I. Einleitung
Die Sozialversicherung erfaßt gegenwärtig denweitaus größten Teil der Bevölkerung und sichert ihn gegen die typischen „Wechselfälle des Lebens" wie Krankheit, Unfall, Erwerbsunlihigkeit und Tod des Ernährers. Sie knüpfte an die bis ins Mittelalter zurückreichenden genossenschaftlichen Selbsthilfeorganisationen in Handwerk, Gewerbe und Bergbau an. Obwohl sie seit jeher auch versicherungsfremde Elemente enthält und anfangs nur als eine Weiterentwicklung der staatlichen Armenpflege (Fürsorge) erschien, bildet sie als staatlich beaufsichtigte und nach dem Selbstverwaltungsprinzip aufgebaute öffentlich-rechtliche und gemeinnützige Zwangsversicherung zweifellos einen eigenständigen Bereich sozialer Sicherheit.
Die gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit” (BSG 6, 213, 228) und gemeinsame historische Wurzeln verbinden sie, was hier wenigstens erwähnt werden soll, mit der Privatversichetwg, die ihre Existenz trotz der starken Expandierung der Sozialversicherung behauptet hat Soziale Sicherung (soziale Sicherheit) — dieser Terminus entspricht zunehmend internatonalem Sprachgebrauch — greift weiter als Sozialversicherung. Sie umfaßt im wesentli-Chen in Anlehnung an die traditionelle Drei? liederung des Sozialrechts auch Sozialhilfe (früher: Fürsorge) sowie soziale Entschädi-W (Kernstück nach wie vor die Kriegsoperversorgung) und wird durch „neue” Sozialsistungen wie Ausbildungsförderung, Kinder-und Wohngeld ergänzt (vgl.den Katalog der snzelnen Sozialleistungen in §§ 18— 29 Sozigesetzbuch — SGB I) Zusammengehalten yd dieser weite Fächer durch die sozialstaat-M e Leitvorstellung, den einzelnen durch öfsntlich-rechtliche Leistungen gegen Lebens-Men zu schützen und durch staatliche Fördnung und Ausgleichsmaßnahmen sozialer -schtigkeit nahezukommen.
Die Sozialversicherung ist nach wie vor der wichtigste Bereich der genannten Trias. Dies bezeugt die Tatsache, daß der überwiegende Teil des Sozialbudgets, das über Höhe und Struktur der Sozialleistungen (im weitesten Sinn) Auskunft gibt, auf sie entfällt (Höhe des Sozialbudgets 1980: ca. 449 Mrd. DM).
In diesem Jahr wird die deutsche Sozialversicherung hundert Jahre alt. Sie verdankt ihre Entstehung der sogenannten „Kaiserlichen Botschaft". Diese leitete relativ früh und für andere Staaten vorbildhaft die planmäßige, für einen Industriestaat adäquate Übernahme der Existenzsicherung durch staatliche Geld-, Sach-und Dienstleistungen anstelle nicht-staatlicher Formen sozialer Sicherung ein. Zugleich markiert sie in deutlicher Abkehr von der seit 1850 herrschenden Doktrin des wirtschafts-und sozialpolitischen Liberalismus „den Übergang zum Sozial-und Interventionsstaat” (Michael Stolleis).
Eine umrißhafte Nachzeichnung der geschichtlichen Entwicklung des Sozialversicherungsrechts ist Gegenstand dieses Beitrags. Die chronologische Anbindung der Darstellung an markante Gesetzgebungsakte bietet die Möglichkeit, die überwältigende Material-fülle zu ordnen Um Sozialversicherungsrecht als Ergebnis gelungener oder mißlunge-ner Sozialpolitik zutreffend zu beschreiben und zu verstehen, müßten darüber hinaus die ihm zugrunde liegenden politischen und sozio-ökonomischen Verhältnisse herausgear-beitet und das Interdisziplinäre als sein hervorstechendes Merkmar angemessen dargestellt werden. In einem grob orientierenden Rückblick kann das jedoch nur anklingen.
II. Zur Genesis der deutschen Sozialversicherung
Nach den Reichstagswahlen vom Oktober 1881, die für die Regierung ungünstig verlaufen waren und das bislang grundsätzlich oppositionelle Zentrum zur stärksten Fraktion gemacht hatte, verlas Bismarck am 17. November 1881 zur Eröffnung der Parlamentssession für den erkrankten Monarchen die mit Spannung erwartete, im wesentlichen von ihm selbst verfaßte Thronrede. Sie hat als „Kaiserliche Botschaft" Geschichte gemacht und bildete — nach der „Vorankündigung" der Sozialversicherungsgesetzgebung in der Kaiserlichen Thronrede vom 15. Februar 1881 — als Gründungsurkunde den früh gelegten Grundstein der deutschen Sozialgesetzgebung. Diese beeinflußte ausländische Sozialversicherungssysteme vorbildhaft
Trotz unterschiedlicher Forschungs-und Erkenntnisinteressen dürfte darüber, wie die Kaiserliche Botschaft in den geschichtlichen Zusammenhang und speziell in die Bismarck-sehe Innenpolitik einzuordnen ist in wesentlichen Punkten Einigkeit bestehen. Dazu nur andeutungsweise: Zunächst ist hervorzuheben, daß Bismarck, obwohl durch seine äußere Politik stark in Anspruch genommen, auch auf dem Gebiet der Sozialpolitik eine „einsame Sonderstellung an der Spitze der preußisch-deutschen Machthierarchie" (Hans-Ulrich Wehler) einnahm und als Gestalter und Ideenträger in Erscheinung trat. Ausgeprägtes Problembewußtsein für die „Soziale Frage" belegt z. B.seine vielzitierte Äußerung gegenüber Moritz Busch (1881): „Der Staat muß die Sache in die Hand nehmen. Nicht als Almosen, sondern als Recht auf Versorgung, wo der gute Wille zur Arbeit nicht mehr kann. Wozu soll nur der, welcher im Kriege erwerbsunfähig geworden ist oder als Beamter durch Alter, Pension haben und nicht auch der Soldat der Arbeit? Diese Sache wird sich durchdrücken. Die hat ihre Zukunft. Es ist möglich, daß unsere Politik einmal zugrunde geht, wenn ich tot bin. Aber der Staatssozialismus paukt sich durch Jeder, der diesen Gedanken wieder aufnimmt wird ans Ruder kommen."
Impulse und Anregungen für seine sozialpolitischen Aktivitäten bezog Bismarck von Industrie und Bürokratie. Beeinflußt wurde er von den „Kathedersozialisten" — diese machten, abgehoben vom „wissenschaftlichen" Sozialis-mus (Marx), Front gegen die Lehre vom „laissez faire" —, vom politischen Katholizismus ebenso wie von der protestantischen christlich-sozialen Bewegung, vor allem aber mittelbar (weil auf sie reagierend) von der politischen Organisation der Arbeiter. Diesen Kräften kommen „gewissermaßen Teilurheberschaften am Gesetzgebungswerk" (Michael Stolleis) zu. _ Der entscheidende Antrieb für die Einleitung einer staatlichen Sozialgesetzgebung geriete jedenfalls aus dem Blick, wenn man die Kaiserliche Botschaft primär als „praktisches Christentum in gesetzlicher Betätigung" (Bismarck oder als Sozialreform im Sinne einer Humanisierung der Arbeitswelt auffaßte. Wesentlicher waren vielmehr ökonomische und innenpolitische Aspekte: Als säkulares Ereignis hatte die „Industrielle Revolution" mit dem Ubergahg zur Fabrikindustrie bei gleichzeitiger Zunahme der landwirtschaftlichen Erträge und verbesserten Verkehrsbedingungen (Eisenbahn!) die Lebensverhältnisse grundlegend verändert. Sie war sicherlich unerläßliche Voraussetzung für staatliche Sozialgesetzgebung überhaupt, erklärt aber nicht deren frühen Beginn in Deutschland.
Es „existiert kein direkter Zusammenhang zwischen dem Grad der Industrialisierung und dem Aufbau einer staatlichen Sozialversicherung, kein Schwellenwert, von dem an sich staatliches Eingreifen gleichsam naturnotwendig ergibt" (Klaus Saul). Insofern ist zusätzlich erklärend die Tatsache heranzuziehen, daß das Deutsche Reich von 1871 ein labiles, von politischen und sozialen Veränderungen bedrohtes Staatswesen ohne demokratische Tradition darstellte, das jedoch mit einer leistungsfähigen Bürokratie ausgestattet war. Nach der in den Gründerjahren gipfelnden Hochkonjunkturphase von 1850 bis 1873 hatten wiederholte schwere Wachstumsstörungen — die Konjunkturperiode von 1873 bis 1896 wird insgesamt als „Große Depression" bezeichnet — bei den Zeitgenossen das Be-wußtsein erzeugt, in einer Dauerkrise (mit Lohnkürzungen, Preisverfall, Börsenkrisen, Massenentlassungen usw.) zu leben, und den optimistischen Glauben an eine vorgegebene Harmonie der Wirtschaftsordnung nachhaltig erschüttert. Sie hatte die Widersprüche zwischen den Klassen deutlicher gemacht und im selben Zuge die ihre soziale Emanzipation erstrebende Arbeiterbewegung gestärkt. Vor diesem Hintergrund wird der 1878 eingeleitete innenpolitische Kurswechsel zu Schutzzoll, Konservativismus und staatlicher Sozialpolitik verständlich Sozialpolitische Maßnahmen sollten vorbeugend Staat und bürgerliche Gesellschaftsordnung stabilisieren, mit den Worten Bismarcks: „den auf den Umsturz göttlicher und menschlicher Ordnung gerichteten Bestrebungen revolutionärer Elemente den Boden" entziehen.
Eine staatliche Zwangsversicherung gegen die wesentlichsten Lebensrisiken erschien geeignet, die Arbeiter durch soziale Leistungen an den Staat zu binden. Das meint der in diesem Zusammenhang von Bismarck selbst verwendete Begriff vom „Staatssozialismus“. Einer Zwangsversicherung waren aus der Sicht Bismarcks jedoch in verschiedener Hinsicht Grenzen gezogen. Sozialpolitische Maßnahmen durften die Industrie finanziell nicht übermäßig belasten, um ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt nicht zu gefährden (später Ausspruch Bismarcks: . Jeder Staat steht schließlich für die Interessen seiner Industrie“) Dazu gesellte sich die Befürchtung, eine zu starke materielle Sicherung der Arbeiter könne deren Leistungs-und Verantwortungsbewußtsein schwächen. Den Lebensbedingungen des Industrieproletariats als landwirtschaftlicher Unternehmer fremd gegenüberstehend teilte Bismarck ferner die Antipathie Napoleons III. gegen einen größeren Arbeiterschutz und das Arbeiterorganisationsrecht. Die auf Spaltung von Arbeiterschaft und revolutionärer Sozialdemokratie abzielende Ausgangslage der Sozialgesetzgebung ist Ursache dafür, daß die Arbeiterbewegung, zumal nach den Erfahrungen mit dem bis 1890 geltenden „Sozialistengesetz" der Sozialgesetzgebung vor Bismarcks Entlassung die Anerkennung versagte. Auch das liberale Bürgertum stand Bismarcks sozialpolitischen Plänen verständlicherweise fern, während das Zentrum trotz Beilegung des Kulturkampfes und Aufgabe seiner grundsätzlichen Opposition einer staatlich gebundenen Arbeiterversicherung mehr oder weniger mißtraute. All das ändert nichts daran, daß mit der Kaiserlichen Botschaft dem Grundgedanken der staatlichen Sozialversicherung trotz immenser Schwierigkeiten und vor allem entgegen dem wirtschafts-und sozialpolitischen Liberalismus zum Durchbruch verhelfen und die Zusammengehörigkeit von Sozialversicherung und zentraler staatlicher Ordnung erstmals deutlich wurde. Dabei hielt sich Bismarck an die vernünftige Maxime, daß derjenige, der zuviel im einzelnen versucht Gefahr läuft, gar nichts zu erreichen: „Ich möchte, daß wir und der gegenwärtige Reichstag das Verdienst hätten, wenigstens etwas, wenigstens den ersten Anfang auf diesem Gebiet zu machen und auch darin den übrigen europäischen Staaten vorauszugehen.''
III. „Erstlingsgesetzgebung" (1883— 1889)
Wie schon in der Kaiserlichen Botschaft umrissen — wenn auch nicht in der angekündigten Reihenfolge —, wurden noch während der Amtszeit Bismarcks die drei grundlegenden Sozialversicherungsgesetze verabschiedet: das Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter vom 15. Juni 1883 (RGBl. . S. 73), das Gesetz betreffend die Unfallversicherung vom 6. Juli 1884 (RGBl. S. 69) und das Gesetz betreffend die Invaliditäts-und Altersversicherung vom 22. Juni 1889 (RGBl. S. 97). Den Gesetzen lagen als fundamentale Prinzipien die Versicherungspflicht, der Rechtsanspruch aufgrund von Beiträgen und das Fehlen jeglicher Bedürftigkeitsprüfung zugrunde. Darin unterschied sich Sozialversicherung wesentlich von öffentlicher Fürsorge, die die Armen zum Gegenstand einer vorwiegend polizeilichen Aufgabe (Gefahrenabwehr) machte und sie bei Inanspruchnahme der Armenunterstützung durch die Entziehung des Wahlrechts zusätzlich politisch diskriminierte.
Die Erstlingsgesetzgebung ließ die Knappschaftsversicherung als den ältesten Zweig der Sozialversicherung unberührt. Die Knappschaftsversicherung, die bereits alle essentiellen Merkmale der Sozialversicherung aufwies, blieb bis zum Inkrafttreten des Reichsknappschaftsgesetzes — RKG — vom 23. Juni 1923 (RGBl. I S. 431) am 1. Januar 1924 einzelstaatlich geregelt. Mit fortschreitender Industrialisierung und Bildung einer besonderen Arbeitergruppe war für Berg-, Hütten-und Salinenarbeiter erstmals in Preußen durch Gesetz vom 10. April 1854 eine öffentlich-rechtliche Arbeiterversicherung eingeführt worden, an die sich die gesetzlichen Regelungen der übrigen bergbautreibenden Länder Deutschlands anlehnten 1. Die drei „klassischen“ Versicherungszweige Wenngleich um 1880 nur ein geringer Teil der Bevölkerung in irgendeiner Kasse versichert war, die Zahl der Mitglieder sogar noch abnahm und — auch nach dem Hilfskassengesetz von 1876 — eine befriedigende Krankenversicherung der Arbeiter keineswegs gewährleistet war, konnte die Krankenversicherung doch immerhin an bestehende, bewährte Einrichtungen, insbesondere die freiwilligen Hilfskassen und deren Konzeption, anknüpfen. Dieser Umstand erklärt auch die Reibungslosigkeit der parlamentarischen Verhandlungen. Die Krankenversicherung erfaßte die Arbeitnehmer in Bergbau, Industrie, Handwerk, Gewerbe, Eisenbahn und Binnenschiffahrt und gestattete die Ausdehnung aut weitere Personengruppen, z. B. auf die Arbeiter in Land-und Forstwirtschaft Als Barleistungen waren bei „Erwerbsunfähigkeit" Krankengeld in Höhe der Hälfte des ortsüblichen Tageslohnes gewöhnlicher Tagearbeiter bis zu 13 Wochen, Wochenhilfe und Sterbegeld vorgesehen. Als Sachleistungen konnten die Versicherten — ebenfalls bis zu 13 Wochen — freie ärztliche Behandlung, Arznei und Heilmittel beanspruchen. Durch Statut durften die Krankenkassen Familienangehörige in den Versicherungsschutz einbeziehen (Familien-hilfe). Organisatorisch war (und ist) die Krankenversicherung durch dezentralisierte Vielfalt gekennzeichnet (damals: Orts-, Betriebs-[Fabrik-], Bau-und Innungskrankenkassen, Knappschafts-und Hilfskassen sowie subsidiärdie Gemeinde-Krankenversicherung). Das Selbstverwaltungsprinzip ermöglichte der Arbeiterschaft hier erstmals einen unmittelbaren Einfluß auf einen Bereich öffentlicher Verwaltung („Herrschaft der Sozialdemokratie in der Krankenversicherung"). Finanziert wurde die Krankenversicherung durch Beiträge der Arbeitnehmer (zwei Drittel) und der Arbeitgeber (ein Drittel).
Die Unfallversicherung löste — nach schwieriger und langwieriger parlamentarischer Vorarbeit — auf völlig neuartige Weise die auf dem Verschuldensprinzip beruhende Haftung des Unternehmers nach dem Reichshaftpflichtgesetz vom 7. Juni 1871 (RGBl. S. 207) ab. Sie ersparte dem (beweisbelasteten) Arbeitnehmer den höchst unsicheren Weg des Zivilprozesses, dem Arbeitgeber für das Betriebsklima schädliche Konflikte. Diese Friedensfunktion ist eine Eigentümlichkeit der Unfallversicherung von Anfang an (BVerfGE 34, 118, 132). Die Kosten der Unfall' ersicherung wurden den Arbeitgebern auferlegt. Mit dem „Staatszuschuß" — für dessen Gegner eine unerträgliche Erscheinungsform Von Staatssozialismus und unitarischer Staatsgewalt — vermochte sich Bismarck nicht durchzusetzen. Dem Versicherungszwang unterlagen Arbeiter und geringer besoldete Betiebsbeamte in ausdrücklich genannten geährdeten Betrieben, u. a. in Bergwerken, Fabriken und bestimmten Gewerbebetrieben. Zu entschädigen waren die „bei dem Betrieb sich sreignenden Unfälle“ ohne Rücksicht auf ein perschulden des Unternehmers oder seines bsauftragten. Die Unfallversicherung sah für e Dauer der unfallbedingten Erwerbsunfä-higkeit Verletztenrente vor, außerdem — abgestimmt auf die Krankenversicherung — von der 14. Woche nach dem Unfall die Erstattung der Heilverfahrenskosten, Hinterbliebenenrente und den Ersatz der Beerdigungskosten. Träger der Unfallversicherung waren fachlich gegliederte Berufsgenossenschaften. Sie stellten ihre anfänglich bezweifelte Leistungsfähigkeit bald unter Beweis, und zwar auch auf dem Gebiet der Unfallverhütung, zumal das Reichsversicherungsamt als Aufsichtsinstanz energisch auf den Erlaß von Unfallverhütungsvorschriften hinwirkte.
Die Rentenversicherung erfaßte mit dem dritten großen Sozialversicherungsgesetz alle Arbeiter und Angestellte mit einem regelmäßigen Jahresarbeitsverdienst bis zu 2 000 Mark. Sie unterschied zwischen Invalidenrente — diese setzte dauernde Erwerbsunfähigkeit voraus — und Altersrente, die mit Vollendung des 70. Lebensjahres (seit 1916 mit dem 65. Lebensjahr) gezahlt wurde, während Hinterbliebenenrenten noch nicht vorgesehen waren. Außerdem mußte die Wartezeit (fünf Jahre für die Invalidenrente, 30 Jahre für die Altersrente) erfüllt und die Anwartschaft erhalten sein. Die Rentenversicherung wurde durch Beiträge (1, 7 v. H.), die Arbeitnehmer und Arbeitgeber je zur Hälfte aufzubringen hatten, und — wegen der vermuteten Entlastung der staatlichen Armenpflege — zusätzlich durch Staatszuschüsse finanziert. Bei Staatszuschüssen zur Rentenversicherung ist es seit 1891 geblieben (vgl. Art. 120 Abs. 1 GG). Träger der Rentenversicherung waren durch Landesgesetze zu errichtende Versicherungsanstalten. 2. Verfahren (Sozialrechtspflege)
Die drei großen Sozialversicherungsgesetze des vorigen Jahrhunderts berührten die Rechtsstellung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern erheblich. Sie regelten daher auch die Sozialrechtspflege, und zwar für die verschiedenen Zweige der Sozialversicherung bis zur Vereinheitlichung des Instanzenzuges durch die Reichsversicherungsordnung — RVO — (1911) in sehr unterschiedlicher Weise.
Es genügt hier der Hinweis, daß für die Über-prüfung sozialversicherungsrechtlicher Entscheidungen besondere Spruchkörper (Versicherungsämter, Oberversicherungsämter und das Reichsversicherungsamt — RVA — in Berlin als für das ganze Reich zuständige zentrale Rekurs-und Revisionsinstanz) zuständig waren. Die Sozialrechtspflege ist durch eine kontinuierliche, auf diese Spruchpraxis zurückgehende Entwicklung gekennzeichnet. Das läßt sich vor allem für die Auslegung grundlegender Begriffe des Sozialversicherungsrechts sagen, so daß man das RVA, das von 1885 bis 1944 5594 grundsätzliche Entscheidungen mit einer über den Streitfall hinausgehenden Bindungswirkung veröffentlicht hat, als Vorläufer des Bundessozialgerichts — BSG — bezeichnen kann. 3. Fazit: Etablierung der gegliederten Sozialversicherung
Die Erstlingsgesetzgebung — nach damaligen Verständnis ein „Sprung ins Dunkle“ — etablierte die gegliederte Sozialversicherung mit ihren bis heute erhaltenen Strukturmerkmalen (Versicherungszwang, staatliche Zuschüsse zur Rentenversicherung, Selbstverwaltung durch öffentliche Versicherungsträger).
Die geschichtliche Entwicklung hatte die Dreiteilung der Versicherungszweige vorgezeichnet, so daß es trotz mancher Befürwortung in dieser Richtung keine Einheitsversicherung geworden war. Der Finanzierung lag in der Unfall-und Krankenversicherung von Anfang an ein Umlageverfahren zugrunde. Das in der Rentenversicherung demgegenüber zunächst geltende Kapitaldeckungsverfahren wandelte sich über das Anwartschaftsdeckungs- und das Abschnittsdeckungsverfahren (1957) zum „generationenvertraglichen" Umlageverfahren (vgl. BVerfGE 53, 257, 290) mit Schwankungs-und Liquiditätsreserve (1969/1977), das auf eine Kapitalansammlung weitgehend verzichtet
Die gesetzliche Regelung wies Mängel und Lücken auf: Der Kreis der Versicherten war anfangs klein, die Hinterbliebenen blieben von der Rentenversicherung noch ausgeschlossen, und der Gedanke der Rehabilitation (Maßnahmen zur Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit) war nicht aufgegriffen worden. Vor allem waren die Leistungen der Sozialversicherung — auch gemessen an den damaligen Lebenshaltungskosten — viel zu niedrig, um schon als angemessene Existenzsicherung gelten zu können Noch in den besten Jahren der Weimarer Republik war zumindest die Hälfte der Invalidi. täts-und Altersrentenbezieher auf öffentliche Fürsorge oder Zuverdienst angewiesen. Trotz aller anfänglichen Defizite wurde mit dieser Sozialgesetzgebung sozialer Fortschritt möglich, der z. B. in den Erfolgen der ärztlichen Versorgung (deutlicher Anstieg der Lebenserwartung, erfolgreiche Bekämpfung der großen Volkskrankheiten) und der Unfallverhütung bald Gestalt annahm. Demgegenüber war das etwa zur selben Zeit entstandene, vorwiegend vom liberalen Bürgertum beeinflußte Bürgerliche Gesetzbuch — BGB — mit seinen übermäßig individualistischen Zügen und der Betonung von Eigentum, Vertragsfreiheit und Erbrecht auf agrarische und kleinstädtische Verhältnisse zugeschnitten, nicht aber auf die „besitzlosen Klassen" (Anton Menger). Es hat die Entwicklung zum sozialen, gemeinschaftsbezogenen Recht erst allmählich nachvollzogen. 4. Ausbau und Harmonisierung des bisherigen Rechts Nach Bismarcks Entlassung (1890) ist die Sozialversicherung in einer Phase anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwungs und der Milderung innenpolitischer Spannungen bis 1913 auf „vorsichtigen Ausbau und Abrundung“ gerichtet. So kommt die schrittweise Ausdehnung der Unfallversicherung (z. B. auf land-und forstwirtschaftliche Betriebe) durch das Gesetz vom 30. Juni 1900 (RGBl. S. 573) zu einem vorläufigen Schluß. In der Rentenversicherung erfolgt „Nachbesserung" durch das „Invalidenversicherungsgesetz" vom 19. Juli 1899 (RGBl. S. 463), und in der Krankenversicherung wird durch das Änderungsgesetzvom 2. Mai 1903 (RGBl. S. 233) u. a. die Unterstützungsdauer von 13 auf 26 Wochen verlängert Vereinheitlichungsbestrebungen führten zwar zu keiner Verschmelzung der Versicherungszweige, aber zu einer eine einheitliche Organisation einschließenden Harmonisierung des bisherigen Rechts durch die Reichsversicherungsordnung — RVO — vom 19. Juli 1911 (RGBl. I S. 509). Dieses zentrale Gesetzgebungswerk ist kodifikationstechnisch mit dem BGB vergleichbar (vor die Klammer gezogene . Gemeinsame Vorschriften“, 6 Bücher). Es hat trotz zahlreicher Änderungen seine Substanz bewahrt, befindet sich jetzt aber mit der schrittweisen Verwirklichung des Sozialgesetzbuchs — SGB — im Prozeß allmählicher Auflösung (s. VI. 4.).
Nicht integriert in die RVO war die Rentenversicherung der Angestellten. Diese ständig wachsende Arbeitnehmerschicht (Bürokratisierung der Industrie, Anwachsen des tertiären Bereichs der Wirtschaft) erreichte ihr seit 1901 öffentlich propagiertes Ziel — eine Sonderversicherung — durch das Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) vom 20. Dezember 1911 (in Kraft getreten am 1. Januar 1913). Es erfaßte Angestellte mit einem Jahresarbeitsverdienst bis 5 000 Mark — die Versicherungspflichtgrenze ist häufig erhöht und 1967 ganz beseitigt worden — und verschaffte den Angestellten eine Reihe von Vorteilen, im wesentlichen: Altersruhegeld schon mit Vollendung des 65. Lebensjahres, günstigere Anspruchsvoraussetzungen bei der Hinterbliebenenrente, Berufsunfähigkeitsrente als besondere Rentenart. Allerdings gab es keinen Reichszuschuß. Diese mißlungene Integration der Angestellten hatte soziologische und politische Gründe. Dem Selbstverständnis der „Privatbeamten" als eines neuen, der Beamtenschaft angenäherten Berufsstandes zwischen Unternehmern und Arbeitern — durch „Kopfarbeit" von der handarbeitenden Bevölkerungsschicht abgehoben — war der Staat entgegengekommen, um „durch materielle Privilegierung den Sozialstatus der Angestellten als Teil der bürgerlichen Welt eindeutig zu definieren" (Klaus Saul). Die zwangsläufig auf Konvergenz hinauslaufende weitere Entwicklung der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten kann hier nicht weiter verfolgt werden.
Während des Ersten Weltkrieges reagierte die Sozialversicherung im wesentlichen durch gezielte gesetzgeberische Einzelmaßnahmen auf kriegsbedingte Probleme, nämlich durch die Sozialversicherung der im „vaterländischen Hilfsdienst Beschäftigten", Anrechnung von Militärdienstzeiten auf die Anwartschaft und Erhöhung der Leistungen für Waisen.
IV. Weimarer Republik
a) In der Weimarer Republik ragt die Einführung der Arbeitslosenversicherung durch das AVAVG vom Juli 1927 (RGBl. I S. 187) als gesetzgeberische Leistung auf dem Gebiet der Sozialpolitik hervor. Sie beruht auf der späten, durch die „Kriegsarbeitslosigkeit" geförderten Einsicht, daß Arbeitslosigkeit bei fortschreitender Industrialisierung kein individuelles Schicksal, sondern ein Massenschicksal ist und das kaum schätzbare Risiko der Arbeitslosigkeit wirksam nur durch eine staatliche Versicherung getragen werden kann.
Für die Arbeitslosenversicherung (Arbeitslosenunterstützung bis zur Höchstdauer von 26 Wochen, im übrigen Krisenunterstützung) und Arbeitsvermittlung (Vermittlungsmonopol) wurde eine neu errichtete Reichsanstalt (mit Hauptstelle, Landesarbeitsämtern, Arbeitsämtern) zuständig, die außerdem die öffentliche Berufsberatung und die Lehrstellen-Vermittlung wahrnahm. Damit war eine fast 60jährige spannungsgeladene Auseinandersetzung um die organisatorischen Grundsätze der Arbeitslosenversicherung beendet 16), und es begann eine — nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgenommene — Entwicklung bis hin zum Arbeitsförderungsgesetz — AFG — vom 25. Juni 1969 (BGBl. I S. 582), das unter Bindung der Bundesanstalt für Arbeit an die Sozial-und Wirtschaftspolitik der Bundesregierung eine Verbesserung der Beschäftigungsstruktur und eine Förderung des Wirtschaftswachstums bezweckt (vgl. die Zielbestimmungen in §§ 1 und 2 AFG). Dabei zeigt die seit Jahren anhaltende Arbeitslosigkeit die nach wie vor zentrale Bedeutung der Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung und damit der traditionellen Aufgaben der Arbeitsverwaltung. Wenngleich die Arbeitslosenversicherung — trotz ihrer besonde-ren Risikonatur — der Sache nach Sozialversicherung ist, gehört sie doch nicht zu ihren in der Kaiserlichen Botschaft genannten klassischen Zweigen und soll hier — auch wegen des Sachzusammenhangs mit den anderen Aufgaben nach dem AFG — nicht dargestellt werden (vgl. auch die übliche terminologische Trennung von Sozialversicherung und Arbeitsförderung in §§ 3 und 4 SGB I). b) Im übrigen legte der auf das Erfurter Programm der SPD (1891) zurückgehende Art. 161 der Weimarer Reichsverfassung („Zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, zum Schutz der Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfällen des Lebens schafft das Reich ein umfassendes Versicherungswesen unter maßgebender Mitwirkung der Versicherten") einen planmäßigen Ausbau der Sozialversicherung nahe. Schon wegen der tiefgreifenden wirtschaftlichen Krisensituationen (Nachkriegszeit, Inflation 1923 sowie Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933) fehlte dem Gesetzgeber jedoch dazu der erforderliche „lange Atem". Zur hochgesteckten Programmatik der Verfassung kontrastierte die Wirklichkeit auch insofern, als sogar die Ersetzung der Sozialversicherung durch ein Fürsorgesystem bis 1924 ein ernsthaftes sozialpolitisches Thema war.
Insgesamt enthält die Sozialgesetzgebung der Weimarer Republik eine Mischung fortschrittlicher und restriktiver Regelungen. Bemerkenswert ist die ab 1925 erfolgende Verbesserung der Unfallversicherung (Entschädigung von Wegeunfällen und einzelnen Berufskrankheiten, Kinderzulagen, Berufsfürsorge für Unfallverletzte, Verbesserung der Unfallverhütung). In der Invalidenversicherung treten großzügigere Anspruchsvoraussetzungen (z. B. jetzt auch hier Unabhängigkeit der Witwenrente von Invalidität, Gesetz vom 8. April 1927 — RGBl. I S. 98) zurück hinter allgemeinen Leistungserhöhungen. Andererseits ist die Gesetzgebung durch Krisenbewältigung stark beansprucht: Im Blick auf die — dem realen Wert inflationsbedingt hinterherhinkende — Anpassung von Beitragssätzen und Leistungen bedeutet das Jahr 1924 „eine neue Zeitrechnung" (Horst Peters). Die folgende Beruhigungsphase wird ab 1929 durch konsequente Sparmaßnahmen (deflationäre Finanz-und Wirtschaftspolitik) gestoppt, die damals aus politischer und wirtschaftstheoretischer Sicht als Instrument zur Bekämpfung einer wirtschaftlichen Depression geeignet erschienen. Der Reichspräsident nutzte sein Notverordnungsrecht insoweit auch für das Gebiet der Sozialversicherung, z. B. durch Leistungskürzungen, Verschärfung von Anspruchsvoraussetzungen und Einführung einer Krankenscheingebühr. Die Einschränkung, daß eine Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung bei einer geringeren Minderung der Erwerbsfähigkeit als einem Fünftel grundsätzlich nicht gezahlt wird (vgl. § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO), hat bis auf den heutigen Tag „überlebt".
V. Nationalsozialistische Zeit
Der größten sozialpolitischen Erschütterung des kapitalistischen Wirtschaftssystems folgte ein Aufschwung, bewirkt durch staatliche Geld-und Kreditschöpfung zur Finanzierung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und zur Belebung privater Wirtschaftstätigkeit. Er ermöglichte auch Sanierung und Ausbau der Rentenversicherung, u. a. durch Wiedereinführung des zeitweise außer Kraft gesetzten Anwartschaftsdeckungsverfahrens, eine gesetzliche Reichsgarantie für den Bestand der Rentenversicherung (vgl. § 1384 RVO: Bundesgarantie), Erhöhung des Reichs-zuschusses, teilweise Beitragserstattung für weibliche Angestellte bei Heirat, Erhöhung des Kinderzuschusses sowie durch Milderung der Ruhensvorschriften und des Anwartschaftsrechts — Halbdeckung anstelle der bisherigen Dreivierteldeckung — (Sanierungsgesetz vom 7. Dezember 1933 — RGBl. I S. 1039 — und Ausbaugesetz vom 21. Dezember 1937 — RGBl. I S. 1393). Vor allem blieb die traditionelle Basis der Sozialversicherung unter maßgeblichem Einfluß der Ministerialbürokratie auch während der Herrschaft des Nationalsozialismus erhalten. Grundlegende, jedoch unzureichend begründete Umgestaltungspläne, namentlich der im September 1940 vorgelegte, die Alterssicherung betreffende „Robert-LeyPlan", wurden — trotz der im Parteiprogramm der NSDAP verankerten Forderung einer Einheitsversicherung mit Einheitsverwaltung (Staatsbürgerversorgung) — nicht verwirkB licht, „während die Grundlagen des Bismarck-sehen Werkes die Probe bestanden und als Eckstein für den Neuaufbau für würdig befunden wurden" (Jahresbericht des Reichsarbeitsministers 1935). Trotzdem wäre es falsch, die Sozialversicherung deshalb als ein unbeeinflußt vom Nationalsozialismus „unpolitisch" funktionierendes Teilsystem zu begreifen
Art und Umfang struktureller Veränderung wurden vor allem durch das Aufbaugesetz vom 5. Juli 1937 (RGBl. I S. 577) und die zu seiner Durchführung und Ergänzung ergangenen 17 Verordnungen bestimmt. Das Aufbaugesetz, das erstmals den Invalidep-, Angestellten-und Knappschaftsversicherung zusammenfassenden Begriff Rentenversicherung verwendete, beseitigte die Selbstverwaltung und führte das Führerprinzip (staatlich bezahlte Leiter der Versicherungsträger, die die volle Verantwortung für die Verwaltung trugen) ein. Die Krankenversicherung war durch das Aufbaugesetz besonders betroffen, weil die sogenannten Gemeinschaftsaufgaben (Betrieb von Heilanstalten, vorbeugende Gesundheitsfürsorge, Vertrauensärztlicher Dienst, gemeinsame Verwaltung der Rücklagen der Krankenkassen, Prüfung der Geschäfts-, Rechnungs-und Betriebsführung der Krankenkas-sen und Kassenverbände) den Landesversicherungsanstalten übertragen wurden.
Bedeutsamer als propagandistisch motivierte Leistungsverbesserungen während des Krieges war die Umwandlung der bisherigen „Betriebsunfallversicherung" in eine Versicherung der Betriebsangehörigen gegen Arbeitsunfall durch das 6. Gesetz zur Änderung der Unfallversicherung vom 9. März 1942 (RGBL I S. 107). Damit entfiel die Unterscheidung von versicherten und nicht versicherten Betrieben, da es aus der Sicht des Unfallgeschädigten nicht mehr gerechtfertigt erschien, die Entschädigung von der Unfallgefahr, in bestimmten Betrieben abhängig zu machen.
Sozialpolitisches Gewicht hatte außerdem die Einbeziehung der Handwerker in die Sozialversicherung, die wegen ihrer soziologischen Zuordnung zum Mittelstand in die Angestelltenversicherung aufgenommen wurden. Das Gesetz über die Altersversorgung für das „Deutsche Handwerk" vom 21. Dezember 1938 (RGBl. I S. 1900) erfaßte auch die Risiken der Berufsunfähigkeit und des Todes. Der Verwaltung gelang es allerdings nicht, den von den Handwerkern als problematisch empfundenen Versicherungszwang in Kriegs-und Nachkriegszeit konsequent durchzusetzen.
VI. Nachkriegszeit
1. Aufbauphase Bei Kriegsende befand sich die Sozialversicherung auf ihrem Tiefpunkt: Ihre finanzielle Lage war katastrophal, nachdem ihr Vermögen zur Kriegsfinanzierung mißbraucht und zum größten Teil in Staatspapieren angelegt worden war, die Staatszuschüsse wegfielen und die Immobiliarwerte teilweise zerstört oder entwertet waren. Außerdem wurde ihre Arbeit organisatorisch (Aufgabe von Versicherungsträgern, Verlust von Versicherungsunterlagen, Fehlen einer organisatorischen Spitze) außerordentlich erschwert. Obwohl Deutschland durch die bedingungslose Kapitulation nach der seit 1947 absolut herrschenden Doktrin als Staat nicht beseitigt worden War und das bisherige Sozialversicherungsrecht prinzipiell weitergalt, verlief die Rechtsentwicklung uneinheitlich: Der anfänglichen Vorstellung einer wirklichen Neuordnung anstelle bloßer Restauration trugen die Richtlinien und Gesetzentwürfe des für ganz Deutschland zuständigen alliierten Kontrollrats von 1946 durchaus Rechnung. Sie sahen eine einheitliche Sozialversicherung mit Zuweisung der Rechtsstreitigkeiten zu den Sozialversicherungsanstalten vor, scheiterten aber, und schließlich stellte der Kontrollrat 1948 seine Tätigkeit ganz ein.
In der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) und in Berlin wurde die Sozialversicherung allerdings völlig neu gestaltet. Die VO über die Sozialversicherung vom 28. Januar 1947 (ASFS. 92) begründete für die SBZ ein einheitliches System der sozialen Pflichtversicherung und die auch heute noch in der DDR bestehende Einheitsversicherung, die als Bestandteil der marxistisch-leninistischen Sozialpolitik neben der planmäßigen Minderung der sozialen Un-terschiede der Klassen und Schichten die „Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus" und die „Herausbildung der sozialistischen Lebensweise" (Solidaritätsprinzip) zum Ziel hat.
Die Gesetzgebung auf dem Gebiet der Sozialversicherung in den westlichen Besatzungszonen war darauf gerichtet, auf der Grundlage des reichsgesetzlichen Sozialversicherungsrechts neben der Anpassung an das steigende Lohn-und Preisniveau die bereits angedeuteten Kriegsfolgeprobleme (insbesondere: Ansprüche gegen untergegangene oder nicht mehr erreichbare Versicherungsträger, Ansprüche von im Ausland lebenden Personen gegen Versicherungsträger im Bundesgebiet) mehr pragmatisch als grundsätzlich in den Griff zu bekommen. Das geschah in den einzelnen Zonen in unterschiedlicher Weise, und es sind hier als erste Regelungen die Sozialversicherungsanordnung Nr. 1 der britischen Besatzungszone und die Flüchtlingsgesetze der Länder der amerikanischen Besatzungszone zu nennen. Mit dem Fremdrenten-und Auslandsrentengesetz vom 25. Februar 1960 — FRG — (BGBl. I S. 93), das das Entschädigungsdurch das Eingliederungsprinzip ersetzte, fanden diese außergewöhnlichen Probleme, die ihren Ursprung in historischen Vorgängen aus der Zeit vor der Entstehung der Bundesrepublik Deutschland hatten, ihre abschließende gesetzliche Regelung (s. VI. 3.). Die Umstellung der Beiträge und der Ansprüche nach der Währungsreform von 1948 im Verhältnis 1: 1 stellte die Sozialversicherung schließlich vor weitere Schwierigkeiten. 2. Grundgesetz und Sozialversicherung Die Beziehung zwischen Grundgesetz (GG) und Sozialversicherung bedarf ohne Rücksicht auf Chronologie wenigstens kurzer Erläuterung. Denn Richtung und Inhalt des Sozialversicherungsrechts wurden und werden wesentlich durch das GG in Verbindung mit einer seine Effektivität sichernden Verfassungsgerichtsbarkeit bestimmt. Am eindrucksvollsten läßt sich der Beweis dafür gegenwärtig mit der bevorstehenden umfassenden Reform der Hinterbliebenenversorgungiühren., zu der das BVerfG den Gesetzgeber durch Urteil vom 12. März 1975 (BVerfGE 39, 169) verpflichtet hat. Sie steht nicht zuletzt wegen der mit ihr verbundenen schwierigen Finanzierungsfragen mit im Brennpunkt der sozialpolitischen Diskussion.
Das GG erwähnt zwar die Sozialversicherung an einigen Stellen (Art. 74 Nr. 12, 87 Abs. 2, 120 GG), verzichtet aber darauf, dem Gesetzgeber einen besonderen Gestaltungsauftrag zu erteilen und die Sozialversicherung institutionell zu garantieren. Verfassungsrechtlich nicht abgesichert ist damit auch die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung. Gelegentliche Versuche, ihre verfassungsrechtliche Garantie aus der Kompetenznorm des Art. 87 Abs. 2 GG, dem Sozialstaatsgrundsatz oder gar dem der katholischen Soziallehre entstammenden Subsidiaritätsprinzip herzuleiten, laufen auf eine Überinterpretation der Verfassung hinaus Von dieser verfassungsrechtlichen Beurteilung ist selbstverständlich die Frage nach dem politischen Sinn und der Leistungsfähigkeit der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung zu trennen
Auch in der inhaltlichen Ausgestaltung läßt das GG dem Gesetzgeber weitgehend freie Hand und ermöglicht ihm, neue Lagen — auch und gerade finanziell — zu bewältigen Es kennt keine Grundrechte auf soziale Leistungen. Ob diese „wie überhaupt Rechte auf staatliche Leistungen als griffige Anspruchsnormen in einer auf Dauer angelegten Verfassung fixiert werden können" ist sehr fraglich. Nicht richtig wäre allerdings die weitergehende Folgerung, das GG sei gegenüber staatlicher Sozialpolitik neutral. Sie ließe Staatszielbestimmungen und den Grundrechtskatalog außer acht: Das „verfassungsfeste" (Art. 79 Abs. 3 GG) Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), Gegenstand zahlreicher Publikationen, ist trotz fehlender Prägnanz nicht nur Programmsatz, sondern verpflichtet den Staat, im sozialen Bereich Sicherheit und Gerechtigkeit herzustellen Postulate, die das Sozialgesetzbuch — SGB — ausdrücklich wiederaufnimmt (§ 1 SGB I). Unsere Sozialversicherung ist eine mögliche Verwirklichung so verstandener Sozialstaatlichkeit. Zur Ableitung subjektiv-öffentlicher Rechte für sich allein kaum geeignet, hat das Sozialstaatsprinzip außerdem als Auslegungstopos vor allem für die Grundrechtsinterpretation eine erhebliche Bedeutung
Unter den Grundrechten wiederum nimmt, wie die sozialrechtsbezogene Rechtsprechung des BVerfG und die Judikatur des BSG eindrucksvoll zeigen, der Gleichheitsgrundsatz — Maßstab aller sozialpolitischen Aktivitäten des Staates — eine Schlüsselstellung ein Die Eigentums^arantie des Art. 14 GG schützt auch Rentenversicherungsansprüche und -anwartschaften Und das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) schließlich kann für das Sozialversicherungsrecht von Bedeutung sein, weil es verbietet, schützenswertes Vertrauen des Berechtigten durch rückwirkende Gesetzesänderungen zu enttäuschen; allerdings wird dem Bürger in einer „informierten Gesellschaft" viel zugemutet, ehe das BVerfG sein Vertrauen für enttäuscht erachtet 3. Zur Gesetzgebung nach Inkrafttreten des GG Normalisierung der Verhältnisse Auch nach Inkrafttreten des GG blieb die Normalisierung der Verhältnisse noch immer Leitmotiv der gesetzgeberischen Aktivitäten: Ausdehnung des Sozialversicherungsrechts des Vereinigten Wirtschaftsgebietes auf das gesamte Bundesgebiet (Beseitigung der Rechtszersplitterung) und die Anpassung von Leistungen der Sozialversicherung an das geänderte Lohn-und Preisgefüge (Gesetz vom 17. Juni 1949, WiGBl. S. 99) sowie Wiederherstellung der Selbstverwaltung durch Gesetz vom 22. Februar 1951 (BGBl. I S. 124) sind unter diesem Aspekt in einem Atemzug zu nennen. Vor allem milderte die Gesetzgebung Kriegsfolgen durch die — immer wieder verbesserten — Regelungen der Kriegsopferversorgung und des Lastenausgleichs, auf sozialversicherungsrechtlichem Gebiet in erster Linie durch das Fremdrentengesetz — FRG —-vom 25. Februar 1960 (BGBl. I S. 93), das die Vertriebenen in das neue Rentensystem eingliederte. Die Rentenversicherungsleistungen für die Verfolgten des Nationalsozialismus wurden 1970 verbessert. Dagegen ist die Übertragung der Sozialgerichtsbarkeit auf unabhängige besondere Verwaltungsgerichte (Sozialgerichte, Landessozialgerichte, Bundessozialgericht) durch das Sozialgerichtsgesetz— SGG — vom 3. September 1953 (BGBl. I S. 1239) kein Akt bloßer Normalisierung, sondern Erfüllung des verfassungsrechtlichen Gebots der Gewaltenteilung
Neuorientierung der Sozialversicherung Schon früh begann in allen wesentlichen gesellschaftlichen Gruppen die Diskussion über eine „Neuordnung der sozialen Leistungen" Die zu diesem Zweck von der Bundesregierung eingesetzte Kommission, der die Professoren Achinger, Höffner, Muthesius und Neundörfer angehörten, hatte in der soge-nannten Rothenfelser Denkschrift (1955) Änderungsvorschläge gemacht, die wegen ihres wohl zu weit gespannten Rahmens (u. a. Kodifizierung der sozialen Leistungen) unverwirklicht blieben. Die Reformdiskussion erbrachte im Kern die Aufrechterhaltung des bisherigen Sozialleistungssystems. Gegenüber der in England und den skandinavischen Ländern beheimateten Idee einer einheitlichen Versorgung bei Invalidität, Alter und Tod ohne Rücksicht auf eine Beitragsleistung (insbesondere: Beveridge-Plan) war man in der Bundesrepublik Deutschland davon überzeugt, daß die Rente von Anzahl und Höhe der Beiträge abhängig sein müsse (Äquivalenzprinzip). Ein Nebeneinander von Kausalität und Finalität charakterisiert weiterhin das deutsche Sozialleistungssystem: Sozialversicherungsleistungen sind zwar ohne sozialpolitische Zwecksetzung (Finalität) undenkbar, werden aber nicht allein schon durch eine bestimmte Bedarfssituation, sondern erst unter zusätzlichen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen ausgelöst Dabei verlangt die gesetzliche Unfallversicherung eine spezifische Kausalität zwischen versicherter Tätigkeit und Unfall'sowie zwischen Unfall und Gesundheitsschädigung. Die Forderung nach einer stärkeren oder gar ausschließlich finalen Ausrichtung der Sozialleistungen ist nicht zu überhören. Konsequenter Ersatz sozialer Schäden nach der nivellierenden Formel: „Gleiche Leistungen bei gleichen Schäden" würde Sicherungslücken ebenso wie unerwünschte Kumulierungen von Sozialleistungen vermeiden, wäre aber — abgesehen von der Frage der Finanzierbarkeit — nur zu befürworten, wenn sich Differenzierungen durch kausale Elemente in den einzelnen Sozialleistungsbereichen wirklich nicht einleuchtend rechtfertigen ließen und ihre Existenz nur der „Beharrungskraft des Etablierten" 30a) verdankten.
Vor dem angedeuteten, restaurativ getönten Hintergrund sind gleichwohl wesentliche Neuorientierungen der Sozialversicherung, die mit Fortsetzung des Expansionstrends und Leistungsverbesserung zu allgemein umschrieben wären, deutlich erkennbar 30b): a) Unter Abschwächung des versicherungsmäßigen Äquivalenzprinzips — es war seit jeher von Fürsorge-und Versorgungselementen durchsetzt (Staatszuschüsse, beitragsunabhängige Rentenbestandteile usw.) — gewinnt das Bedarfsprinzip immer mehr an Boden. Für diese Entwicklung war in der Rentenversicherung nach den Erfahrungen der Vergangenheit die Erkenntnis verantwortlich, daß die Renten unabhängig von Lohn-und Kaufkraft-schwankungen nach einem vollen Arbeitsleben und ohne andere Einkünfte eine dem Lebensstandard entsprechende auskömmliche und menschenwürdige Lebenshaltung ermöglichen müssen (Lohnersatzfunktion). Das Sozialversicherungsrecht der Nachkriegszeit bietet darüber hinaus eine Fülle von Beispielen für Begünstigungen und UmverteilungseHekte, die mit dem Zurücktreten des versicherungsmäßigen Äquivalenzprinzips verbunden sind. Wann diese auf grundrechtswidrige Überspannungen des Solidarprinzips hinauslaufen, mag im Einzelfall zweifelhaft sein. So belastete das Rentenreformgesetz — RRG — vom 16. Oktober 1972 (BGBl. I S. 1965) mit seinen überaus großzügigen Nachentrichtungsmöglichkeiten die Versichertengemeinschaft in unangemessener Weise. Nicht unbestritten ist auch, ob der Gesetzgeber mit der — ebenfalls auf diesem Gesetz beruhenden — Rente nach Mindesteinkommen trotz ihrer einleuchtenden sozialpolitischen Intention den Maßstab der Beitragsgerechtigkeit noch beachtet hat. Allgemein gilt jedoch, daß der gesetzgeberische Spielraum groß ist, weil sozialer Ausgleich zwischen wirtschaftlich Starken und wirtschaftlich Schwachen zum Wesen der Sozialversicherung gehört
b) Von den weiterhin im Vordergrund stehenden monetären Leistungen der Sozialversicherung haben sich die Akzente allmählich auf die Rehabilitation mit ihren weitgehend nicht-monetären Leistungen verlagert. Rehabilitation bedeutet, durch medizinische, berufsfördernde und ergänzende Maßnahmen und Leistungen körperlich, geistig und seelisch Behinderte möglichst dauerhaft in Arbeit, Beruf und Gesellschaft einzugliedern. Die gleiche Eingliederungsaufgabe trifft die Sozialversicherungsträger schon dann, wenn eine Behin-* derung droht (Prävention) Zentrale Bedeutung hat das Rehabilitations-Angleichungsgesetz vom 7. August 1974 (BGBl. I S. 1881), das für die Träger der Sozialversicherung und die Kriegsopferversorgung gilt, nicht aber für die Eingliederungshilfe nach dem BSHG. Es gleicht die Bestimmungen über die Rehabilitation an und bezweckt ein zügig und nahtlos ablaufendes Reha-Verfahren; sein Instrumentarium: sachdienliche Auskünfte, umfassende Beratung, frühzeitige und zügige Durchfüh-rung des Erforderlichen, Zusammenarbeit aller Reha-Träger (allgemein durch Gesamtvereinbarungen, im Einzelfall durch den Gesamtplan) und die Vorleistungspflicht der Bundesanstalt für Arbeit. Ob ein Anspruch auf Rehabilitation besteht, richtet sich jedoch nach den einzelnen Sozialgesetzen. Das gegliederte System der Sozialversicherung wird, obgleich zumindest eine organisatorische Konzentration nahegelegen hätte, also nicht angetastet.
c) Durch Ausdehnung auf weitere, nicht nur lohnabhängige Bevölkerungskreise wandelt sich die Sozialversicherung allmählich von der Arbeitnehmer- zur Volksversicherung: Altershilfe für Landwirte durch das vielfach geänderte GAL vom 27. Juli 1957 (BGBl. I S. 353) das Handwerker-Versicherungsgesetz vom 8. September 1960 (BGBl. I S. 737) Aufhebung der Jahresarbeitsverdienstgrenze in der Rentenversicherung der Angestellten (1967), „Öffnung" der Rentenversicherung für Selbständige und Hausfrauen durch das Rentenreformgesetz — RRG —(1972), Erstreckung der Versicherungspflicht auf Arbeitslose, Rehabilitanden und in geschützten Einrichtungen beschäftigte Behinderte, öffentlich-rechtliche Versicherungs-und Versorgungseinrichtungen für Angehörige bestimmter freier Berufe, zuletzt die Sozialversicherung der selbständigen Künstler und Publizisten sowie die permanente Ausdehnung des geschützten Personenkreises in der gesetzlichen Unfallversicherung (vgl.den beeindruckenden Kata-log des § 539 Abs. 2 Nr. 1 bis 17 RVO) sind mehr oder weniger große Schritte auf diesem Weg.
d) Die technische Innovation hat auch die Sozialversicherung erfaßt, und zwar seit mehr als zehn Jahren in Gestalt der EDV: Nur mit ihrer ist es komplizierte Hilfe möglich, massenhaft Rentenberechnungen durchzuführen, das Meldeverfahren für Kranken-und Rentenversicherung zu vereinfachen und die Informationsinteressen aller Beteiligten besser und schneller zu befriedigen. Bedürfnisse der Leistungsverwaltung nach „automationsgerechter" Rechtsetzung und „automationsfreundlicher" Rechtsprechung enthüllen; daß die EDV kein im Verhältnis zur Rechtsordnung indifferentes Hilfsmittel ist, sondern auf Rechtsetzung und Gesetzesauslegung zurückwirkt. Gewisse Abstriche von der durch Informations-und Datenverarbeitung erreichbaren Verwaltungseffizienz verlangt der im Sozial-gesetzbuch — SGB — detailliert geregelte Schutz der Sozialdaten, ohne daß deshalb die Befürchtung begründet sein dürfte, die gesetzlichen Regelungen des Sozialdatenschutzes seien überzogen und könnten die Sozialleistungsverwaltung lahmlegen
Die einzelnen Versicherungszweige a) Am nachhaltigsten wurde die Rentenversicherung durch die Rentenreformvon 1957 verändert: Neben dem Ausbau der Rehabilitation brachte sie die Unverfallbarkeit der Beiträge und die — für Arbeiterrenten-, Angestellten-und Knappschaftsversicherung einheitliche — den alten Invaliditätsbegriff ablösende Definition der Erwerbs- und Berufsunfähigkeit (§§ 1247 Abs. 2, 1246 Abs. 2 RVO). Diese rentenversicherungsrechtlichen Leitbegriffe konfrontieren Verwaltung und Rechtsprechung mit der vielschichtigen Fragestellung, welche individuellen Leistungseinschränkungen unsere Industrie-und Dienstleistungsgesellschaft noch oder nicht mehr hinnimmt für die Feststellung von Berufsunfähigkeit erfor-dem sie zusätzlich den Vergleich des bisherigen Berufs mit möglichen „Verweisungstätigkeiten" nach dem Maßstab sozialer Zumutbarkeit. Diesbezügliche Verwaltungs-und Rechtsprechungspraxis der letzten Jahrzehnte hat — dies kann hier nur pauschal formuliert werden — die Grenzen sozialversicherungsrechtlicher Biankettbegriffe aufgezeigt Es erscheint unmöglich, die in ihnen angelegte Komplexität in einer Weise aufzulösen, die konsensfähig dem Gleichheitsgrundsatz Rechnung trägt, über-und Untersicherungen vermeidet und außerdem die Risiken zwischen Renten-und Arbeitslosenversicherung richtig verteilt. Die (oft voreilige) Forderung nach gesetzlicher Neuregelung —hier meist mit plausiblen, am Lohnersatzprinzip ausgerichteten Vorschlägen verbunden — dürfte deshalb berechtigt sein.
Im Gegensatz zu dieser alles andere als marginalen, aber merkwürdig verdeckten Problematik steht die dynamische Rente, das Kernstück der Rentenreform von 1957, nach wie vor und mit Recht hoch im Kurs des öffentlichen Interesses. Sie löste die aus Grundbetrag, Steigerungsbeträgen, Kinderzuschüssen usw. bestehende und durch inflationäre Entwicklungen gefährdete statische Rente ab. Durch eine völlig neuartige Rentenberechnung wird den Rentnern ein mit der Lohnentwicklung gekoppelter Lohnersatz verschafft, der es ermöglicht, die während des Arbeitslebens erreichte Einkommenssituation in etwa auch während des Alters und bei Erwerbsunfähigkeit beizubehalten. Aufgrund der gesetzlich vorgeschriebenen Rentenanpassungsberichte (§ 1273 RVO) und der Vorschläge der Bundesregierung wurden die Renten seit 1959 jährlich durch Gesetz (§ 1272 RVO) — also nicht automatisch — an die Lohnentwicklung weiter zurückliegender Zeiträume (time-lag) angepaßt. Das 20. und 21. Rentenanpassungsgesetz griffen in das System der Bruttoanpassung dadurch ein, daß neben der Verschiebung des Anpassungstermins vom 1. Juli auf den 1. Januar eines jeden Jahres (erstmals vom 1. Juli 1977 auf den 1. Januar 1979) die Renten-anpassungen für 1979 auf 4, 5 v. H. und für 1980 und 1981 auf je 4 v. H. begrenzt wurden. Die* Aktualisierung der allgemeinen Bemessungsgrundlage und ein neuer Berechnungsmodus sollen inflationsbedingten Kaufkraftverlust und allzu starke Schwankungen des Rentenniveaus vermeiden.
Primär geht es indessen um dauerhafte Stabilisierung der Finanzlage der Rentenversicherung, die sich entgegen der erwarteten wirtschaftlichen Entwicklung seit etwa 1975 drastisch verschlechtert hatte und im übrigen eine weitere Herabsetzung der flexiblen Altersgrenze ohne versicherungsmathematische Abschläge indiskutabel erscheinen läßt. Die Dominanz dieses Problems zeichnet sich auch für die Zukunft ab, nicht nur wegen des ökonomischen Wandels (Konjunkturschwankungen, strukturelle Veränderungen), sondern auch wegen der erforderlichen Festigung des „Generationenvertrags" (durch Gleichlauf von Rentner-und Arbeitnehmereinkommen), des zusätzlichen Finanzbedarfs, der mit der Neuregelung der Hinterbliebenenversorgung entstehen dürfte, und der ungünstigen demographischen Entwicklung („Rentenberg"). Das erhellt die lebhafte und noch weitgehend offene Diskussion, die mit den Stichworten brutto-oder nettolohnbezogene Rente, Besteuerung der Renten, Änderung der Rentenformel und wertschöpfungsbezogener Arbeitgeberbeitrag („Maschinenbeitrag") stichwortartig angedeutet ist. Sie bedarf — auch dies ein typischer und allgemeiner Zug unserer Zeit — der Unterstützung von Planung und wissenschaftlicher Methodik, die freilich nach ihrem Selbstverständnis keine sichere Prognose liefern, sondern frei von „Trendoptimismus" nur unterschiedliche Prämissen plausibel variieren kann.
b) Die auch nach dem Zweiten Weltkrieg erstrebte Reform des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in eine „permanente Gesetzesänderung in Stücken" (Horst Peters) aufgelöst. Weitere Reformen, vor allem Änderungen des Leistungsrechts, bleiben immer noch abzuwarten.
Unter Verzicht auf eine Übersicht über die Fülle gesetzgeberischer Maßnahmen nur wenige Bemerkungen zu den Grundsätzen der Entwicklung: Neben der Einbeziehung weiterer Gruppen in die gesetzliche Krankenversicherung ist Leistungsverbesserung ein gesetzgeberisches Leitmotiv, das sich beim Gesetz zur Verbesserung von Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung — KLVG — vom 19. Dezember 1973 (BGBl. I S. 1925) (es brachte insbesondere den Rechtsanspruch auf zeitlich unbegrenzte Krankenhauspflege) bereits aus der Überschrift ablesen läßt. Durch das Lohnfortzahlungsgesetz vom 27. Juli 1969 (BGBl. I S. 946) wurde die Krankenversicherung von einer wesentlichen Aufgabe, der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfall, weitgehend entlastet, und es rückten dadurch die Sachleistungen in den Vordergrund.
Andererseits sind der gesetzlichen Krankenversicherung über ihren ursprünglichen und primären Zweck hinaus — Versicherungsschutz für den Fall der Krankheit (ferner: der Mutterschaft und des Todes) zu bieten — weitere Aufgaben zugewachsen. Sie passen zu einer zeitgemäßen, Gesundheit als höchstes Gut bewertenden Sozial-und Gesundheitspolitik. Hier sind im Anschluß an Christian von Ferber die Strategien zu nennen, mit denen den gesundheitsgefährdenden Auswirkungen sozialen Wandels — sie zeigen sich vor allem in einem von psychovegetativen Störungen und psychosomatischen Krankheitsbildern geprägten Krankheitspanorama — entgegengewirkt werden soll durch Rehabilitation und Krankheitsfrüherkennung, während die das gleiche Ziel verfolgende gesundheitliche Vorsorge am Arbeitsplatz von der gesetzlichen Unfallversicherung zu bewältigen ist. Wesentliche gesetzliche Grundlagen hierfür sind das Rehabilitations-Angleichungsgesetz vom 7. August 1974 (BGBl. IS. 1881), durch das auch die Krankenkassen Rehabilitationsträger geworden sind und medizinische und in gewissem Umfang ergänzende Leistungen zur Rehabilitation zu erbringen haben, sowie das Gesetz zur Weiterentwicklung des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung vom 21. Dezember 1970 (BGBl. I S. 1770), aufgrund dessen die Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten Regelleistungen sind, so daß sichergestellt ist, daß alle Krankenkassen einheitlich verfahren. Hier zeigt sich die einleuchtende legislatorische Absicht, Teile der Rehabilitation in die Prävention zu verlagern.
erner gehören in diesen Zusammenhang Be-ratung und Hilfe in Fragen der Empfängnisverhütung, der legalen Sterilisation und des legalen Schwangerschaftsabbruchs. Angesichts dieses neuen Leistungskatalogs erweist sich das Versicherungsprinzip allein als unzureichend, um diese zusätzlichen Aufgaben zu bewältigen, und es gilt, „unbeschadet des Primats sozialpolitischer Gesichtspunkte, die Grenzen sorgfältig abzuwägen, damit nicht Aufgaben, die der Allgemeinheit obliegen, zu Lasten der Beitragszahler finanziert werden" Unabhängig davon ist die Finanzierung der Krankenversicherung äußerst problematisch: Als Instrument gegen eine „Kostenexplosion", die bei überproportional steigenden Ansprüchen und nur proportional steigendem Finanzaufkommen gerade die Krankenversicherung erfaßt hat („Kostenschere'') soll das sogenannte Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz — KVKG — vom 27. Juni 1977 (BGBl. I S. 1069) die Ausgabenentwicklung in der Krankenversicherung in Übereinstimmung mit der Einkommensentwicklung der Versicherten bringen (s. auch § 405a RVO). Die Kostendämpfungspolitik wird fortgesetzt.
c) In der Berichterstattung der Medien bleibt die Unfallversicherungdeuüich hinter den anderen Versicherungszweigen zurück. Daraus auf das Fehlen grundsätzlicher Fragestellungen zu schließen, wäre jedoch nicht richtig: So berührt die Diskussion über eine stärkere Orientierung am Finalprinzip (s. o.) unmittelbar die Existenz dieses kausal ausgerichteten Versicherungszweiges. Und die Realisierung einer gesetzlichen Verkehrsunfallversicherung des ganzen Volkes oder eine allgemeine Invaliditätsversicherung mit den Berufsgenossenschaften als Versicherungsträgern würden die Struktur der gesetzlichen Unfallversicherung erheblich verändern. Gesetzliche Neuregelungen haben indessen die Grundlagen der Unfallversicherung nicht angetastet: Das am 1. Juli 1963 in Kraft getretene Unfallversicherungs-Neuregelungsge-setz vom 30. April 1963 (BGBl. I S. 241) ergänzte das bisherige Recht unter systematischer Glättung, hob die Unfallverhütung (Sicherheitsbeauftragte, Unfallverhütungsbericht der Bundesregierung) hervor und schrieb (ab 1. Januar 1964) die Anpassung der Geldleistungen an das veränderte Durchschnittseinkommen (Dynamisierung) vor. Es behielt jedoch tiie versicherungsrechtlichen Struktur-prinzipien einschließlich der abstrakten Schadensberechnung bei. Es enthielt sich auch begrifflicher Konkretisierung des Arbeitsunfalls, so daß der Vielfältigkeit der Lebenssachverhalte (vgl. z. B. die Rechtsprechung des BSG zu den sogenannten Wegeunfällen) auf diesem Gebiet weiterhin durch reiche Kasuistik Rechnung getragen wird.
Die zunehmende Einbeziehung von Nicht-Arbeitnehmern in die gesetzliche Unfallversicherung entspricht allerdings nicht mehr deren entstehungsgeschichtlich belegten engeren Aufgabenstellung (Ablösung der Arbeitgeberhaftung), wohl aber ihrer sozialen Schutzfunktion. Die Entwicklung des Rechts der Berufskrankheiten ist bis zur 6. BKVO vom 28. April 1961 (BGBl. I S. 505) unter grundsätzlicher Beibehaltung des sogenannten Enumerations-oder Listenprinzips durch die ständige, auf veränderte Arbeitsbedingungen und neue medizinische Erkenntnisse zurückzuführende Erweiterung der Zahl der Berufskrankheiten (auf 47) und die Aufgabe einschränkender Voraussetzungen gekennzeichnet. Die gegenwärtig geltende 7. BKVO (1968) hat die Berufskrankheiten in gleicher Art und Zahl beibehalten. 4. Zur Bedeutung des Sozialgesetzbuches — SGB Noch nicht hinreichend ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gedrungen ist das Sozialgesetzbuch (SGB) als größtes — durchaus dem BGB vergleichbares — Gesetzgebungsvorhaben der Nachkriegszeit. Es soll als Kodifikation des Sozialrechts, die sich im übrigen nicht mit der Zuständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit deckt, zehn Bücher umfassen (1. Allgemeiner Teil, 2. Ausbildungsförderung, 3. Arbeitsförderung, 4. die gesamte Sozialversicherung, 5. soziale Entschädigung, 6. Kindergeld, 7. Wohngeld, 8. Jugendhilfe, 9. Sozialhilfe, 10. Beziehungen der Leistungsträger zueinander und zu Dritten, Schutz der Sozialdaten sowie das Verwaltungsverfahrensrecht). Nachdem die Epoche der großen Kodifikationen hinter uns zu liegen scheint, war bezweifelt worden, ob der schon durch die Alltagsarbeit überlastete Gesetzgeber („Fließbandgesetzgebung") die Kraft zu einer umfassenden Systematisierung eines großen Teils der Rechtsordnung habe und ob das Sozialrecht hierfür wissenschaftlich genügend aufgearbeitet sei. Stärker als solche Skepsis erwies sich die — nicht nur für den am Begriffs-und Systemdenken geschulten Juristen — attraktive Idee, das in einer Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen geregelte, unter unterschiedlichen historischen und sozialpolitischen Voraussetzungen entstandene und mehr als nötig differenzierte Sozialrecht für den Bürger, aber auch für die Verwaltung und Rechtsprechung übersichtlicher zu machen, zu vereinfachen und zu harmonisieren, kurz: unübersichtlich gewordenes Normenmaterial zusammenzufassen.
Mit dem SGB, das stufenweise verwirklicht wird, ist nach dem Regierungsauftrag keine Neuordnung der Sozialleistungen verbunden, sondern nur eine begrenzte Sachreform (Trennung von Kodifikation und Reform). Als Beispiel für Verbesserungen der Rechtsposition des Bürgers durch das SGB sind die Regelungen der sozialrechtlichen Aufklärung, Beratung und Auskunft (§§ 13— 15 SGB I) und der Verzinsung von Sozialleistungen (§ 44 SGB I) zu nennen. Das SGB wird auch künftig zu einer weiteren Verringerung der gesetzlichen Bestimmungen führen, z. B. ganz einfach dadurch, daß die gleichlautenden oder gleichsinnigen Vorschriften in RVO, AVG, RKG und dem Handwerkerversicherungsgesetz in einem Kapitel des 4. Buches zusammengefaßt werden.
Auch Verringerung der Anzahl gesetzlicher Vorschriften durch solide Gesetzgebungstechnik bewirkt „Eindämmung der Normenflut'und Rechtsvereinfachung, übertriebene Erwartungen erscheinen hier jedoch unangebracht Ähnliches gilt für die Hoffnung auf eine volkstümliche Gesetzessprache, da der moderne Gesetzgeber wegen der Vielgestaltigkeit der zu regelnden Lebensverhältnisse zu abstrakter Formulierung gezwungen ist. Im Vordergrund steht deshalb die mit dem SGB erreichbare größere Übersichtlichkeit und Systematik. Die vom SGB ausgehenden Impulse auf die Rechtswissenschaft lassen insbesondere den Ausbau einer sozialrechtlichen Dogmatik erwarten, d. h. einer neben Normen und Gesetzesmaterialien tretenden „Elementarlehre''(Josef Esser). Damit verbindet sich die Hoffnung, daß das im Wissenschaftsbetrieb der Universitäten lange Zeit kaum beachtete Sozialrecht seiner Bedeutung entsprechend in der juristischen Ausbildung berücksichtigt wird. 5. Internationales Sozialversicherungsrecht Eine zusätzliche, sich seit 1945 erheblich vergrößernde Dimension hat das deutsche Sozialversicherungsrecht durch seine Inter-und Supranationalität gewonnen: Wachsende Verflechtung der nationalen Volkswirtschaften in Verbindung mit der Durchlässigkeit der Grenzen für Arbeitnehmer und Touristen lassen sozialversicherungsrechtliche Sachverhalte mit Auslandsberührung entstehen, während Probleme des Fremdrentenrechts demgegenüber zurücktreten. Die hierauf anwendbaren Normen werden zusammenfassend als Internationales Sozialversicherungsrecht bezeichnet, gleichgültig, ob sie nationalen (vgl. §§ 1315ff. RVO) internationalen (vor allem: Sozialversicherungsabkommen) oder supranationalen Ursprungs (sozialrechtliche Bestimmungen der EG) sind. Dabei sind die Kompetenzen für eine eigenständige sozialrechtliche Gesetzgebung der EG begrenzt und klare Aufträge nur für die Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und ferner für den Europäischen Sozialfonds erteilt. Die praktisch bedeutsame EWG-Verordnung 1408/71 vom 14. Juni 1971 sichert durch ein wechselseitiges Anerkennungs-und Anrechnungsverfahren die in den anderen Staaten erworbenen sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche und Anwartschaften der Wanderarbeitnehmer.
VII. Schlußbemerkungen
Gesetzgebungsgeschichte auf dem Gebiet der Sozialversicherung als „roter Faden“ kann nicht hinreichend die Einbindung des Sozialversicherungsrechts in die Gesamtrechtsordnung (s. auch VI. 2.) verdeutlichen: Das gilt schon für die Beziehung zum übrigen Sozialrecht und zum Steuerrecht. Hier wird zunehmend erkannt, daß ein unkoordiniertes und unübersichtliches Nebeneinander staatlicher Sozialleistungen in Verbindung mit dem klassischen Umverteilungsinstrument der progressiven Einkommenssteuer sinnvolle Umverteilung vereitelt, wenn staatliche Transfer-Einkommen mehr erbringen als zusätzliche Arbeitsleistungen, m. a. W.: wenn das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit aufgehoben ist Die steuerliche Gleichbehandlung aller Alterseinkommen ist ein wesentlicher Teilas-pekt der Koordinierungsproblematik. Solche Harmonisierungsbemühungen zielen auf eine innerlich schlüssige und durchsichtige Gesamtrechtsordnung. Ferner: Dem Besonderen Verwaltungsrecht zugehörig hat das Sozialversicherungsrecht nur'geringe Berührung zur Eingriffsverwaltung (Staat als Garant öffentlicher Ordnung), während es den mit „Leistungsverwaltung" umrissenen Anteil dieses Rechtsgebiets entscheidend mitprägt. Im Verhältnis zum bürgerlichen Recht ist weniger der ergänzende Rückgriff auf dessen Rechtsinstitute bemerkenswert, als vielmehr die Akzentverlagerung vom Privatrecht zum Sozialrecht, wie sie im zivilen Unterhaltsrecht besonders augenfällig wird.
Zurück zum Ausgangspunkt: Organisatorischinstitutionellhat die deutsche Sozialversicherung nach lOOjähriger Entwicklung ihre Identität (gegliedertes System und Selbstverwaltung) bewahrt. Eine solche historisch gewachsene starke institutionelle Gliederung stellt auch für die Zukunft die Aufgabe, zum Nutzen der Berechtigten Reibungsverluste durch „nahtloses" Ineinandergreifen der Leistungen und größtmögliche, zügige Zusammenarbeit der Leistungsträger zu minimieren. Mit ge-sellschaftlichem und volkswirtschaftlichem Wandel hat sich die Sozialversicherung inhaltlich erheblich geändert. Ihr Expansionsgrad läßt sich an der Diskussion darüber ablesen, inwieweit sie sich der „Randgruppen" und „Restrisiken“ (z. B.des Risikos der Pflegebedürftigkeit) anzunehmen habe. Da der beschriebene Prozeß inhaltlicher Veränderung — zumal in einer offenen, pluralistischen Gesellschaft — keinem ein für allemal vorgegebenen sozialpolitischen Plan folgt, verläuft er nicht widerspruchsfrei und ist jedenfalls in seiner Gesamtheit kaum noch durchschaubar. Insoweit ist in der Sozialversicherung und dem ihr zugehörigen Recht durchaus ein Zug zu größerer Rationalität festzustellen (Planung, Prognose, Kodifikation, Harmonisierung von Teilrechtsordnungen, Aufarbeitung verfassungsrechtlicher Defizite, EDV).
Mehr oder weniger radikale Staats-und Bürokratiekritik unterschiedlicher Herkunft hat seit einigen Jahren auch die Sozialversicherung erfaßt und aktualisiert den alten Verdacht, der Wohlfahrtsstaat verschaffe den Menschen Güter statt Kräfte Sie macht darauf aufmerksam, daß eine „staatliche Sicherheits-und Sozialindustrie" — mit „Verrechtlichung und Monetarisierung" als ihren Haupt-eigenschaften — individuelle Freiheit und überschaubare Solidargemeinschaften bedrohe und Angst mit psychosozialen Krankheitsbildern erzeuge -Oder sie glaubt, „die (soziale) Polsterung treibe im Zusammenhang mit der heute allgemeinsam richtungs-und ziellos propagierten Selbstverwirklichung des Menschen seltsame Blüten, weil auch zerstörerische Selbstverwirklichung sozialstaatlich abgefangen und damit insoweit risikolos werde" Je mehr sich solche Kritik — womöglich mit dem Bild eines „verweichlichten" und „sekuritätsbesessenen“ Menschen vor Augen — in allgemeinem Kulturpessimismus erschöpft, um so, weniger wird sie sozialpolitisch bewirken. Etwas anderes gilt, wenn sie konkret und empirisch belegt Systemschwächen aufdeckt (z. B. unerfüllte Bedürfnisse nach „Bürgernähe“ der Verwaltung und nach nicht-monetären Leistungen, Gefahren des Leistungsmißbrauchs, bei dem es sich entgegen einer verbreiteten Klischeevorstellung um kein „Massenphänomen" handeln dürfte Lähmung der Eigeninitiative, unzureichende Koordinierung der Teilsysteme).
Es mag sein, daß nicht zuletzt aus ökonomischer Notwendigkeit Eigenvorsorge und betriebliche Sozialleistungen an Bedeutung gewinnen werden. Der vor hundert Jahren begonnene Aufbau eines öffentlichen Sozialversicherungssystems ist jedoch irreversibel: Denn in einer industriellen Dienstleistungsgesellschaft, in der die meisten Staatsbürger ihre wirtschaftliche Existenzsicherung in erster Linie durch den Arbeitsertrag erlangen, kann soziale Sicherheit dauerhaft und stabil nur durch eine staatliche Organisation wie die solidarische Sozialversicherung garantiert werden (vgl. auch BVerfGE 40, 65, 84). Bedenkt man außerdem, daß dem Bürger dadurch Existenzängste genommen und Entfaltungsmöglichkeiten geboten werden sollen, so ist überdies Michael Stolleis voll zuzustimmen, daß jedenfalls auf der Ebene der Grundsicherung — und damit sind die von der Sozialversicherung erfaßten typischen Risiken angesprochen — Befürchtungen, allzuviel Gleichheit bedrohe die Freiheit, keinen Realitätsgehalt haben.