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Verständnis zwischen den Generationen | APuZ 39/1981 | bpb.de

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APuZ 39/1981 Zur alternativen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland Die alternative Kultur als politische Herausforderung Sozialdemokraten und Jugendprotest Statt großer Worte — Mut zum Risiko Verständnis zwischen den Generationen

Verständnis zwischen den Generationen

Generalsekretär der CSU Edmund Stoiber

/ 8 Minuten zu lesen

Die vom Bundesministerium für Jugend vorgelegte Studie mit dem Titel „Zur alternativen Kultur in der Bundesrepublik. Deutschland" ist ein weiterer nützlicher Beitrag für die Bewältigung eines Phänomens, das mittlerweile längst keine Randerscheinung in unserer Gesellschaft mehr ist, wie es vor Jahren noch der Fall war.

Allerdings überrascht mich die Verwendung des Ausdruckes „alternative Kultur", weil ich der Meinung bin, daß der Inhalt dieser Studie lediglich die Darstellung alternativer Gruppen und alternativer Projekte beinhaltet. Die jetzt erkennbaren Inhalte, Motive, Beweggründe der„Szene“ oder Teilkultur — wie die Bezeichnung eigentlich lauten müßte — lassen nicht den Schluß zu, daß es sich hier um eine Kultur handelt im Sinne einer in sich geschlossenen Alternative zur herkömmlichen Lebensweise der Bevölkerung unseres Landes. Die Untersuchung bezieht sich im wesentlichen auf Verhalten und Einstellungen der Jugend zu Staat und Gesellschaft, was sicherlich eine Verkürzung der Gesamtthematik bedeutet. Das Ergebnis dieser Studie ist für mich auch das offene Eingestehen von Fehlern und Versäumnissen der Politik im letzten Jahrzehnt; denn in diesen Jahren sind politische Weichenstellungen vorgenommen worden — vielfach von Teilen der Massenmedien inszeniert oder unterstützt —, die in nicht unerheblichem Maße zur Bildung von alternativen Gruppen beigetragen haben.

Die in den letzten Monaten feststellbaren Aktivitäten in der alternativen Szene dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß nur ein verschwindend kleiner Teil der Jugend sich wichen Gruppen anschließt.

Auch gibt es in der Jugendforschung diametral entgegengesetzte Bewertungen über das Verhalten der Jugend zu Staat, Gesellschaft und tragenden Institutionen. Auf der einen Seite vertritt man die Auffassung, daß sich gegenüber der Nachkriegsgeneration keine dra-

matische Veränderung in der Einstellung der Jugendlichen zum Staat, zu Politik, Familie und Beruf nachweisen lasse, auf der anderen Seite wird die Meinung vertreten, es gebe spektakuläre Anzeichen eines epochalen wertwandels uncj eine Abkehr der Jugend on den klassischen Verhaltensmustern.

h meine, daß die Konflikte zwischen Jugend nd Gesellschaft in erster Linie das Ergebnis ungelöster Probleme sind, die innerhalb der Gesellschaft bestehen. Der Ansatz zur Bewältigung der vielfältigen und differenzierten Gesamtproblematik muß deshalb darin liegen, die Spannungen in der Gesellschaft zu entkrampfen und nach Lösungen zu suchen, wie diese behoben werden können.

Die in der Studie genannten Themen, die es der Jugend zumindest sehr erschweren, sich mit der Gesellschaft zu identifizieren und die die Bereitschaft auszusteigen, fördern, müssen exakt analysiert werden, damit mit einer sorgfältig abgestimmten Politik das Ziel erreicht wird, die Mitglieder alternativer Gruppen wieder in die Gesellschaft zu integrieren.

Die heute vielfach auftretenden politischen Schwierigkeiten, mit denen sich die Jugendlichen auseinandersetzen, sind keineswegs neu, sie waren auch in früheren Zeiten durchaus vorhanden, wenn auch anders geprägt. Ich denke dabei z. B. an die Perspektivlosigkeit vor allem in unmittelbaren Nachkriegszeiten.

Die mangelhaften beruflichen Perspektiven spielen beispielsweise bei der heutigen Jugend nicht deshalb eine wichtige Rolle, weil sie beim betroffenen Jugendlichen das Bewußtsein fördern, nicht gebraucht zu werden. Dies ist eher für den älteren Menschen ein bedeutsames Problem. Vielmehr ist heute häufig festzustellen, daß junge Menschen dem Anspruch des „Gebraucht-Werdens“ viel lieber aus dem Wege gehen. Auch die Suche und die Forderung nach mehr Lebensqualität ist kein neues Problem. Der Ungerechtigkeit in (der) Beziehung zur Dritten Welt" entsprach früher die Ungerechtigkeit in der Behandlung der verschiedenen Schichten des eigenen Volkes. Meines Erachtens sind die heutigen Zeit-erscheinungen nicht ursächlich für das Entstehen der in dieser Studie beschriebenen „alternativen Kultur".

Auch typische jugendpsychologische Probleme gab es schon immer, sie wurden aber entweder von der Übermacht moralischer Normen oder aber auch durch die Übermacht einer Gesellschaftsideologie kanalisiert.

Während sich übermächtige Gesellschaftsidologien, z. B.der Nationalsozialismus, die Verführbarkeit der Jugend zunutze machten, wurden andererseits früher Werte und Normen als erstrebenswert und verpflichtend gesetzt. Die Identifikation mit diesen Werten und Normen ergab vor allem bei den jungen Menschen ein Selbstwertgefühl, das gleichzusetzen ist mit dem Erlebnis der Selbstfindung und der Selbstverwirklichung. Es bestand ein breiter Konsens durch alle soziologischen Schichtungen in diesen Fragen.

Wir stehen heute vor dem Problem, daß eine totale Aufweichung unseres Wertgefüges stattgefunden hat, gefördert nicht zuletzt durch die Politik seit 1969.

Hier scheinen auch die tatsächlichen Ursachen und Gründe zu liegen für die Entwicklung in den letzten Jahren, weshalb auch davon ausgegangen werden kann, daß das Denken der Jugend nur die allgemeine gesellschaftliche Situation widerspiegelt.

Man kann sich doch heute nicht wundern und beklagen, daß sich allgemein und bei den Jugendlichen im besonderen Orientierungslosigkeit breit macht, angesichts der Tatsache, daß bewußt Werte, Normen und Traditionen in Frage gestellt bzw. vernichtet wurden. Man glaubte mit einer übersteigerten Konflikttheorie und mit einer Fortschrittgläubigkeit, die keine Grenzen kannte, die bereits sichtbaren Probleme lösen zu können. Darin liegt gesellschaftspolitisch das große Versagen der sozialistisch-liberalistischen Koalition. Diese von den Regierungsparteien immer wieder genannten Ziele bewirkten bei vielen Jugendlichen nicht die angeblich angestrebte Mündigkeit, sondern vielmehr Orientierungslosigkeit. Auch die Aufweichung des Rechtsbewußtseins, die Untergrabung der Autorität höchster staatlicher Instanzen und nicht zuletzt die systematischen Versuche, die Struktur unserer Familien Schritt um Schritt zu verändern, haben entscheidend dazu beigetragen, daß ein geistiges Vakuum entstanden ist, in das mit Erfolg marxistische Heilslehrer und sonstige „Verführer" gestoßen sind.

Daraus erwächst zwangsläufig auch eine Gefahr für unsere freiheitliche Ordnung, auf die auch bei der Kommentierung der Studie hingewiesen werden muß.

Die Gefahren der Bewegungen liegen in ihren „politischen Ansprüchen". Sie fordern eine menschlichere Politik durch Rückkehr zum einfachen Leben. Sie verlangen totale Veränderung der Lebensweise und der Produktionsformen, erwarten aber gleichzeitig, daß für jeden Jugendlichen der gewünschte Arbeitsplatz zur Verfügung, steht, und sie erwarten natürlich umfassende Fürsorge des Staates, ohne sich ernstlich Gedanken darüber zu machen, woher dann die erforderlichen finanziellen Mittel genommen werden sollen.

Weitere Gefahren entstehen aus der Illiberalität und Toleranzlosigkeit gegenüber Anders-denkenden, die mit einer nicht verstehbaren moralischen Überlegenheit der eigenen Position gerechtfertigt werden.

Die in der Studie erwähnte Abgrenzung „zur orthodoxen marxistischen Dogmatik“ und Hinwendung zur „Theorie des Anarchismus"

deutet ebenfalls darauf hin, daß hier Verbindungen bestehen, die von staatlichen Stellen nicht widerspruchslos hingenommen werden dürfen. Daß die Rechte einzelner mißachtet, Gewalt zur Durchsetzung der Ziele ins Kalkül gezogen und auch angewendet wird, erleben wir ja täglich.

Wenn auch die „Szene" äußerst heterogen zusammengesetzt ist und die Gruppen mit dem zuvor beschriebenen ideologischen Hintergrund in der Minderzahl sind, muß von staatlicher Seite die Entwicklung sehr ernst genommen werden, weil die Grenzen zwischen den Gruppen äußerst fließend sind und sich zeigt, daß insgesamt ein hoher Mobilisierungsgrad erreicht wird.

Eine der Hauptaussagen der Studie ist „die Idee, mit weniger besser zu leben“. Dies ist •durchaus verständlich und akzeptabel, wenn daraus auch von denen, die dies fordern, die notwendigen Konsequenzen gezogen werden.

Ich will die Neigung vieler junger Menschen, die den Wunsch nach einfacherem Leben haben, nicht negativ bewerten, fordere sie aber gleichzeitig auf, auch Verständnis für jene aufzubringen, die Not und Elend des letzten Krieges und der Nachkriegszeit erlebt haben und mit großem Engagement aus Trümmern ein blühendes Land geschaffen haben. Wer diese Erfahrung nicht gemacht hat, kann nicht ermessen, was Not bedeutet und was es bedeutet, in einer freien Demokratie zu leben. Die Aufgaben, die in diesem Zusammenhang an Politik, Parteien und gesellschaftliche Institutionen gestellt werden, sind nicht leicht, aber durchaus lösbar. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Jugend mit ihren Problemen nicht als Einheit, sondern als eine Vielzahl von Gruppen mit den unterschiedlichsten Verhaltensmustern angesprochen werden muß, und daß dabei Minderheitenprobleme nicht zu Problemen „der Jugend“ gemacht werden sollten.

Falsch wäre es, aus Opportunitätsgründen der Jugend Zugeständnisse zu machen, die eine Belastung der Gesamtgesellschaft zur Folge haben würden.

Von besonderer Wichtigkeit ist es, daß den Wertfragen nicht weiter ausgewichen wird. In der Wertediskussion darf es kein Steckenbleiben geben, denn von zentraler Bedeutung für junge Menschen ist eine Antwort auf ihre Sinnfragen, vor allem heute, da kaum noch ein verbindliches Moral-und Wertsystem in unserer Gesellschaft vorhanden ist.

Bei der Suche nach einer neuen Sinnfindung und der Vermittlung traditioneller Werte müssen auch nichtmaterielle Werte ihren besonderen Platz haben. Den jungen Menschen muß verständlich gemacht werden, daß ihr Elan und ihr Idealismus für die Weiterentwicklung und die Verbesserung der Gesellschaft von größter Bedeutung ist Dazu bedarf es des Verständnisses der Erwachsenen-Generation. Jede Form von Selbst-gerechtigkeit der Erwachsenen ist überflüssig. Die Jugend hat ein Recht, zumindest ernst genommen zu werden.

Geschieht dies, wird es ihr auch leichter fallen, gegenüber Andersdenkenden nicht mit Intoleranz und Aggression, sondern vernünftig und angemessen zu reagieren.

Für die durchaus vorhandene Bereitschaft zu sozialem Engagement müssen ein entsprechender Spielraum und konkrete Betätigungsfelder geschaffen werden. Hier bieten sich insbesondere Möglichkeiten in den Gemeinden an. Wenn es den Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft gelingt, hier auf dieser Ebene miteinander zu sprechen und zu arbeiten, werden sich manche Probleme lösen lassen.

Nur so wird es gelingen, die Rückzugs-und Fluchtbereitschaft, die auf Distanz zu Staat und Gesellschaft zurückzuführen ist, einzudämmen. Die Stärkung der Rolle der Familie ist für mich eine wichtige Voraussetzung für eine gute Jugendpolitik. Eine Stärkung ist deshalb notwendig, weil sich in diesem gesellschaftspolitischen Bereich das ganze Ausmaß des Versagens von SPD und FDP zeigt.

Die Ideologen in SPD/FDP haben sich durchgesetzt. Für sie bedeutet der Staat alles und das Individuum nur wenig.

Ebenso geboten ist die Rückkehr zu einer shule, in der nicht nur Kenntnisse vermittelt werden. Die Veränderungen und Experimente, die seit der Übernahme der Regierung durch SPD und FDP im Schulbereich durchgeführt wurden, haben ebenfalls zu einer erheblichen Verunsicherung der jungen Menschen, aber zum Teil auch bei ihren Eltern beigetragen.

Familie und Schule sind für mich die wichtigsten Erziehungsinstitutionen. In ihnen kann und muß der junge Mensch beispielhaft auf sein späteres Leben vorbereitet werden.

Nicht die Vermittlung von „Konflikttheorien“ sondern objektive Geschichtsvermittlung ist notwendig, um den jungen Menschen in ihrem Gemeinschaftsbedürfnis entgegenzukommen, damit sie sich stärker als bisher an der Schicksals-und Überzeugungsgemeinschaft orientieren.

Bei verständnisvoller Auseinandersetzung ist es besonders in der Familiaund in der Schule möglich, ein attraktives „Bild von der Gesellschaft der Zukunft“ zu vermitteln, hier ist es möglich, „Sachzwänge" verständlich zu vermitteln und das Interesse zur Teilnahme an der politischen Willensbildung zu fördern.

In Familie und Schule ist es auch am ehesten möglich, von der Notwendigkeit der technischen Entwicklung zu überzeugen; hier kann das Interesse an technischen Berufen geweckt werden, von denen in entscheidendem Maße unsere wirtschaftliche und damit auch die Zukunft unseres sozialen Sicherungsnetzes abhängt. Die ständigen Forderungen, für die Jugendlichen „Freiraum“ zu schaffen, dürfen nicht so weit gehen, daß schließlich „rechtsfreie Räume" entstehen, wie dies zumindest jetzt ansatzweise feststellbar ist.

Wichtig ist vielmehr, in überschaubaren Bereichen die Jugend initiativ werden zu lassen.

Für die CSU ist Jugendpolitik „... treuhänderisches und partnerschaftliches Eintreten für die Interessen der jungen Menschen. Die Jugend hat das Recht, eigene Wege ohne Bevormundung durch die Erwachsenen zu suchen". Deshalb suchen wir das Gespräch und führen es, wo es möglich ist, im Geiste echter Partnerschaft.

Fussnoten

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