Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Rute in den Sack. Der Nikolaus und die Friedenserziehung | APuZ 49/1981 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 49/1981 Der Nikolaus und die politische Bildung Sind Frauen die besseren Weihnachtsmänner? Aufsehenerregende Ergebnisse eines neuen Modellprogramms Weg mit dem „Schwarzen Pitt"! Der heilige Nikolaus und die katholische Soziallehre Der Nikolaus aus liberaler Sicht Advent in Ouagadougou Katholischer Erzbischofssitz, Hauptstadt von Obervolta, Westafrika. Der Nikolaus und der Dialog mit der Jugend Neuere Probleme bei der Erforschung des Dualen in der beruflichen Bildung Rute in den Sack. Der Nikolaus und die Friedenserziehung Diese Woche im Bundestag:

Rute in den Sack. Der Nikolaus und die Friedenserziehung

Armin Halle

/ 9 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Auch wenn der Artikel zur Erheiterung in winterlich dunklen Tagen beitragen will — so weit hergeholt ist es nicht —, wird der gabenbringende oder rutenschwingende Nikolaus in Beziehung gesetzt zum sonst ganz und gar ernsten Thema der Sicherheitspolitik. Das Angsthaben als eines der hinderlichsten Gefühle des Menschen auf dem Weg zu immer-währendem Frieden — wird es nicht schon verstärkt und kultiviert, wenn Fritzchen bangen muß, die Rute statt der erhofften Spieleisenbahn zu sehen? Anthropologisch gesehen, hat Lachen etwas Befreiendes. Von Ängsten muß man sich befreien, damit — bei der Organisation von Frieden allemal — vernünftigere Lösungen möglich werden. Und Schmunzeln wäre schon ein erster Schritt.

Der junge Goethe — und es ist nie falsch, einen Artikel mit Goethe zu beginnen — soll als Knabe mit einer als Spielzeug ausgelegten Guillotine gespielt haben. Vor wenigen Wochen erst hat die französische Nationalversammlung dieses vielfach auch in der Erwachsenenwelt gebräuchliche Instrument abgeschafft. Man sieht daraus, daß ein in der pädagogischen Praxis aufgetretener Fehler oft schon nach knapp zweihundert Jahren sozusagen politisch korrigiert wird.

Abbildung 4

Dieses schöne Beispiel menschlichen Dazulernens muß all jenen Auftrieb geben, die sich pädagogisch, also bei der Ausformung des Knaben, vielfältigen Mühen unterziehen. Gewiß muß einschränkend gesagt werden, daß der Entwicklungsprozeß vom (hin) richtungsweisenden Goethe zur Abschaffung der Todesstrafe in unseren Tagen historisch gesehen eine wahre Blitzaktion darstellt, die sich auf anderen Gebieten so rasch kaum wiederholen dürfte.

Man darf auch nicht übersehen, daß die Friedenserzieher (ihre) Friedenserziehung als eine ebenso notwendige wie völlig neuartige Wissenschaft ansehen. Sie unterscheiden sich darin um keinen Deut von den Friedenserziehern und der Friedenserziehung früherer Jahrhunderte. So hat auch die lange vor ihm erlassene Magna Charta (1215) einen deutschen Bundeskanzler nicht daran hindern können, im Herbst 1969 festzustellen, mit der Demokratie fange man jetzt erst richtig an. Mit anderen Worten: Das, von dem lebende Menschen annehmen, es fange gerade erst an, war eigentlich immer schon da. Friedenserzieher unserer Tage dürfen sich also in der Annahme sonnen, daß kein Geringerer als Platon angesichts der meisten ihrer Thesen mit seinem klugen Kopf genickt (oder gewackelt) hat. Denn gekannt hat er sie bestimmt; ihn hat alles interessiert, was auf dem weiten Feld des Denkens als letzter Schrei angeboten wurde. In diesem Zusammenhang wird so mancher Friedenserzieher heute seinen vielhundertjährigen Vorgängern mit dem Gefühl versteckter Dankbarkeit gedenken, denn — hätten sie damals Erfolg gehabt, so säße er heute ohne Brot und Arbeit, und das jetzt kurz vorm Friedensfest! Nun lehrt die Erfahrung, daß Betrachtungen, wie die hier vorangestellten, fast immer ernsthaft zu werden drohen, wenn nicht ein neuer Gedanke (oder ein neu aufpolierter alter Gedanke) spielerisch und störend eingemischt wird. Das soll hier geschehen, oder besser, weil richtiger: Das muß hier geschehen.

Unzweifelhaft hält sich hier und da immer noch die von vielen für überwunden geglaubte Vorstellung, Erziehung könne sich unter anderem auch in der Familie, zu Hause sozusagen, abspielen. Ja, in besonders extremen Fällen herrscht der Glaube (und der daraus sich entwickelnde Wille) vor, auch Friedenserziehung könne und solle der familiären, also privaten Sphäre überlassen bleiben.

Die Befürworter verweisen dabei auf die verblüffende Erfahrung, daß eine ihrer altmodischen Praktiken, die Übung des Zuhörens nämlich, konsequent angewendet, bei einer wachsenden Zahl von Zeitgenossen auf Zustimmung stößt. Natürlich wissen die Gegner nur zu genau, daß eine vernünftige repressionsfreie Diskussion so nicht zustande kommen kann. Sie ist schon deshalb gefährlich, weil ihr Ergebnis auch von versierten Diskussions-und Veranstaltungsleitern nicht im mindesten vorausgesehen, geschweige denn gestaltet werden kann. Die Diskussion darüber, wie denn dem Frieden am zweckmäßigsten auf die Sprünge geholfen werden kann, geht ja schon ohnehin seltsame Wege. Wie früher nur beim Militär spielt heute auch hier die Kleiderordnung eine manchmal beherrschende Rolle. Eine kleine und im doppelten Wortsinn ausgesuchte Truppe beispielsweise glaubt, auf ihrem Marsch zu ihrem Frieden auf den ebenso kleidsamen wie nützlichen Schutzhelm ebensowenig verzichten zu können wie auf wasserdichte Oberbekleidung.

Die nachfolgenden Überlegungen wollen nun den Rahmen nicht sprengen (gesprengt wird ohnehin genug!), sondern sich mit Phänomenen abgeben, die vornehmlich in jener trauten Gemeinschaft naher Anverwandter eine Rolle spielen. Es drängt dahin um so mehr, als jedes Jahr im Dezember auch notorische Einzelgänger zu Rückerinnerung und -besinnung an die Idylle früherer Tage bereit sind.

Eine solche Betrachtung geht auch literarisch in Ordnung. Denn von „Krieg und Frieden" bis zu den „Buddenbrooks“ zieht sich der Familien-Frieden wie ein roter Faden durch die Geschichte, die ja als solche auch keinen Halt vor der Familie macht. Doch ist das Verhängnis nicht weit; denn mit einer ausreichenden Menge roten Fadens läßt sich vortrefflich das rote Tuch weben, das mancher flattern sieht, wenn die Sprache auf seine Familie kommt.

Was also, so muß der Chronist fragen, hat es mit Frieden und Familie auf sich; wie kommt es, daß einer weitverbreiteten Wertschätzung der Familie bei Wintersanfang eine tiefe Skepsis während und nach familiären Treffen gegenübersteht? Die Antwort ist einfach, was sie ungemein schwierig macht Es muß verwundern, daß die unter wechselnden Etiketten systematisch forschenden Wissenschaften die Wahrheit nicht eher ans Licht befördert haben. Aber auch, wenn das Ergebnis privater und unentgeltlicher Familien-Friedens-Forschung entstammt, so muß es lebenden und künftigen Generationen ohne Umschweife mitgeteilt werden: Schuld an allem ist der Nikolaus!

Unter dem Gesichtspunkt der Friedenserziehung sollte zwischen innen-und außenpolitischen Nikolaus-Aspekten sauber unterschieden werden. Erinnern wir uns: Der Nikolaus ist vielen in seiner säkularisierten Version als Weihnachtsmann gegenübergetreten. Im Le-xikon, knapp hinter „Weihnachtsgratifikation"

rangierend, ist der Nikolaus-Weihnachtsmann besonders im nördlichen Deutschland der weihnachtliche Gabenbringer, der in rotem (!)

Mantel mit Pelzbesatz durch die winterliche Nacht streift, um dann an die Tür des mit Kindern gesegneten Hauses zu klopfen.

Seit dem Mittelalter tritt Nikolaus bereits am 6. Dezember, dem Tag des Kinderbischofsspiels (ludus episcopi puerorum), in Aktion.

Und um diese seine Aktion geht es, wenn wir seine Rolle in der Friedenserziehung kritischem Fragen — heute auch: Hinterfragen — unterziehen.

Denn zweifelsfrei verfolgt Nikolaus seit jeher, was andere, wie zum Beispiel die Nordatlantische Allianz, ihm abgeguckt haben: eine glasklare Doppelstrategie. Wer sich lieb gebärdet, kann mit ihm rechnen und wird belohnt; wer es an Einsicht fehlen läßt, geht leer aus. Nicht einmal Verhandlungen läßt er danach zu.

Doch auch die im Warschauer Pakt tonangebende Macht braucht sich nicht zu grämen, denn Nikolaus verfügt im übertragenen Sinn auch über ihr Konzept: Zuckerbrot und Peitsche sind sein jahrhundertelang erprobtes Alternativprogramm.

Bedrückend und wahr ist die immer wiederkehrende Erkenntnis: Das alles geschieht auf dem Rücken der Kinder, ganz gleich, wo sie zu Hause sind. Die Kinder sind es auch, die das Programm behutsam ändern könnten, schrittweise bis hin zum Kompromiß. Aber bis sie das begriffen haben, sind sie selber groß, haben selber Kinder, verbünden sich mit dieser pelz-besetzten fremden Macht — und das Spiel beginnt von neuem. Das Glück will es, daß viele Väter ihren Kindern ihre Wünsche erfüllen, und so kommt es zur Freude mindestens zweier Beteiligter oftmals doch noch zur elektrischen Eisenbahn (meist Schmalspur). Entscheidend aber bleibt die Angst, die man vor Feuer und Wasser, niemals aber eigentlich vor Menschen haben sollte. Sie bleibt — gründlich angelegt —; denn zu den Eigentümlichkeiten menschlicher Existenz gehört es ja, daß man sich von der Kindheit höchstens ein paar Dutzend Jahre entfernt. Kein Wunder also, wenn so ein Nikolaus für das ehemalige Kind ein Leben lang eine Rolle spielt.

So betrüblich sich nun das falsche Wirken eines eben solchen Nikolaus ausnehmen mag — die eher außenpolitischen Aspekte seines Auftretens geben nicht minder Anlaß zu sorgfältiger Kritik. Erstmals nachgewiesen ist Nikolaus in der Person, und, wie wir annehmen dürfen, Persönlichkeit des Nikolaus von Myra in der heutigen südlichen Türkei, wo er im frühen 4. Jahrhundert als Bischof gewirkt haben muß. Die Verehrung des mittlerweile Heiligen breitet sich über Konstantinopel über Griechenland nach Rom aus. Aber auch Rußland schließt sich dieser Bewegung an, und schließlich weiß auch der Rest Europas, was er an ihm hat. Mit dem Ergebnis, daß wir heute vor einer Vielzahl von recht unterschiedlichen Modellen stehen, die sich von der Stammfigur oft weit entfernt haben. Da wirkt Papa Noel neben Sinta Klaas, und der Weihnachtsmann alias Nikolaus tritt andernorts als Father Christmas in Erscheinung und vor die Kinder.

Die Europäische Kommission hat das Problem bisher nicht aufgegriffen; aber auch ohne sie wird es wohl nicht zur Standardisierung kommen. Es bleiben also unterschiedliche Systeme im Einsatz, die man angesichts ihres Wirkens an der Basis auch als „forward based" ansehen kann.

Auch auf Ikonen ist Nikolaus dargestellt, und als Väterchen Frost darf er wohl mit stiller Duldung heute noch vor jungen sozialistischen Persönlichkeiten sein Wesen treiben.

Nicht zu vergessen ist eine ganz und gar heidnische Version, die den Mann aus Myra gar nicht nötig hatte: der Tomte in Schweden besorgt — tatkräftig unterstützt von den kleineren Tomtenissar — die seinen christlichen Vettern aufgetragenen Amtsgeschäfte. In der Jugendarbeit tätig sind sie alle, und sie täten im Verein mit den vereinten Eltern gut daran, Verständnis, Toleranz und Liebe in den ohnehin viel zu kalten Abenden zu zeigen und zu beweisen.

Banale Sonderheiten sind beobachtet worden und sollten auch hier nicht unterschlagen werden. Wie in der Politik, so ist auch im Weihnachtsgeschäft niemand vor Nachahmung sicher. Weihnachtsmänner gibt es ab Sommerschluß stets bald auch aus Schokolade. Und wie der Zufall es will, gibt es weder in den Herstellerfirmen noch im Lebensmittelgesetz einen Unterschied zwischen dem Weihnachtsmann und dem Osterhasen. Wie Friedensforscher nun mal sind, vernachlässigen sie neben dem Nikolaus auch den Osterhasen und richten ihr Augenmerk viel stärker auf den Ostermarsch. Das leuchtet andererseits ein, denn im Gegensatz zum Weihnachtsmann ist der Osterhase durchweg unbewaffnet.

Da dies bei Freund Nikolaus erkennbar nicht so ist, da die für böse Buben zu Abschrekkungszwecken konzipierte Rute ihre Wirkung trägt (sie ist schon von daher Trägerwaffe), ge35 hört Nikolaus ab sofort ins Spektrum friedensforscherischer Tätigkeit. Bedeutungsschwer aber ist der nikolausige Gesamtkomplex für die friedenserzieherische Praxis. Er ist bei Licht besehen sogar ein didaktischer Idealfall. Denn am Beispiel Nikolaus haben wir sozusagen auf einem Haufen alles, was die Strategie unserer Tage so schwierig macht. Da gibt es die Rute, die — wie bereits festgestellt — als Trägerwaffe an in SALT vereinbarte Obergrenzen stößt Andererseits ist sie nur über Kurzstrecken (Armlänge) einsetzbar und verschafft dem Angegriffenen so gut wie keine Vorwarnzeit. Sie verschwindet zugleich vor wie nach Gebrauch im hanffarbenen, sauber gearbeiteten Sack, was für jeden Außenstehenden ungeheuerliche Verifizierungsprobleme aufwirft. Der Gabensack selbst ist kein Einsatzsystem, dient aber im wesentlichen der Verschleierung geplanter Aktionen. So erlaubt er seinem Besitzer jederzeit, während der jahreszeitlich bedingten Klänge eines Oratoriums ein Moratorium hervorzuzaubern. Der Sack kann aber neben solch unverbindlichem Beiwerk ebensogut auch wirkliche Angebote enthalten, die bei allen Beteiligten das Weihnachtsfest wirklich zu einem solchen machen würden. Man könnte gar einen Schritt weiter gehen. Was wäre denn, wenn Nikolaus und Kollegen ganz und erkennbar auf den Gebrauch der Rute und die Androhung des rüden Rutengebrauchs ein für allemal verzichten würden?

Dann — so muß man nach aller Erfahrung vermuten — würden Diplomaten das berühmte Verifikationsproblem in den Mittelpunkt ihrer weiteren, über Jahre geplanten Beratungen stellen. Und am Ende käme man auch dort zu der Einsicht, die gelegentlich den Friedensforscher überfällt, kurz bevor er resignierend sein Geschäft aufgibt; der Einsicht nämlich, daß, solange der Sack da ist, auch das Mißtrauen bleibt, er könne — wie in alten Zeiten — die Rute bergen.

Was tun? So hatte sich einst auch Lenin gefragt und war leider zu keiner sehr vernünftigen Antwort gelangt. Nun, es gibt da nicht viel zu tun. Die Antwort, die das Leben erteilt, lautet schlicht: Man kann nur alles haben oder nichts. Der Sack des Nikolaus ist da mit all den schönen Gaben. Doch wenn man den Guten zu winterlicher Zeit ins eigene Heim läßt, dann hat man auch den potentiellen Rutenschwinger im Haus.

Kann sein, daß langfristige Strategien übers Gröbste hinweghelfen. An eine kooperative Nikolaus-Steuerung wäre zu denken, oder an eine Verringerung der Gesamtzahl in allen Ländern, wobei die Schwierigkeit schon darin liegt, die genaue Zahl und Dislozierung der Väterchen Frost zu ermitteln.

Doch vielleicht hilft dies weiter: Nicht die Rute selbst ist ja das eigentlich Gefährliche. Weitaus gefährlicher ist die Hand, die sie schwingt — und davor noch der dazu notwendige Prozeß im Hinterkopf. Hier kann man doch ansetzen.

Notwendig also ist ein Treffen maßgeblicher Nikoläuse auf hoher Ebene. Sie werden die Säcke vor der Tür abstellen, sie werden ihre Mäntel ablegen, vielleicht den einen Scotch oder den anderen Wodka trinken (oder beides), sie werden vor allem viel, viel Zeit benötigen, so daß manche Kinder sicher unruhig werden. Aber immerhin — dies macht sie doch eigentlich menschlich. Ein Grund mehr, sie (und sich) keinen Tag länger mehr zu fürchten!

Fussnoten

Weitere Inhalte

Armin Halle, geb. 1936, Informationsdirektor der NATO in Brüssel. Im Rahmen eines Lehrauftrags an den Journalistenschulen in München und Zürich behandelt er u. a. das Thema „Die Glosse — der satirische Meinungsbeitrag". Rainer Collasius, geb. 1929; Verwaltungsjurist bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Vieljährige Beiträge zum Haushaltsvollzug. Monographie „über die Verwaltung von Angelegenheiten", Parkinson-Verlag, 1971. Doro Zinke, M. A„ geb. 1954; z. Zt.freie Mitarbeiterin bei der „Beilage"; entwickelte das Konzept und besorgte die Zusammenstellung dieser Ausgabe; Autorin der namentlich nicht gekennzeichneten Beiträge (Limericks, redaktionelle Bemerkungen, Mündliche Anfrage, Kehrseite).