Sozialismus ist nicht nur eine ökonomische Theorie, eine politische Organisation oder die Gesellschaft der Zukunft, sondern zugleich auch eine Kulturbewegung. Das allzu selbstverständlich Gewordene nicht als selbstverständlich nehmen, sondern prüfen, aufgreifen, verändern oder verwerfen ist ein sozialistischer Lebensgrundsatz. Er gilt für die große Politik ebenso wie für die kleinen Dinge des Alltags, die Verkehrsformen, den Umgang der Menschen miteinander, die Beziehungen der Eltern zu ihren Kindern, für die Erziehung insgesamt. So ist es kein Merkmal von schlechter Erziehung, wenn Buben aus sozialistischen Familien keinen „Diener" machen und Mädchen keinen „) *Knicks". Im Gegenteil: Darin dokumentiert sich die Ablehnung unterwürfiger Höflichkeit und der Anspruch auf Gleichheit aller Menschen, wenigstens im täglichen Umgang. Einst bäumte sich die bürgerliche Klasse in ihrem Emanzipationskampf gegen die Lebensformen und die Kultur des Adels auf. Knigge wollte mit neuen Umgangsformen das Selbstbewußtsein der Bürger gegenüber dem Adel stärken und das Ende der höfischen Höflichkeit einleiten. Sein Aufruf verhallte. Er wurde zum Tischsittenpapst degradiert, als sich das Bürgertum im Preußen-Deutschland der Junker und Fürsten des 19. Jahrhunderts darin gefiel, dekadente Adligkeit nachzuäffen. Viele kulturelle Emanzipationsbestrebungen des liberalen Bürgertums erstickten im biedermeierlichen Mief kleinstädtischer Wohn-und Weinstuben.
Die klassenbewußte Arbeiterschaft, überzeugt, daß sie einstmals die politische und ökonomische Entwicklung bestimmen werde, lehnte sich ihrerseits gegen Lebensformen der Bürger auf, wollte die guten Traditionen in Kultur und Literatur für sich bewahren, verwarf aber alles Abgestandene, Verlogene und Untertänige, auch in der Erziehung.
Der Nikolaus, der Schutzpatron der Kinder und Schüler, ist eine Symbolfigur pädagogischer Gegenaufklärung. Alljährlich kommt er mit Sack, Rute und kleinen Geschenken als allmächtiger Übergroßvater in die Wohnungen. In seiner unangreifbaren absoluten Autorität straft er die Bösen und lohnt die Braven mit Zuckerbrot und Rute, mit Kopfnüssen und Walnüssen. Kinder fallen in ängstliche Erregung, wenn er, stellvertretend für die Eltern, warnend den Zeigefinger hebt, dem er mit dem Verweis auf seine metaphysische Existenz bedrohlichen Nachdruck verleiht. Sein schwarzer, furchterregender Begleiter, Knecht Ruprecht, Krampus, Hans Muff, Schwarzer Pitt, Düvel, Pelzebub oder wie immer er auch genannt wird, die mit Ketten gefesselte Teufelsgestalt, soll den Kindern Angst einjagen und die höllischen Strafen für ungebührliches Betragen anschaulich und real machen. Mit Lohn und Strafe, den uralten Mitteln, Kinder zu dem zu machen, was sie nach dem Willen ihrer Eltern sein sollen, erschöpft sich denn auch schon die pädagogische Phantasie der Nikolausfigur. Und viele Eltern sind befriedigt darüber, daß wenigstens einmal im Jahr jener Mann die Wohnung betritt, der ihre im Laufe des Jahres oft vergeblichen Ermahnungen rechtfertigt und ihnen gleichsam ex cathedra Petri Weisheit und Unfehlbarkeit bescheinigt.
Der Nikolaus wird so zu einer wichtigen Figur im Prozeß pädagogischer Selbstrechtfertigung, die der weitverbreiteten Unsicherheit über Erziehungsnormen und -methoden begegnen soll. Daß die jährlichen Szenen mit Nikolaus und Schwarzem Pitt in den deutschen Familien mit kleinen Geschenken aus dem Sack des alten Mannes dennoch meist versöhnlich enden, ist der Wechsel auf die Zukunft, auf den die Eltern glauben, Wohlbetragen ihrer Kinder für die nächsten Wochen einlösen zu können.
Als pädagogisches Fazit des Nikolaustages bleibt: Es ist der Versuch, das Verhalten von Kindern über Lohn, Strafe und Angst, vermittelt über eine metaphysische Autorität, zu formen. Sozialistischer Erziehungsauffassung widerstrebt eine solche Pädagogik zutiefst. Clara Zetkin, die Expertin für Bildungs-und Erziehungsfragen in der Arbeiterbewegung um die Jahrhundertwende, forderte in ihrer grundlegenden Rede vor dem Parteitag der SPD im Jahre 1906, daß eben diese Elemente aus der Erziehung in sozialdemokratischen Arbeiter-familien herausgehalten werden müßten. Bei aller Notwendigkeit, daß sich Kinder in Familie und Gemeinschaft einfügen, fordert sie eine „Erziehung zum Gebrauch der Freiheit", die „nimmermehr erwachen kann, wenn die Eltern den Kindern gegenüber in starrer Autorität stehen, wenn sie diese zwingen, statt sie zu führen und zu überzeugen". Sie knüpft an der Pädagogik der Aufklärung an, wenn sie für die Erziehung fordert, „allmählich in der Betrachtung der Natur und aller natürlichen Dinge jeden übersinnlichen, außerhalb der natürlichen Welt stehenden Einfluß auszumerzen und auszuscheiden." Erziehung zur Freiheit in der Gemeinschaft und Befreiung aus der metaphysischen Unmündigkeit sind nicht spezifisch sozialistische Forderungen. Sie sind die konsequente Fortführung der Ansätze bürgerlicher Aufklärung, die das liberale Bürgertum verraten hatte, die die Arbeiterbewegung für sich aber bewahren wollte.
Und wie steht es heute mit dem Nikolausritus?
Nach den Stutenmännern zu Martini werden die Schaufenster mit Nikoläusen dekoriert.
Ein kleines Vorweihnachten, an dem sich die Geschenke zum Verdruß der einschlägigen Industrie in beschränktem Rahmen halten müssen. Stärker wie nie zuvor normiert und gestaltet die Geschenkindustrie die Feste und Feiern bis in die Familien hinein. Wie ein tausendarmiger Polyp greift der industriell-feierliche Komplex in alle Nischen des privaten und öffentlichen Lebens, verwirrt die Wünsche und will Freude an profitträchtigen Waren schenken.
Doch das ist nur die eine Seite des Nikolaus-festes. Gegen die Allmacht der Geschenkindustrie werden sich die Familien zwar wehren können, sie zu besiegen, bedarf es anderer Mittel. In der Veränderung des pädagogischen Mummenschanzes des Nikolausfestes können sie wirksamer sein.
Die Kinder glauben nicht mehr an Märchen und sind doch von ihnen fasziniert. Sie glauben auch nicht an die Maskerade des Nikolaus, und dennoch machen sie ängstlich gespannt das Rollenspiel mit. Sie erkennen in seinen Ermahnungen die Wünsche ihrer Eltern und sind doch von der Allwissenheit des Nikolaus betört.
Diese Eigenart kindlichen Weltverständnisses zur autoritären Durchsetzung elterlicher Erziehungswünsche zu mißbrauchen, wäre infam. Soll deshalb das Nikolausfest abgeschafft werden? Nein. Es kann nicht darum gehen, den Kindern eines ihrer Feste zu nehmen. Aber es sollte verändert werden: den Nikolaus von seinem autoritären Sockel stoßen und ihn seiner Metaphysik entkleiden!
Könnte der Besuch des Nikolaus am 6. Dezember nicht Anlaß sein für einen vergnüglichen, lustigen Spielabend in der Familie? Sollte sich nur der Nikolaus verkleiden dürfen und nicht auch die Kinder? Kann es nicht ein Abend werden, an dem sich die Eltern ganz ihren Kindern widmen, an dem Familie mehr ist als eine Fernsehgemeinschaft? Kindern würde dazu manches einfallen. -
Die vom Himmel gesandte Heiligenfigur wäre dann ebenso überflüssig wie Rute und Angstmacherei und der aus der Hölle aufgestiegene, gefesselte Satan als Inkarnation des Bösen und des mit Verdammnis bestraften Ungehorsams! 22 Werkvertrag und Grundwerte 47 2 Ein politischer Bildner aus Schwerte 2 7 entdeckte grundlegende Werte 9 59 wie: Freiheit, Nation ...
2 Jetzt bekommt er Stücklohn $für die, die er einzeln bekehrte.
2 7 D. Z. 9 '_ _ _ _ 2