Faßt man die Etappen außenpolitischer Machtentfaltung ins Auge, welche die Sowjetunion seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zurückgelegt hat, so treten drei Entwicklungsabschnitte zutage, die sich deutlich voneinander unterscheiden. Diese aufeinanderfolgenden Perioden sind eng mit den Namen Stalin, Chruschtschow und Breshnew verknüpft, ja sie decken sich praktisch mit den Regierungszeiten der genannten Parteichefs. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß in der Sowjetunion die Parteiführung das Land regiert, nicht etwa der Ministerrat. Auch alle wichtigen außenpolitischen Entscheidungen werden vom Politbüro der KPdSU (das sich von 1952 bis 1966 als KPdSU-Präsidium bezeichnete) getroffen. Das Außenministerium wirkt nur bei ihrer Vorbereitung mit, ist allerdings anschließend weitgehend für die Durchführung solcher Beschlüsse sowie für die Wahrnehmung aller diplomatischen Routine-aufgaben verantwortlich. Daß Außenminister Gromyko im April 1973 ins Politbüro aufgenommen wurde, stellte ein Novum in der Geschichte der Sowjetunion dar.
Mit dem Prozeß der Ablösung der Stalin-durch die Chruschtschow-Ära sowie der Chruschtschow-durch die Breshnew-Ära ging nicht nur eine fortgesetzte, sowohl politisch als auch militärisch bedeutsame Gewichtszunahme der UdSSR in der internationalen Arena einher, sondern diese Übergänge waren jedesmal auch mit wesentlichen, den Großmachtstatus der UdSSR betreffenden Qualitätsveränderungen verbunden. Unter diesem Blickwinkel bestand die historische Leistung Stalins vor allem in der Errichtung des Sowjetimperiums durch Zusammenfassung der unter den Einfluß Moskaus geratenen Gebiete Ost-mittel-und Südosteuropas mit der UdSSR und der Mongolischen Volksrepublik zu einem Großreich neuen, „sozialistischen" Typs. Darüber hinaus schuf Stalin durch Ingangsetzung einer eigenen Atombombenproduktion die materielle Basis für die Supermacht-Ambitionen der Sowjetunion, die sich damit zugleich Vor die Aufgabe gestellt sah, den gewaltigen Vorsprung der USA auf diesem Felde in mög-
ichst kurzer Zeit aufzuholen.
In der Chruschtschow-Ara erlangte die UdSSR dann die für eine Supermacht kennzeich35 nende Fähigkeit, jeden potentiellen Gegner mit ihrem eigenen Kernwaffenarsenal zuverlässig vernichten und somit auch wirklich abschrecken zu können. Allerdings zeigte der Ausgang der Kuba-Krise im Oktober 1962, daß die Sowjetunion damit noch keineswegs den Rang einer im Verhältnis zu den USA global konkurrenzfähigen Weltmacht erreicht hatte -Zur Bewältigung dieser Aufgabe wurden in der Breshnew-Ära mit neuem Eifer alle verfügbaren Kräfte mobilisiert. Dazu gehörte die Errichtung einer erdumspannenden Infrastruktur, die es der Sowjetführung seither gestattet, ihre konventionellen und nuklearen Machtmittel praktisch weltweit zur Geltung zu bringen. Auf.dem ersten Breshnew-Nixon-Gipfel (Moskau, Mai 1972) setzte die sowjetische Seite die vertragliche Absicherung der von ihr bis dahin weitgehend erreichten Parität bei den strategischen Waffensystemen durch (SALT-I-Abkommen) und brachte die USA außerdem dazu, eine gemeinsame Verpflichtung der Supermächte zu koordiniertem Krisenmanagement im Rahmen einer beiderseits akzeptierten Verantwortung für die Aufrechterhaltung des Weltfriedens, insbesondere für die Vermeidung einer Nuklearkatastrophe, anzuerkennen.
In der Folgezeit gelang es dann der Sowjetunion (zum Teil mit kubanischer und vietnamesischer Hilfe), in verschiedenen geographischen Zonen von großer politischer und geostrategischer Bedeutung, wie z. B. in Europa, in Indochina und in Afrika, die regionalen Kräfteverhältnisse so eindeutig zu ihrem Vorteil zu verändern, daß nicht nur im Westen Beunruhigung aufkam. Vielerorts — und vor allem in Washington — begann man sich zu fragen, ob nicht angesichts dieser Gewichtsverschiebungen bereits mit einer militärisch-politischen Überlegenheit der Sowjetunion auch auf der Ebene des globalen Kräfteverhältnisses gerechnet werden müsse.
Offiziell nahm man amerikanischerseits das „Erstarken der Sowjetunion zu einer Super-macht globalen Formats“ erstmals im Frühjahr 1976 — mit einer gewissen Verspätung — als eine akute Entwicklung von bedeutender Tragweite zur Kenntnis Vermutlich übte der sowjetische Weltmachtehrgeiz auch auf die Entscheidung für die Besetzung Afghanistans — die erste sowjetische Militärintervention der Nachkriegszeit außerhalb des von Moskau kontrollierten Imperiums— verhängnisvollen Einfluß aus. An dieser Entscheidung entzündete sich im Westen eine lebhafte Diskussion, in deren Verlauf man den Griff nach Afghanistan häufig mit einem vermuteten Politbüro-plan für den etappenweisen Vorstoß zum Persischen Golf in Verbindung brachte — mit einem sowjetischen Grand design, das angeblich darauf abzielt, die Industriestaaten des Westens durch die Blockierung lebenswichtiger Erdölzufuhren in die Knie zu zwingen. Indessen hat die Erforschung der Vorgeschichte und der Begleitumstände der Invasion bisher keine schlüssigen Beweise für das Vorhanden-sein einer derartigen Strangulierungsstrategi zutage gefördert.
Trotzdem mag es ein Grand design der Sowjel führung geben, eine außenpolitische Zielprc jektion, zu deren Verwirklichung alle Politbü romitglieder tagtäglich einen persönliche: Beitrag zu leisten haben. In den letzten 17 Jah ren war dieses Grand design für die Breshnew Administration wahrscheinlich — gleichvie ob bewußt oder unbewußt — mit der Aufga benstellung identisch, aus der Supermacht So wjetunion um jeden Preis eine mit den US/gleichrangige Weltmacht zu machen. Prinz: piell handelt es sich dabei um eine durchau legitime Zielsetzung. Das eigentliche Probier liegt darin, inwieweit Fortschritte der Sowjet union auf dem Wege zu diesem Ziel von de: Regierungen und der Bevölkerung andere Staaten, angesichts des bisherigen Umgang der sowjetischen Politiker mit der Macht, al bedrohlich empfunden werden.
Breshnew: Parteimanager mit Militär-und Rüstungserfahrung
Für die sowjetische Außenpolitik bedeutete der Sturz Chruschtschows eine wichtige Zäsur. Andererseits blieb die Kontinuität nicht nur personell, sondern auch im Hinblick auf das außenpolitische Programm in außergewöhnlichem Maße bewahrt. Man weiß, daß nicht nur die Mitglieder der neuen Troika — Breshnew, Kossygin und Podgornyj —, sondern auch alle anderen Politbüromitglieder ihre Karrieren einst als Stalinisten begonnen hatten. Ebenso waren alle maßgeblichen außenpolitischen Funktionäre, angefangen bei Gromyko und Ponomarjow, schon unter Stalin in Spitzenpositionen des Außenministeriums oder des zentralen Parteiapparates berufen worden. Die außenpolitische Generallinie hatte zudem seit der Stalin-Ära eigentlich nur eine wesentliche Korrektur erfahren: In der Chruschtschow-Ära war die Vermeidung von intersystemaren Kriegen — wegen der Gefahr einer Nuklearkatastrophe — nicht nur für möglich erklärt, sondern im Grunde sogar zu einer Hauptaufgabe der sowjetischen Außenpolitik erhoben worden.
Ein nahmhafter amerikanischer UdSSR-For scher führt die Stabilität des gesamten so wjetischen Systems auf die Perpetuierung de Stalinismus zurück, d. h. darauf, daß sowoh das Führungspersonal der Stalin-Ära als aucl viele ihrer politischen Institutionen und Pro gramme, ihrer Konventionen und Maßstäbe i: der Substanz beibehalten worden sind. I: dieser Sicht stellen der Spätstalinismus, di Chruschtschow-und die Breshnew-Ära ein relativ geschlossene Epoche der Sowjetge schichte dar, die allerdings jetzt, angesicht der bevorstehenden „Machtergreifung“ eine völlig neuen Generation, einem abrupte Ende zutreibt.
Chruschtschow hatte in der Führung der Ar ßenpolitik den Improvisationsstil der Stalir Zeit auf die Spitze getrieben, während gleich auf den verschiedensten Gebieten, v(allem in der Raketenrüstung, der Nuklea technik und der Raumfahrt, enorme Anstre gungen unternommen worden waren, um de sowjetischen Anspruch auf Internationa Gleichrangigkeit mit den USA Nachdruck 2 verleihen. Nach dem Scheitern des Kub Abenteuers — einer verfrühten Kraftprobeeinem für die Sowjetunion sehr ungünstig 8 legenen Austragungsort — sahen sich diejenigen Chruschtschow-Kritiker innerhalb und außerhalb des KPdSU-Präsidiums bestätigt, die schon immer für mehr Umsicht, Stetigkeit und Planmäßigkeit in der Außen-und Sicherheitspolitik sowie für eine bessere Koordinierung der außenpolitischen Strategie mit den sicherheitspolitischen Belangen und den Rüstungsprogrammen der Sowjetunion plädiert hatten. Allem Anschein nach standen zuletzt innenpolitische, vor allem auch wirtschaftspolitische Streitfragen und persönliche Motive bei der Rebellion der Präsidiumsmehrheit gegen den Partei-und Regierungschef im Vordergrund doch hat dessen unbezähmbare Neigung zu außenpolitischen Alleingängen und jähen Kurswechseln vermutlich wesentlich dazu beigetragen, die zwei Jahre nach dem Kuba-Fiasko hauptsächlich von Suslow inszenierte Palastrevolte heraufzubeschwören
Nach Chruschtschows erzwungener Abdankung fiel Breshnew das Amt des Ersten ZK-Sekretärs zu, während Kossygin zum Vorsitzenden des Ministerrats aufrückte. Breshnew, der unter Chruschtschow zuletzt den zweiten Platz unter den ZK-Sekretären eingenommen hatte, war ein versierter und erfolgreicher Parteimanager. Im Jahre 1950 erstmals in den Zentralapparat der KPdSU berufen, leitete er später zeitweise die Parteiorganisationen der Moldau-Republik und Kasachstans. Danach kehrte er ins Moskauer ZK-Sekretariat zurück, wo er vom Sekretär für die Schwerin-j dustrie über mehrere Zwischenstufen zum Delacto-Vertreter des Parteichefs aufstieg.
Seine außenpolitischen und Ausländserfahrungen waren dagegen relativ beschränkt. Mit Außenpolitik hatte er sich zunächst als Mitglied des KPdSU-Präsidiums (1952/53, 1956— 1964) nur oberflächlich befaßt. Erst dachdem ihn sein politischer Ziehvater Chruschtschow im Mai 1960 zum Vorsitzen-den des Präsidiums des Obersten Sowjet gemacht hatte, kam er intensiver mit ihr in Berührung. Diese Position, die dem Amt des Staatspräsidenten entspricht, bekleidete er bis zum Juli 1964.
Viel besser kannte sich Breshnew in der Rüstungs-und Raumfahrtindustrie aus, und er verfügte über ziemlich breitgefächerte Erfahrungen aus dem Militärbereich. Seine Laufbahn als politischer Instrukteur hatte er 1935 bei einer Panzerkompanie im sibirischen Tschita begonnen. Während des deutsch-sowjetischen Krieges, den er von Anbeginn mitmachte, avancierte er rasch vom Brigadekommissar zum obersten Polit-Offizier einer Armee, dann einer Heeresgruppe, schließlich des Militärbezirks Karpaten. Bei Kriegsende hatte er den Rang eines Generalmajors. Acht Jahre nach Kriegsende übernahm er noch einmal eine wichtige Polit-Offizier-Funktion, diesmal im Verteidigungsministerium: 1953— 1954 war er 1. Stellvertretender Leiter der Politischen Hauptverwaltung der Sowjetischen Streitkräfte und als solcher speziell für die Politische Verwaltung der Kriegsmarine verantwortlich. Dies trug ihm den Rang eines Generalleutnants ein.
Im Gebietsparteikomitee von Dnjepropetrowsk hatte er 1940/41 ein Jahr lang die Funktion eines Sekretärs für die Rüstungsproduktion inne. Im Moskauer KPdSU-Zentralapparat leitete er als ZK-Sekretär ab 1956 zunächst die Abteilung Schwerindustrie und Kapitalinvestitionen, sodann 1959— 1960 die Abteilung Rüstungsindustrie und Weltraumforschung. In Anbetracht dieses Erfahrungshorizonts war es kaum verwunderlich, daß sich Breshnew nach dem Oktober-Plenum von 1964 als neuer Parteichef anfangs mehr für das Parteimanagement sowie für Sicherheits-und Rüstungspolitik, weniger dagegen für die Außenpolitik interessierte. Noch bis 1970 war nach dem Eindruck Washingtons Kossygin das primär für die Außenpolitik zuständige Troika-Mitglied, und alle Mitteilungen der „kollektiven Führung 1’ an das Weiße Haus wurden im Namen Kossygins gemacht, wie Kissinger berichtet In Kairo und anderen Hauptstädten des Nahen und Mittleren Ostens tauchten immer wieder Kossygin und Podgornyj in außenpolitischer Mission auf, während sich Breshnew dort nicht blicken ließ. Ausländischen Gesprächspartnern wie dem Ägypter Heikal fiel Breshnews Neigung auf, sich mit militärischen und Rüstungsfragen zu befassen Nach Kissingers Auskunft hatte er schon vor dem Sturz Chruschtschows als Befürworter eines sowjetischen Aufrüstungskurses gegolten Von der Generalität wurde er zweifellos als sachkundiger Gesprächspartner geschätzt. Eigentlich benötigte Breshnew erstaunlich wenig Zeit, um in die Rolle des anerkannten Team-Chefs der „kollektiven Führung" hinein-zuwachsen, der neben Suslow, Kossygin und Podgornyj noch zahlreiche andere erfahrene, zum Teil auch sehr ehrgeizige Politiker sowie etliche Parteiveteranen angehörten. Daß ihm der XXIII. Parteitag im April 1966 nach kaum anderthalbjähriger Amtszeit als Erster Sekretär den „magischen" Generalsekretärstitel zu-gestand, war eine für Außenstehende überraschende Erfolgsbestätigung. Seine Autorität wurde dadurch zusätzlich gestärkt. Gleichwohl änderte dies zunächst nichts daran, daß alle wichtigen Entscheidungen der Innen-und Außenpolitik als Beschlüsse eines Führungskollektivs getroffen wurden. In diesem Führungskreis nahm Breshnew die Position eines für die Programmierung des Konsenses in besonderem Maße verantwortlichen Primus inter pares ein.
Erst seit dem Frühjahr 1971 begann Breshnew allmählich, die Zügel auch in der Außenpolitik selbst in die Hand zu nehmen, stellte Kissinger fest Vermutlich hing dies mit seinem Eintreten für eine Entspannungsstrategie gegenüber Washington und Bonn zusammen, die sich über manche der im Politbüro geäußerten, der Öffentlichkeit jedoch allenfalls in ideologisch verschlüsselter Form bekanntgewordenen Vorbehalte hinwegsetzte. So mochten es die anderen Führungsmitglieder vielleicht sogar für klüger halten, dem Generalsekretär bei der Erprobung der von ihm befürworteten Konzeption den Vortritt zu lassen. Daß Breshnew sich mit dieser durchsetzen konnte, hatte er wohl nicht zuletzt der für Moskau alarmierenden Tatsache zu verdanken, daß eine Wiederannäherung zwischen den USA und der VR China in Gang gekommen war. Durch Entspannung im Ost-West-Verhältnis glaubte man im Kreml auch der Gefahr einer gegen die Sowjetunion gerichteten amerikanisch-chinesischen Verständigung wirksam begegnen zu können.
Fortan nutzte Breshnew jede Gelegenheit, sich auch im Ausland als „starker Mann" der sowjetischen Führung zu profilieren. Besonders deutlich trat dies anläßlich seiner mit großem protokollarischem Aufwand durchgeführten „Staatsbesuche" in Frankreich (Oktober 1971, Dezember 1974), in der Bundesrepublik Deutschland (Mai 1973, Mai 1978) und in den USA (Juni 1973) in Erscheinung. Ein anderes Beispiel für seinen hochentwickelten Sinn für Publicity lieferte sein anhaltendes öffentliches Engagement für die Ablösung der alten „Stalin-Verfassung“ von 1936 durch eine neue, dann 1977 in Kraft gesetzte „Breshnew-Verfassung“ Seine energische Verteidigung der Afghanistan-Intervention um die Jahres-wende 1979/80, seine Befürwortung einer baldigen Wiederaufnahme der amerikanisch-sowjetischen Rüstungsbegrenzungsverhandlungen seit Mitte 1980 und sein Auftreten auf dem XXVI. KPdSU-Kongreß (Februar-März 1981), auf dem alle außenpolitischen Aussagen ihm allein vorbehalten blieben, bezeugten unmißverständlich seine gefestigte Autorität. Inzwischen hat die offizielle und halboffizielle Beweihräucherung seiner Person schon Züge eines „Breshnew-Kults“ angenommen.
Daß Breshnew in seiner Amtszeit sowohl die Ausrichtung als auch den Stil der sowjetischen Politik in vieler Hinsicht prägend beeinflußte, ist unbestritten. Gleichzeitig repräsentierte er eindrucksvoll die Kontinuität des von Lenin begründeten Herrschaftssystems bei teilweiser Restaurierung eines „zivilisierten" Stalinismus. Die sowjetische Außenpolitik erreichte unter seiner Regie ein Höchstmaß an konzeptioneller Geschlossenheit. Im Zuge der zur Re-konsplidierung des Sowjetimperiums eingelei-teten Maßnahmen erlangte nach der SSR-Krise als zusätzliches Druckmittel die soge-nannte Breshnew-Doktrin Bedeutung, die das von der Vormacht gegenüber anderen Block-mitgliedern schon immer beanspruchte Interventionsprivileg neu verankerte. Schließlich beruhte der von Breshnew gesteuerte Entspannungskurs — wie noch gezeigt werden soll — auf einer neuartigen Verknüpfung grundlegender sowjetischer Leitvorstellungen und Zielsetzungen.
Diese Beispiele verdeutlichen, wie weit die Assoziierung des KPdSU-Generalsekretärs mit charakteristischen Merkmalen und bedeutsamen Vorgängen der jüngsten Entwicklungsphase der UdSSR heute schon gediehen ist. Infolgedessen bedarf es auch keiner weiteren Rechtfertigung, wenn man die Periode oligarchischer Machtausübung, die in der Sowjetunion auf den Sturz Chruschtschows folgte, etwas vereinfachend als „Breshnew-Ära" bezeichnet.
Ab 1965: Konzertiertes Aufrüstungs-plus Entspannungsprogramm
Die außen-und sicherheitspolitische Lektion der Kuba-Krise vom Oktober 1962 brachte der damalige 1. Vize-Außenminister der UdSSR und spätere Breshnew-Stellvertreter Wassilij W. Kusnezow im Gespräch mit John J. McCloy auf die Formel, die Sowjetunion werde es nie mehr zulassen, daß ihr noch einmal eine solche Schlappe zugefügt werde Vieles spricht dafür, daß die Chruschtschow-Nachfolger von derselben Entschlossenheit beseelt waren, als sie zwei Jahre später die unvermeidliche Neuausrichtung der sowjetischen Außenpolitik in Angriff nahmen. Wesentliche Elemente ihrer Alternativkonzeption kann man jenem „Prawda" -Artikel entnehmen, der am 17. Oktober 1964 erstmals etwas ausführlicher auf die Frage nach den Beweggründen für die drei Tage zuvor erfolgte Absetzung Chruschtschows einging.
Nachdem er zunächst versichert hatte, an der Generallinie der Entstalinisierungsparteitage 'on 1956, 1959 und 1961 sollte nicht gerüttelt '»erden, wandte sich dieser „Prawda" -Wegweiser sofort den außenpolitischen Perspektiven In bezug auf die Außenpolitik hieß es dort, die Generallinie fordere dreierlei: 1.den Kampf für den Frieden", 2.den Kampf für „die nternationale Sicherheit" und 3.den Kampf ur „die Verwirklichung des von W. I. Lenin dulgestellten Prinzips der friedlichen Koexistenz von Staaten mit unterschiedlicher Ge-
Sellschaftsordnung".
ie neue Führung, betonte der Artikel an-
fließend, werde „alle Maßnahmen zur Festider Wehrfähigkeit unseres Landes, zur Gewährleistung der Unantastbarkeit seiner Grenzen und der Sicherheit der gesamten sozialistischen Gemeinschaft" treffen; auch halte sie es für ihre Pflicht, „alles Notwendige zu tun, um die friedliche Arbeit des Volkes zu sichern, einen nuklearen Weltkrieg zu verhindern, die Lösung internationaler Streitfragen auf dem Verhandlungswege anzustreben, die Beziehungen mit allen Ländern im Interesse des Friedens zu verbessern und zu entwickeln und die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft, Wissenschaft und Technik zu fördern".
Bei Licht betrachtet, skizzieren diese wenigen Sätze schon zu diesem frühen Zeitpunkt das konzertierte Aufrüstungs-plus Entspannungsprogramm, das für westliche Beobachter erst fünf Jahre später deutlichere Konturen anzunehmen begann. Beachtung verdient zumal die Absichtserklärung, man wolle „mit allen Ländern" die Beziehungen „verbessern“ und „entwickeln", man eine intensivierte wobei wirtschaftliche, wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit mit Partnerstaaten jeglicher Art anstrebe. Denn im Hinblick auf den Textzusammenhang konnte es sich bei den in dieser Weise anvisierten Ländern eigentlich nur um hochentwickelte „kapitalistische" Industriestaaten handeln. Im Ansatz zeichnete sich hier bereits eine Politik ab, die — namentlich im Verhältnis zu Staaten wie den USA und der Bundesrepublik Deutschland — auf Überwindung der totalen Konfrontation im Interesse entspannter Kooperationsbeziehungen abzielte. Freilich hatte man dieses Konzept mit einer Reihe von Kautelen umrahmt, wie sie von sowjetischen Politikern regelmäßig angebracht werden, wenn der Konsens nur um den Preis solcher Zusätze herzustellen ist oder wenn man sich für den Notfall den Rückzug auf eine ideologisch zuverlässig abgesicherte Verteidigungsstellung offenhalten möchte. Wahrscheinlich bestanden in der neuformierten Führungsmannschaft noch erhebliche Widerstände gegen die Leitidee, ein massives Auf-und Umrüstungsprogramm mit einer über Gesten und Propagandatiraden hinausgehenden Entspannungs-und Kooperationspolitik zu verknüpfen. Außerdem gab es handfeste Gründe, an der sofortigen Realisierbarkeit der Konzeption gerade auch im Hinblick auf die USA und auf die Bundesrepublik Deutschland zu zweifeln, wenn man z. B. an die Probleme dachte, die Chruschtschows Berlin-Ultimaten aufgeworfen hatten, oder an die schroffen Interessengegensätze, die zwischen Ost und West in der Deutschlandfrage bestanden. Eines hatte sich jedoch die gesamte „kollektive Führung" mit Bestimmtheit vorgenommen: In Zukunft wollte man eine undramatische Außenpolitik der ruhigen Hand betreiben, man wollte sich dabei von dem „genauen Kompaß" des „wissenschaftlichen Kommunismus" leiten lassen, und man war überzeugt, auf der Basis gründlicher Analysierung der einschlägigen Vorgänge und Sachverhalte dann auch regelmäßig die „richtigen Beschlüsse“ erarbeiten zu können, wie dem „Prawda" -Artikel vom 17. Oktober 1964 zu entnehmen war. Eine Wiederholung der Fehler, die man Chruschtschow ankreidete, sollte es nicht mehr geben.
Was diesen betraf, so nannte der Artikel den Gestürzten zwar nicht beim Namen, doch war unschwer zu erraten, gegen wen sich die dort erhobenen Vorwürfe des „Subjektivismus“, der „Projektemacherei“, der „Prahlsucht" und „Schaumschlägerei", der „Voreiligkeit" und „Sprunghaftigkeit" sowie der Neigung zu „wirklichkeitsfremden Entschlüssen und Handlungen“ richteten. Daß diese Äußerungen auch den sicherheitspolitisch-militärischen Bereich betrafen, ging u. a. daraus hervor, daß der von Chruschtschow abgehalfterte, im November 1964 aber wiedereingesetzte Generalstabschef Marschall M. W. Sacharow ganz ähnliche Vokabeln wenig später in einem Aufsatz verwendete, der z. B. hervorhob, im Zeitalter „der Kernwaffen, der Kybernetik, der Elektronik und der Oktober 1964 zu entnehmen war. Eine Wiederholung der Fehler, die man Chruschtschow ankreidete, sollte es nicht mehr geben.
Was diesen betraf, so nannte der Artikel den Gestürzten zwar nicht beim Namen, doch war unschwer zu erraten, gegen wen sich die dort erhobenen Vorwürfe des „Subjektivismus“, der „Projektemacherei“, der „Prahlsucht" und „Schaumschlägerei", der „Voreiligkeit" und „Sprunghaftigkeit" sowie der Neigung zu „wirklichkeitsfremden Entschlüssen und Handlungen“ richteten. Daß diese Äußerungen auch den sicherheitspolitisch-militärischen Bereich betrafen, ging u. a. daraus hervor, daß der von Chruschtschow abgehalfterte, im November 1964 aber wiedereingesetzte Generalstabschef Marschall M. W. Sacharow ganz ähnliche Vokabeln wenig später in einem Aufsatz verwendete, der z. B. hervorhob, im Zeitalter „der Kernwaffen, der Kybernetik, der Elektronik und der Computer-Technologie“ könnten „subjektives Behandeln militärischer Probleme, Projektemacherei und Oberflächlichkeit sehr teuer zu stehen kommen", ja sogar „irreparablen Schaden anrichten" 14).
Bekanntlich hatte Chruschtschow schon auf dem XXII. KPdSU-Kongreß im Oktober 1961 behauptet, die Sowjetunion habe inzwischen eine „unbestreitbare Überlegenheit bei Ker waffen und Raketen erreicht" 15), und dadun Washington veranlaßt, das amerikanische R stungsprogramm nochmals aufzustocken, u der Entstehung einer wirklichen „Raketenlü ke" vorzubeugen. Dann brachte sein Rakete Gepoker, das zur Kuba-Krise führte 16), die i der Sowjetunion kurz vorher etablierte Dol trin von der entscheidenden Rolle der nukle ren Raketenwaffen 17) ihn sowohl in di KPdSU-Führung als auch bei einem große Teil der Generalität dermaßen in Mißkred daß eine gründliche Überprüfung des Gesam konzepts unter politischen und strategische Gesichtspunkten nicht ausbleiben könnt Auch Breshnew und Marschall Gretschko sc len zu den Kritikern gehört haben
Am Ende wurden Doktrin und Rüstungsprioi täten der Chruschtschow-Ära jedoch von d neuen Führung im wesentlichen beibehalte allerdings mit deutlicher Verstärkung di strategischen Unterseebootwaffe als Komp nente des gesamten Nuklearraketenpotent als. In aller Stille setzte man indessen gleicl zeitig die Planziele und Budgetzuwendunge für sämtliche Teilbereiche erheblich herat Davon ausgenommen blieben anfangs ledi lieh die „konventionellen" Seestreitkräfte, vo denen verlangt wurde, die Erfüllung erweite ter Aufgaben im wesentlichen durch Umstrul turierung der Schiffsbestände, Anpassung de Neu-und Umbauvorhaben sowie Haushalt Umschichtungen sicherzustellen Der Ante der Rüstungsaufwendungen am — stetig zunehmenden — Bruttosozialprodukt, der für die Jahre 1964— 1966 gleichmäßig rund 10 Prozent betragen haben dürfte, erhöhte sich für die Jahre 1968— 1969 auf jeweils 12 Prozent und für das Jahr 1975 auf schätzungsweise 14— 15 Prozent
Ausschlaggebend für diese enorme Steigerung der Rüstungsanstrengungen war offenbar die Erkenntnis der Breshnew-Administration, daß der Abstand, der die UdSSR von dem Ziel trennte, eine von den USA als „gleichwertig" anerkannte Weltmacht mit globaler Präsenz und Mitsprache zu werden, anders nicht aufzuholen war (von etwaigen weiterreichenden Ambitionen ganz zu schweigen). Zwangsläufig bedurfte infolgedessen das Grand design der Erweiterung um zusätzliche Dimensionen. Man mußte versuchen, in der Hochrüstungsperiode den Westen mit einer Vielzahl von Verhandlungs-und Beschwichtigungsinitiativen zu überziehen, schon weil es nötig war, die Konflikt-und Konfrontationsrisiken im Verhältnis USA-UdSSR und NATO-WO während des Aufholprozesses auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Außerdem mußte man an selektiven Rüstungsbegrenzungsverhandlungen interessiert sein, wenn dadurch die Innovationsdynamik des Westens — vor allem der USA — auf dem Gebiet der Militär-technologie gedrosselt und unter Kontrolle gebracht werden konnte. Denn schließlich stand zu befürchten, daß sich sonst in vielen Bereichen neue, schwer auszugleichende Entwicklungsvorsprünge der Westmächte herausbilden würden.
Hinzu kam das Problem der Kosten. Man konnte sie teilweise der eigenen Bevölkerung und den WPO-Verbündeten aufbürden. Auch konnte man daran denken, Einsparungen an anderer Stelle, z. B. bei der Militär-und Entwicklungshilfe für die Dritte Welt, vorzunehmen. Schließlich konnte man versuchen, durch zielstrebige Ausweitung der ökonomischen Kooperation mitStaaten des Westens — nicht zuletzt auch durch Inanspruchnahme günstiger Investitionskredite und Warenkredite „kapitalistischer“ Partner — die Belastung der sowjetischen Volkswirtschaft erträglicher zu gestalten. Mehr oder minder, früher oder später hat die Sowjetführung von allen diesen Möglichkeiten Gebrauch gemacht.
Die entspannungspolitische Dimension
Man hat sich daran gewöhnt, den sogenannten Budapester Appell der WPO-Staaten vom 17. März 1969 als Ouvertüre für den Entspan-
nungskurs des Kreml anzusehen. Auch war die Vermutung begründet, der eigentliche Anstoß zu dieser Initiative könnte von den sowjetisch-chinesischen Grenzgefechten am Ussuri äusgegangen sein, zu denen es kurz vorher gekommen war. Andererseits erschien es nicht weniger plausibel, das Signal von Budapest als Reaktion auf die Antrittsrede des amerikanischen Präsidenten Richard M. Nixon vom 20. Januar 1969 zu deuten, die mit Bezug auf das Ost-West-Verhältnis das Ende der „Periode der Konfrontation“ und den Anbruch einer Ara der Verhandlungen" in Aussicht gestellt hatte. Wahrscheinlich gingen von beiden Ersignissen starke Impulse aus, die dazu beige-tragen haben dürften, vorhandene Widerstände und Hemmungen sowohl im Osten als auch im Westen abzubauen. Bei genauerem Hinsehen ist jedoch festzustellen, daß die
Chruschtschow-Nachfolger schon sehr viel früher versucht haben, ihre Politik des Aufholens gegenüber den USA und der Konsolidierung innerhalb des desintegrationsgefährdeten kommunistischen Lagers mit einer Politik der selektiven Entspannung gegenüber Westeuropa und den USA zu verknüpfen.
Schauplatz war die 19. UN-Vollversammlung in New York. Dort trug Gromyko am 7. Dezember 1964 ein Memorandum über die „Milderung der internationalen Spannung" und die „Begrenzung des Wettrüstens" vor, in dem erstmals wieder seit 1954/55 der Gedanke der Errichtung eines „effektiven und umfassenden Systems der kollektiven Sicherheit in Europa“ in neuer, aber relativ vager Form auftauchte. Den Vorstoß Gromykos unterstützte der polnische Außenminister Rapacki auf derselben Konferenz am 14. Dezember mit einem Vorschlag zur Einberufung einer Sicherheitskonferenz, an der alle europäischen Staaten (einschließlich der UdSSR) sowie die USA teilnehmen sollten. Dieser Vorschlag war zweifellos mit der sowjetischen Seite abgestimmt, und folgerichtig faßte der Politische Beratende Ausschuß der WPO-Staaten beide Anregungen auf seiner Warschauer Tagung vom 19. /20. Januar 1965 zu einer gemeinsamen Plattform zusammen. Man kann — unbeschadet aller späteren Modifikationen und Konkretisierungen — von dieser Zwillingsinitiative sagen, daß im Grunde die KSZE und die Anfang August 1975 von allen 35 Teilnehmerstaaten unterzeichnete KSZE-Schlußakte von Helsinki aus ihr hervorgegangen sind.
In einer sowjetischen Darstellung der Deutschlandpolitik der UdSSR in den Jahren 1945— 1976 ist von einem europapolitischen „Programm" die Rede, dessen — offenbar schon vorher begonnene — „Ausarbeitung“ nach dem Sturz Chruschtschows „wesentlich beschleunigt worden" sei Als Stationen bei der Realisierung dieses Programms bezeichnet der Verfasser die WPO-Konferenzen vom Januar 1965 (Warschau), vom Juli 1966 (Bukarest) und vom März 1969 (Budapest). Dank dessen, daß sich die finnische Regierung am 5. Mai 1969 „zur Ausrichtung der gesamteuropäischen Konferenz" bereit erklärt habe, sei dann der KSZE-Prozeß allmählich ins Rollen gekommen. Auch der XXIII. KPdSU-Kongreß vom März-April 1966 habe in diesem Zusammenhang eine sehr wichtige, richtungweisende Rolle gespielt, meint der Autor. Beachtenswert ist an dieser im übrigen zweifellos stark retuschierten Darstellung vor allem wieder der Hinweis, daß die Entspannungspolitik der Breshnew-Administration in den Rahmen einer 1964 konzipierten Gesamtkonzeption eirizuordnen ist.
Es gibt sogar Indizien dafür, daß im Jahre 1966 von sowjetischer Seite mehrere Mitgliedstaaten ihres Hegemonialverbands ermutigt wurden, Verhandlungskontakte mit Bonn aufzunehmen. Aus Protokollnotizen zu einer internen Diskussion über „aktuelle Fragen des deutschen Imperialismus", die Anfang November 1966 in Karlsbad stattfand, geht z. B. hervor, daß der Stellvertretende SSR-Außenminister Klika damals ausführte, man sehe im Hinblick auf die Bundesrepublik Deutschland „eine Möglichkeit der Normalisierung ihrer Beziehungen zu einigen sozialistischen Ländern“, wobei er hinzufügte: „Dieser Frage widmen wir uns intensiv." Klika warnte davor, der Bonner Regierung bei direkten Verhandlungskontakten „allzuviel abzuverlangen", um den Verhandlungserfolg dann „zur richtigen Zeit" sicherstellen zu können; auch dürfe man die entspannungswilligen Elemente in Westdeutschland nicht abschrecken
Da die CSSR damals, in der Novotny-Ära, in außenpolitischen Fragen ängstlich darauf bedacht war, keinen Schrittbreit von der in Moskau festgelegten Linie abzuweichen, lassen die von Klika Ende 1966 angestellten Erwägungen Rückschlüsse auf die Grundtendenz entspannungs-und deutschlandpolitischer Überlegungen zu, die seinerzeit von sowjetischen Autoritätsträgern auch gegenüber Vertretern der osteuropäischen Gefolgsstaaten geäußert worden sind. Das rumänische Drängen auf die Anknüpfung von Verhandlungskontakten im Sommer 1966, die am 31. Januar 1967 zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Bukarest führten, gewinnt im Licht der Kliöka-Bemerkungen zusätzlich an Perspektive, auch wenn die sowjetische Seite den Abschluß schließlich mißbilligte.
Die Sowjetunion selbst ließ sich noch im Frühjahr 1967 auf einen diplomatischen Meinungsaustausch über die Bonner Anregung ein, die hauptsächlichen Entspannungshindernisse, die sich aus dem Beharren der Bundesregierung auf der Wiedervereinigung Deutschlands und auf der Rechtsgültigkeit der Reichsgrenzen von 1937 ergaben, mit Hilfe von Gewalt-verzichtserklärungen zu überwinden. Im Jahre 1966 hatte Moskau der Bundesrepublik wiederholt Verständigungsavancen gemacht, diese allerdings stets mit der Erwartung bedeutender westdeutscher Zugeständnisse verknüpft. Als Bonn sich konsequent weigerte, sein Verhältnis zur NATO zu lockern, kühlte das sowjetische Interesse an der Fortsetzung des Dialogs zusehends ab.
Schließlich setzte offenbar die DDR-Führung innerhalb der Warschauer-Pakt-Organisation durch, daß alle derartigen Bestrebungen und Experimente abgebrochen wurden und daß man sich darauf einigte, die Anerkennung der DDR und der nach dem Kriege erfolgte» Grenzveränderungen seitens der Bundesrepublik Deutschland zur Vorbedingung jeder Normalisierung zu machen. Diese Frage gehörte zu den wichtigsten Themen der gesamteuropäischen Kommunistenkonferenz, die im April 1967 in Karlsbad tagte Zum Schlul wurde sie unzweideutig zugunsten des von der SED/DDR befürworteten harten Kurses entschieden.
Wenig später mußte sich dann das KPdSU-Politbüro mit dem „Prager Frühling" befassen. Sein Beschluß, den tschechoslowakischen Relormkommunismus durch militärische Intervention zu liquidieren, hatte zur Folge, daß alle Entspannungsbemühungen bis Anfang 1969 völlig zum Erliegen kamen. Eigentlich ließ Moskau nur eine überraschend kurze Frist verstreichen, bis der „Budapester Appell" das Eis wieder zu brechen versuchte. Dies legt die Vermutung nahe, daß der Sache Dringlichkeit beigemessen wurde.
Immerhin hatte man noch kurz vor der Besetzung der ÖSSR den Kernwaffensperrvertrag abgeschlossen. Dabei waren zahlreiche bedeutsame Interessenkonvergenzen bei beiden Supermächten zutage getreten. Nach schwierigen Verhandlungen mit den „nichtnuklearen Staaten" wurde der Vertrag am 1. Juli 1968 in Washington, Moskau und London zur Unterzeichnung aufgelegt.
Den SALT-I-Verhandlungen gingen Vorgesprächevoraus, die bereits im Dezember 1966 von Washington in Gang gebracht wurden. Die sowjetische Seite hielt sich anfangs zurück) erst Mitte 1968 erklärte sie sich verhandlungsbereit. Wegen der ÖSSR-Krise kam jedoch die erste offizielle Sitzung erst am 'November 1969 zustande. Die SALT-I-Abkommen wurden im Mai 1972 in Moskau unlerzeichnet. Im November 1974 folgte das Rahmenabkommen von Wladiwostok, schließlich m Juni 1979 die Unterzeichnung der SALT-II-Abkommen in Wien durch Carter und Breshnew. Um diese Zeit war die sowjetisch-amerikanische Kooperation praktisch auf die SALThematik zusammengeschrumpft; denn in al-
en übrigen Bereichen hatte seit Ende 1974 — d h.seit der Angola-Krise — nach und nach wieder ein frostiges Konfrontationsklima die Oberhand gewonnen.
-war unternahm die Carter-Administration dubergewöhnliche Anstrengungen, um die Ratfizierung des SALT-II-Vertragswerks gegen ; arken Widerstand im Kongreß durchzuseten, doch wurden diese durch den sowjeti-Schen Einmarsch in Afghanistan zum Jahres-snde 1979 vereitelt. Letztlich geriet das Scheirn der SALT-II-Ratifikation, das als endgül-8 angesehen werden muß, zu einer gemeinimen Niederlage Carters und Breshnews, dpwohl es keine Anhaltspunkte dafür gibt, 4 Breshnews Position an der Spitze des Po-litbüros durch diesen Mißerfolg erschüttert wurde, hatte er doch sein persönliches Prestige investiert, das zweifellos in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Denn vieles spricht dafür, daß Breshnew zeitweise mit erheblichem Engagement die Absicht verfolgte, die gefährliche Rivalität zwischen den beiden Supermächten durch eine Art „Frieden auf Bewährung" zu mäßigen und so das antagonistische Grundprinzip der „friedlichen Koexistenz zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung" zu entschärfen, welches praktisch den Kampf bis zur Vernichtung des Gegners mit allen außer kriegerischen Mitteln vorschreibt Schließlich ging es darum, einer antisowjetischen Koalition Washington-Peking den Boden zu entziehen, möglicherweise auch China durch ein Kondominium der beiden Weltmächte USA und UdSSR zu isolieren.
Breshnew war sichtlich bestrebt, die ideologisch definierten Grenzen seines Handlungsspielraums, die nur einen „Waffenstillstand auf Zeit" zuließen und jegliches „Fraternisieren mit dem Klassenfeind" untersagten, pragmatisch zu überwinden. Diese Phase begann — nach der Annäherung USA-China — im Frühjahr 1972 mit der Weichenstellung für den Moskauer Mai-Gipfel. Zum Abschluß dieser Begegnung wurde u. a. eine Vereinbarung über die „Grundprinzipien der Beziehungen zwischen den USA und der UdSSR" unterzeichnet, ein ganz auf kooperative Friedenssicherung ausgerichtetes Entente-Abkommen. Aber die Entente cordiäle der „großen Zwei" dauerte nur kurze Zeit. Im Oktober 1973 kam für sie mit dem Jom-Kippur-Krieg die erste schwere Belastungsprobe: Um Breshnew von einer einseitigen Intervention in Ägypten abzuhalten, versetzte Nixon die strategischen Streitkräfte der USA in Alarmbereitschaft Schließlich veranlaßte der Angola-Schock den Nixon-Nachfolger Ford sogar, sich vom Gebrauch des Wortes „Entspannung" zu distanzieren. Breshnew hingegen ließ sich im Dezember 1974 vom ZK der KPdSU ein erstaunlich detailliertes Absolutionszeugnis ausstellen, möglicherweise um Kritiker in den Reihen des Politbüros zum Schweigen zu bringen In dieser Erklärung wurde ihm bestätigt, die Entwicklung der Beziehungen der Sowjetunion „zu den größten kapitalistischen Mächten" sei „von erstrangiger Bedeutung“ für die Friedenssicherung. Die Gipfeltreffen der Jahre 1973— 1974 mit Präsident Nixon, mit Bundeskanzler Schmidt und mit den Präsidenten Pompidou und Giscard d'Estaing hätten in einer „sachlichen und konstruktiven Atmosphäre" stattgefunden, zu „fruchtbaren Ergebnissen" geführt und „die Entwicklung der gesamten internationalen Lage positiv beeinflußt", hieß es weiter. Das ZK dankte seinem Generalsekretär für sein „äußerst intensives" Engagement zugunsten dieses Friedenswerks und konstatierte, die von Breshnew geführte KPdSU sei „unermüdlich darum bemüht, die Prinzipien der friedlichen Koexistenz ... und eine weitere Entspannung durchzusetzen, um sie unumkehrbar zu machen".
Ganz im Sinne Breshnews kennzeichnete die Erklärung noch einmal die Herstellung eines guten Verhältnisses zu den USA als außenpolitische Priorität der Prioritäten, natürlich im Interesse der Friedenssicherung. Die Beiträge der Spitzenpolitiker der „größten kapitalistischen Mächte" zur Schaffung eines gedeihlichen internationalen Klimas fanden KPdSU-amtliche Anerkennung. Noch mehr Entspannung wurde in Aussicht gestellt, was viele Sowjetbürger wohl als Verheißung einer weiteren Öffnung gegenüber dem Westen verstanden haben dürften, und dies alles sollte außerdem noch „unumkehrbar" gemacht werden. Aber diese Vision erwies sich als trügerisch. Von einer weitergehenden Entspannung war bald keine Rede mehr. Man kehrte im Kreml zu „normalen" Gegnerschaftsbeziehungen nach Maßgabe der Prinzipien der „friedlichen Koexistenz" zurück. Daran hat auch die Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte von Helsinki am 1. August 1975 nichts mehr ändern können. Zwei Jahre später begann die Sowjetunion mit der Installierung neuartiger eurostrategischer SS-2O-Raketen. Mit diesem Vorgehen, das den Eindruck einseitiger Aufrüstung noch weiter verstärkte, forderte sie Gegenmaßnahmen des Westens heraus, zu denen u. a.der NATO-Doppelbeschluß vom 12. Dezember 1979 gehörte.
Die weltrevolutionäre Dimension
In den ersten Jahren nach dem Sturz Chruschtschows wurde die sowjetische Unterstützung für „antiimperialistische" Regime und Aufstandsbewegungen in der Dritten Welt erheblich eingeschränkt. Dafür gab es mehrere Gründe. Erstens wollte die neue Führungstroika nicht die Geschäfte Pekings besorgen, hatte man doch die Erfahrung gemacht, daß die meisten prokommunistischen Revolutionäre der Entwicklungsländer dazu neigten, sich im Verlauf der normalen Radikalisierungs-und Polarisierungsprozesse dem Maoismus zuzuwenden. Zweitens mußten Kürzungen im Interesse des eigenen Rüstungsprogramms vorgenommen werden, und wenn die verfügbaren Mittel nicht einmal für die dringend erforderliche Verstärkung der „konventionellen" Seestreitkräfte ausreichten, dann konnte man sich die in der ChruschtschowÄra eingerissene -verschwenderische Großzü gigkeit bei der Hilfe für Partnerländer und Befreiungsbewegungen der Dritten Welt nicht mehr leisten. Drittens war die Breshnew-Administration an möglichst entspannten Beziehungen zu den USA und deren Verbündeten interessiert, um in der Periode der forcierten Aufrüstung das Risiko von militärischen Konfrontationen mit den Westmächten zu verkleinern. Kossygin beklagte, daß die nordvietnamesischen Erfolge die USA Anfang 1965 zu einer erheblichen Verstärkung ihres Engagements im Vietnamkrieg veranlaßten, weil dies wiederum der Sowjetunion die Eröffnung „ernsthafter" Entspannungsgespräche mit Washington erschwerte
Das Ergebnis der innersowjetischen Diskussion über die Notwendigkeit einer Justierung der Generallinie für die Entwicklungsländer-politik faßte die „Prawda" am 27. Oktober 1965 zu einem ungezeichneten (d. h. besonders autoritativen) Leitartikel zusammen. Darm reklamierte die KPdSU-Führung einerseits für die Sowjetunion eine „Atempause“ hinsichtlich der Unterstützung revolutionärer Aktivitäten in „kapitalistischen“ und Entwicklungsländern, während sie andererseits darauf hin wies, daß sie selbst sich vorrangig um . die Festigung der Verteidigungsmacht der UdSSR und des gesamten sozialistischen Lagers“
kümmern müsse. Auf die Frage, welches die oberste internationale Pflicht eines sozialistischen Landes" sei, antwortete das Parteiblatt, diese bestehe für die sozialistischen Regime darin, „ihre Hauptanstrengungen auf den Aufbau des Sozialismus und Kommunismus in ihren eigenen Ländern“ zu konzentrieren, worin sie „die entscheidende Voraussetzung für die Steigerung der Hilfe für die anderen Abteilungen der Befreiungsbewegung und ihren Hauptbeitrag zur Entwicklung der weltweiten revolutionären Bewegung" sähen.
Die Sowjetunion, hob die „Prawda“ hervor, könne den Revolutionären der Entwicklungsländer ihre historischen Aufgaben ebensowenig abnehmen, wie sie denjenigen der „kapitalistischen Länder" den „Kampf um den Sturz des Kapitalismus" abzunehmen vermöge. Vor solcher Einmischung müsse im Gegenteil gewarnt werden, stellte das KPdSU-Zentralorgan klar, weil „solche Aktionen einen nuklearen Weltkrieg entfesseln könnten“; dies aber heraufzubeschwören, „hieße keineswegs, die internationalistische Pflicht der sozialistischen Länder gegenüber den Werktätigen der ganzen Welt zu erfüllen, sondern es würde bedeuten, daß der Sache der sozialen und nationalen Befreiung der Völker anderer Länder und dem weltweiten revolutionären Prozeß irreparabler Schaden zugefügt würde". Der Grundgedanke lautete, die sowjetische Ent-
wicklungs-
und Waffenhilfe werde nicht „aus Überschüssen geleistet, sondern durch Abzweigung von Mitteln und Materialien", die man zweckmäßigerweise in der Sowjetunion selbst einsetzen sollte, wo sie am wirksamsten zur Änderung des weltpolitischen Kräfteverhältnisses genutzt werden könnten, statt sie für schwer kontrollierbare Zwecke in der Dritten Welt zu investieren und dadurch womög-ih noch der Entfachung von Kriegen und Großmachtkonflikten Vorschub zu leisten.
An diesem Kurs hielt die Sowjetführung bis zum Jahre 1969 fest. Danach ging man zu einer sxpansiveren, aggressiveren Entwicklungsünderpolitik über. Dieser Wechsel fiel ziemih genau mit dem „Budapester Appell" zummen, der dem Westen unmittelbar nach en sowjetisch-chinesischen Grenzgefechten m Ussuri die Bereitschaft des Ostblocks zu hehr Kooperation und echter Entspannung si-
dlisiert hatte. Besonders deutlich kam der mschwung auf dem 3. Moskauer Kommuni-tenkonzil im Juni 1969 zum Ausdruck. Dort arakterisierte Breshnew die außenpolitische Zielsetzung der Sowjetunion folgendermaßen: „Die KPdSU orientiert ihre gesamte außenpolitische Tätigkeit darauf, daß die Welt des Sozialismus heute stärker ist als gestern und morgen stärker als heute ... Die Sowjetunion bezieht gemeinsam mit anderen sozialistischen Ländern aktive Positionen in der breiten und ständig brodelnden Front der nationalen Befreiungsbewegung und erweist den für * ihre Befreiung kämpfenden Völkern festen politischen Beistand, moralische und materielle Hilfe."
Den Völkern Asiens und Afrikas wies Breshnew die Rolle einer „wichtigen und aktiven Streitkraft der antiimperialistischen Welt-front" zu. Im Anschluß an den Hinweis auf den „heroischen, in der Regel bewaffneten Befreiungskampf", den die „Völker der letzten Kolonien" auf sich genommen hätten, betonte Breshnew mit Nachdruck, dieser „gerechte Kampf" werde von sowjetischer Seite „voll und ganz" unterstützt
Daß der Kurswechsel zu diesem Zeitpunkt erfolgte, war gewiß kein Zufall. Um die Hintergründe etwas aufzuhellen, sind zwei Momente von großer Bedeutung miteinander in Verbindung zu bringen: einmal . die permanente sowjetische Furcht vor einem Krieg mit China sowie zweitens die Tatsache, daß das KPdSU-Regime unwiderruflich der Vorstellung verhaftet ist, der Verzicht auf die revolutionäre Legitimation käme der Preisgabe des ideologischen Fundaments seines eigenen Herrschaftsanspruchs gleich und liefe im Grunde darauf hinaus, die eigene Existenz zur Disposition zu stellen. Wie sehr die Gefechte am Ussuri die Sowjetführung aufschreckten, ist allgemein bekannt und nachweisbar. Auch darf als gesichert daß dem „Budapester betrachten, Appell" tatsächlich eine sowjetische Absicht zugrunde lag, dem Westen Entspannungswilligkeit und Kooperationsbereitschaft zu signalisieren. Anscheinend hielt es die Sowjetführung jedoch aus Gründen der elementaren Machtbehauptung für notwendig, im selben Augenblick, in dem sie sich auf ein tatsächliches, konkretes Paktieren mit dem „Kapitalismus/Imperialismus" Westeuropas und Nordamerikas zumindest einstellte, ihre revolutionäre Herrschaftslegitimation durch Eröffnung einer neuen „antiimperialistischen" Offensive in der Dritten Welt unterstreichen und absichern zu müssen. Dieser sowjetische . Ausbruch" in die südliche Hemisphäre führte insgesamt zu einer erheblichen Ausweitung des sowjetischen Einflusses und zur Errichtung eines weltumspannenden Netzes sowjetischer Machtpositionen, obwohl Rückschläge nicht ausblieben. Fast schon an das Kuba-Abenteuer erinnerte die Entsendung eines ganzen sowjetischen Luftverteidigungskorps nach Ägypten im Frühjahr 1970 (das Unternehmen endete zwei Jahre später mit einem ähnlichen Fiasko). Im Mai 1971 wurde ein Vertrag über politisch-militärische Kooperation mit Ägypten geschlossen. Ihm folgten im Laufe eines Jahrzehnts elf weitere Verträge gleichen oder ähnlichen Typs mit anderen Entwicklungsländern -Die Liste umfaßt heute (nach Aufkündigung des sowjetisch-ägyptischen Vertrags im Jahre 1976 und des sowjetisch-somalischen Vertrags im Jahre 1977) die Partnerländer Indien, Irak, Angola, Mosambik, Äthiopien, Vietnam, Afghanistan, Südjemen, Syrien und VR Kongo. In einigen Fällen sind diese Partner jedoch gegenüber der Sowjetunion in die Abhängigkeit von Klientenstaaten geraten und stellen heute Stützpunktländer bzw. Vorpostenländer des Sowjetimperiums in der Dritten Welt dar. Der Südjemen mit seinem wichtigen Flotten-und Luftstützpunkt Aden ist dafür das überzeugendste Beispiel.
Derartige Stützpunktländer gehören zu der strategischen Infrastruktur, mit der die Sowjetunion seit Mitte der sechziger Jahre den Globus überzogen hat, um ihren Weltmachtanspruch zu untermauern. Insofern stand ihre Einbeziehung in das sowjetische Hegemonialsystem auch immer in einem engen Zusammenhang mit dem Grand design der Breshnew-Administration. Durch eine intensive Medienpropaganda über die Klienten-und Partnerstaaten, der Sowjetunion in der Dritten Welt versucht das KPdSU-Regime der sowjetischen Bevölkerung aber auch den Eindruck zu vermitteln, daß sich der „Weltsozialismus", dem ständig neue Siege zugeschrieben werden, auf einem unaufhaltsamen Vormarsch befinde. Durch Erfolgsmeldungen von den Revolutionsfronten der Dritten Welt versucht man gewissermaßen, den grauen, bedrückenden
Alltag des Sowjetmenschen etwas aufzuhellen. Immobilismus und Stagnation, die für die Sowjetgesellschaft charakteristisch sind, relativiert man dadurch, daß man sie mit der Ausbreitung des sowjetischen Einflusses im Welt-maßstab als der dynamischen Komponente desselben politisch-ökonomischen Systems verknüpft.
Gleichwohl könnte es sich fügen, daß der Zerfall dieses noch immer in Expansion befindlichen Sowjetimperiums einsetzt, bevor das ehrgeizige Ziel des Grand design der BreshnewÄra — die Gleichrangigkeit mit der Welt-macht USA auf allen Wettbewerbsfeldern — erreicht ist. Vor allem haben die polnischen Ereignisse seit dem Sommer 1980 sichtbar gemacht, daß die Erosion der politischen und ideologischen Autorität der Sowjetführung innerhalb des osteuropäischen Kernbereichs der sozialistischen Staatengemeinschaft bereits ein fortgeschrittenes Stadium erreicht hat Das Moskauer Politbüro reagierte bisher auf die polnische Arbeiterrevolution im Realsozialismus nur halbherzig-zögernd mit einer zwischen Beschwichtigungsgesten und Interventionsdrohungen hin-und herschwankenden Zermürbungs-und Diskreditierungstaktik. Es scheint, als sei der „genaue Kompaß, den die Nachfolger Chruschtschows nach dessen Entmachtung zu besitzen wähnten, ihnen inzwischen abhanden gekommen. Angesichts des Debakels in Afghanistan, wo sich die sowjetische Armee in einen langwierigen, bereits zwei Jahre lang andauernden GuerillaKrieg verstrickt sieht, besteht im Kreml offenbar wenig Neigung zu einer radikalen Sanierung des polnischen Krisenherdes, die in jedem Fall die Inkaufnahme großer Risiken (auch seitens der Befürworter eines solchen Kurses) verlangen würde.
Dabei ist zu bedenken, daß Osteuropa unter den regionalen Prioritätsfestlegungen der sowjetischen Außenpolitik an erster Stelle steht und daß Polen wiederum eine Schlüsselposition im sowjetisch kontrollierten Osten Europas einnimmt Sollte sich aber die Sowjetführung weiterhin der Notwendigkeit verschließen, auf die immer wieder von ihren osteuropäischen Gefolgsstaaten — wie jetzt von Polen ausgehenden Herausforderungen mit angemessenen Reform-und Hilfsmaßnahmen t antworten, so dürfte sie auch nicht mehr lange imstande sein, das gesamte Sowjetimperiun zusammenzuhalten.