Kein Zweifel: Wie stets, muß man auch hier den Dingen auf den Grund gehen. Nur Differenzierung kann zu erstaunlich überraschenden Ergebnissen führen. Schließlich muß die Frage erlaubt sein, inwiefern eine verehrungswürdige Gestalt, die keineswegs nur peripher die Institutionalisierung und Überlieferung bedeutender Glaubensgemeinschaften beeinflußt hat, sich in der aktuellen Ausfaltung und gegenwärtigen Rezeption dieser Überlieferung tatsächlich auch wiederfindet. Um es vorwegzunehmen: Die von der Redaktion schlau formulierte Themenfrage führt uns in mehrere, kaum überschaubare Dilemmata.
Zunächst müssen wir unterscheiden: Da ist zum einen der große Heilige in der Gestalt der legendenhaften, gleichwohl doch historischen Überlieferung; zweifellos ein Sozialethiker von hohen Graden, der die Hilfs-und Ergänzungsbedürftigkeit des Menschen in Gesellschaft, ganz gewiß ausgehend von einem normativ vorgegebenen anthropologischen Verständnis („Menschenbild"), ernst nahm wie ein anderer ihm mit kaum und den gegebenen natürlichen und übernatürlichen Möglichkeiten Beispiele sozialer Gerechtigkeit und sozialer Liebe gab, welche die Nachwelt rühmt bis auf den heutigen Tag: geradezu eine vorweggenommene Inkarnation christlicher Ethik und natürlich auch katholischer Soziallehre. Da ist aber zum anderen auch die sozial wirkmächtige Überlieferung des Brauchtums mit seinen partiell heidnischen Zutaten, welche die zweifelsfrei ursprüngliche, wenngleich auch nicht kritik-und maßstablose Güte durch vordergründige Elemente der Inquisition, des Zornes und der Strafe verfremdete — oder, weil es ja letztlich doch immer gut ausgeht, wenigstens durch die Drohung mit all dem. Sicher dominiert im säkularisierten und in diesem Falle gar nicht so übermäßig rationalen Alltagsverständnis unserer Zeit dieses, um die Dimension des einschüchternd kettenrasselnden Knechtes Rupprecht (im Süden auch: Grampus) erweiterte Nikolausbild. Politische Bildung sieht sich hier ohnehin bereits grundsätzlich herausgefordert; denn ständig steht sie vor dem Problem zu klären und zu vermitteln, inwiefern unsere Vorstellungen von Wirklichkeit nicht nur auf dieser selbst beruhen, sondern auch konstruiert werden durch unsere Vorstellungen über das, was Wirklichkeit sei — ohne daß es stets wirklich Wirklichkeit sein muß.
Wie wirklich ist also der heilige Nikolaus im Kontext sozialethischer Aussagen? Verhelfen uns solche Aussagen, zumindest in oberflächlicher Beweisführung, zu einer Rekonstruktion des Nikolausbildes ohne verfremdendes Beiwerk? Wie wäre der heilige Nikolaus als didaktisches Prinzip sozialer und politischer Bildung aus dem Wurzelboden der hier ausschlaggebenden Weltanschauung geeignet?
Fragen über Fragen, die die Redaktion dieser Zeitschrift sich zuerst hätte überlegen sollen, bevor sie den potentiell wegweisenden Gehalt der Antworten dadurch willkürlich beschnitt, daß sie ein derart bescheidenes Zeilenkontingent zuwies und damit die Notwendigkeit begründete, Reichweite und Tiefgang der Analyse justament stets dort jäh und schmerzlich abzubrechen, wo es sich lohnte, weiter zu fragen, ja, wo sich Ideen zu — selbstverständlich mit öffentlichen Mitteln zu subventionierenden — Forschungsprojekten schier unabweisbar aufdrängen. Die dieses Periodikum tragende Institution hat es zu verantworten — und wie sie in dieser Hinsicht mit sich ins Reine zu kommen gedenkt, ist absolut nicht zu sehen —, daß wesentliche Erkenntnisquellen ungenützt bleiben, wenn nicht sogar für immer zugeschüttet werden müssen Wir stehen vor der demokratischen Paradoxie, daß politische und staatliche Institutionen immer wieder am bonum commune am Gemeinwohl, wie es selbstverständlich richtig zu verstehen wäre, vorbeiagieren. Nicht die Behörden, sondern die Frontkämpfer politischer Bildung sollen dann jeweils subsidiär die Scher-ben kitten. Zugleich aber wird ihnen die solidarische inhaltliche Diskussion über ihre restriktiven Arbeits-und Forschungsbedingungen mit fiskalischen Argumenten verweigert.
Zu Nikolaus wird man das in aller Ruhe und mit einem gewissen Mut konstatieren dürfen — zumal in einem Haushaltsjahr wie diesem ohnehin keine Hoffnung mehr besteht, im abgeschlafften Sack des Knechtes Rupprecht könnte sich noch wenigstens ein winziges, jedoch hübsch verpacktes Subventiönchen verbergen. Nicht einmal mehr Hilfe zur Selbsthilfe kann erwartet werden.
Damit sind die Prämissen — die normativ-ontologische Orientierung, die Dimensionen des Themas und die restriktiven Bedingungen für seine Bearbeitung — offen gelegt. Solchen Vorklärungen breiten Raum einzuräumen, wodurch die eigentlichen Klärungen nicht mehr so dringlich erscheinen, ist eine längst allgemein akzeptierte Verfahrensweise. Gleichwohl läßt sich die Sache selbst niemals — auch hier nicht — gänzlich umgehen.
Sie anpacken heißt, wie einleitend bereits bemerkt, von einem Dilemma ins andere stolpern. Schon zu Beginn tut sich die Kluft zwischen Norm und Realität auf — natürlich in schier unüberbrückbarer Weise. Zu fragen ist nämlich — auf der angesprochenen Ebene des Alltagsverständnisses — nach der pädagogischen Instrumentalisierung unseres Heiligen:
Sie geschieht bekanntlich aus Insuffizienz familialer Sozialisationsagenturen, weil elterliche Verantwortungsträger ihre über das Jahr akkumulierten Erziehungsprobleme im weich-gestimmten Umfeld weihnachtlichen Friedens sozusagen mit einer einzigen, massiven pädagogischen Intervention der Lösung näher zu bringen hoffen, motiviert durch zuwendungsbeflissenen Nachdruck: buchstäblich mit Zuckerbrot und Rute. Instrument dafür ist eine aus vergangenen Jahrhunderten herübergeholte, durch Brauchtum überlieferte Kunst-figur, die sich vom historisch-legendären Vorbild längst abgehoben und verselbständigt hat.
Der Vorgang ist — hart gesagt — ein pädagogischer Offenbarungseid. Er ist auch keineswegs gerechtfertigt vor der hier mitheranzuziehenden Konzeption katholischer Soziallehre, die gerade in Erziehungsfragen strikt von der Priorität, fast scheint es: der Autonomie der Familie, gerade bei der Vermittlung humaner Werte und Verhaltensmuster, ausgeht und das Postulat der Erziehung zur Selbständigkeit erhebt: Hilfe zur Selbsthilfe
Durch Zuckerbrot und Rute? Durch Intervention von außen? Schon die allererste Frage führt uns in Fundamentalwidersprüche zwischen Autonomie und Außenleitung, zwischen Unterdrückung und Selbständigkeit.
Ohne Zweifel widerspricht die Soziallehre hier der Sozialpraxis — ein Feld politisch-sozialer Bildung tut sich auf mit dem Ziel, einer segensreichen Doktrin zur praktischen Anwendung zu verhelfen. Wäre das das Ende für den heiligen Nikolaus? Immerhin läßt sich sein Einsatz auch durch das Subsidiaritätsprinzip nur schwer rechtfertigen, weil die Gemeinschaft nötigenfalls immer nur natürlichen Beistand zu leisten in der Lage ist und für sich niemals Grund und Ursache übernatürlicher Intervention sein kann, als welche die Mission des heiligen Nikolaus den betroffenen Educanden ja vorgestellt wird. Die Rechtfertigung durch die katholische Soziallehre hört hier auf.
Aber so einfach liegen die Dinge nicht Denn wenn wir auf der andern, der historisch-legendären Ebene weiterfragen, müssen wir bestürzt feststellen, daß der große Heilige, ethisch gewiß hoch motiviert, die Autonomie der Familie nicht achtete und ungefragt gegen den erklärten Willen elterlicher Gewalt gute Werke verrichtete: So warf er nächtens und klammheimlich einem sozial schwachen Vater dreier Töchter sukzessive so viel Geld ins Fenster, daß diese Zug um Zug verehelicht werden und die zuvor aus der Not geborene väterliche Strategie, „sie sollten sich durch ihre unlautere Preisgebung ihr Brot verdienen" wieder aus dem Verkehr gezogen werden konnte. „Durch dieses Werk der Barmherzigkeit war der Vater samt den Töchtern vom zeitlichen und ewigen Untergange gerettet." Gewiß — aber heiligt der Zweck die Mittel? Dem Systematiker bleiben hier durchaus Fragen offen; schließlich hätte man den Mann ja fragen können, ob er sich helfen lassen wolle, um seiner autonomen Entscheidung wenigstens eine Chance zu lassen. Die letzte Klärung überlassen wir den prominenten Söhnen der Gesellschaft Jesu, deren geschliffenem Intellekt mit Sicherheit eine Versöhnung zwischen moral-theologischer Sorge und sozialethischer Lehre gelingen wird. Tatsache ist jedoch, daß sich der große Heilige, Künftiges nicht vorausahnend, neben den Buchstaben — sicher nicht neben den Geist — der Doktrin gestellt haben könnte. Natürlich wird die alles heilende Lösung in den normativ-ontologischen Prämissen zu finden sein Aber unbestreitbar bleibt, daß Nikolaus, nach unzweifelhafter Überlieferung männlichen Geschlechts, sich mit solchen Aktionen in einen Bereich vorgewagt hat, der ganz besonders der Wesensverwirklichung der Frau vorbehalten sein soll
Legende, Lehre, Leben — sie greifen, so unser Fazit, nicht in eins. Zumindest nicht auf den ersten Blick
Um zu prüfen, wie es sich mit Legende und Leben, der Nutzanwendung der Überlieferung und heutigem Alltagsverständnis also verhält, greifen wir am besten einen die Menschheit offenbar zeitlos begleitenden Tatbestand heraus, bei welchem auch kirchliche Kompetenz und Verantwortung von niemandem vernünftigerweise geleugnet zu werden pflegt: Not und Hunger. Wie das Problem lösen? Nikolaus löste es scheinbar distributiv: Mit vagen Versprechungen luchste er anläßlich einer Hungersnot einem Schiffsherrn etliche Sack Korn ab und verteilte sie unter die Hungernden. Damit scheint er up to date. Denn „Distributionismus" charakterisiert auch die Enzyclica Populorum Progressio und die Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, wie Oswald von Nell-Breuning kritisch bemerkt: Entwicklungshilfe als „auf die politische Ebene übertragenes bischöfliches Hilfswerk , Misereor" 10). Nell-Breuning vermißt die ethische und sozialpädagogische Tiefe und Konsequenz. Wir finden sie bei Nikolaus: nicht nur dem Schiffsherrn fehlte, am endgültigen Bestimmungsort eingetroffen, kein einziges Lot Korn — trotz seiner großzügigen Spende; auch die Beschenkten konsumierten nicht nur, sie säten auch aus — und hatten den Hunger gebannt. Das heißt: die Hilfe schadet dem Helfenden nicht, und sich als edelmütiger Wohltäter aufzuspielen ist „pharisäerhafte Heuchelei" und zur Beförderung der „vollmenschlichen Entwicklung"
gehört vor allem die Befähigung zu Selbsthilfe und Wandel.
Der Nikolaus als didaktisches Prinzip: Grundwert Leben, Freiheit von Not, Einsatz für die unvergleichliche Würde des Menschen. In der Tat fallen hier die Legende und die Soziallehre in eins, läßt sich diese doch „auf einen Fingernagel schreiben" weil sie nichts . anderes darstellt als eine christliche Anthropologie.
Hier wird die Analyse offensichtlich zu ernst und muß aus den oben ausführlich dargelegten Gründen unzureichender Förderung schleunigst abgebrochen werden.
Uns bewegt noch eine letzte Frage — keine Angst nicht die, ob angesichts des vielfach unterstellten Wandels der katholischen Soziallehre von antisozialistischen zu prosozialdemokratischen Tendenzen die Katholiken selbst vor ihr in Schutz genommen werden müßten. Natürlich nicht; zu werben wäre vielmehr für sie, weil sie parteilich nicht zu vereinnahmen ist. Und stünden nicht schon so viele in der Schlange, könnte Johannes XXIII.
Vorschlag, ein entsprechendes Unterrichtsfach einzurichten, genial sein — wie alle diese Vorschläge. Nein, es ist ein anderes, schreckliches Problem: Ist nicht die Soziallehre längst in die gewissenlose Hand volksverderbender Emanzipationspädagogen und Aktionisten gefallen, wenn sie verlangt, Erziehung müsse „die Fähigkeit wecken zu kritischem Nachdenken über unsere Gesellschaft und über die in ihr geltenden Werte sowie die Bereitschaft, diesen Werten abzusagen, wenn sie nicht mehr dazu beitragen, allen Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen" und dazu auffordert, entsprechend zu handeln )? Befördert sie gar den „neuen Sozialisationstyp", die Aussteigermentalität, wenn sie dieser geschäftigen Welt eine „ganz und gar menschliche Lebensweise in Gerechtigkeit, Liebe und Einfachheit" entgegenhält? Heiliger Nikolaus, hilf! Doch weit gefehlt. Schicken Sie mal einen Nikolaus auf die Alternativszene! Aber die Legende? Gibt sie gar nichts her? Sicher wider die Emanzipation von allen Ordnungen: Sünder sind die Menschen, die er zur See aus Sturmgefahr er-rettet und aus Not befreit, allemal. Es bleibt nicht ungerügt. Und die Selbsterkenntnis ..... gebet Gott die Ehre, ich bin ein armer Sünder" unterscheidet sich gewaltig von der Stimmlage politisch-pädagogischer Diskussion.
Schicken Sie mal den Nikolaus auf die Alternativszene? Er kommt von da, alternativ in mehrfacher Hinsicht:, Als Knabe und Jüngling besuchte er auf das fleißigste den Unterricht, floh aber alle Gemeinschaft mit ausgelassenen und frechen Jünglingen, noch viel mehr mit dem weiblichen Geschlechte. Er mied auch die bösen Gelegenheiten, züchtigte seinen Leib mit Fasten, Wachen und Bußgürteln und las nur solche Bücher, die ihm zur Tugend oder Wissenschaft dienen konnten ... Er übte mehrere und strengere Bußwerke; aß täglich nur einmal, und zwar nie Fleisch und nahm seine Nachtruhe eine kurze Zeit nur auf einem Strohsacke...'' Aber er wandte sich den Menschen zu: kraftvoll und hilfreich und verkroch sich nicht in Narzißmus, versenkte sich nicht in Schmerz und Lebensangst: alternativ — aber kein neuer Typ. Heute vielleicht: ein unkonventioneller Protestler.
Ob er kommt am 6. Dezember? Die Frage scheint noch offen; nicht nur wegen der ungeklärten Dynamik auf der „Szene". Noch ist die Disputatio nicht zum Abschluß gekommen, ob nach den Grundsätzen der Soziallehre diesmal als Mitbringsel im Sack ein Beschäftigungsprogramm oder ein Sparpaket zu stecken hat. Und überhaupt: Ist es opportun, heuer einen Sack nach unten mitzunehmen? Es könnte ja sein, daß aus purem Zorn auf dem Rückweg der eine oder andere politisch Verantwortliche drinnensteckt, der es im übrigen gar nicht zu verdienen bräuchte, jetzt und auf diese bequeme Weise irdischen Schwierigkeiten zu entkommen.