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Industriekultur und demokratische Identität | APuZ 41-42/1981 | bpb.de

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APuZ 41-42/1981 Industriekultur und demokratische Identität Artikel 1

Industriekultur und demokratische Identität

Hermann Glaser

/ 44 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In zunehmendem Maße wird Alltagsgeschichte ein Schwerpunkt historischer Betrachtung; der „Perspektivenwechsel" verhilft geschichtlicher Reflexion zu einer neuen Sinngebung. Vor allem vermag die Beschäftigung mit der Industriekultur, als einem besonders naheliegenden Teil der Alltagsgeschichte (gemeint sind die Lebens-und Arbeitsformen im Zeitalter der Industrialisierung), dazu beitragen, demokratisch-republikanische Identität zu stärken — ist doch diese Epoche nicht nur eine Zeit, die „Trauerarbeit''notwendig macht, sondern auch „Stolzarbeit''ermöglicht. Die Kulturphysiognomik des 19. und 20. Jahrhunderts zeigt Erfahrungen auf, die für die Bewältigung der angesichts der „Grenzen des Wachstums" auf uns zukommenden „Gleichgewichtsgesellschaft'' sehr wichtig sind; sie schärft zudem den Blick für die Gefahren der Regression, wie sie manchen kulturpessimistischen und antizivilisatorischen Strömungen unserer Zeit zu eigen ist. Dieser „Lagebericht" zum Stand der Erforschung von Industriekultur beschäftigt sich besonders mit praktischen Folgerungen: wie etwa Geschichte in Ausstellungen „anfaßbar" gemacht werden kann; Projekte, die der Museumslandschaft neues Terrain erschließen, werden in ihrem Selbstverständnis vorgestellt.

Ein Lagebericht

Aufgabe dieses Beitrages ist es, einen Über-blick über die theoretischen und pragmatischen Aspekte des Begriffs „Industriekultur" zu geben: was die Bemühungen um die Erforschung der Maschinenwelt und des Alltagslebens im 19. und 20. Jahrhundert wie die Umsetzung (Erhaltung und Präsentation) der gewonnenen Erkenntnisse in Ausstellungen und Museen betrifft. Versucht wird zugleich ein Überblick über relevante Materialien zu diesem Themenbereich — wobei die oft schwer zugängliche „graue Literatur" (Zeitungen, Denkschriften, Exposes etc.), ausführlich zitiert und somit als kleine „Textsammlung" vermittelt wird.

Die Illustrationen zu ganz wenigen Motiven wollen deutlich machen, daß im besonderen zeitgenössische Photos einen wichtigen Forschungsbereich der politischen Anthropologie des Industriezeitalters darstellen; sie sind ferner als Beispiel dafür gedacht, daß die Arbeit am Thema „Industriekultur" affektive Anschaulichkeit nicht meiden sollte: im Bemühen um die sinnliche Erschließung von Gedankenräumen und die gedankliche Durchdringung von Erfahrungsbereichen.

Universalgeschichte und Alltagsgeschichte

. Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?" fragte Friedrich Schiller in seiner Antrittsvorlesung als Professor der Geschichte in Jena 1789. Er war von dem Glauben bestimmt, daß die Bruchstücke des historischen Wissens sich zum System, zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen ordnen ließen; die vorangegangenen Zeitalter hätten sich, ohne es zu wissen oder zu erzielen, angestrengt, „unser menschliches Jahrhundert" herbeizuführen. Das Studium der Weltgeschichte würde eine ebenso anziehende wie nützliche Beschäftigung gewähren: . Licht wird in Ihrem Verstände und eine sie wohltätige Begeisterung in Ihrem Herzen entzünden. Sie wird Ihren Geist von der gemeinen und kleinlichen Ansicht moralischer Dinge entwöhnen, und indem sie vor Ihren Augen das große Gemälde der Zeiten und Völker auseinanderbreitet, wird sie die vorschnellen Entscheidungen des Augenblicks und die beschränkten Urteile der Selbstsucht verbes-sern. Indem sie den Menschen gewöhnt, sich mit der ganzen Vergangenheit zusammenzufassen und mit seinen Schlüssen in die ferne Zukunft vorauszueilen: so verbirgt sie die Grenzen von Geburt und Tod, die das Leben des Menschen so eng und so drückend umschließen, so breitet sie optisch täuschend sein kurzes Dasein in einen unendlichen Raum aus und führt das Individuum unvermerkt in die Gattung hinüber"

Unser seien alle Schätze, welche Fleiß und Genie, Vernunft und Erfahrung im langen Alter der Welt heimgebracht hätten. Aus der Geschichte erst würde man lernen, einen Wert auf die Güterzu legen, denen Gewohnheit und unangefochtener Besitz so gern unsere Dankbarkeit rauben — kostbare teure Güter, an denen das Blut der Besten und Edelsten klebe, die durch die schwere Arbeit so vieler Generationen errungen wurden. Ein solcher Text als Charakterisierung von „Universalgeschichte" läßt sich sehr auch -gut auf die Alltagsge schichte anwenden. Das große Gemälde der Zeiten und Völker erscheint dann als ein sol-ches, das sich aus unendlichem Detail zusammensetzt. Mit der ganzen Vergangenheit sich beschäftigen, führt eben unser kurzes Dasein in einen „unendlichen Raum" und das Individuum unvermerkt in die Gattung hinüber. Die kostbarsten teuren Güter sind jene, an denen das Leiden und die Sehnsucht, die Arbeit und die Mühe, die Hoffnung und die Trauer, der Stolz und die Dankbarkeit so vieler kleben. Zur Identität der demokratisch-republikanischen Gesellschaft können wir alle etwas da-zusteuern, wenn wir die Konfigurationen aus allgemeinen und individuellen Fakten wie Erfahrungen ernst nehmen und durch Spurensicherung eine menschenwürdige Geschichtsschreibung betreiben.

Hier gilt — und der Sprung von Friedrich Schiller zu Gustav Heinemann ist nicht so weit wie er aussieht (von einem Moralisten'der Dichtung zu einem Moralisten der Politik) —, was Heinemann 1970 formulierte: „Ich glaube, daß wir einen ungehobenen Schatz an Vorgängen besitzen, der es verdient, ans Licht gebracht und weit stärker als bisher im Bewußtsein unseres Volkes verankert zu werden. Nichts kann uns daran hindern, in der Geschichte unseres Volkes nach jenen Kräften zu spüren und ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die dafür gekämpft und gelebt haben, daß das deutsche Volk politisch mündig und moralisch verantwortlich sein Leben und seine Ordnung selbst gestalten kann" Heine-mann versucht so, der Geschichtsschreibung einen neuen Sinn zu geben, ihre „Sinnlosigkeit" (im besonderen angesichts des Weges der deutschen Geschichte nach Auschwitz) zu überwinden.

Sinnlosigkeit und Sinngebung von Geschichte

Der Schriftsteller und Kulturphilosoph Theodor Lessing (1872 geboren, 1933 im Auftrag des nationalsozialistischen Sicherheitsdienstes als jüdischer Flüchtling im tschechoslowakischen Marienbad ermordet) hatte in einem im Ersten Weltkrieg entstandenen Buch Geschichte als „Sinngebung des Sinnlosen" bezeichnet. Der dichterische Vorspruch des Werkes lautet: „Ihr lehrt: , Der Mensch ist Leben.'Nein, sag'ich: Mensch ist Tod.

Ihr lehrt: Das Recht ist Liebe.'Nein, sag’ ich: Recht ist Haß.

Ihr lehrt: Die Welt ist Gottes.'Nein, sag'ich: Gottes Wunde ...

Wie darf ich mich beklagen, daß Ihr nicht hören wolltet!"

Ein tiefer Geschichtszweifel bestimmt Lessing (im Gefolge Nietzsches). Die Geschichte wird als Prozeß der Zerstörung entlarvt. Unsere Interpretation der Geschichte sei von einem Mythos bestimmt, an dem die Mächtigen und Machtwilligen je nach Bedarf fortspinnen. Was nach der Entzauberung der Geschichte übrig bleibe, erweise sich als ein blutiges Gemetzel, das der Mensch (der Mann) seit Jahrtausenden veranstaltet, um sich selbst zu beweisen, daß Gott Mensch geworden, daß also der abendländische Mensch (der weiße Mann) Herr der Erde sei

Zum Thema Geschichte verdüstert sich der Denkhorizont nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Schillers humanitärer „Frohmut", wie er sich an der Universalgeschichte inspiriert, weicht einem nihilistischen Pessimismus: „Was soll denn sein — im Dunkel leben, im Dunkel tun, was wir können — das soll sein.“ So Gottfried Benn. In einem aus dem Nachlaß veröffentlichten, wahrscheinlich 1943 entstandenen Aufsatz von Benn heißt es: „Der Inhalt der Geschichte. Um mich zu belehren, schlage ich ein altes Schulbuch auf, den soge-nannten Kleinen Ploetz: Auszug aus der alten, mittleren und neuen Geschichte, Berlin 1891, Verlag A. G. Ploetz. Ich schlage eine beliebige Seite auf, es ist Seite 337, sie handelt vom Jahre 1805. Da findet sich: einmal Seesieg, zweimal Waffenstillstand, dreimal Bündnis, zweimal Koalition, einer marschiert, einer verbündet sich, einer vereinigt seine Truppen, einer verstärkt etwas, einer rückt heran, einer nimmt ein, einer zieht sich zurück, einer erobert ein Lager, einer tritt ab, einer erhält et-was, einer eröffnet etwas glänzend, einer wird kriegsgefangen, einer entschädigt einen, einer bedroht einen, einer marschiert auf den Rhein zu, einer durch ansbachisches Gebiet, einer auf Wien, einer wird zurückgedrängt, einer wird hingerichtet, einer tötet sich — alles dies auf einer einzigen Seite, das Ganze ist zweifellos die Krankengeschichte von Irren .. .

Konnte nach dem Nationalsozialismus (und Stalinismus) Geschichte noch Sinngebung vermitteln? Oder war geschichtliche Sinnlosigkeit in ihrer Abgründigkeit endgültig zutage getreten? Zumindest die deutsche Geschichtswissenschaft mußte nach 1945 höhere ideologische Schuttberge abtragen als jemals in der Geschichte ihrer Disziplin zuvor, so Wolfgang J. Mommsen in einem Beitrag zu den „Gegenwärtigen Tendenzen in der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik"

Friedrich Meinecke hat kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, auch an seinen eigenen historiographischen Bemühungen, die Ursachen „dieser namenlosen Katastrophe" in einer weit zurückreichenden säkularen Entartung des deutschen Bürgertums und des deutschen Nationalgedankens gesehen. Und mit beidem war die deutsche Geschichtswissenschaft in ihrer überwältigenden Mehrheit stets eng verbunden gewesen. Sie mußte sich nun mit der Frage auseinandersetzen, wieso der Faschismus gerade in Deutschland, einer hochentwikkelten und kulturell hochstehenden Nation, in seiner bösartigsten Spielart hatte zur Macht kommen und eine zwölfjährige Herrschaft über die Deutschen, zu guten Teilen mit deren Billigung, ausüben können. Das Ausweichen vor den Konsequenzen einer solchen Fragestellung führte immer wieder zu einem „Unbehagen an der Geschichte", zu einem „Verlust von Geschichte". Neue Wege wurden daher gesucht, um den drohenden totalen Kontinuitätsabriß im historischen Bewußtsein abzufangen.

Einer der wichtigsten bestand darin, daß an die Stelle eines Historismus, der sich zur Apo-theose der eigenen Nationalgeschichte verengt hatte, eine moralorientierte, kritisch-wertende Geschichtsschreibung trat, die auch den Mut aufbrachte, Trauerarbeit mit Anklage zu verbinden. Die Genealogie des Nationalsozialismus wurde aufgezeigt; man nahm nicht nur die Rückständigkeit und die strukturellen Mängel des Verfassungssystems des Kaiser-reiches und der Weimarer Republik, sondern auch seine gesellschaftlichen Grundlagen in den Blick. Erkannt wurde die Notwendigkeit sozialhistorischer und sozialpsychologischer Untersuchungen

Im Zuge der Auseinandersetzung der neuen Linken mit der affirmativen Kultur verstärkte sich der Trend einer ideologiekritischen, gesellschaftsrelevanten Geschichtsbetrachtung — freilich oft sehr stark auf abstrakte Modelle abgehoben, so daß eine begriffliche Stereotypie sich einstellte, die ihrerseits vielfach undifferenzierter ideologischer Versatzstücke („Spätkapitalismus“) sich bediente. Die . Tendenzwende'brachte wieder konservative Positionen zur Geltung: „Im Gegenzug gegen die Verdammung des Historismus durch die Vertreter einer . kritischen, d. h. im Eigenverständnis . progressiven Geschichtswissenschaft wird neuerdings auf die Gefahren hingewiesen, die eine Vernachlässigung der klassisch methodischen Postulate des Historismus, namentlich der Methode des einfühlenden Verstehens und der individualisierenden Analyse, die die Handelnden selbst habe zu Wort kommen lassen, nach sich ziehen könne“

Wenn Heiko Obermann dafür plädiert, daß die Geschichtswissenschaft wieder in die Funktion des Suchens nach dem ganz Anderen, nach dem uns Fremden, dem uns Verlorengegangenen oder auch nach dem Geschick der Verlierer eintreten solle, so läßt sich diese Formulierung sehr gut zur Charakterisierung der Aufgabe einer um geschichtliche Alltags-erfahrung bemühten historischen Sozialwissenschaft bzw. sozialwissenschaftlich orientierten Historiographie heranziehen. Für einen solchen „Auftrag“ kann das Wort eines Nichthistorikers Leitmotiv sein: „Wenn Geschichte nicht verwechselt wird mit bloß Gewesenem; wenn Geschichte aktiviertes Ge-dächtnis ist, eingeholte Vergangenheit; wenn Geschichte betreiben heißt, eine Sache aus ihren Voraussetzungen verstehen und in ihren Folgen; wenn, mit einem Wort, Geschichte als Unterbau der jeweiligen Gegenwart verstanden wird; als Chance, aus Vergangenem das Gegenwärtige zu begreifen und das Künftige zu vermuten: dann ist Geschichte die redlichste Schutzwehr gegen die Verführung durch plakative Illusion und penetrante Ideologie, gegen die Suggestion der heillosen Heilsversprechung."

Geschichte werde nur dann wieder zu sich selbst und damit zu ihrer Position im Gesamtsystem der geistigen und politischen Kultur finden, meint Theodor Schieder, wenn sie ein Zentrum der Erkenntnis erhält, von dem aus die Widersprüche und Kontraste des geschichtlichen Wesens wieder miteinander verknüpft werden könnten. Dazu gehöre kritisches Vermögen, das heißt die Fähigkeit, die Irrtümer, Fehler, ja Verbrechen in menschlichen Entscheidungen der Vergangenheit zu erkennen, und eine Gesinnung, die frei ist von Menschenfurcht, aber auch die Kraft zum Mitleiden, die den Historiker als Menschen mit seinem . Objekt', dem handelnden Menschen, verbinden sollte

Wo aber findet Geschichte, die sich dergestalt als Aufklärung begreift, ihr Objekt, den Menschen? Doch wohl vorwiegend nicht dort, wo Herrschaftsgeschichte sich abspielt, nicht dort, wo äußere Fakten und Daten die Fragen nach dem Sinn von Leben ersticken. Die „Oberflächlichkeit" der Ereignisgeschichte hat lange Zeit die Geschichte des menschlichen Zusammenlebens „zugedeckt".

Erst in den letzten Jahren hat sich da ein Perspektivenwechsel vollzogen: „Man denkt sich nicht mehr so leicht in die Pupille Gottes oder des Weltgeistes hinein ... Wir beginnen uns vielmehr für uns selbst und für die Herkunft der eigenen Lebensbedingungen, Verhaltensweisen, Deutungsmuster und Handlungsmöglichkeiten zu interessieren: Wie etwa haben sich Leistungsnormen in unseren Körper eingeschrieben? Welche Arbeits-und Besitzverhältnisse haben welche Familienkonstella. tion herbeigeführt? Welche Verhaltens-und Denkveränderungen hat der Übergang vom Land zur Stadt erzwungen? Wie konnten Arbeiter ihre Lohnverhältnisse konkret verbessern? ... In dieser Dimension des Alltäglichen, deren schon äußere Geschichte nur mühsam und mit methodischer Phantasie zu erschließen ist, wird nach der Subjektivität derer gefragt, die wir als Objekte der Geschichte zu sehen gelernt haben, nach ihren Erfahrungen, ihren Wünschen, ihrer Widerstandskraft, ihrem schöpferischen Vermögen, ihren Leiden. Mit solchen Fragen stoßen wir, je weiter wir in der sozialen Schichtung nach unten vordringen, auf immer größere Dokumentations-und Überlieferungsschwierigkeiten, die wenigstens für die Generation der Mitlebenden durch Nachfrage im Interview bekämpft werden können. Sie eröffnen aber auch neue Ausblicke: Von unten betrachtet wird das . Politische' seines verdinglichten Selbstwerts als Staat oder das, was sich durchgesetzt hat, entkleidet und erscheint eher als ein Medium der Auseinandersetzung und Gestaltung. Andererseits zerbröseln abstrakte gesellschaftliche Kategorien und vorschnelle politische Erwartungen, sobald man sich auf die Subjekte und ihre Lebensgeschichten einläßt, deren Verläufe und Haltungen allemal komplexer sind, als es die meisten unserer theoretischen Hypothesen vorsehen. Daraus kann man sich induktive Schübe für komplexe historische Theorien erhoffen."

Eine Gesellschaft, die ihren Pluralismus ernst nimmt, basiert auch in der Geschichtswissenschaft auf einem Begriff vom Menschen, der diesen nicht auf einen Begriff festlegt. Der Relativismus von Aufklärung bedeutet Skepsis gegen die Endgültigkeit von Vernunftwahrheiten, jenseits des vernünftig-humanen Grundkonsenses der liberalen Demokratie über die Form unseres Miteinanderlebens, bedeutet also ein Bewußtsein der Fragwürdigkeit, Endlichkeit, Fehlbarkeit, Widersprüchlichkeit unseres Wissens sowohl wie unseres Tuns: „Geschichte als Aufklärung ist vom Geist solcher aufgeklärten Skepsis metho disch und substantiell getragen. Geschichte als Aufklärung hat von der Übermacht der Traditionen befreit und hält uns davon frei. Geschichte als Aufklärung hat uns von der Geschichte der Sieger und der Geschichte der Herrschenden befreit und hält uns davon frei.

Geschichte als Aufklärung befreit uns heute von der neuen Macht, von Ideologien und Utopien, die Vernunfts-und Zukunftsziele setzen und monopolisieren wollen, ihre Werte und Parteinahme mit dem Anspruch der Wissenschaft durchsetzen wollen, und danach ein Bild der Geschichte präsentieren. ... Geschichte durchbricht die Gehäuse, die wir uns immer bauen, indem sie Vergangenheit unbefangen und unverzerrt vor Augen bringt. ... In diesem Sinne kann Geschichte heute Aufklärung sein.

Die dergestalt von Thomas Nipperdey herausgestellten aufklärerischen Grundsätze dürfen freilich nicht — darauf hat Jürgen Kocka in einer Replik hingewiesen — als „Gegenkritik" ausgespielt werden: „Nicht zwischen wertfreier, desinteressierter, reirfer Wissenschaft einerseits und gesellschaftlich und politisch engagierter Wissenschaft andererseits verläuft also die theoretisch wie politisch interessante Linie, sondern zwischen einer Wissenschaft, die bei allem Engagement (übrigens für denkbar verschiedene Zielsetzungen) die wissenschaftlichen Regeln (. Aufklärung als Methode) respektiert, und einer Wissenschaft, die dies aufgrund ihres Engagements (oder aus anderen Gründen) nicht tut und deshalb letztlich unwissenschaftlich und anti-aufklärerisch zugleich ist.

Eine demokratische Geschichtswissenschaft bedürfe der Aufklärung als Methode; sie bleibe aber nicht auf die Methodevon Aufklärung beschränkt. Der Historiker könne seine Arbeit auch ausdrücklich und bewußt in Themenwahl, Begriffsbildung und Urteilskriterien an aufklärerischen Zielen orientieren, an der Erhaltung und Vermehrung von Freiheit, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit zum Beispiel.

auch Daß er dies soll, lasse sich aller-dings nur zum Teil wissenschaftsimmanent begründen: nämlich soweit es um die Erhaltung und Herstellung jener gesellschaftlich-politischen Grundbedingungen gehe, die die Geschichtswissenschaft brauche, wenn sie leben und gedeihen soll; in Diktaturen gehe es ihr nämlich regelmäßig schlecht; doch darüber hinaus müsse man politisch für aufklärerisches Engagement gerade unter Historikern werben können, die gewissermaßen professionell zur Erinnerung an die Katastrophen der jüngeren deutschen Geschichte verpflichtet sind und auch die Hilflosigkeit der meisten ihrer Amtsvorgänger 1933 bis 1945 nicht vergessen sollten.

Der vielfach konstatierte Mangel an Geschichtsbewußtsein hat unter diesen Aspekten folgende Gründe:

— Einer sich in die Abstraktionen vorgegebener Objektivität zurückziehenden Wissenschaft, einer Wissenschaft ohne „Parteinahme“ fehlt die Relevanz für Leben und Gesellschaft;

— historistische Geschichtsbetrachtung überlagert die Möglichkeit, aus Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft Folgerungen zu ziehen;

— strukturelle und institutioneile Einsichten beachten das Individuum zuwenig, der objektive Faktor Subjektivität wird vernachlässigt. Wenn Geschichte sich zu sehr Herrschaftsfragen und Problemen politischer wie ökonomischer Strukturen zuwendet, wird sie einer demokratischen Gesellschaft kein wirkliches „Identitätsangebot“ machen können; sie verstärkt die Ohnmachtsgefühle des einzelnen, der, im Netz von Ereignissen und Zwängen, Notwendigkeiten und Bedingtheiten gefangen, seine Ich-Stärke verlieren mag. Es geht nicht nur um die Frage, welche Bedeutung der einzelne, die Persönlichkeit in der Geschichte hat, es geht darum, ob Geschichte den breiten und tiefen „Unterbau“ von Alltagserfahrung so zu durchleuchten und auszuleuchten vermag, daß eine Verengung der sozialgeschichtlichen Betrachtungsweise auf Strukturen und Institutionen und der politikgeschichtlichen Betrachtungsweise auf Machtkonstellationen vermieden wird.

Wenn Geschichte sich vor allem auf Theorien über den Gang der Gesellschaft stützt und die individuellen Motivationen der Handelnden selbst vernachlässigt, leistet sie einem reduktionistischen Geschichtsbild Vorschub, das den einzelnen Menschen als Täter und Opfer, als Subjekt und Objekt der Geschichte verkennt. Eine demokratische Geschichtsbetrachtung darf sich somit nicht „steriler Ableitungslogik" überantworten; sie sollte in der Gesellschaft einen „Wärmestrom" induzieren, wie er sich aus der Zuwendung zur Alltagserfahrung ergibt. Die „Kopfgeburten" objektivierter Einsicht sind notwendig; sie können Phänomenen auf den Begriff verhelfen. Doch ist solche Einsicht immer wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen; die Fülle empirischer Faktizität ist zudem an individueller Eigenart „festzumachen".

Das bedeutet zum Beipiel — und damit bewegt man sich zwar „auf ebener Erde", aber nicht parterre —, daß man aus Geschichten für Geschichte lernt, daß man den Wert mündlicher Überlieferung („oral history") begreift und diese entsprechend nutzt, daß man das Themenspektrum, etwa im Rahmen von „Heimatkunde" und Stadtgeschichte, wesentlich erweitert.

Freilich bringt die Zuwendung der Geschichtswissenschaft zu den „Beherrschten’ auch neue Gefahren mit sich: „Zum einen die Gefahr, diejenigen, die von früheren gesellschaftlichen Machtverhältnissen als Objekte definiert wurden, in ihrem Objektstatus zu belassen, anstatt ihre Subjektivität zu rekonstruieren. In einem tieferen und in die Zukunft weisenden Sinn würde dadurch die Geschichte der Herrschenden verlängert. Auf der anderen Seite mag uns der Ärger über unsere Ohnmacht dazu verführen, die Blindstellen der Subjektivität mit geschichtsphilosophischen Konstruktionen oder sonst willkürlichen Postulaten aufzufüllen, was unsere Erkenntnis der Wirklichkeit vorschnell verstellen, den Subjekten auf benevolente Weise erneut Gewalt antun und unsere Kommunikation mit den Angehörigen solcher Gruppen in der Gegenwart durch die Zuschreibung einer Geschichte, in der sie ihre spezifischen Traditionen nicht wiederzuerkennen vermögen, belasten muß.

Industriekultur: ein wichtiger Bereich der Kulturphysiognomik

Dem Alltag auf der Spur: diesen neuen Typus der Geschichtsschreibung nennt Hannelore Schlaffer treffend „Kulturphysiognomie": „Im Unterschied zur Kulturgeschichtsschreibung des neunzehnten Jahrhunderts, die sich auf markante Ereignisse und hervorragende philosophische oder ästhetische Leistungen berief, um den Gang des Geistes durch die Zeiten zu beschreiben, meinen die Autoren der neuen Kulturgeschichte, in der Vergangenheit verborgene Spuren entdeckt zu haben, die hinter die oberflächliche Selbstauslegung einer Epoche führen: aus unscheinbaren Verrichtungen des Alltags, aus dem Formenwandel belangloser Gebrauchsgegenstände, aus den Moden des Vergnügungs-und Freizeitlebens lesen sie den Charakter einer Gesellschaft heraus, wie man das geheime Wesen eines Menschen aus den unbeachteten Zügen, den winzigen Falten und unwillkürlichen Mienen seiner Physiognomie errät. Diese Methode verlangt eine hohe Aufmerksamkeit aufs Detail. ... Zur Physiognomik der Kultur gehört es, daß man die Geschichte eines Phänomens bis in alle Bereiche des Lebens hinein verfolgt. Gesten, Tagesordnungen, die Einrichtung von Räumen, Redensarten, lexikalische Bestimmungen, etymologische Ableitungen, die Fama und die Anekdote müssen herhalten, um die immergleiche Grundform zu präzisieren."

Wer dem Alltag unserer unmittelbaren Vergangenheit auf der Spur ist, der befindet sich auf einer besonders existentiellen Fährte. Hier begegnet das „breite Publikum" sich selbst und hat keine besonderen Schwierigkeiten, die Werke und Dokumente der Vergangenheit zu verstehen; denn diese ist in der Familienerinnerung noch präsent. Industrie-kultur erweist sich als eine zugleich vergangene wie weiterwirkende Epoche. Die Grenzen des Wachstums lassen uns nach den Ursprüngen des Wachstums fragen; die Angst vor der Zukunft fordert die Überprüfung der Glückserwartung von damals. Mit der Industriekultur beginnt „unsere" Geschichte: „Was vor der industriellen, sozialen und politischen Revolution liegt, ist graue Vorzeit, ferner Mythos, gleich weit wie Assur oder Babylon. Allein der Wissenschaftler vermag sich diese entlegenen Welten noch zu erschließen, aber er kann sich einer breiten Öffentlichkeit, die historisch zu denken verlernte, nur unter großen Schwierigkeiten noch verständlich machen. Die Erinnerungen, die für den heutigen Menschen von Belang sind, die ihn, ganz unabhängig von gelehrter Erklärung, unmittelbar berühren, eben weil sie seine eigenen sind, reichen nicht weiter als bis in das neunzehnte Jahrhundert... Die nostalgische Rückbesinnung auf das vergangene Jahrhundert ist deshalb ein ganz natürliches Phänomen, durchaus begrüßenswert, da ein kurzes Gedächtnis immer noch besser ist als gar keines. Der Rückschau auf die fast unmittelbare Vergangenheit liegt das ernst zu nehmende Bedürfnis zugrunde, das fliehende Dasein dennoch locker zu verfestigen."

Es geht um eine konkrete „Sozialgeschichtsschreibung von unten“. Die guten Absichten der Hinwendung zum Volk seien, so kritisiert Detlev Puls mit Recht, bislang meist Theorie-projekte geblieben. Die Lieblosigkeit der wissenschaftlichen Forscherattitüde sei zu beklagen; einem derartig kalten, abstrahierenden Blick erschienen die Unterschichten bisher als bloße Objekte der Geschichte, die zu eigenständigen Erkenntnis-und Phantasieleistungen nicht in der Lage seien und deren Handeln nur danach beurteilt werde, ob sie auf die wie auch immer definierten jeweiligen Verhaltensanforderungen „richtig" reagierten, wobei das Beurteilungskriterium im Ausmaß der durchgesetzten Forderungen gesehen werde

Auch die gesellschaftskritische Soziologie hat die Situation der Leute in ihrer konkreten Geschichtlichkeit vernachlässigt. Peter Gstettner sprichtvon einer „methodologischen Betretenheit", die sich innerhalb der Sozialwissenschaf-ten in letzter Zeit ausbreite; diese sei mehr als bloße Verunsicherung — sie signalisiere schuldhafte Betroffenheit. Aus ihr erwachse jedoch auch der Versuch, zu einem historisch, bewußteren Selbstverständnis zu gelangen: „Die Fragestellung, die den Reflexionen zugrunde liegt, heißt: Wie kam es, daß Sozialwissenschaft bisher kaum etwas anderes getan hat, als Machtstrukturen in Forschungsmethoden abzubilden und wissenschaftliche . Objektivität'gegen subjektbildende Identitätsprozesse auszuspielen? Es ist wahrscheinlich kein Zufall, wenn diese schuldhafte Betroffenheit gerade von jenen Sozialswissenschaftlern artikuliert wird, die darangehen, subjektive Bildungs-und Entwicklungsgeschichten als erkenntnisrelevante Forschungsquellen wiederzuentdecken.“

Im theoretischen Teil einer an sich selbst „vorgeführten" „politischen Autobiographie“ („Geschichtetes Leben — gelebte Geschichte“) hat Hartmut von Hentig davon gesprochen, daß Zeitgeschichte dann vor allem dem künftigen Schreiben von Geschichte dienen könne, wenn sie den noch lebenden Menschen so viel subjektive Erinnerungen abfrage, wie diese herzugeben bereit und in der Lage seien. Die Zeugnisse, Dokumente, Akten müsse man zwar studieren, ihnen aber zugleich systematisch mißtrauen; es seien „Ablagerungen“ von Bewußtsein, das es als Erinnerung noch lebendig, sperrig, von Bildern erfüllt, mit Lust und Leid getränkt, gebe. Die Unstetheit der Wahrnehmung, der Urteile, der Selbst-Deutung als kostbaren Stoff müsse man annehmen und aufheben, diese nicht gleich auf eindeutige Ursachen, widerspruchslose Theoreme reduzieren

Wir müssen wieder lernen, aus den Eindrükken von „Abdrücken" individueller Subjektivität Geschichte abzulesen. Der „Erlebniskomplex" verknüpft Bewußtes und Unbewußtes, Faktisches und Symbolisches, Stoffliches und Strukturelles. Gefährdet wird die Aneignung von Industriekultur durch Nostalgie: als ver-17 markteter Erinnerungsromantizismus macht sie aus der vergangenen Zeit eine gute alte Zeit. „Trödelkultur", Kultur aus der Boutique oder vom Flohmarkt; Kultur allein als sinnlicher Reiz, ohne Reflexion genossen, bringt keine Identität zuwege.

Zur solcher Nostalgie ist Gegensteuerung notwendig — und zwar wiederum durch Nostalgie, durch eine Nostalgie freilich, die den Begriff beim Wort nimmt: als Sehnsucht nach Heimat, so, wie sie Ernst Bloch beschreibt: „Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Enttäuschung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in der Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat."

„Vorgeschichte": Berichte aus der Welt unserer Eltern, Großeltern, Urgroßeltern. Wir müssen deren Dasein und Sosein an der Wurzel fassen, den Spuren der arbeitenden, schaffenden, die Gegebenheiten umbildenden und überholenden Menschen nachsinnen; auch den Spuren, die ins Abseits führten. Die „Heimat", der wir bei historischer Spurensicherung auf die Fährte kommen, ist dabei kein Dorado, in das wir uns vor den Problemen unserer Zeit flüchten könnten. Die Maschinenzeit war voller Widersprüche, Gegensätze, sozialer Probleme; ihr Fortschrittsglaube war vielfach fatal, da er des Denkhorizonts entbehrte. Auf der anderen Seite zeigt aber gerade diese Zeit, was es heißt, Modernität erfahren und erleiden, gestalten und auch an ihr scheitern zu müssen. Indem wir uns einer Welt zuwenden, die den unmittelbaren Ursprung unserer Gesellschaft darstellt, indem wir uns die Menschen, von denen wir abstammen, deren Probleme, sowie die politischen und sozialen Auseinandersetzungen, die diese Menschen um ihre Existenz austrugen, vergegenwärtigen, werden wir unserer selbst bewußt, erfahren wir, warum wir so sind, wie wir sind. Realistische Vorstellungen von der sinnvollen Verbesserung der Lebensformen sind erst möglich, wenn wir wissen, wie die Menschen vor uns ihr Leben bewältigten.

Die Zuwendung zu einer Sozial-und Kulturgeschichte des industriellen Alltags, die beschleunigt werden müßte, erbringt eine große Problemfülle und einen großen Quellenreichtum, der allerdings in Gefahr ist, zu versiegen. Die „Dinge" wie die Zeugnisse aus dieser Zeit werden weggeworfen, verramscht, wandern in Müllverbrennungsanstalten und auf Schutthalden oder, wenn sie wertvoller sind, auf Trödelmärkte und in Antiquitätenläden; auf den Speichern lagern noch viele Erinnerungsbestände. Mit Hilfe „aktiven Sammelns" könnten sie erhalten werden. Unter „aktivem Sammeln“ sind nicht gezielte Entrümpelungsaktionen zu verstehen, sondern der Versuch, durch pädagogische „Aufarbeitung" (etwa in Schulen oder in der Erwachsenenbildung) das Bewußtsein und das Interesse für die vergessenen Gegenstände und Zeugnisse der Industriezeit zu wecken. Man denke in diesem Zusammenhang auch an die Bedeutung der Photographie; was man in den Familienalben findet, ist für eine Anthropologie dieser Zeit unentbehrlich. Welche Dinge und Zeugnisse wir auch angehen, sie sind komplex und bedürfen der vieldimensionalen Aufschlüsselung. Wie wohnten die Dienstmädchen? Wie ging es in der Fuhrmannskneipe zu? Welche Aufregung verursachten die ersten Eisenbahnen, Autos? Welche Hoffnungen und Enttäuschungen bereitete die Schule? überall werden uns die Stichworte für Zusammenhänge geliefert, die freilich der Deutung bedürften: die Annoncen in der Zeitung; die Werbeplakate und die Produktverpackung; die Einladung zu den Parteiversammlungen; Todesanzeigen, Kriegsdenkmäler und Friedhofsteine; der Wandschmuck in Bürgerhäusern und im Arbeiterhaushalt; Bücher, die im Herrenzimmer standen; der Feldpostbrief; die Postkarte von der Gewerbeausstellung; das Spielzeug; die Konfirmationsurkunde; das Schulzeugnis; das Ausflugsbuch des Wandervereins. Wie ging es bei den Kinderspielen zu? Bei der Ernte, im Waschhaus, im Krankenhaus, im Eisenbahnwagen dritter Klasse? Eine Bilanz der industriekulturellen Entwicklung vom Biedermeier bis zur gegenwärtigen Zeit kann „eindeutig" nicht gezogen, nicht mit dogmatisch-inhaltlichem Absolutheitsanspruch verkündet Werden. Generell läßt sich jedoch sagen, daß die rückwärts gerichtete Spurensuche, die Bestandsaufnahme der Lebensformen und Lebensräume im Zeitalter der Industrialisierung, uns bestärken muß, einen Weg zu finden bzw. zu beschreiten, auf dem der vernünftig-humane Grundkonsens der liberalen Demokratie Formen unseres über die Miteinanderlebens, also durch das Bewußtsein von der Fragwürdigkeit, Endlichkeit, Fehlbarkeit, Widersprüchlichkeit unseres Wissens wie unseres Tuns, verstärkt zur Geltung kommen kann.

Eine solche allgemeine skeptische Befindlichkeit angesichts des „entfesselten Prometheus“, wie er uns aus dem Maschinenzeitalter entgegentritt, sei in zwei Überlegungselemente aufgefächert: 1. Es ist für unsere Identität notwendig, Ehrfurcht vor denjenigen zu empfinden, die „fortschrittlich“, im Sinne persönlich-subjektiver wie dinglich-objektiver Leistung, das Maschinenzeitalter bewältigten;

2. es ist für unser überleben notwendig, angesichts der Weichenstellung, welche die Industrialisierung bedeutete, ständig über neue Streckenführungen“ und „Zielorte“ nachzudenken und entsprechende Handlungsvorschläge zu machen. Die Fahrt ist bei den Grenzen des Wachstums angekommen. Wie soll es weitergehen?

Die ehrfürchtige Zuwendung zu denjenigen, die als Individuen, Gruppen, Gesellschaftsschichten in der schwierigen Zeit der Industrialisierung ihr Leben „mit Anstand" lebten, in oft aussichtsloser Lage mit Tapferkeit durchstanden oder, meist namenlos, den „Ver-

hältnissen"

zum Opfer fielen, sollte auch kulturpolitische Folgen haben: Die Kultur der . Leute" muß als Kulturmehr gewürdigt, besser erhalten, eindrucksvoller vermittelt werden (etwa in Ausstellungen und Museen).

Im Sinne einer konkreten Sozialgeschichtsschreibung von unten gilt es, Alltäglichkeit, alltägliche Menschlichkeit, Erlebniskomplexe dufzuzeigen, sanfte Wirkungskräfte in ihrer Größe herauszustellen, Umwertungen vorzunehmen, das Kleine ernstzunehmen. Man soll nicht nur zeigen, wodurch die Menschen bewegt werden, sondern vornehmlich, was sie selbst bewegte und was sie selbst in Bewegung setzten.

Daß im 19. und 20. Jahrhundert subjektive Humanität objektiver Inhumanität zum Opfer fiel, die Maschinerie der Industrialisierung Menschlichkeit niederwalzte und das’ Glück wie Wohlergehen so vieler Menschen verhinderte bzw. behinderte, müssen wir mit Trauer feststellen. Die Optionen, welche die neue Zeit anbot, blieben vielfach ungenutzt; die Mythen des Fortschritts, die von oben Erlösung signalisierten, erreichten die da drunten meist nicht. Das Maschinenzeitalter bedeutete den Beginn einer Entwicklung, die heute in voller Konsequenz auf uns zukommt. Der Glaube an die totale Beherrschbarkeit der Natur durch den Menschen hat Umweltbedingungen geschaffen, die das überleben der Menschen überhaupt in Frage stellen. Die Technisierung und Industrialisierung bewirkte einen Ressourcenverbrauch und Eingriffe in das lebendige Regelsystem der Umwelt — die weltpolitische wie die natürliche —, die in unseren Tagen einen kritischen Punkt erreicht haben. Die Industrialisierung führte zur schrittweisen Verwirklichung „großer Systeme“; immer schneller, immer umfassender sollte der Fortschritt vor sich gehen; die Bedeutung der ökologischen Nische, als eines in sich geschlossenen autonomen Kleinsystems, das aufgrund seiner Unabhängigkeit „stabil“ bleibt, wurde verkannt.

Die Arbeitsteilung forcierte die Entstehung von Strukturen, die in gewisser Hinsicht sich als spiegelbildlich zu den natürlichen Strukturen erweisen. Während für diese eine Reduzierung von Außenbeziehungen und eine hohe Komplexität von Innenbeziehungen charakteristisch ist, kehren sich in den Systemen gesellschaftlicher Arbeitsteilung die Verhältnisse um. Eine solche Strukturverschiebung hin zum Übergewicht der „Fernbindungen“ zu Lasten der „Nahverbindungen“ zeigt sich heute in fast allen Lebensbereichen. Die Straße etwa ist nicht mehr Nahverbindung, Ort der Kommunikation und Sozialisation; sie zerschneidet nachbarschaftliche Beziehungen. Die mit der Industrialisierung einhergehende Entwicklung zu Großsystemen („Think big!") stärkte den Prozeß der Entfremdung des Menschen vom Menschen und des Menschen vom Ding. Demgegenüber wird heute mit Recht das Prinzip der kleinen Kreisläufe und der fein-gegliederten Strukturen verfochten („Small is beautiful!). Neben dem Prinzip der Dezentralisierung wird zudem in der ökologischen Bewegung das Prinzip der Ganzheitlichkeit betont. Unheile Welt: das bedeutet eine von den eigentlichen Bedürfnissen des Menschen als humanem Wesen sich immer mehr entfernende Welt, die Vorherrschaft zweckhaften Funktionierens gegenüber sinnvoller Gestaltung, von Pseudobedürfnissen, die herbeimanipuliert werden, damit die „große Maschine" in Bewegung gehalten werden kann.

Die Konzentrationstendenzen, die rapide Bevölkerungsvermehrung, die weltweite Unterernährung, die Ausbeutung der Rohstoffreserven, die Zerstörung des Lebensraumes ließen die zivilisatorischen Blütenträume, wie sie das 19. Jahrhundert bestimmten, nicht reifen. Der Optimismus des Maschinenzeitalters ist längst gelähmt, die furchtbaren Katastrophen zweier Weltkriege und die nukleare Bedrohung haben ein weltweites Gefühl der Angst hervorgerufen. Der moderne Zweifel an der Fähigkeit des Menschen, die rapide größer werdenden Menschheitsprobleme zu lösen und eine katastrophale Entwicklung zu verhindern, unterscheidet sich, so Anton Andreas Guha, wesentlich von dem Pessimismus, den es zu allen Zeiten gegeben hat, jenem „Unbehagen in der Kultur", das sich utopisch nach einer besseren Welt sehnte und das in die eigenen, oft intellektuell glänzend begründeten Untergangsvisionen verliebt war. Die heutigen Probleme seien gleichsam meßbar: statt Prophezeiungen ließen sich begründete Prognosen aufzeigen; die Visionen beruhten auf Fakten und statt Hoffnung könne man die Voraussetzungen anbieten, die zur Verhinderung einer Katastrophe notwendig wären.

Den drei dominanten Weltproblemen (Umweltzerstörung, Rüstungswettlauf, Nord-Süd-Gefälle) sei eines gemeinsam: die Problemlösungs-Kapazitäten hielten nicht mehr Schritt mit der Geschwindigkeit, mit der sie anwüchsen und immer neue Unterprobleme erzeugten. Allmählich werde zur Gewißheit, daß die Lösungen, die auf realistischer Weise notwendig wären, selbst utopisch würden und sich ins Illusionäre verflüchtigten: „Es gibt namhafte Astronomen, die die Wahrscheinlichkeit, auf außerirdische Kulturen zu stoßen, unter anderem deshalb für so gering halten, weil sie annehmen, daß sich übertechnisierte Zivilisationen selbst auslöschen. Selbst große Optimisten werden einräumen, daß die Mittel zur Unbewohnbarmachung dös . blauen Planeten'bereits vorhanden sind und nur die pure Hoffnung bleibt, daß sie zu diesem Zwecke nicht auch eingesetzt werden.“

Man darf freilich die „Medaille des Fortschritts“, wie sie im 19. Jahrhundert geprägt wurde, nicht nur von ihrer düsteren Seite betrachten. Wenn auch Grund zu großer Sorge bestehe, heißt es im Bericht des „Club of Rome’ („Die Grenzen des Wachstums"), so gebe es auch Grund zur Hoffnung. Eine bewußt vorgenommene Wachstumsbeschränkung werde schwierig sein, aber sie sei nicht unmöglich. Die Industrialisierung förderte nicht nur den Selbstzweck großer Systeme, sondern machte vor allem auch die Selbstverwirklichung des einzelnen Menschen möglich. Die durch Arbeitsteilung und Mechanisierung bewirkte Leistungssteigerung der Gesamtgesellschaft kam und kommt allerdings nur dem Leben und der Überlebensfähigkeit des einzelnen zugute, wenn soziale Gerechtigkeit vorwaltet. Die Weichenstellung der Industrialisierung bedeutete, daß endlich nun auch für die „Leute" eine Möglichkeit bestand, voranzukommen. Mußten früher viele auf den Feldern malochen, damit wenige in den Parks lustwandeln konnten, so bot die Industrialisierung die Chance, vom Proletarier zum Kleinbürger, vom Kleinbürger zum Bürger aufzusteigen. Die moderne Gesellschaft mit ihrer Erhöhung der Arbeitsproduktivität befreite im Rahmen sozialer Demokratie vom „Determinismus der Armut". „Zeit und Geld sind die beiden wichtigsten Währungen für menschliche Optionen. Die Erhöhung des Reallohnes und die Verkürzung der Arbeitszeit sind daher die entscheidenden Instrumente jener erstaunlichen Vergrößerung sozialer Optionen, die die letzten Jahrhunderte gesehen haben, die insbesondere das letzte Jahrhundert gesehen hat." Bildung, Freizeit, Altersversorgung etwa bie-. ten heute Lebenschancen, wie sie frühere Generationen nur erträumen konnten. Die Segnungen der Modernität dürfen nicht durch leichtfertige Regression, durch Romantisierang des „einfachen Lebens" aufs Spiel gesetzt werden. Der Glaube, man könne „arm leben, aber mit Stil", ist genauso elitäre Arroganz, wie die kompensierende Feststellung, daß Armut einen großen Glanz von innen darstelle. Auch Marx'Vision des von Arbeitsteiligkeit befreiten, vom nicht mehr entfremdeten Menschen einbegreift die Dimension des Kulinarischen, des Menschenrechtes auf Genuß (so Rolf Schneider). Marxismus sei immer auch Sensualismus; wer das in Frage stellen wolle, gehe besser zu den Bettelmönchen. Die ideologisch-grüne Alternative zum parasitären KonsumÜberfluß sei die härene Vision vom einfachen Leben, und alles geistesgeschichtliche Pochen auf den großen Rousseau ändere nichts daran, daß in dieser Version sehr viel Irrationalismus und auch leise tickender Faschismus stekke

Regressive „grüne" Tendenzen müßten in einem „grünen Ethos" „aufgehoben" werden, das die Hoffnung eines Paradieses auf Erden mit einem realistischen Blick für seine Machbarkeit verbindet. Die Geschichte von den Menschen und den Maschinen lehrt, daß das Utopische durchaus real sein kann; Behagen in der Kultur eine konkrete Hoffnung ausmacht. Die Misere des Maschinenzeitalters ist vielfach überwunden — aber die historische Erfahrung massenhafter Armut und krasser sozialer Gegensätze sollte uns für die Aktualität der Not in weiten Bereichen der Welt das Bewußtsein schärfen.

Wer demokratisch-republikanische Identität auch für die Zukunft bewahren will, der kann inmitten einer Welt und Umwelt, die vielerlei Lasten auferlegt und den Mut zur Reflexion wie die Tapferkeit des Standhaltens abfordert, aus der Geschichte der Leute viel lernen, Kraft aus vergangenen Beispielen für die eigene Ichstärke gewinnen. An den Grenzen des Wachstums offensichtlich angelangt, wird man beim Rückblick auf das Maschinenzeitalter, beim Anblick der Industrielandschaft des 19. Jahrhunderts und des Homo faber, der in ihr unermüdlich und hemmungslos den Fortschritt’ schmiedete, im Nachvollzug der Schicksale von Ständen und Schichten zum Zeugen einer großen Comdie humaine.

Im Wissen um die Hektik und die Gefährdungen einer ins Grenzenlose sich verlierenden, gleichermaßen nervösen wie brutalen Welt, bei dem Bemühen, die Geschichte der Industrialisierung in einem aufgeklärten Sinne zu begreifen, kann man die Bedeutung eines Wortes von Günter Grass ermessen: „Nur wer den Stillstand im Fortschritt kennt und achtet, wer schon einmal, wer mehrmals aufgegeben hat, wer auf dem leeren Schneckenhaus gesessen und die Schattenseiten der Utopie bewohnt hat, kann Fortschritt ermessen."

Stadtgeschichte

Demokratische Identität hat eine verläßliche Stütze in der Stadtgeschichte. Gerade weil die Stadt heute als Ort der Urbanität gefährdet ist, sollte die Besinnung auf die Stadt und ihre Geschichte wieder mehr um sich greifen. Eine solche Historiographie kann zwar nicht die Wirtlichkeit der Städte wieder herstellen; aber wenn der Weg von Metropolis über Profi-topolis und Megalopolis nach Nekropolis be-endet und der Vor-Schein der idealen Stadt — eben Metropolis — wieder wirksam werden Soll, muß die historische Reflexion eine große Rolle spielen: zeigt sie doch Wege wie Irrwege der modernen Stadtentwicklung auf: „Als ein grundsätzliches Defizit erscheint die meist noch nicht ausreichende Kenntnis der Geschichte der Stadt im 19. und 20. Jahrhundert. Dabei ist gerade sie als Brücke zwischen der oft im Bewußtsein der Öffentlichkeit überhöhten mittelalterlichen Stadtgeschichte und der scheinbar so völlig anders gearteten, nicht mehr vergleichbaren Gegenwart besonders wichtig. Die drückende Fülle von Problemen, die auf der Stadt von heute lastet, ist aber in erster Linie das Ergebnis des durch die Industrialisierung hervorgerufenen Entwicklungs-schubes, der die Mauern einer in Jahrhunderten kontinuierlich gewachsenen Stadt gesprengt und eine Phase tiefgreifender Veränderungen und überstürzten Wachstums eingeleitet hat." (Christian Engeli) Angesichts der an sie gestellten Erwartungen befände sich die Stadtgeschichtsschreibung in einer schwierigen Phase der Neuorientierung. Das Gefühl, daß man sich mit herkömmlichen Darstellungsformen dem Vorwurf kompilatorischer Berichterstattung, reiner Verlaufsgeschichte oder eines auf die politische Entwicklung eingeengten Geschichtsverständnisses aussetze, verbinde sich mit einer gewissen Unsicherheit neuen methodischen Ansätzen gegenüber, über die nur ungefähre Vorstellung bestünden. Dazu kämen die in der Materie liegenden Schwierigkeiten: die Vielzahl der Themenbereiche, die zu berücksichtigen seien, die Überfülle an Quellen, die es zu meistern gelte, die Befangenheit selbsterlebter Geschichte gegenüber und die pädagogisch-politische Funktion, die der Stadtgeschichte der neuesten Zeit zugemessen wird. Stärker als bei der nationalen und globalen Geschichte trete bei der Stadtgeschichtsschreibung ein bestimmter Adressat ins Blickfeld, der Bürger, der Bewohner der Stadt; entsprechend konkreter stelle sich die Sinnfrage. So könne die Stadtgeschichtsschreibung freilich auch die Liebe zur Heimat, den Stolz auf die Stadt, die Identifikation mit der erlebten Umwelt, das Engagement für die Erhaltung und Pflege des kulturellen Erbes besonders fördern; sie müsse deshalb einen wichtigen kulturpolitischen Stellenwert zugeordnet erhalten.

Der Kulturausschuß des „Deutschen Städte-tags" hat kürzlich ein Papier entworfen, das sich mit der Frage: „Geschichte in der Kultur-arbeit der Städte" beschäftigt. Die Prägungen unserer Lebenswelt durch Beton-und Fertigteilarchitektur, Kunststoff und elektronische Technologien rückten die überkommene Kultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts näher an die Vergangenheit und verleihen ihr historisches Kolorit. Der vorrangig ökonomisch be-* stimmte Urbanisierungsprozeß rufe die Denkmalsschutz-und die Stadterhaltungsbewe gung hervor. Wachstumskrise und nostalgische Einstellungen seien Rahmenbedingungen für eine Umorientierung, in der Sinnwerte gegenüber der Funktionsorientierung an Boden gewännen: „Das Geschichtsinteresse, ja der Geschichtshunger in der westlichen Welt verrät eine un bestimmte Sehnsucht nach Identität. Hiei steht die geschichtliche Kulturarbeit de Städte in der Verantwortung. Sie hat neben ih rer Bedeutung für die kommunale Selbstdar Stellung einen subjektiven Rang für den Bür ger. Indem sie die stadtgeschichtlichen Be züge erlebbar macht und zur Teilhabe unc Teilnahme des einzelnen führt, ermöglicht sie ihm selbstbestimmte Einbindung und Selbst Vergewisserung.

Indem die geschichtliche Kulturarbeit exem plarische Lebenssituationen des Maschinen Zeitalters, der Alltags-und der Industriekultu einbezieht, eröffnet sie vertiefte Möglichkei ten zur sozialen Identifizierung. Darüber hin aus schafft der Bürger durch die intensive Zu sammenarbeit bei der Sammlung der Zeug nisse der Industriekultur selbst geschichtli ches Kulturbewußtsein.

In größeren Städten bedarf die geschichtlich Kulturarbeit der sorgfältigen Abstimmun hinsichtlich der beteiligten Einrichtungei Stellen und Personen, in mittleren und kleine ren Städten kann ihr Gelingen von einer einz: gen Einrichtung oder Persönlichkeit abhär gen. \ Im komplexen Fall sind an ihr beteiligt:

1. die unmittelbar tätigen Stellen wie di (meist) dem Kulturbereich zugeordneten Eit richtungen wie Stadtarchiv, Stadtmuseun aber auch einzelne Personen, 2. die städtische Denkmalpflege, 3. die mitwirkenden kommunalen, dem Ku turbereich zugeordneten Einrichtungen wi Bildstelle/Medienzentrum, Bibliothek, Volk: hochschule, 4. Dezernate/Ämter außerhalb des Kulturb reichs wie Bau-, Vermessungs-, Planungs Wirtschaftsförderungs-, Werbe-und Presseamt bzw. -dezernat, 5. regionale und nichtstädtische, mit historischen Aufgaben befaßte örtliche Einrichtungen, 6. Geschichts-und Bürgervereine, Initiativen, 7. Einzelpersonen und Firmen, 8. Kirchen, Vereine und Verbände und 9. die örtliche Presse."

Evokation durch Ausstellung

Unter dem Aspekt demokratischer Identität, vermittelt durch die Aufarbeitung von Alltagskultur, kommt neuen Ausstellungsthemen und -formen, vor allem aber neuen Museums-gründungen und dem Ausbau bestehender Museen wie Heimatmuseen große Bedeutung zu. Wir dürfen aus unseren Museen nicht zu große historische Magazine machen, mit deren Hilfe wir verlernen, wie belästigend Geschichte sei, meint Klaus Heinrich mit Recht; Museen seien statt dessen zum Sich-wehren da; „sie sind Widerstandszentren, auf die wir nicht ungestraft verzichten können: unsere Ahnen wehren sich da mit. Sand im Getriebe: wie sollten wir sonst je ein Getriebe auseinandernehmen und kennenlernen? Mit dem, was da von unten heraufgekommen ist, hat es angefangen — plötzlich erschraken wir vor uns. Und das dürfen wir jetzt nicht verlernen, nicht mit Didaktik, auch nicht mit Rausch."

Für Joseph Beuys bedeutet das Museum einen „Ort der permanenten Konferenz"; das Alte bereitet den Boden, auf dem neue Qualität, Vitalität und Kraft in Erscheinung treten:

. Nur im Schoße des Alten können wir das Neue erzeugen. Wir leben alle in einem System, das vorgegeben ist Wollen wir aus diesem System in ein anderes hinein, so können wir das nur mit den Werkzeugen, die vorhanden sind... Man kann einen alten Bestand nur dadurch verjüngen, daß man in ihm das Junge pflanzt, das zunächst mit dem Alten wächst bis dieses abstirbt und nicht, indem man den alten Bestand völlig vernichtet."

Will man das Museum auch zu einem Ort der Alltagskultur machen, muß man die bürgerliche Eingrenzung des Kulturbegriffs auf Kunst-bzw. kostbare Kulturgüter aufsprengen und das . Ansehen" von Alltagskultur — in des Wortes doppelter Bedeutung — heben bzw. erleichtern. Die Gefahr, daß die Pflege von Alltagskultur im Kitsch versickert, kann verhindert werden, wenn eine kulturphilosophische und kulturpolitische Besinnung über die neuen Inhalte und Formen von Ausstellungen und Museen um sich greift.

Die Ausstellung von Industriekultur auf Zeit in unterschiedlichen Örtlichkeiten wie auf Dauer in Museen bedarf — um Geschichte „augenfällig" zu machen — einer Ausstellungsästhetik, die in „evokativer Äquivalenz" begründet ist. Der Gegenstand, der ausgestellt wird, evoziert Resonanz, wenn im Betrachter Äquivalentes vorhanden ist, angesprochen werden kann. Empfindet der Betrachter den Gegenstand als etwas Fremdes, Exotisches, nicht Gegen-ständliches, sondern Entfernt-Stehendes, wird er letztlich unberührt am Gegenstand vorübergehen. „Es hängt von dem ab, der hindurchgeht, ob ich Grab bin oder Schatz, ob ich rede oder schweige, das liegt nur an Dir ... Tritt nicht ein ohne Verlangen", schrieb Paul Valöry übers Museum.

Der Mangel an Kommunikation hat viele Gründe; etwa:

— Der Besucher ist ungebildet; er ist ungebildet, weil er die Chance von Bildung nicht ergriffen hat, oder sie ihm nicht geboten wurde. Der Berufsschüler geht z. B. in die Staufer-Ausstellung, in eine der Wittelsbacher-Ausstellungen; mag er auch von der Kostbarkeit vieler Gegenstände berührt sein, mag er etwas von der Aura des Originals spüren — der Begründungszusammenhang bleibt ihm fremd; er hat nicht das mitbekommen, was der Gymnasiast mitbekam; aber auch dieser hat es längst vergessen. — Kommunikation zwischen Ausstellung und Besucher mag behindert oder verhindert werden durch das Imponiergehabe der Ausstellung. Die Aura der Gegenstände soll überwältigen; man verläßt sich auf deren Drei-Sterne-Renomm; erläuternde Zuwendung zum Laien, Ausstellungsdidaktik, ist verpönt; der Kreis der Kenner soll klein bleiben — der Kreis der Staunenden darf zum höheren Ruhme dieser Kenner groß sein. Bringt der Betrachter „es" nicht mit, ist er selber schuld. Die Ausstellungsmacher verwalten den Sinn, auf die Demokratisierung der Sinndeutung verzichten sie. — Der Gegenstand liegt so weit weg, daß, abgesehen vom Oberflächenreiz des glänzenden Goldes etwa, die Signale nicht aufgefangen werden können. Wie kann einer im Innersten, existentiell, von Tutanchamun ganz aus der Ferne angerührt werden, es sei denn durch das Gleichnis des Sterbens und der Sehnsucht, Vergänglichkeit als pomp funebre in Unsterblichkeit überführen zu wollen? Wer wird das erleben angesichts des massenhaft verdrängten Todes bzw.der Tatsache, daß der Tod eine Trivialmythe geworden ist, die tagtäglich als verkabelte Nachricht ins Wohnzimmer geliefert wird?

Ausstellungen für wen, warum? Sind die Ausstellungsmacher auf der richtigen Fährte? An welches Ziel denken sie, an welche Zielgruppe? Der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß beschrieb die Zielgruppe der Wittelsbacher Ausstellungen bei der Eröffnung der Ausstellung „Wittelsbach und Bayern" wie folgt: „Ich hoffe sehr, die Ausstellungen zum Jubiläumsjahr der Wittelsbacher vermitteln möglichst vielen Besuchern aus Bayern, Deutschland und dem Ausland jene Begeisterung für die Geschichte, von der Goethe sprach, aber auch Achtung vor den Leistungen derer, die fast siebeneinhalb Jahrhunderte lang die Geschichte Bayerns geprägt haben. Vielleicht lernen wir so besser als bisher erkennen, daß Bayern nicht irgendeine gleichsam austauschbare Region in einem bundesstaatlichen System ist, sondern eine geschichtsträchtige Einmaligkeit: im Einklang mit sich selbst und gleichzeitig untrennbar in das Netzwerk deutscher und europäischer Kultur verflochten."

Angesprochen werden also alle, die als Bayern oder Nichtbayern Bayern sein wollen. Wir sind wir und wir sind was; es geht um den Grundsatz regionaltopographischer Identität bei gleichzeitig abendländischer Verflochtenheit. Die Frage ist nur, ob die Zielgruppe dies begreift, ob also die Ausstellungsmacher mit ihren Zielvorstellungen reüssieren; ob, um ein anderes Beispiel zu nehmen, die Macher der Preußen-Ausstellung etwa bewirken, daß junge Leute aus der alternativen Szene anfangen, um einen Preußen von innen zu bitten — narzißhafte Larmoyanz durch ein paar Tropfen Preußentum gemildert wird. Wenn Ausstellungen davor gefeit sind, im Imponiergehabe zu erstarren, wenn sie nicht die Aura des Gegenstandes verabsolutieren, sondern diese zum „Aufknacken" von Stereotypen benützen, dann setzen sie, auch mit Hilfe von Aura, Aufklärungsprozesse in Gang; sie stehen dann nicht im Dienst affirmativer Kultur, sondern bleiben „sperrig"; sie schläfern den Betrachter nicht ein, sondern bringen ihn zum Nach-, Neu-und Vorausdenken, zum Mitfühlen. Die Ausstellung, die aufklärend, einholend wirkt, die in ihrer Evokation dem Menschen zu einem Stückchen Identität verhilft, weniger als Bayer oder Deutscher oder „Abendländer“, sondern vor allem als Mensch — diese Ausstellung, die dergestalt die „Ressource Sinn“ erschließt, sei in Form von drei literarischen Sinnbildern beschrieben: (1)

„AufeinerReise nach dem Süden sah ich in einem Museum unter allerlei Überresten antiken Hausrates, zerbrochenen Öllämpchen und Topfscherben, einen Dachziegel, darauf sich die flüchtige Fußspur eines Mädchens oder Knaben erhalten hat. Über viele Jahrhunderte hin behielt das irdene Gedächtnis den Eindruck eines Augenblicks. Die Spur, schmal und untadeliggeprägt, jung und uralt zugleich, hat für den Beschauer etwas rührend Liebliches. Es war nun freilich nichts Bedeutendes geschehen, als eben nur, daß vor Zeiten ein Kind achtlos oder sogar mit Fleiß über zum Trocknen ausgelegte feuchte Tonziegeln geschritten war, eine junge Hirtin vielleicht, denn andere Scherben tragen Fährten von Ziegen. Der Ziegelbrenner hatte also das gezeichnete Stück nicht verworfen; es war gebrannt und als einziges Zeugnis eines Men-B sehen überliefert, von dem wir nichts wissen, als daß er gelebt hat, und der sich gewiß nicht träumen ließ, daß seiner zierlichen Fußspur die Ehre zuteil werden würde, einst in der Vitrine eines staatlichen Museums aufgestellt zu werden." (Ernst Penzoldt) (2)

, Das Wehen der Luft, das Rieseln des Wassers, das Wachsen der Getreide, das Wogen des Meeres, das Grünen der Erde, das Glänzen des Himmels, das Schimmern der Gestirne halte ich für groß; das prächtig einherziehende Gewitter, den Blitz, welcher Häuser spaltet, den Sturm, der die Brandung treibt, den feuerspeienden Berg, das Erdbeben, welches Länder verschüttet, halte ich nicht fürgrößer als obige Erscheinungen, ja ich halte siefürkleiner, weil sie nur Wirkungen viel höherer Gesetze sind. Sie kommen auf einzelnen Stellen vor und sind die Ergebnisse einseitiger Ursachen. Die Kraft, welche die Milch im Töpfchen der armen Frau emporschwellen und übergehen macht, ist es auch, die die Lava in dem feuer-speienden Berge emportreibt und auf den Flächen der Berge hinabgleiten läßt. Nur augenfälliger sind diese Erscheinungen und reißen den Blick des Unkundigen und Unaufmerksamen mehr an sich, während der Geisteszug des Forschers vorzüglich auf das Ganze und Allgemeine geht, und nur in ihm allein Großartigkeit zu erkennen vermag, weil es allein das Welterhaltende ist. Die Einzelheiten gehen vorüber, und ihre Wirkungen sind nach kurzem kaum noch erkennbar.

So, wie es in der äußeren Natur ist, so ist es auch in der inneren, in der des menschlichen Geschlechts. Ein ganzes Leben voll Gerechtigkeit, Einfachheit, Bezwingung seiner selbst, ^erstandesgemäßheit, Wirksamkeit in seinem Kreise, Bewunderung des Schönen, verbunden tait einem heiteren, gelassenen Streben, halte ich fürgroß; mächtige Bewegungen des Gemüts, furchtbar einherrollenden Zorn, die Begier aach Rache, den entzündeten Geist, der nach Tätigkeit strebt, umreißt, ändert, zerstört und in der Erregung oft das eigene Leben hinwirft, halte ich nicht für größer, sondern für kleiner, da diese Dinge so gut nur Hervorbringungen einzelner und einseitiger Kräfte sind, wie Stürme, feuerspeiende Berge, Erdbeben. Wir wollen das sanfte Gesetz zu erblicken suchen, wodurch das menschliche Geschlecht geleitet wird." (Adalbert Stifter) (3)

„In Arizona einem Schild Museum'folgend, entdeckten wir zwei Kilometer von derStraße weg einen verloren zwischen Saguaros und Euphorbien stehenden Holzschuppen. Wir traten ein und wurden von einem Mann unbestimmten Alters, mit faltendurchzogenem, aber lächelndem Gesicht empfangen, der sogleich mit der Führung begann. Das . Museum ‘ bestand aus einigen Stein-und Pflanzenproben der Gegend, dazu einigen ausgestopften Klapperschlangen, Springmäusen, plus einer milbenzerfressenen Krusteneidechse.

Wir wollten schon wieder gehen, als unser Gastgeber — vielleicht hatten wir dadurch sein Vertrauen erweckt, daß wir untereinanderFranzösisch sprachen — uns drängte, doch noch etwas zu bleiben ... Es stellte sich heraus, daß sich hinter einem Schuppen ein geräumiger Anbau befand, den wir bei unserer Ankunft nicht gesehen hatten. Schweigend und mit geheimnisvollem Gehabe ließ der Mann uns eintreten und öffnete rasch die Läden.

Was sich danach uns darbot, war ein ebenso unerwarteter wie verblüffender Anblick: An den Wänden, in Vitrinen, auf Tischen, überall Knöpfe — Tausende von Knöpfen, Knöpfe jeder Größe, jeder Form, jeden Materials und für jeden Zweck. Knöpfe aus Corossos, aus Elfenbein, aus Perlmut, aus Ebonit, aus Holz, aus Koralle, aus Kupfer, aus Eisen, aus Emaille, aus Silber, aus Glas, aus Porzellan — ich breche ab: die vollständige Aufzählung würde endlos. Dabei alles, wie es sich gehört, geordnet und etikettiert: Knöpfe mit zwei und mit vier Löchern; Kugel-, viereckige, rhombische, spindelförmige, ovale und kubische Knöpfe; Knöpfe in Einlegearbeit und in Filigran; Knöpfe für Unterhosen und Kragen-und Gamaschenknöpfe; Uniformknöpfe für Soldaten, Briefträger und Liftboys; Knöpfe für Damen-mäntel und für Abendkleider... Für gewöhnlich, sagte er, zeige ich Besuchern nur das Museum, denn die meisten, die kommen, sind ungeschliffene Flegel, die sich über mich lustig machen. Aber Ihnen habe ich gleich angesehen, daß Sie Experten sind, von denen meine Schätze bewundern zu lassen, mir unbeschreibliches Vergnügen macht.

Wir verließen den liebenswürdigen Einsiedler und fuhren eine ganze Weile, ohne ein Wort zu sagen. Nach etwa fünfzig Kilometern meinte Georges Duthuit: Dieser Mann lebt in einer Traumwelt. Richtig, sagte ich. Wir müßten jetzt nur noch eine Frau finden, die Knopflöcher sammelte. Wir würden die beiden zusammenbringen, sie würden heiraten und ihre Sammlungen zusammenlegen. Wir hätten dann endlich ein Weltsystem, das den Geist befriedigte." (Patrick Waldberg)

Bringt man diese als „Ausstellungsparabeln" gedachten Zitate auf den Begriff, so handelt es sich um Variationen zum evokativen Äquivalent, um Hinweise auf Ausstellungen, die wohl besonders stark zu evozieren vermöchten, weil sie auf eine voraussetzungslosere, aber tief im Humanen begründete Äquivalenz rechnen können:

1. Der Kinderfußscherbeneindruck: Die Eindrücke der Alltäglichkeit, alltäglicher Menschlichkeit, müssen mit Phantasie und Ergriffenheit, mit Ehrfurcht zum Thema von Ausstellungen gemacht werden. Die Spur, die Völker und Herrscher hinterlassen haben, ist in unserer Geschichtsschreibung und in unserem Ausstellungs-wie Museumswesen gut erkennbar. Man muß sich im umfassenden Sinne dem Leben und der Geschichte der Leute zuwenden. So wie heute eine konkrete Sozialgeschichtsschreibung von unten not tut, so sollten auch Ausstellungen den Menschen ihre subjektive Erinnerung abfragen, also den objektiven Faktor Subjektivität mehr berücksichtigen, die Ablagerungen von Bewußtsein, Erinnerungen in ihrer Dinglichkeit präsentieren. 2. Der Milchtopfsiedeeffekt: Sanfte Wirkungskräfte in ihrer Größe herausstellen; Umwertungen vornehmen: das Kleine ernstnehmen. Nicht nur zeigen, wodurch die Menschen bewegt wurden, sondern zeigen, was sie selbst bewegte und was sie selbst bewegten. Ins Bewußtsein heben, was ansonsten nur im Unterbewußtsein angesiedelt ist; dingfest machen, was dem einzelnen Halt gab, Haltung ermöglichte. Auf die vielen Fragen des Alltags Antworten suchen. In die Einfachheiten, aber Tiefen der Zeiten vorstoßen. 3. Das Knöpfewunderlanderlebnis: Serielle alltägliche Dinglichkeit nachfühlbar, nachvollziehbar machen; den Reichtum der Alltäglichkeit erhalten und präsentieren wollen; dabei nicht der Stoffhuberei verfallen, sondern die imaginären Dimensionen (zu den Knöpfen die Knopflöcher!) mit erschließen; die Dinge und ihre ideellen Vorbilder in ihrem Schatten an der Wand unserer Höhlenbeengung aufscheinen lassen. Die drei Parabeln zielen auf einen Mittelpunkt, auf die Kultur der Leute. Für die Leute Ausstellungen, welche die Kultur der Leute als Kultur verdeutlichen! Ja, wenn die Leute nicht wären! „Einfach vortrefflich all diese großen Pläne: das Goldene Zeitalter das Reich Gottes auf Erden das Absterben des Staates. Durchaus einleuchtend. Wenn nur die Leute nicht wären! Immer und überall stören die Leute. Alles bringen sie durcheinander. Wenn es um die Befreiung der Menschen geht laufen sie zum Friseur. Statt begeistert hinter der Vorhut herzutrippeln sagen sie: Jetzt wär ein Bier gut. Statt um die gerechte Sache kämpfen sie mit Krampfadern und mit Masern. Im entscheidenden Augenblick suchen sie einen Brielkasten oder ein Bett Kurz bevor das Millenium anbricht kochen sie Windeln.

An den Leuten scheitert eben alles. Mit denen ist kein Staat zu machen. Ein Sack Flöhe ist nichts dagegen. Kleinbürgerliches Schwanken! Konsum-Idioten! Überreste der Vergangenheit! Man kann sie doch nicht alle umbringen! Man kann doch nicht den ganzen Tag auf sie einreden! Ja wenn die Leute nicht wären dann sähe die Sache schon anders aus. Ja wenn die Leute nicht wären dann gings ruckzuck. Ja wenn die Leute nicht wären ja dann! (Dann möchte auch ich hier nicht weiter stören.) Hans Magnus Enzensbergber

Denkmals-Pflege und Industriearchäologie

Der erfreuliche Trend zur stärkeren Beachtung der Alltagswelt des industriellen Zeitalters wurde mit initiiert durch viele heimatpflegerische Bemühungen, die zunächst der ländlichen Umwelt zugewandt waren. Die Gründung von Freilichtmuseen mit alten Bauernhäusern hat modellartig aufgezeigt, wie man gefährdete Gebäude sichern und Außen-wie Innenwelten zu attraktiven Ensembles zusammenstellen kann. Einbezogen wurden bald auch technikgeschichtliche Denkmäler der vorindustriellen Welt (etwa alte Mühlen, Hammerwerke, Manufakturen); manche dieser Einrichtungen, die bis in unsere Zeit in Betrieb waren, spiegeln in ihren Transformationen die technische Entwicklung wider — so wenn aus einer alten Kornmühle ein ländliches Elektrizitätswerk wurde.

Die „Industriearchäologie“ kam zunächst in England zur Geltung. Da dort immer mehr Zeugnisse der technischen und industriellen Entwicklung und dem damit verbundenen Zwang zur Anpassung an moderne Produktionsmethoden zum Opfer fielen, also von modernen Bedürfnissen „überlagert" und „verschüttet" wurden, begann man (gleichermaßen konkret wie metaphorisch gesprochen), diese Denkmäler wieder „auszugraben" und zu konservieren. In interdisziplinärer Zusammenarbeit von Maschinenbau-, Wirtschafts-, Architektur-, Technik-und Sozialhistorikern wurde eine industrielle Denkmalspflege entwickelt, die sich auch, ähnlich wie im ländlichen Bereich, das Ziel setzte, die erhaltenen, zusam-mengetragenen bzw. rekonstruierten Einrichtungen und Anlagen in Form von Freilichtmuseen und Freizeitparks einer größeren Offentichkeit zu erschließen. Die Industriearchäolo8ie in England hat so einen „Blick zurück ins Ruß-Land" ermöglicht, der sich hoher Attraktivität erfreut

In Deutschland wurde das „Westfälische Museum Technischer Kulturdenkmale" im Mäkkingerbachtal bei Hagen zu einem Vorort industriearchäologischer Präsentation. Es bietet einen umfassenden Einblick in die geschichtliche Entwicklung des Handwerks und der Technik in vor-und frühindustrieller Zeit. Vornehmlich aus dem westfälischen Raum stammen die dort wieder aufgebauten und eingerichteten Wohnhäuser, Werkstätten und Kleinbetriebe. Die Vorgeschichte des Museums reicht bis in die zwanziger Jahre zurück; der Endausbau soll 1985 abgeschlossen sein. Dann werden 82 historische Gebäude samt Betriebsanlagen und in ihnen rund 100 verschiedene Handwerke und vorindustrielle Gewerbe besichtigt werden können.

„Mit dem arbeitsintensiven Wiederaufbau der irgendwo sorgsam abgetragenen Gebäude und dem oft mühseligen Zusammensuchen originaler Werkstatteinrichtungen wird freilich nur die Basis für dieses einzigartige Museums-unternehmen geschaffen. Denn so unverzichtbar das unmittelbar sinnliche Erleben allein der Räumlichkeiten solcher alten Produktionsstätten ist — bloß aufgebahrt bleiben die Objekte tot. Deshalb sind alle Betriebseinrichtungen wieder funktionsfähig gemacht worden, so daß sie den Besuchern vorgeführt und erläutert werden können (und werden). Da kann das Funktionieren der alten Technik unmittelbar einsichtig werden, wie es bei den (Fortsetzung Seite 33) Explosionsartig wuchsen die deutschen Städte im 19. Jahrhundert; die Bevölkerungsvermehrung sprengte ihre bis dahin weitgehend erhaltenen mittelalterlichen Strukturen. In den meisten Städten wurden die Stadtmauern geschleift (nicht in Nürnberg, Bild oben: Blick auf den im Süden entstehenden Vorort, 1865).

„Häßliche Zweckbauten, rauchende Schlote, Gasometer und Schuttabladeplätze waren die Nachbarschalt trostloser Mietskasernenvorstädte, die gleichzeitig mit dem Anwachsen der Fabriken aus dem Boden schossen undoft mit den Ausläufern andererStadtkerne ohnejedeAbgrenzung zusammen wuchsen unddie Landschaft zersiedelten.“ (R. Rübberdt) Unten: Das Borsigsche Etablissement zu Moabit, Berlin.

Zu den Bildern und Bildtexten vgl. Hermann Glaser, Maschinenwelt und Alltagsleben. Industriekultur in Deutschland vom Biedermeier bis zur Weimarer Republik, Frankfurt 1981. Die Menschen, die in Fabrikhallen („Maschinenhallen") arbeiteten, sahen sich völlig neuen Verhältnissen gegenüber. Zeittakt — Zeitnot bestimmten die mechanisierte Produktion. Paul Göhre, dermit seiner„practischen Studie“: „Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche" (1891) die erste deutsche Sozialreportage aus dem vierten Stand verfaßte, erspürte die „Poesie eines grandiosen ineinandergreifenden Getriebes", das ruhelos und doch in gleichmäßiger Bewegung sich auswirke; er sprach vom , ^\del“ der menschlichen Arbeit, die hier an einereinzigen Stelle von mehr als hundert Menschen im Kampfe ums Brot, ums Leben tagein, tagausgetan werde. FürKarlMarx vollzogsich in derFabrikhalle die Einschmelzung des Individuums ins funktionierende Kollektiv — Triumph entfremdeterArbeit im Zeichen eines ausbeuterischen Kapitalismus.

Oben: Fabrikanlage aufFirmenprospekt; unten: Wickelei für Gleichstrom-Maschinen, Siemens-Schuckertwerke Nürnberg. Die „schematisch^ Darstellung einer Eisenbahnanlage" (mit typischen Elementen wie Durchstich, Viadukt, Tunnel, Lokomotivschuppen) spiegelt die das Maschinenzeitalterprägende„Liebe zur Geometrie". Die Welt w-urde„verrechnet", „vernetzt" (links oben). Als der dänische DichterHans Christian Andersen 1840 auteiner Reise nach Nürnberg kommt, ist er von der ersten deutschen Eisenbahn, die dort, zwischen Nürnberg und Fürth, 1835 ihren Betrieb aufgenommen hatte, tiefbeeindruckt: „Das alte Nürnberg war die erste Stadt, die in den gigantischen Gedanken derjungen Zeit miteinstimmte, die Städte durch Dampf und eiserne Bänder zu verbinden.“

Rechts oben: Die„Ludwigs-Eisenbahn“, ganz zierlich, ist hinter dem breit vorgestellten neu-alten Kommunikationsmittel „Kanal“ kaum erkennbar; Kupferstich von 1845. Darunter der Sächsisch-Bayerische Bahnhol zu Leipzig. Der„Mythus von Dampf'faszinierte — und erschreckte. J A Kleins„Eisenbahn-Szene bei München“ (1842), oben, zeigt die Angst des Bauern vor der,, Teufelsmaschine“, überall, wo die Eisenbahnstrecken die Grenzen derProvinzen und des Provinziellen aufsprengten, skandierte derMaschinentakt der„Dampfrösser“ die Melodie eines dunklen, furchtbaren ffungers nach Welt: „Quer durch Europa von Westen nach Osten rüttert und rattert die Bahnmelodie.. Der Blitzzug, den Detlev von Liliencron in die Ferne rasen läßt, zerschellt freilich an seinem Gegenbild: „Halthalthalthalthalthalthalthalthaltein/ein anderer Zug fährt schräg hinein.“ (Links unten und rechts unten: Bilder von einem Eisenbahnunglück) Die Werkstatt erweist sich als ein Vor-Ort der Industrialisierung, da sich aus ihr — vor allem im mechanischen Bereich — oftgenug Fabriken entwickeln. Der Handwerker bringt in den Prozeß der Mechanisierung innovatorische und ingeniöse Mentalität ein; die Fähigkeit des „Tüftelns" prädestiniert ihn zum „Erfinder. Die Verpflichtung für die Gesellen, „auf Wanderschaft zu gehen“ (oben: „fremde Zimmergesellen''zu Mannheim, 1889), bewirkte Erfahrungsaustausch und„transportierte" Neuerungen. Da die meisten Handwerksgesellen nicht Meister werden konnten, bedeutete für sie der Übergang zur Fabrikarbeit keineswegs Abstieg; sie spielten auch in den frühen sozialen undgewerkschaftlichen Bewegungen eine maßgebende Rolle. (Unten: Belegschaft einer Maschinenfabrik mit Ingenieur in der Mitte; rechts oben: Hutherstellung) Im Handelsleben war neben dem Markt der kleine Laden („Tante-Emma-Laden“, Kolonialwarenladen) von großer Bedeutung; vielfach wurden sie im Keller oder in umgebauten Zimmern untergebracht (unten). . . Es sollEuch anheimeln in unserer Gartenlaube". Das„illustrierteFamilienblatt“, das 1853begründet wurde, erwies sich als Symbol für „deutsches Familienleben". Die familiäre Zusammengehörigkeit spricht aus vielen Familienphotos der damaligen Zeit. Die innere Zuwendung zum anderen tritt in diesen Bildern oftin rührender Betulichkeit zutage; die Prozedur des Photographierens, die Feierlichkeit des Vorgangs, veranlaßte die Menschen geradezu, ihreganze„Essenz“ nach außen zu kehren (oben: Großeltern, Eltern, Kinder 1913).

So wie die Wohnung (rechts oben: nach der Weihnachtsbescherung, 1883) als Refugium vor den Stürmen derZeit dienen sollte, war die Familie dazu auserkoren, derRücksichtslosigkeit des„modernen“ Lebens mit einemgroßen Glanz von innen entgegenzutreten. Oft war dieserabernurSchein: diepatriarchalisch-autoritäre Ordnung zerstörte die Bindungen; die Strenge den Kindern gegenüber trieb diese in die Selbstaufgabe oder Resignation — manchmal auch in den Aufstand. Die Not derproletarischen Familie gestaltete deren Leben zwar rauh — der Wohrrungsumzug, von Heinrich Zille vor 1900 photographiert, zeigt drastisch die Ärmlichkeit der Unterschicht (rechts unten); doch bewirkte sie auch neue Formen der Solidarität und Ansätze zur Emanzipation.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Auf Grund der Originaldrucke hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Bd. 4, München-Wien 1976, S. 756 ff. Dazu auch Hermann Glaser (Hrsg.), Soviel Anfang war nie. Deutscher Geist im 19. Jahrhundert. Ein Lesebuch, München 1981, S. 177 ff.

  2. Motto des Buches „Maschinenwelt und Alltagsleben. Industriekultur vom Biedermeier bis zur Weimarer Republik" von Hermann Glaser, Frankfurt am Main 1981.

  3. Vgl. Elisabeth Lenk, Das Leben hat keine Geschichte, das Lebendige kein Ziel. Schlaflose Länder ohne Nachtigallen. Die Krankheit Mensch und ihr Prophet Theodor Lessing, in: Die Zeit, 16. 3. 1979.

  4. Gottfried Benn, Gesammelte Werke in vier Bänden, hrsg. von Dieter Wellershoff, 1. Band, Wiesbaden 1959, S. 375 ff.

  5. Wolfgang J. Mommsen, Gegenwärtige Tenden-zen in der Geschichtsschreibung der Bundesrepu-B in: Geschichte und Gesellschaft, Heft 2/1981, “149 ff. Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich auf diesen Aufsatz.

  6. Vgl. Wolfgang J. Mommsen, a. a. O., S. 160.

  7. Wolfgang J. Mommsen, a. a. O., S. 182.

  8. Peter Wapnewski, Rebell im Niemandsland, in: Die Zeit, 8. 7. 1977.

  9. Theodor Schieder, Selbstverständnis und Lage der Geschichtswissenschaft heute, in: Universitas, Heft 3/1978, S. 251.

  10. Lutz Niethammer unter Mitarbeit von Werne Trapp (Hrsg.), Lebenserfahrung und kollektives Ge dächtnis. Die Praxis der „Oral History", Frankfurt an Main 1980, S. 9 f.

  11. Thomas Nipperdey, Geschichte als Aufklärung, «: Die Zeit, 22. 2. 1980.

  12. Jürgen Kocka, Legende, Aufklärung und Objek-tivität in der Geschichtswissenschaft, in: Geschichte und Wissenschaft, Heft 6/1980, S. 453 f.

  13. Lutz Niethammer, a. a. O., S. 7 f.

  14. Hannelore Schlaffer, Dem Alltag auf der Spur. Ein neuer Typus der Geschichtsschreibung: die Kulturphysiognomik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. 7. 1981.

  15. Eberhard Straub, Industrielle Massenkultur, in: frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. 7. 1979.

  16. Detlev Puls (Hrsg.) Wahrnehmungsformen und rotestverhalten. Studien zur Lage der Unterschichten im 18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1979.

  17. Peter Gstettner, Störungs-Analysen, Zur Reinterpretation entwicklungs-psychologisch relevanter Tagebuchaufzeichnungen, in: D. Baacke, Th. Schulze (Hrsg.), Aus Geschichten lernen. Zur Einübung pädagogischen Verstehens, München 1979, S. 146.

  18. Hartmut von Hentig, Geschichtetes Leben — gelebte Geschichte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. 9. 1979.

  19. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main 1959, S. 1628.

  20. Anton Andreas Guha, Das Notwendige wird utopisch, in: Frankfurter Rundschau, 9. 8. 1980.

  21. Ralf Dahrendorf, Im Entschwinden der Arbeitsgesellschaft, in: Merkur, Heft 8/1980, S. 755.

  22. Rolf Schneider, Die Grünen — ein Unglück, in: Der Spiegel, Nr. 13/1980, S. 39.

  23. Günter Grass, Aus dem Tagebuch einer Schnekke, Neuwied/Darmstadt 1972, S. 368.

  24. Christian Engeli, Wolfgang Hofmann, Horst Matzerath im Vorwort zu: Probleme der Stadtgeschichtssehreibung. Materialien zu einem Kolloquium des Deutschen Instituts für Urbanistik am 29. und 30. April 1980, Deutsches Institut für Urbanistik, Beiheft 1. Berlin 1981, S. 9.

  25. Deutscher Städtetag, Geschichte in der Kultur-arbeit der Städte. Unveröffentlichtes Sitzungspapier des Kulturausschusses der Städte. Unveröffentlichtes Sitzungspapier des Kulturausschusses (21. /22. 5. 1981), S. 5 f.

  26. Museumsgesellschaft. Ein Interview mit Klaus Heinrich, in: Horst Kurnitzky (Hrsg.), Kunst, Gesellschaft, Museum. Notizbuch 3, Berlin 1980, S. 11.

  27. Joseph Beuys, Das Museum — ein Ort permanenter Konferenz, in: Horst Kurnitzky, a. a. O., S. 51.

  28. Ernst Penzoldt, Das kleine Mädchen von Salonae, in: Causerien, Frankfurt am Main 1949, S. 14.

  29. Adalbert Stifter, Vorrede zu „Bunte Steine", in: Ausgewählte Werke in 6 Bänden, hrsg. von Rudolf Fürst, Band 5. Leipzig o. J., S. 133 ff.

  30. Patrick Waldberg, Der Sammler und die Seinigen, Köln 1966.

  31. Hans Magnus Enzensberger, Gedichte 1955 — 1970, Frankfurt am Main 1971, S. 128 f.

  32. Vgl. Ulla Schickling, Blick zurück ins Ruß-Land. Industrie-Archäologie in England, Frankurter Rundschau, 28. 4. 1979.

Weitere Inhalte

Hermann Glaser, Dr. phil., geb. 1928, Schul-und Kulturdezernent der Stadt Nürnberg; Autor zahlreicher Bücher zu literarhistorischen, kulturgeschichtlichen, sozialpsychologischen und gesellschaftskritischen Themen. Zuletzt: Jugend zwischen Aggression und Apathie, Karlsruhe 1980; Industriekultur in Nürnberg. Eine deutsche Stadt im Maschinenzeitalter (Mit-Hrsg.), München 1980; Flucht-punkt Jahrhundertwende. Ursprünge und Aspekte einer zukünftigen Gesellschaft. Band 1 und 2 (Hrsg.), Frankfurt/Berlin/Wien 1981 (Ullstein Taschenbuch); Soviel Anfang war nie. Deutscher Geist im 19. Jahrhundert. Ein Lesebuch (Hrsg.), München 1981; Spurensuche. Deutsche Familienprosa, Freiburg/Heidelberg 1981; Maschinenwelt und Alltagsleben. Industriekultur in Deutschland vom Biedermeier bis zur Weimarer Republik, Frankfurt 1981; Die Nürnberger Massenverhaftung. Dokumente und Analysen (Hrsg.), Reinbek bei Hamburg 1981 (rororo-aktuell).