, in der Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit herrschen. Selbst in Horkheimers letzten Interviews kommen eher seine theoretische Unsicherheit, seine Zweifel, eine tiefe Skepsis sowie ungeklärte Widersprüche zum Ausdruck. Aber die durchaus eindeutige Aussage, daß Freiheit und Gerechtigkeit nicht miteinander zu vereinbaren sind, ja sogar „daß auch eine verhältnismäßig gerechte Ordnung ... mit der Einschränkung der Freiheit bezahlt wird" kann nur als Perversion des Denkens der Kritischen Theorie angesehen werden. Nicht weil Horkheimer jene konservativ-reaktionären Argumentationsmuster benutzt hat, sondern weil sie im Zuge der konservativen Tendenzwende in der ganzen Welt immer größeren Einfluß gewinnen, ist hier wenigstens stichwortartig darauf einzugehen. Denn gerade diese Argumentationsmuster, die einen Ausweg aus der Krise unserer Zeit weisen sollen, sind ein wesentlicher geistiger Faktor, der es den Menschen erschwert, eine humane Lösung dieser Krise zu finden. Aus jenen Argumentationsmustern und aus der Feststellung Horkheimers, daß „alles, was mit Moral zusammenhängt, letzten Endes auf Theologie zurück(geht)" zieht Staudinger Schlußfolgerungen, die er zwar als „Erfahrungen" bezeichnet, die aber den tatsächlichen Zusammenhängen in der Wirklichkeit widersprechen und die wirklichen Probleme nur verschleiern: „Tatsächlich zeigen die Erfahrungen, daß atheistische Weltanschauungen Liebe und Haß in gleicher Weise einsetzen, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Und auch hierin erfolgt eine Anpassung fortschrittlicher Theologen an das moderne Denken. Da sie ihre Bemühungen primär auf die Verbesserung irdischer Zustände und auf die Schaffung des Himmels auf Erden konzentrieren, wird auch für sie der kämpferische Haß gegen alle, die der von ihnen erstrebten Gerechtigkeit entgegenstehen, zu einem notwendigen Mittel zur Erreichung ihrer gesellschaftspolitischen Ziele."
Keine Freiheit ohne Gerechtigkeit
Doch wie sehen die tatsächlichen Zusammenhänge zwischen Gerechtigkeit, Freiheit, Haß und Gewalt in unserer Welt aus? In einer u. a.
von den Christen H. Albertz, F. Alt, N. Greinacher, J. Moltmann, K. Rahner, J. B. Metz unterzeichneten „Erklärung zur Lage in El Salvador"
heißt es: „Täglich sterben in El Salvador Landarbeiter, Angestellte, Arbeiter, Lehrer, Ärzte, Priester. Sie werden erschossen oder zu Tode gefoltert, weil sie sich für ein menschenwürdiges Leben und für eine gerechte Gesellschaft eingesetzt haben." Wohlgemerkt, es heißt nicht: Landarbeiter, ..., Priester, die sich für ein menschenwürdiges Leben und für eine gerechte Gesellschaft einsetzen, erschießen und foltern täglich diejenigen, die „der von ihnen erstrebten Gerechtigkeit entgegenstehen".
Erzbischof Romero, zahlreiche Priester und Laien, die amerikanischen Nonnen und Sozialarbeiter in El Salvador, die sich in der Tat „auf die Verbesserung irdischer Zustände“ konzentrierten, haben keinen „kämpferischen Haß" als Mittel eingesetzt, wollten nie die „Freiheit" in El Salvador einschränken, und sie haben keinen Menschen gequält, gefoltert und ermordet. Sie wurden vielmehr von jenen brutal ermordet, für die der kämpferische Haß, Folter und Mord notwendige Mittel im Kampf gegen diejenigen sind, die der von ihnen verteidigten himmelschreienden Engerechtigkeit entgegentreten. Die vom „kämpferischen Haß" erfüllte, zum Mord aufrufende Losung „Diene Deinem Vaterland — Töte einen Priester!" stammt nicht von jenen, die ihr Leben beim Engagement für eine gerechte Gesellschaft riskieren, sondern von denen, die die bestehende Ungerechtigkeit mit Gewalt aufrechterhalten. An die katholische Zeitschrift „Orientierung" wurde aus El Salvador folgender Hilferuf gerichtet: „Zusammen mit dem Weihbischof von San Salvador, Arturo Rivera y Damas, sehen wir, mehrere Priester, Ordensleute und Katecheten, uns wie gejagte Tiere verfolgt. Wir schlafen außerhalb unserer Häuser, Bischof Rivera hält sich versteckt, er hat formelle Todesdrohungen erhalten. In den Wohnquartieren der Hauptstadt wurde wiederum ein Flugblatt verteilt, auf dem es wörtlich heißt: Diene Deinem Vaterland — Töte einen Priester!" Der Jesuit H. Zwiefelhofer kommentiert die Situation in El Salvador wie folgt: „Man verfolgt die Priester, die ihr Leben und Arbeiten den Armen und Ärmsten der Armen widmen, und die Bischöfe, die diesen pastoralen Einsatz fördern und verteidigen."
Die Formel von der „Schaffung des Himmels auf Erden" mag sich philosophisch wohl auf der geistigen Höhe unserer Zeit bewegen, mit der sozialen Wirklichkeit, um die es dabei geht, hat sie gewiß nichts zu tun. Dem Opfertod jener ermordeten Priester, Nonnen und Sozialarbeiter wird man kaum gerecht, wenn man ihr Engagement für die verfolgten und gefolterten Mitmenschen mit der billigen Floskel von der „Schaffung des Himmels auf Erden" abwertet. Denn selbst wenn dank einer erfolgreichen „Verbesserung irdischer Zustände" eines Tages weniger Menschen hungern und verhungern müssen, weniger Menschen verfolgt, gefoltert und ermordet werden, ist bestimmt noch nicht der „Himmel auf Erden" verwirklicht. Und Horkheimers Feststellung, daß der „Wunsch nach einer besseren Gestaltung des Lebens" mit dem „Niedergang der Religion fast synchron verläuft" dürfte zumindest fragwürdig sein. Denn für viele Menschen ist der „Wunsch nach einer besseren Gestaltung des Lebens" fast identisch mit dem Wunsch der Menschen, wenigstens überleben zu können. So ist es zum Beispiel ohne eine „bessere Gestaltung des Lebens" nicht möglich, daß die Zahl von rund dreißig Millionen Menschen, die jährlich verhungern, eines Tages vielleicht zurückgeht. Und kann man tatsächlich in Lateinamerika von einem „Niedergang der Religion" sprechen, weil sich immer mehr Bischöfe, Priester und Laien von korrupten, folternden und mordenden superreichen Machthabern abwenden und sich für die im Elend gehaltenen, erniedrigten und gequälten Massen engagieren und für ihren „Wunsch nach einer besseren Gestaltung des Lebens" Verständnis aufbringen?! Und wer ist wohl von einer tieferen Religiosität geleitet: Die Priester und die Laien, die ihr Leben riskieren, um etwas mehr Gerechtigkeit auf Erden zu verwirklichen, oder jene im skandalösen Luxus schwelgenden Machthaber, die mit Gewalt, Folter und Mord die bestehende Ungerechtigkeit verteidigen?! Oder können nur die-Gleichgültigen und Satten wahrhaft religiös sein, die sich nicht über die himmelschreienden Ungerechtigkeiten zu empören vermögen? Nicht nur lateinamerikanische, alle Gesellschaften zeigen, daß in der Tat ein Zusammenhang zwischen Freiheit und Gerechtigkeit besteht, allerdings der genau umgekehrte als der von Horkheimer vermutete. Gerechtigkeit und Freiheit sind keine Gegensätze, sondern komplementäre Begriffe. In einer Gesellschaft ohne Gerechtigkeit gibt es keine Freiheit, so wie es ohne Freiheit keine Gerechtigkeit geben kann. Je mehr Gerechtigkeit in einer Gesellschaft besteht, desto mehr Freiheit besitzen auch ihre Bürger. Dagegen ist ein System mit großer Ungerechtigkeit und Ungleichheit immer nur durch die Einschränkung der Freiheit, durch Gewalt und Terror aufrechtzuerhalten. Wenn Horkheimers Rechnung „Je mehr Gerechtigkeit, desto weniger Freiheit; je mehr Freiheit, desto weniger Gerechtigkeit" aufgehen soll, muß man schon den ideologischen Freiheitsbegriff des brutalsten Manchester-Liberalismus unterstellen, dann muß „Freiheit" die uneingeschränkte und unkontrollierte Herrschaft einer kleinen Minderheit über die große Mehrheit bedeuten. Nur unter diesem Gesichtspunkt ist in unserer demokratischen Gesellschaft, die heute gewiß gerechter ist als im Frühkapitalismus, die schrankenlose Freiheit einiger weniger eingeschränkt worden. Aber daß durch diese größere Gerechtigkeit die breitesten Kreise der Bevölkerung auch mehr Freiheit erhalten haben, kann doch wohl durch keine noch so spitzfindige Dialektik bestritten werden. (Und natürlich wäre auch am Institut für Sozialforschung die „Freiheit" des Institutsdirektors eingeschränkt worden, wenn durch die Gewährung von Mitbestimmungsrechten für alle Mitarbeiter mehr Gleichheit und Gerechtigkeit verwirklicht worden wäre
Mit dem bereits oben begründeten Urteil, daß die These von der Unvereinbarkeit zwischen Freiheit und Gerechtigkeit nur als Perversion des Denkens im Sinne der Kritischen Theorie anzusehen ist, sollte allerdings dieser immer noch einflußreiche Theorieansatz keineswegs der Kritik entzogen werden. Denn auch diejenigen machen es sich zu leicht, die Horkheimers Äußerungen aus den Jahren 1969 und 1970 als überreife Altersprodukte und isolierte Fremdkörper verharmlosen, die gar nichts mit der eigentlichen Kritischen Theorie zu tun haben. Im Gegensatz zu dieser apologetischen Interpretation der späten Äußerungen Horkheimers, mit der das gesamte Paradigma der Kritischen Theorie einer kritischen Über-prüfung entzogen werden soll, möchte ich folgende These begründen: Das Theorem, das Horkheimer als „Sehnsucht nach dem ganz anderen" auf den Begriff bringt und auf das sich konservative Interpretationen berufen, ist keineswegs ein isolierter geistiger Fremdkörper, der in keinem inneren Zusammenhang mit dem Gesamtparadigma der Kritischen Theorie steht. Dabei handelt es sich vielmehr um ein folgenreiches Teilparadigma, das die Entwicklung des Gesamtgebäudes der Kritischen Theorie, und zwar bei allen Vertretern, entscheidend geprägt hat. Doch dieses in der „Sehnsucht nach dem ganz anderen" auf den Begriff gebrachte Teilparadigma enthält gerade nicht die geistige Potenz, die einen Beitrag zur Lösung der Krise unserer Zeit leisten könnte, wie manche meinen. Es ist vielmehr umgekehrt die Ursache dafür, daß die Kritische Theorie, die zur Auslösung dieser Krise beigetragen hat, völlig ungeeignet ist, auch einen konstruktiven Beitrag zu ihrer Lösung zu leisten.
Lösung der Krise unserer Zeit nur durch neues Denken und neue Praxis
Wenn allerdings das konservative Krisenerklärungsmodell zutreffend wäre, wenn also die Krise unserer Zeit ihre tiefste Ursache im Abfall vom religiösen Denken im Sinne Horkheimers hätte und daher durch eine erneute Hin-wendung zu diesem transzendenten Denken zu lösen wäre, dann könnte das mit dem Begriff „Sehnsucht nach dem ganz anderen" charakterisierte Element der Kritischen Theorie dabei in der Tat eine positive Rolle spielen.
Doch das ist nicht der Fall, da dieses Krisenerklärungsmodell die Ursachen für die Entstehung der Krise nicht richtig erklärt und für ihre Überwindung nur eine Scheinlösung anzubieten hat. Es ist zwar zutreffend, daß das in der Tradition, der Aufklärung stehende kritisch-progressive Denken ein auslösendes Moment der Krise ist. Im Krisenbewußtsein kommt ja eine tiefe Unsicherheit über die weitere Entwicklung der Gesellschaft zum Ausdruck, eine Unsicherheit, die nicht entstehen kann, wenn man diese Entwicklung in Gottes Hand, oder auch in der Hand einer weisen führenden Partei, gut aufgehoben wähnt. Aber das kritisch-progressive Denken, das als auslösendes Moment gewiß unentbehrlich ist, ist dennoch nicht als letzte Ursache der Krise anzusehen. Diese ist vielmehr in der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu suchen.
Wenigstens stichwortartig seien hier einige Fakten erwähnt, die als reale Ursachen bei der Krise unserer Zeit eine Rolle spielen. Infolge der „Grenzen des Wachstums" und der wachsenden Destruktivität der Produktivkräfte ist eine lineare Fortschreibung der entwickelten Industriegesellschaften nicht mehr möglich. Die Verschärfung des Nord-Süd-Gegensatzes, des Welthungers und des Wettrüstens verweisen eindringlich auf die Notwendigkeit einer Wende. Das Ergebnis der bis heute erfolgten Entwicklung, daß wir zwar über genügend Waffen verfügen, um jeden Menschen der Erde mehrmals zu töten, aber nicht über genügend Nahrungsmittel, um jeden Menschen zu ernähren, erschüttert bei immer mehr Menschen den Glauben an den Sinn und an die Perspektiven dieser Entwicklung. Das in der Natur des Menschen angelegte Bedürfnis nach Erhaltung des Lebens, nach menschenwürdigen Lebensbedingungen und menschlicher Entfaltung wird weiterhin kritischen Widerspruch gegen diese als Bedrohung empfundene lineare Fortschreibung der bisherigen Entwicklung entstehen lassen. Das daraus entspringende Krisenbewußtsein ist aber nicht allein durch ein neues Denken zu überwinden, ein neues Denken, das diese Wirklichkeit nur neu interpretiert und wieder eine transzendente Perspektive anbietet, die die Menschen veranlaßt, sich wieder im Vertrauen auf „das ganz andere" mit der irdischen Entwicklung abzufinden.
Die Lösung der Krise fordert zwar in der Tat ein neues Denken, aber nicht ein Denken, das sich mit dieser Wirklichkeit abfindet, sondern ein praxisbezogenes Denken, das die Menschen befähigt, diese gesellschaftliche Entwicklung bewußt und zielstrebig zu beeinflussen. Nicht durch den Verzicht auf die gesellschaftsverändernden Zielvorstellungen kritisch-progressiven Denkens ist die Krise unserer Zeit konstruktiv zu lösen, sondern nur durch die praktische Einlösung des emanzipatorischen Anspruchs dieses Denkens.
Ende der sechziger Jahre wurde die Kritische Theorie zum Medium, in dem sich das kritisch-progressive Bewußtsein und der Wunsch nach tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen in breiten Kreisen der jungen akademischen Intelligenz massenwirksam artikulierten. Als sich in der bereits Ende der sechziger Jahre einsetzenden Zerfallsphase der Studentenbewegung aus der antiautoritären eine neoautoritäre Bewegung entwickelte, die zeitweilig im universitären Bereich vorherrschend wurde, hielt der latent fortwirkende Einfluß der Kritischen Theorie den antiautoritär-emanzipatorischen Impuls aus der Aufstiegsphase der Studentenbewegung am Leben. Denn diese Theorie verwarf ja nicht nur das westlich-kapitalistische System, sondern auch die durch den Marxismus-Leninismus angebotene Alternative Moskauer und Pekinger Prägung. Das war besonders wichtig in jener, auch heute noch nicht ganz abgeschlossenen Zeit, als sich die im Bundestag vertretenen politischen Parteien fast völlig aus den geistigen Auseinandersetzungen im Hochschul-und Bildungsbereich zurückgezogen hatten und die geistige Orientierung allein den sogenannten K-Gruppen oder den an Moskau orientierten Gruppen überließen, die zeitweilig an zahlreichen Universitäten die Mehrheit der politisch aktiven Studenten repräsentierten Indem die Kritische Theorie sowohl die verschiedenen marxistisch-leninistischen Schein-Alternativen als auch die durch die Theoretiker der Tendenzwende angebotenen Schein-Lösungen für die Krise unserer Zeit verwarf, trug sie mit dazu bei, daß das Bewußtsein einer tiefen Krise erhalten blieb und nicht durch jene Schein-Lösungen verdrängt werden konnte. Aber da sie weder zu den verworfenen bestehenden Verhältnissen noch zu den marxistisch-leninistischen und konservativen Schein-Lösungen ein eigenes konstruktives Lösungskonzept angeboten hat, konnte sie keinen Beitrag dazu leisten, diese Krise konstruktiv-progressiv zu lösen.
Durch dieses Defizit hat sie sogar indirekt die Chancen für die marxistisch-leninistischen und konservativen Schein-Alternativen unter den nach praktischen Lösungen suchenden Studenten erhöht.
„Sehnsucht nach dem ganz anderen“ als Ursache für Praxisverzicht
Das mit dem Begriff „Sehnsucht nach dem ganz anderen" zu kennzeichnende Theorieelement, das die Kritische Theorie zur Entwicklung praktischer Lösungskonzepte unfähig macht, ist nicht allein in den von den Theoretikern der Frankfurter Schule geschriebenen Bücher zu finden. Da der direkte Einfluß der Kritischen Theorie stark zurückgegangen ist, erhält die kritische Auseinandersetzung mit jenem Theorieelement erst dadurch aktuelle politische Relevanz, daß es sich dabei um ein Denkmuster handelt, das weit über den Bereich der Frankfurter Schule hinaus das politische Denken breiter Schichten der linken Intelligenz prägt. Und da dieses Denkmuster meist gar nicht als bewußt formulierte theoretische Position ausgewiesen wird, wurde es weitgehend zu einer nicht mehr kritisch hinterfragten Mentalität verinnerlicht. Daraus folgt aber: Nicht nur die Kritische Theorie, sondern auch breite Kreise der linken akademischen Intelligenz, die an einer progressiv-emanzipatorischen Lösung der Krise unserer Zeit ihrem eigenen Anspruch nach besonders interessiert sind, vermögen dazu ebenfalls keinen konstruktiven Beitrag zu leisten. Dies ist gesamtgesellschaftlich deshalb so bedeutsam, weil einerseits die soziale Schicht der akademischen Intelligenz im letzten Jahrzehnt quantitativ außerordentlich stark angewachsen ist und andererseits der „kritische Linksintellektuelle vom gesellschaftlichen Außenseiter zur Symbolfigur des Akademikers" geworden ist
Den besten Schlüssel zur Darstellung jenes Theorieelements, das die praktische Einlösung des emanzipatorischen Anspruchs und Programms der Kritischen Theorie verhindert, enthält — neben dem bereits zitierten Gespräch mit Gumnio — ein Interview mit Horkheimer, das der Spiegel am 11. August 1969, kurz nach dem Tode Adornos, veröffentlichte. Bei Horkheimers Erläuterungen des Begriffs das „andere" im Denken Adornos handelt es sich keineswegs um eine altersbedingte Über-interpretation, sondern um die tiefste und genaueste Interpretation eines entscheidenden Wesensmerkmals der Kritischen Theorie und des Denkens zahlreicher progressiver Intellektueller. Horkheimer erläuterte, in dem Negativen, das für Adornos Denken kennzeichnend sei, stecke „die Bejahung eines . anderen', das man nur durch eben dieses Wort des . anderen’ bezeichnen kann". Und als der Interviewer nach diesem . anderen fragte, fuhr Horkheimer fort: „Ja. Er hat immer von der Sehnsucht nach dem . anderen gesprochen, ohne das Wort Himmel oder Ewigkeit oder Schönheit oder sonst was zu benutzen. Und ich glaube, das ist sogar das Großartige an seiner Fragestellung, daß er, indem er nach der Welt gefragt hat, letzten Endes das . andere’ gemeint hat, aber der Überzeugung war, daß es sich nicht begreifen läßt, indem man dieses . andere beschreibt, sondern indem man die Welt, so wie sie ist, im Hinblick darauf, daß sie nicht das einzige ist, darstellt, nicht das einzige, wohin unsere Gedanken zielen." Die an diese Ausführungen angeknüpfte Frage, ob das nicht eine negative Theologie sei, beantwortete Horkheimer bejahend: „Ganz richtig, eine negative Theologie, aber nicht negative Theologie in dem Sinn, daß es Gott nicht gibt, sondern in dem Sinn, daß er nicht darzustellen ist"
In diesen aufschlußreichen Äußerungen Horkheimers liegt der Schlüssel, um das Praxis-Defizit, besser das Praxis-Vakuum der Kritischen Theorie zu erklären und auf einen theorieimmanenten Faktor zurückzuführen. Während eine „negative Theologie" durchaus denkbar und sinnvoll sein kann, gilt dies auf keinen Fall für eine „negative Emanzipationstheorie". Rein akademisch und praktisch irrelevant ist eine „negative Emanzipationstheorie" auch dann, wenn . negativ’ nicht in dem Sinn gemeint ist, daß es die Emanzipation nicht gibt, sondern nur in dem Sinn, daß die Emanzipation und die Ziele der Emanzipationstheorie nicht darzustellen sind. Denn ein Ziel, das nicht darzustellen ist, ist erst recht nicht durch menschliches Handeln zu verwirklichen, kann überhaupt nicht zum Gegenstand bewußter menschlicher Praxis gemacht werden, nicht einmal zum Gegenstand der Reflexion über Praxis.
Die Unfähigkeit der Kritischen Theorie, die Alternative zum verworfenen Bestehenden darzustellen und über eine konkrete Praxis zu ihrer Verwirklichung nachzudenken, hängt mit dem spezifischen Charakter oder Status dieser Alternative zusammen. Obwohl die Kritische Theorie, in der Tradition der Aufklärung, die Alternative zum Bestehenden aus dem Jenseits ins Diesseits zurückgeholt hatte hat sie es andererseits aber versäumt, den Charakter oder Status dieser einst jenseitigen und daher vollkommenen Alternative auf diesseitige, irdische Dimensionen zurückzustufen. Nicht nur in der Kritischen Theorie, sondern auch für zahlreiche kritisch-progressive Intellektuelle hat die von ihnen erstrebte und bejahte Alternative zu den schlechten bestehenden Verhältnissen den Charakter des im Transzendenten angesiedelten „ganz anderen" bewahrt.
Unabdingbare Voraussetzung für die praktische Einlösung einer Emanzipationstheorie ist es, daß die aus dem Transzendenten ins Diesseits zurückgeholte Alternative zum Bestehenden auch ihren erhabenen Status des im Jenseitigen angesiedelten „ganz anderen" verliert, um zur diesseitigen Zukunft der bestehenden Verhältnisse werden zu können. Da in der Kritischen Theorie aber diese Rückstufung der positiven Alternative auf irdische Dimensionen nicht vorgenommen wurde, konnten ihre Anhänger die Welt nicht im Hinblick auf das untersuchen, was sie noch nicht ist, künftig aber durch gesellschaftsverändernde Praxis werden kann, sondern nur im Hinblick auf das, was diese unvollkommene irdische Welt grundsätzlich nicht ist, auch künftig nie sein wird, nämlich im Hinblick auf das „ganz andere", das jenseits dieser Welt liegt, wie zum Beispiel „Himmel" oder „Ewigkeit". Aus diesem Grunde ist in die Kritische Theorie ein theoretischer Mechanismus eingebaut, der die praktische Einlösung ihres emanzipatorischen Anspruchs logisch ausschließt. Denn die praktische Einlösung dieses Anspruchs setzt voraus, daß es sich um eine „positive Emanzipationstheorie" handelt, deren Ziele darzustellen und zum Gegenstand menschlichen Handelns zu machen sind.
Antireformismus der Kritischen Theorie
Auf der Grundlage der bisher verbindlichen bewußten und unbewußten Prämissen der Kritischen Theorie bleibt es unmöglich, die versäumte Reflexion über gangbare Wege und konkrete Schritte in Richtung der postulierten emanzipatorischen Alternative künftig noch nachzuholen. Der transzendente Status der emanzipatorischen Alternative gehört zwar zu den unausgesprochenen und unbewußten Prämissen der Kritischen Theorie. Aber diese unausgesprochene Prämisse ist die Wurzel für folgende deutlich ausgesprochene und theoretisch artikulierte Prämissen: Es ist absolut unmöglich, Erkenntnisse über den praktischen Weg zur Verwirklichung der emanzipatorischen Zielsetzung zu gewinnen, und es ist absolut unmöglich, schrittweise und evolutionär, über konkrete Zwischenziele, das emanzipatorische Ziel zu erreichen. Diese Prämissen, die jede Reflexion über den Weg zur Emanzipation verbieten, sind nicht erst in den späten Äußerungen Horkheimers formuliert, sondern bereits in seinem programmatischen Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie" aus dem Jahre 1937. Dort heißt es: „Die Veränderung, welche die kritische Theorie zu bewirken sucht, setzt sich nicht etwa allmählich durch, so daß ihr Erfolg, wenngleich langsam, so doch stetig wäre. Das Anschwellen der Zahl mehr oder minder klarer Anhänger, der Einfluß einzelner von ihnen auf Regierungen, die Machtstellung von Parteien, die der Theorie positiv gegenüberstehen oder sie wenigstens nicht verfemen, all dies gehört zu den Wechselfällen im Kampf um die höhere Stufe des menschlichen Zusammenlebens und ist nicht schon ihr Beginn. Solche Erfolge können sich nachträglich sogar als Scheinsiege und Fehler erweisen.“ Während er-im Bereich der Naturwissenschaften die Möglichkeit eines allmählichen, systematischen Fortschritts der Erkenntnisse und deren praktischer Anwendung ausdrücklich anerkennt, schließt er das für den Bereich der Kritischen Theorie und ihrer Ziele apodiktisch aus: „Auch soweit materielle Verbesserungen, die der erhöhten Resistenzkraft bestimmter Gruppen entspringen, mittelbar auf die Theorie zurückgehen, sind dies keine Sektoren der Gesellschaft, aus deren stetiger Verbreiterung schließlich die neue hervorginge."
Horkheimer grenzt zwar einerseits die Idee der Kritischen Theorie von „abstrakter Utopie" ab, da sie sich davon „durch den Nachweis ihrer realen Möglichkeit beim heutigen Stand der menschlichen Produktivkräfte" unterscheide. Aber so viel diese Theorie auch über die „reale Möglichkeit" dieses Zieles auszusagen vermag, so kann sie absolut nichts über die praktische Verwirklichung dieser angeblich realen Möglichkeit sagen: „Wie viele Ten-denzen jedoch zu ihr hintreiben mögen, wie viele Übergänge erreicht sind, wie wünschenswert und in sich wertvoll einzelne Vorstufen sein können — was sie geschichtlich für die Idee bedeuten, ist ausgemacht erst dann, wenn sie verwirklicht ist."
Erst rückblickend, wenn das Ziel als Ganzes erreicht sein wird, läßt sich sagen, welche konkrete Praxis der Erreichung des Zieles angemessen war. Doch nach Erreichen des Zieles dürfte es völlig irrelevant sein, noch nachträglich zu erkennen, welcher Praxis man diesen schönen Erfolg eigentlich zu verdanken hat. Für die Lösung der Krise unserer Zeit bräuchten wir dagegen ein theoretisches Instrumentarium, das uns bereits vorher Erkenntnisse darüber vermittelt, durch welche Maßnahmen wir unseren Zielen näherkommen können. Doch die Kritische Theorie leugnet ausdrücklich die Möglichkeit, durch rationale Erkenntnis die Rationalität praktischen Handelns für das emanzipatorische Ziel erhöhen zu können. Während praktische Erfahrungen und Experimente zwar „in der alltäglichen Praxis" und „auch in der Wissenschaft" zweckrationales Handeln ermöglichen, weil es möglich ist, die wahrscheinlichen Konsequenzen bestimmter Maßnahmen wenigstens annähernd zu kalkulieren, ist dies nach Horkheimer in bezug auf das emanzipatorische Ziel der Kritischen Theorie unmöglich, weil dafür jegliche Erfahrungsbasis fehlt, denn: „im Hinblick auf die wesentliche Veränderung, auf die sie (die Kritische Theorie, H. H.) abzielt, fehlt so lange die entsprechende konkrete Wahrnehmung, bis sie wirklich eintritt“ So wie natürlich dem Menschen auch im Hinblick auf Gott die konkrete Wahrnehmung fehlt, bis er vor sein Angesicht tritt.
Da die Kritische Theorie die Möglichkeit einer schrittweisen Annäherung an das Ziel der Emanzipation ausschließt, sprechen sich Horkheimer und Adorno in der „Dialektik der Aufklärung" grundsätzlich gegen die Möglichkeit aus, durch gesellschaftliche Reformpolitik eine neue Gesellschaft zu verwirklichen: „Es gehört zum heillosen Zustand, daß auch der ehrlichste Reformer, der in abgegriffener Sprache die Neuerung empfiehlt, durch Übernahme des eingeschliffenen Kategorienapparats und der dahinter stehenden schlechten Philosophie die Macht des Bestehenden verstärkt, die er brechen möchte." Mit diesem
Verdikt wird nicht nur eine bestimmte unzulängliche Reformpraxis kritisiert, sondern grundsätzlich jede politische Reformpraxis als systemstabilisierend und als Verrat an der emanzipatorischen Zielsetzung verdammt. Zwischen dem transzendenten Charakter des Zieles — „das ganz andere" — und dem dogmatisch gesetzten Verbot, über den konkreten Inhalt des Zieles Emanzipation und die Praxis zu seiner Verwirklichung nachzudenken, besteht eine Wechselwirkung, durch die sich beide Positionen gegenseitig in einem Zirkelschluß legitimieren. Die Aufgabe einer der beiden Positionen müßte notwendig auch die andere zu Fall bringen. Der erhabene und transzendente Charakter des Zieles ist nur zu bewahren, wenn auf jegliche Reflexion über seine Verwirklichung verzichtet wird. Denn jede Reflexion über Praxis müßte logisch zu dem Ergebnis führen, daß alles, was durch menschliche Praxis auf Erden zu verwirklichen ist, etwas anderes sein muß als jenes vollkommene und nicht darzustellende „ganz andere" der Kritischen Theorie. Die Reflexion über einen irdischen Weg zum Ziel müßte also den transzendenten Charakter dieses Zieles kritisch in Frage stellen und damit auch die identitätsstiftende Funktion, die ein solches transzendentes Ziel erfüllen kann.
Andererseits läßt es der transzendente Charakter des Ziele's a priori als müßig und absurd erscheinen, die Frage überhaupt zu stellen, geschweige denn beantworten zu wollen, durch welche politische Praxis dieses „ganz andere" zu verwirklichen wäre. Denn dieses „ganz andere" meint ja, auch wenn das Wort nie benutzt wurde, nach Auffassung Horkheimers: „Himmel oder Ewigkeit oder Schönheit". Alle konkreten Ziele, die durch politische Praxis zu verwirklichen sind, sind so unvollkommen und bescheiden, daß sich die Repräsentanten der „Unbescheidenen Philosophie" dafür nicht interessieren. Und was sie interessiert, was sie als das Positive zu bejahen vermögen, ist so vollkommen und unbescheiden, daß es auf Erden nicht zu verwirklichen ist. Mit dieser Fixierung auf das auf Erden Unmögliche hilft die Kritische Theorie keineswegs, wie wohlwollende Interpreten manchmal meinen, das Unmögliche möglich zu machen oder wenigstens das Mögliche zu realisieren. Der rein negative Charakter der Emanzipationstheorie führt im Gegenteil dazu, daß ihre Anhänger auch unfähig werden, bei der Verwirklichung realer Möglichkeiten mitzuwirken.
Der transzendente Charakter des Zieles, der sich durch die gesamte Entwicklung der Kritischen Theorie prägend hindurchzieht, wirkt realitätsverschleiernd und praxisverhindernd. Denn da die irdische Realität im grellen Licht jenes erhabenen „ganz anderen" betrachtet wird, werden die in dieser irdischen Wirklichkeit real vorhandenen Handlungsspielräume für eine emanzipatorische Reformpolitik so stark unterbelichtet, daß sie in der „Negativen Dialektik“ nicht mehr zu sehen sind.
Da die Kritische Theorie die Möglichkeit ausschließt, die bejahten emanzipatorischen Ziele auf dem Wege einer evolutionären Reform-strategie schrittweise zu verwirklichen, hat sie jene breite antireformistische Grundhaltung in der Akademischen Linken verstärkt, aus der heraus sie jede Reformpolitik als Verrat an den erhabenen emanzipatorischen Zielen verdammte. Andererseits wirkte sie aber durch die radikale Kritik an der . bestehenden repressiven Gesellschaft'besonders auf ihre studentischen Anhänger stark handlungsmotivierend. Doch da sie keine handlungsorientierenden Erkenntnisse zu vermitteln vermochte, Handlungsspielräume sogar verschleierte, hat sie indirekt den blinden Aktionismus in der Studentenbewegung gefördert. Denn wer von der Überzeugung ausgeht, daß es keine Möglichkeiten für emanzipatorisches Handeln gibt, andererseits aber die von der Kritischen Theorie nahegelegte moralische Verpflichtung zum Kampf gegen die repressive Gesellschaft ernst nimmt, kann sein Engagement nur in Form eines blinden Aktionismus praktisch umsetzen Infolge ihres Praxis-Defizits, das auf ihre Anhänger politisch desorientierend wirkt, gehört die Kritische Theorie zu jenen Theorieansätzen, die im Widerspruch zu ihren Intentionen indirekt konservative Wirkungen haben
Unkritisch-affirmative Rezeption der Kritischen Theorie
Wenn auch teilweise aus der Einsicht in die praxisverhindernden Implikationen der Kritischen Theorie selbstkritische Schlußfolgerungen gezogen wurden, wirkt andererseits eine unkritisch-affirmative Rezeption der Kritischen Theorie weiterhin politisch desorientierend auf Teile der Akademischen Linken. Da der geistige Einfluß der Frankfurter Schule vor allem auch im erziehungswissenschaftlichen Bereich fortwirkt, sei als Beispiel für diese unkritisch-affirmative Rezeption der Kritischen Theorie fein Lehrbrief der Fernuniversität Hagen „Pädagogik der . Kritischen Theorie“ — „Kurseinheit 1: Was ist . Kritische Theorie ?“ untersucht. Auch nach den Erfahrungen mit dem vermeidbaren politischen Niedergang der Akademischen Linken wird das Praxis-Defizit der Kritischen Theorie keineswegs problematisiert oder als Unzulänglichkeit erkannt, sondern völlig unkritisch und apologetisch als besonders progressive Qualität dieses Denkens verklärt.
Ausdrücklich zustimmend zitieren die Autoren des Lehrbriefs Horkheimers Absage an jede praktische Reformpolitik für konkrete Verbesserungen der bestehenden Verhältnisse: „Es (das kritische Verhalten, H. H.) ist nicht nur darauf gerichtet, irgendwelche Mißstände abzustellen, diese erscheinen ihm vielmehr als notwendig mit der ganzen Einrichtung des Gesellschaftsbaus verknüpft." Hinter dieser Absage an konkrete Veränderungen in Teilbereichen steht die nie begründete und nie kritisch überprüfte Totalitäts-Prämisse der Kritischen Theorie, nach der das Ganze das Unwahre ist und daher die vorausgehende Veränderung des Ganzen die Voraussetzung für Veränderungen in Teilbereichen ist. Verständlich wird diese Prämisse nur angesichts der Qualifikation des positiven Ziels als „das ganz andere". Denn in der Tat kann in die irdische Realität nicht in Teilstücken die trans-zendente Realität des „ganz anderen" eingebaut werden. So wie der Mensch nicht teils auf Erden und teils im Himmel leben kann, sondern nur entweder ganz auf Erden oder ganz im Himmel, so kann er auch nur entweder ganz in einer repressiven Gesellschaft oder ganz in der ganz anderen emanzipierten Gesellschaft leben.
Diese Totalitäts-Prämisse, die jedes Handeln für das Ziel der Kritischen Theorie ausschließt, weil nie die Totalität des gesellschaftlichen Seins zum Gegenstand menschlicher Praxis gemacht werden kann, wird im Lehrbrief wie folgt zustimmend erläutert: „Insofern die Kritische Theorie auch in partikularen Erscheinungen noch das gesellschaftliche Ganze, das diese bestimmt, zum Gegenstand hat, kann sie die herkömmlichen Forderungen an praktisch verwertbare Theorie nicht erfüllen. Sie gibt nicht an, welche Mittel zur Erreichung gegebener, wohldefinierter Ziele zu verwenden seien, weil jede partikulare Zwecksetzung und Mittelwahl innerhalb der unverändert belassenen gesellschaftlichen Struktur an deren Reproduktion notwendig teilhat. Die Ziele, die die Kritische Theorie im Auge hat, entziehen sich darum dem Postulat vorgängiger Operationalisierung — sie lassen sich allein negativ, durch Kritik des durch Ausbeutung, Unterdrückung, Entfremdung bestimmten Lebens der Gesellschaft formulieren. Ein gesellschaftlicher Zustand, in dem aus der kritischen — d. h. an Vernunft, Freiheit und Glück interessierten — Theorie der Gesellschaft Anweisungen für das richtige Alltagshandeln sich bündig ableiten ließen, hätte — mit Marx zu sprechen — die Philosophie bereits verwirklicht; der Widerspruch zwischen aktuellem Zustand und menschlicher Möglichkeit wäre schon überwunden und die als Kritik konzipierte Theorie wäre in ihrem veränderten Objekt, der dann befreiten Gesellschaft, praktisch aufgehoben."
Die Kritische Theorie kann also erst dann handlungsorientierend wirken, also praktischen Nutzen bringen, wenn „das ganz andere" bereits erreicht ist. Dagegen kann und darf sie, wenn sie dieses Ziel nicht an das Bestehende verraten will, nichts über den Weg zu diesem Ziel zu sagen versuchen. Während diese Prämisse tatsächlich impliziert, daß die Kritische Theorie für die noch unter den gegebenen diesseitigen Verhältnissen lebenden Menschen völlig wertlos ist, sehen die Autoren des Lehrbriefs in dieser selbst das Nachdenken über Praxis verbietenden Prämisse den „praktisch-revolutionären Aspekt" dieses Theorie-ansatzes. „Kritische Theorie und revolutionäre Praxis sind weder unmittelbar eins, noch sind sie derart getrennt, daß theorieimmanent deduziert werden könnte, was praktisch zu tun sei. Die Theorie kann den gesellschaftlichen Veränderungsprozeß nicht als Abfolge und Summe wohldefinierter Einzelschritte — gleichsam als operationales Programm — vorgeben. Denn im Unterschied zur . traditionellen Theorie’, die auf Reproduktion und Variation des Bestehenden abzielt, auf empirische Prozesse also, die ja nur sinnvoll sind, wenn konstante Bedingungen angenommen werden, erweist sich die Wahrheit der Kritischen Theorie erst in der Herstellung vernünftiger Zustände; für diese allerdings wird prognostisch angenommen, daß die Überwindung der Klassenherrschaft eine ihrer Bedingungen ist."
Wenn aber je der politischen Praxis eine Reflexion über ihre Erfolgsbedingungen vorausgehen sollte, also im Interesse erfolgreichen rationalen Handelns die möglichen Konsequenzen einer bestimmten Praxis vorher kalkuliert werden, wird dieser Praxis das begehrte Prädikat „revolutionär" aberkannt: „Eine revolutionäre Praxis, die ihr Handeln von der Kenntnis der notwendigen und hinreichenden Bedingungen ihres Erfolges abhängig machte, wäre keine." Nach dieser Logik wäre der blinde Aktionismus der Studenten-bewegung durchaus als „revolutionäre Praxis“ zu qualifizieren, weil die Akteure dieser Praxis sich über die Bedingungen ihres Erfolges keine Gedanken machten und es hinnahmen, daß ihre „revolutionäre Praxis" die Erfolgschancen der rechten Gegenreformer verbesserte. Verworfen wird nicht nur die Reflexion über einen gangbaren Weg zur emanzipierten Gesellschaft, sondern auch über den Inhalt und die Struktur dieser Gesellschaft: „Die nicht verstummende Forderung nach einem Bild der künftigen Gesellschaft und der Angabe der zu ihr hinführenden Schritte ist so töricht wie die, zu einer Entdeckungsreise nicht eher aufzubrechen, als man das Ziel in Agfacolor sich hat vor Augen führen lassen."
Auch in der „Kurseinheit 2" des Lehrbriefs wird Adornos Weigerung, das „Neue" oder das „ganz andere" zu beschreiben, unkritisch gerechtfertigt: „Die Hoffnung richtet sich auf etwas, das noch unbekannt und nicht vorhersehbar ist, auf, wie Adorno es bisweilen nennt, das . Neue'. Es bleibt notwendig abstrakt. Die Kategorie des . Neuen'ist bei Adorno eine Leerstelle. Sie ist bestimmt mehr durch die Negation dessen, was nicht mehr sein soll, als durch positive Merkmale. Selbst die beste Phantasie wäre nicht in der Lage, sich das wirklich . Neue'vorzustellen. Sie bliebe noch in ihren kühnsten Flügen an die Gegenwart als ihren negativen Brennpunkt gekettet. , Das bis heute gefesselte Bewußtsein ist wohl des Neuen nicht einmal im Bilde mächtig; es träumt vom Neuen, aber vermag das Neue selbst nicht zu träumen.'(Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt 1973, S. 354)." So wie sich der Gläubige aus gutem Grund kein Bild von Gott machen kann, kann sich der Anhänger der „traditionellen“ Kritischen Theorie, und zwar ohne guten Grund, kein Bild von der erstrebten emanzipierten Gesellschaft machen.
Kritische Theorie kontra Arbeiterbewegung
Während fortschrittliche Intellektuelle vollstes Verständnis dafür aufbringen, daß selbst die beste Phantasie ihrer Vordenker nicht in der Lage ist, sich das „Neue" oder das „ganz andere" auch nur vorzustellen, haben sie nicht das geringste Verständnis dafür, daß die auserwählte Arbeiterklasse das, was sich ihre kritische Phantasie nicht einmal vorstellen kann, nicht wenigstens durch eine Revolution verwirklicht hat. Wegen dieses „Versagens" wird die „sozialistische Bewegung" der „intellektuellen Korrumpierung ... durch Reformismus" bezichtigt Verständnislos und abfällig wird der auch aus der reformistischen Arbeiterbewegung kommende Wunsch, etwas über den Inhalt der zu erstrebenden Gesellschaft zu erfahren, abqualifiziert: „Wer das Neue konkretisiert, den vernünftigen besseren Zustand ausmalt, vielleicht um dem Enwand zu begegnen, er wisse nicht, was er wolle, verrät nach Adorno die Utopie an den Kitsch, verwandelt die Hoffnung in Ideologie. Wenn es aber nicht möglich ist, den vernünftigen besseren Zustand antizipierend zu beschreiben, dann ist es auch nicht möglich, die Entwicklung zu prognostizieren, die vielleicht zu diesem Zustand führt."
Solche unkritisch-affirmative Rezeption der „traditionellen" Kritischen Theorie verhindert es, aus dem Marsch der Akademischen Linken ins politische Abseits, aus der Tatsache, daß sich die organisierte politische Arbeiterbewegung und die in der Tradition des Marxismus und der Frankfurter Schule stehende linke Theorie völlig auseinanderentwickelt haben, selbstkritische Schlußfolgerungen zu ziehen und überholte theoretische Prämissen wenigstens einmal kritisch zu hinterfragen. Die schon vor dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg empirisch zu beobachtende Tatsache, daß sich die real existierenden Arbeiter und große Teile der organisierten Arbeiterbewegung von der Theorie, die für die Arbeiter zu.denken vorgab, zunehmend emanzipierten, führte nicht zu der längst fälligen Überprüfung des anmaßenden Anspruchs der Kritischen Theorie, „die intellektuelle Seite des historischen Prozesses seiner (des Proletariats, H. H.) Emanzipation“ zu sein In diesem aus dem Marxismus übernommenen Anspruch der Kritischen Theorie artikuliert sich das Selbstverständnis jener progressiven Intellektuellen, die sich für die Ghost-Denker der Arbeiterklasse halten. Mit dieser Selbsteinschätzung sprechen die Intellektuellen aber indirekt den real existierenden Arbeitern die Fähigkeit zum Gebrauch ihrer eigenen Köpfe ab und ignorieren, daß die organisierte Arbeiterbewegung auch unabhängig von der Hilfe der Theoretiker nicht nur eine praktische, sondern selbst eine „intellektuelle Seite" hat.
Nichts einzuwenden ist zunächst gegen folgende Zusammenfassung eines Gedankens Horkheimers: „Zwar ist Horkheimer mit Marx und Engels der Überzeugung, daß noch am ehesten das Proletariat aufgrund seiner Situation das Interesse an der Überwindung kapitalistischer Verhältnisse ausbilde. Doch garantiert dies nicht die richtige Erkenntnis." Akzeptabel ist auch Horkheimers Auffassung, daß eine Theorie, die politisch für die Interessen der Arbeiter eintritt, sich nicht beschränken darf auf das „Formulieren der jeweiligen Gefühle und Vorstellungen einer Klasse" oder „die Systematisierung der Bewußtseinsinhalte des Proletariats" Fatal wird die durchaus berechtigte Weigerung, sich opportunistisch an vorgefundene Meinungen und Vorstellungen anzupassen, erst durch die Prämisse, daß bei jedem Widerspruch zwischen vorhandenen Meinungen bei Arbeitern und der Theorie a priori die Theorie recht hat, die Arbeiter sich aber im Irrtum befinden.
Es ist zwar richtig, daß die soziale Situation der Arbeiter „nicht die richtige Erkenntnis garantiert“. Doch in der Regel denken die Anhänger der Kritischen Theorie nicht daran, daß auch das Bekenntnis zur Kritischen Theorie keine richtige Erkenntnis zu garantieren vermag. Angesichts des a priorischen Wahrheitsanspruchs der Kritischen Theorie kam ihren Anhängern nie der Gedanke, daß es vielleicht an der Theorie liegen könnte, wenn sich die Arbeiter nicht von ihr angesprochen fühlen und wenn sie sich selbst und ihre politische Aktivität nicht als die bloß „praktische Seite" dieser Theorie verstehen. Für die Auseinanderentwicklung zwischen der Theorie und ihren Adressaten haben die Theoretiker allein die Adressaten, die die Theorie nicht annahmen, schuldig gesprochen. Trotz dieser Auseinanderentwicklung hielten die Theoretiker die Kritische Theorie weiterhin völlig unkritisch für „die intellektuelle Seite" des Emanzipationsprozesses, der nur deshalb scheiterte, weil die Arbeiterbewegung als die angeblich „praktische Seite" des von der Kritischen Theorie erfolgreich proklamierten Emanzipationsprozesses versagte. Statt die eigene Theorie kritisch zu überprüfen, konnte man auf diese Weise „die intellektuelle Kor-• rumpierung" der Arbeiter verurteilen und die Arbeiterschaft als sozialen Faktor für die gesellschaftliche Veränderung abschreiben.
Ziemlich selbstgefällig wird die Tatsache, daß die Theorie von ihren Adressaten nicht angenommen wurde, als Beweis für die besonders hohe Qualität dieser Theorie gedeutet. Zu einem unerträglichen Selbstlob der Kritischen Theorie wird es so, wenn auch heute noch — nach allen Erfahrungen — die elitäre Selbst-isolierung gerechtfertigt wird mit dem „bitteren eigenen Erleben" der Philosophen der Frankfurter Schule, „daß gerade das aktuellste, die geschichtliche Situation am tiefsten erfassende, zukunftsreichste Denken in bestimmten Perioden es mit sich bringt, seine Träger zu isolieren und auf sich selbst zu stellen" Vervollständigt wird dieses selbstgefällige Eigenlob der Kritischen Theorie noch durch die moralische Diffamierung derjenigen, für die zu denken die Theoretiker vorgeben. Denn die Autoren des Lehrbriefs rechtfertigen die Distanzierung der Theoretiker von der Praxis der Arbeiterbewegung mit dem Hinweis auf die „Erfahrung der intellektuellen Korrumpierung weiter Teile der sozialistischen Bewegung durch Reformismus"
Ohne zu überlegen, ob nicht vielleicht auch ein Versagen der eigenen Theorie vorliegen könne, ob es sich bei der angebotenen Theorie vielleicht gar nicht um „das aktuellste,... zukunftsreichste Denken" handelte, werden pauschal alle, die sich um praktische Reformpolitik und um konkrete Verbesserungen bemühen, der „intellektuellen Korrumpierung ... durch Reformismus" bezichtigt. Diese moralische Diffamierung muß notwendigerweise alle treffen, die sich um konkrete Praxis bemühen, da ja jede fortschrittliche Praxis nur „reformistisch" sein kann, das heißt, das von der Kritischen Theorie postulierte „ganz andete" nicht zu erreichen vermag. Aus diesem transzendenten Charakter des emanzipatorischen Zieles ergibt sich auch, daß die von der reformistischen Arbeiterbewegung erkämpften sozialen Verbesserungen für breite Kreise der Bevölkerung bei der elitären Gruppe der Anhänger der Kritischen Theorie nie auf Interesse oder Verständnis stoßen konnten, bestenfalls auf Hohn und Spott.
Obwohl oft beteuert wurde, daß die kritische Reflexion auch auf die Kritische Theorie selbst anzuwenden ist, wird diese durch zahlreiche dialektische Tricks der Kritik und Überprüfung entzogen, so zum Beispiel mit der Prämisse, „die Wahrheit der Kritischen Theorie (erweist sich erst) in der Herstellung vernünftiger Zustände" Das heißt aber, vor „Herstellung vernünftiger Zustände" kann in der Kritischen Theorie über Wahrheit und Irrtum nicht entschieden werden. Wer aber dennoch schon jetzt Kritik an der Kritischen Theorie wagt, gerät leicht in den Verdacht, sich gegen die „Herstellung vernünftiger Zustände" zu wenden.
Eine vorsorgliche Exkulpation der Theorie nimmt bereits Horkheimer in seinem programmatischen Aufsatz von 1937 vor, indem er die Verantwortung für mögliches Versagen den Nicht-Theoretikern zuschiebt: „Die histo-rische Bedeutung seiner Leistung (des Theoretikers, H. H.) spricht nicht für sich selbst; sie hängt vielmehr davon ab, daß die Menschen für sie sprechen und handeln."
Nach dieser Interpretation des Verhältnisses von Theorie und Praxis können nur die Menschen versagen und daher kritisiert werden, die für eine Theorie sprechen und handeln, jedoch nicht die Theoretiker, die ja nur denken, aber nicht handeln. Aber nicht nur die Theorie selbst, auch die Theoretiker insgesamt, also die Intellektuellen, können mit dieser wohlfeilen Konstruktion jeder Kritik entzogen werden. Sie können damit jede sich aufdrängende Kritik auf die handelnden Menschen ablenken und ihre eigenen Hände in Unschuld waschen bzw. weiter ihren Kopf in den Sand stecken.
Der Weg zur Kritik der „Kritischen" Theorie und einer ihr entsprechenden Mentalität bei zahlreichen Intellektuellen ist nur freizulegen, wenn die von Horkheimer konstatierte Wechselwirkung von Theorie und Praxis einmal in der umgekehrten Richtung untersucht wird: Die historische Bedeutung und die praktischen Ergebnisse politischen Handelns der Menschen können auch von der Theorie abhängen, für die sie sprechen und handeln. Und Unzulänglichkeiten in dieser Theorie können zur Ursache dafür werden, daß die handelnden Menschen mit ihrer Praxis gar nicht den emanzipatorischen Zielen ihres Engagements zu dienen vermögen, sondern sogar den konservativen Gegenkräften in die Hände arbeiten.
Zur Krise . kritisch-progressiven'Denkens
Die Einsicht in diese kontraproduktiven Wirkungen der Kritischen Theorie und in ihre Unfähigkeit, einen Beitrag zur konstruktiv-progressiven Lösung der Probleme unserer Zeit zu leisten, könnte vielleicht zur selbstkritischen Erkenntnis führen, daß sich das kritisch-progressive Denken selbst in einer tiefen und gefährlichen Krise befindet. So wie die Entwicklung unserer Industriegesellschaft nicht mehr lange nur linear verlängert werden kann, so kann auch das kritisch-progressive Denken nicht mehr nur linear fortgedacht werden. Damit zur Lösung der Krise die gesellschaftliche Entwicklung durch politische Praxis bewußt in eine neue Richtung gelenkt werden kann, muß zunächst das diese gesellschaftlichen Veränderungen begründende kritisch-progressive Denken einer radikalen • theoretischen Neuorientierung unterzogen werden; wissenschaftstheoretisch formuliert:
Damit das kritisch-progressive Denken die selbst gesetzten Ziele verwirklichen kann, muß zunächst eine grundlegende Neubesinnung, ein Paradigmawechsel stattfinden. Denn auf der Grundlage des vorherrschenden Paradigmas kritisch-progressiven Denkens, das über die Grenzen der Frankfurter Schule hinausreicht, vermag dieses kaum einen konstruktiven praktischen Beitrag zur Lösung dieser Krise zu leisten. Das bedeutet aber: ohne einen praxis-und realitätsbezogenen Paradigmawechsel in der kritisch-progressiven Theorie vermag auch die ziemlich breite und geistig einflußreiche Schicht fortschrittlicher Intellektueller kaum einen Beitrag zu einer emanzipatorischen Praxis zu leisten. Bleibt das soziale Engagement dieser Schicht, bewußt oder unbewußt, an die realitätsverschleiernden und praxisverhindernden theoretischen Prämissen des vorherrschenden Paradigmas linker Theorie gefesselt, dann verurteilt sich dieses Engagement selbst zum Scheitern. Denn aus der „negativen Emanzipationstheorie" können'indirekt nur praktische und theoretische Wirkungen hervorgehen, die reale Emanzipationsprozesse behindern.
Der in den letzten Interviews Horkheimers ausgesprochene Verzicht auf gesellschaftsverändernde Zielvorstellungen ist zwar keineswegs die notwendige logische Konsequenz aus einer bislang verkannten konservativen Intention und Programmatik der Kritischen Theorie, aber eine naheliegende psychologische Konsequenz aus einem psychisch belastenden Zwiespalt innerhalb dieser Theorie: Diese Theorie motiviert einerseits zu einem gesellschaftsverändernden emanzipatorischen Handeln, beläßt aber andererseits dieses emanzipatorische Ziel in einer transzendenten Dimension, so daß keinerlei meßbare Annäherung an dieses Ziel des Handelns auf Erden möglich ist. Da die daraus entstehende permanente Frustration auf lange Sicht nicht zu ertragen ist, liegt es nahe, sich durch den expliziten Verzicht auf alle irdischen gesellschaftsverändernden Zielvorstellungen und durch die Orientierung auf eine transzendente Perspektive psychische Entlastung zu verschaffen. Doch selbst wenn es gelingen sollte, auf der Grundlage eines in der Tat wichtigen Teilparadigmas innerhalb der Kritischen Theorie eine neue transzendente Perspektive für die verunsicherten Menschen zu restaurieren, dann wäre das kein Beitrag zur Lösung der Krise unserer Zeit. Denn weder die Religion noch eine neuinterpretierte, das heißt auf ihre transzendente Dimension reduzierte Kritische Theorie wird in den entwickelten Ländern je wieder die gesellschaftliche Funktion zu erfüllen vermögen, die Horkheimer der Religion zugesprochen hat, nämlich die ideologische Funktion, von den Unzulänglichkeiten und Ungerechtigkeiten der bestehenden irdischen Verhältnisse durch den Verweis auf das transzendente „ganz andere" abzulenken, also die leidenden Menschen auf ein besseres Jenseits zu vertrösten. Aus Horkheimers These, daß „der Wunsch nach einer besseren Gestaltung des Lebens" mit dem „Niedergang der Religion" einherging läßt sich für die Zukunft keine neue Hoffnung gewinnen durch den Umkehrschluß, daß ein . Aufstieg der Religion und der transzendenten Dimension der Kritischen Theorie" künftig einhergehen werden mit dem Verzicht auf den „Wunsch nach einer besseren Gestaltung des Lebens". Und auch seine These, daß „die Anerkennung eines transzendenten Wesens ihre stärkste Kraft ... aus der Unzufriedenheit mit dem irdischen Schicksal schöpft", läßt sich nicht in ein Lösungskonzept für unsere Krise verwandeln durch folgenden Umkehrschluß: Die Anerkennung eines transzendenten Wesens kann wieder zur stärksten Kraft für eine erneute Zufriedenheit „mit dem irdischen Schicksal" werden. Denn die . Anerkennung eines transzendenten Wesens" vermag „die Unzufriedenheit mit dem irdischen Schicksal" und den „Wunsch nach einer besseren Gestaltung des Lebens" nicht mehr zum Schweigen zu bringen oder auch nur zu beschwichtigen. Im Gegenteil: Für immer mehr gläubige Christen wird der Glaube an Gott und an Christus zunehmend zu einem Motiv für die Verstärkung der „Unzufriedenheit mit dem irdischen Schicksal" und für das aktive Engagement zur bewußten Beeinflussung dieses Schicksals. Die Christen entdecken also die reale irdische Dimension der Religion und erkennen, daß eine auf die transzendente Dimension reduzierte Religion nur eine entfremdete, pervertierte und inhumane Form von Religion darstellt, die sich vor allem vorzüglich zur ideologischen Verschleierung recht irdi-scher Interessen privilegierter Minderheiten eignet. Diese gläubigen Christen sind vielleicht sogar für ein realistisches gesellschaftspolitisches Engagement besonders geeignet. Denn da für sie ja die transzendente Perspektive ihrer Existenz erhalten geblieben ist, sind sie weit weniger der Versuchung ausgesetzt, das „ganz andere" in ihre gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen zu integrieren und diese dadurch zu kontraproduktiv wirkenden abstrakten Utopien „verkommen" zu lassen. Paradox wirkt es, wenn ein in der Tradition der Aufklärung stehender Denker wie Horkheimer beklagt, daß die Religion nicht mehr die ideologische gesellschaftliche Funktion zu erfüllen vermag, die ihr einst von der Aufklärung und der marxistischen Religionskritik vorgeworfen worden war. Aber noch paradoxer, wie ein bitterböser Scherz des sich in der Dialektik offenbarenden Weltgeistes, müßte es wirken, wenn eine eindimensionale, das heißt auf ihre transzendente Dimension reduzierte Kritische Theorie jetzt erfolgreich die gesellschaftliche Funktion übernehmen Würde, die die Religion oft in ihrer entfremdeten und pervertierten Form erfüllte, nämlich „die Wünsche, Sehnsüchte und Anklagen zahlloser Generationen" zu transzendieren und auf diesem Wege dafür zu sorgen, daß diese Wünsche und Sehnsüchte nicht mehr zum gesellschaftsgestaltenden Engagement motivierten, sondern auf das „ganz andere" abgelenkt wurden.
Aber selbst wenn der kritisch-progressive Impetus beibehalten wird, ohne daß es zu einer Überprüfung der praxisverhindernden theoretischen Prämissen kommt, würde die Kritische Theorie den konservativen Kräften in unserer Gesellschaft noch wertvollere Hilfsdienste leisten als in jenen Fällen, in denen der Zwiespalt der Theorie durch eine ausdrückliche und offene Rückorientierung auf konservative Positionen aufgelöst wird. Denn gerade bei Beibehaltung der kritisch-progressiven Terminologie kann die Kritische Theorie viel wirksamer ihre konservative Funktion erfüllen, quasi als List der Dialektik ein kritisch-progressives Potential in unserer Gesellschaft politisch so zu desorientieren, daß es in den politischen Auseinandersetzungen bestenfalls indirekt zugunsten der reformerischen Kräfte wirksam werden kann. Denn der Zwiespalt zwischen der starken moralischen Motivation zum gesellschaftsverändernden Handeln und dem völligen Fehlen handlungsorientierender Einsichten kann nur zu blindem Aktionismus oder zu Resignation, Apathie oder Flucht ins Private führen. Ob künftig aus der Tradition der Kritischen Theorie doch noch ein Beitrag zur konstruktiv-progressiven Lösung der Krise unserer Zeit geleistet werden kann, wird nicht zuletzt davon abhängen, ob ihre Repräsentanten in der Lage sind, ihre praxisverhindernden theoretischen Prämissen in die selbstkritischen Diskussionen über die „Krise des Marxismus“ und eine Neuorientierung linker Theorie und Praxis einzubeziehen und am notwendigen Paradigmawechsel mitzuwirken.
Kaum eine Chance für einen solchen konstruktiven Beitrag der Kritischen Theorie sieht Axel van den Berg in einer Analyse, die im November 1980 im American Journal ofSo-ciologyerschien und auf die hier abschließend nur noch kurz eingegangen werden kann Van den Berg gelangt darin zu dem vernichtenden Urteil, daß nicht nur die erste Generation dieser Theorie, Horkheimer, Adorno und Marcuse, sondern auch die zweite Generation mit Jürgen Habermas und Claus Offe unfähig war, den emanzipatorischen Anspruch einzulösen und daher gescheitert ist. Angesichts fehlender Zukunftsperspektiven wurde nach seiner Auffassung „Horkheimer zu einem konservativen Kulturpessimisten, Adorno zu einem Nihilisten und Marcuse zu einem Propheten der abstrakten Negation“ -Aber auch Habermas und Offe konnten den zentralen Begriffen ihrer Theorie keinen wirklichen Inhalt geben und arbeiteten deshalb mit nichtssagenden Leerformeln, so daß ihre Theorie nichts zu erklären und nichts zu prognostizieren vermag. Van den Berg bezweifelt, ob sie dem Marxismus tatsächlich einen Dienst erwiesen haben, indem sie ihn in eine „anything-may-happen" -Systemtheorie verwandelten Denn infolge der Leerformelhaftigkeit der Begriffe der Kritischen Theorie lassen sich ihre Aussagen über die kapitalistische Gesellschaft auf die Erkenntnis reduzieren, „daß das kapitalistische System in der Zukunft seine Probleme und Konflikte haben wird, wie es solche auch in der Vergangenheit hatte"
Das größte Versagen der Vertreter der Kritischen Theorie sieht van den Berg darin, daß sie nicht verstehen konnten oder wollten, daß der von ihnen verworfene „Positivismus" für die Lösung praktischer Probleme keineswegs bedeutungslos ist. Denn gerade empirische Forschungen und die normale Logik können zugunsten der Emanzipation angewandt werden, deren Situation ohne diese Faktoren sogar ziemlich hoffnungslos aussehen würde. Im Gegensatz zum Alleinvertretungsanspruch der Frankfurter Schule auf emanzipatorische Wissenschaft verweist van den Berg darauf, daß zahlreiche Wissenschaftler, die der Idee der „guten Gesellschaft" ebenso verpflichtet sind wie die Frankfurter Philosophen, seit Jahren respektable empirische Erkenntnisse und akzeptable logische Argumente zugunsten dieser Idee erarbeitet haben. Und er wirft den Vertretern der Kritischen Theorie vor, die wissenschaftlichen Diskussionen über „die Möglichkeiten größerer demokratischer Beteiligung, über die Ursachen der verschiedenartigen Ungleichheiten und den möglichen Abbau dieser Ungleichheiten" nicht nur ignoriert, sondern dazu selbst absolut keinen Beitrag geleistet zu haben. „Statt dessen haben sie die bequemen Höhen der philosophischen Abstraktion und Obskurität gewählt, weit entfernt von den alltäglichen Angelegenheiten des Pöbels." Den Vorwurf, den sonst die Vertreter der „unbescheidenen Philosophie" gegen alle anderen wissenschaftlichen Konzepte richten, nämlich antiemanzipatorisch zu sein, gibt van den Berg an die emanzipatorische Wissenschaft der Kritischen Theorie zurück: Ein Vernunftbegriff, dem jegliche Substanz fehlt, eine Utopie ohne jeden Hinweis auf ihre charakteristischen Merkmale und auf ihre Realisierungsmöglichkeiten, hat nicht das geringste mit Emanzipation zu tun
Ob das Erbe der Kritischen Theorie noch weiterhin erfolgreich von konservativen Strömungen vereinnahmt werden kann und ob das Urteil van den Bergs einmal als das endgültige Urteil über die Kritische Theorie bestätigt werden wird, hängt nicht in erster Linie von den Kritikern und Neuinterpreten dieses Theorieansatzes ab, sondern von den dieser Theorietradition verpflichteten Intellektuellen. Wenn diese aus der Einsicht in die tiefe Krise kritisch-progressiven Denkens, die vor allem durch das Praxis-Defizit bedingt ist, die Kraft zu einer praxisbezogenen Neuorientierung ihres Denkens finden, dann könnte das vernichtende Urteil van den Bergs vielleicht zur Bewährung ausgesetzt werden, dann könnte emanzipatorische Theorie noch eine positive Bedeutung für emanzipatorische Praxis und für die Lösung der Krise unserer Zeit erhalten.