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Zur alternativen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland | APuZ 39/1981 | bpb.de

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APuZ 39/1981 Zur alternativen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland Die alternative Kultur als politische Herausforderung Sozialdemokraten und Jugendprotest Statt großer Worte — Mut zum Risiko Verständnis zwischen den Generationen

Zur alternativen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland

Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit Familie und Bundesministerium für Jugend Gesundheit

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Zusammenfassung

Aus Politik und Zeitgeschichte, B 39/81, S. 3— 15 Daß der aktuelle Jugendprotest auch eine Chance ist — diese Einschätzung der Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit aus dem April 1981 wird anschaulich an der in ihrem Hause entstandenen Arbeit zu einem Teilaspekt dieses Protestes: „Zur alternativen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland". Dieses Papier beschreibt Bewegungen, Projekte und politisch-kulturelle Strömungen, die sich als Alternative zu der traditionellen Lebens-und Arbeitsweise verstehen, gibt einen ersten Überblick und zeigt Zusammenhänge auf. Es stützt sich dabei auf das Studium der vorhandenen einschlägigen Literatur und das Gespräch mit Jugendlichen sowie mit Fachkräften der Jugendhilfe und Jugendarbeit. Es werden die sehr verschiedenartigen Erscheinungsformen der alternativen Bewegung vorgestellt sowie alternative Projekte, ihre Möglichkeiten und Grenzen, die alternative Presse und die sogenannten alternativen Listen beschrieben. Die Angaben über Größenordnung, Potential und Zusammensetzung der Mitglieder der alternativen Kultur stützen sich auf bereits vorhandene Daten, insbesondere aus Einstellungsuntersuchungen, und berücksichtigen dabei auch deren begrenzte Aussagefähigkeit im Hinblick auf neue soziale Phänomene. Aus einer Analyse der Bereitschaft zur Gewaltanwendung warnt die Arbeit vor einer härteren Haltung des Staates gegenüber der Alternativszene und wirbt für Verständnis und Toleranz gegenüber einer sich entwickelnden größeren kulturellen Mannigfaltigkeit in der Bundesrepublik Deutschland. Ein abschließendes Kapitel zeigt mögliche Folgerungen für die Politik auf; u. a. wird im Hinblick auf die auslösenden und verstärkenden'Faktoren der aktuellen Unruhen eine menschlichere Schule, besserer Berufsübergang, Abbau von Jugendarbeitslosigkeit und Wohnungsnot gefordert.

I. Vorbemerkung

Abbildung 1

Die alternative Szene oder Kultur ist in den letzten Monaten insbesondere durch die Hausbesetzungen und Auseinandersetzungen mit der Polizei in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt. Dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß viele jugendpolitischen Probleme keinen oder nur wenig Bezug zur alternativen Kultur haben — auch wenn sie weit verstanden wird.

Jugendprobleme lassen sich darstellen als Probleme des Einstiegs und der Integration in die Gesellschaft. Dabei spielen neben anderen Bereichen die beruflichen Perspektiven eine besonders wichtige Rolle. Probleme wie Jugendarbeitslosigkeit z. B. wirken sich nicht nur direkt auf die betroffenen arbeitslosen Jugendlichen aus, sondern indirekt fördern sie ein Bewußtsein der Überflüssigkeit. Probleme des Einstiegs in die Gesellschaft haben junge Menschen, die nicht einsteigen können, und junge Menschen, die (so) nicht einsteigen wollen. Der Jugendliche sieht sich vor die Aufgabe gestellt, einen für ihn angemessenen Platz in der Gesellschaft einzunehmen und auszufüllen. Wenn er nun diese Gesellschaft gekennzeichnet sieht von Problemen wie UmWeltbelastung, Rüstungswettlauf, Zwang zum Wachstum, Ungerechtigkeit in Beziehung zur Dritten Welt, mangelnde Lebensqualität, Schwierigkeiten, miteinander menschlich umzugehen, er sie, von Sachzwängen diktiert, als unveränderbar einschätzt, und dies zusam-mengeht mit einem alltäglichen Lebensgefühl, nicht gebraucht zu werden, in entleerten Zwangsstrukturen funktionieren zu müssen, so nimmt die Bereitschaft ab, sich auf diese Gesellschaft einzulassen. Fragen der beruflichen Perspektive wirken verstärkend bzw. werden unter diesen Vorzeichen ebenfalls als belastend wahrgenommen.

In der Diskussion um „die Alternativen" stellt sich zunächst das auch sprachliche Problem der Abgrenzung: Wer und was ist alles alternativ? Dabei sollte unterschieden werden: — die alternative Bewegung, in der verschiedene soziale, politische und weltanschauliche Strömungen eine Rolle spielen; es werden Probleme thematisiert, von denen sich ein großer Teil der jüngeren Generation betroffen sieht; — die Alternativszene im engeren Sinne als von der übrigen Gesellschaft relativ abgeschlossenes, weitgehend autarkes Milieu;

— Alternativprojekte, praktisch reformistische Erprobung von Utopien; Menschen unterschiedlichster Positionen arbeiten in Alternativprojekten zusammen;

— Alternativmentalität, weitgespannte Vorstellungen eines neuen Lebensstils, neuer Lebensqualität, von Selbstverwirklichung. Elemente davon finden sich im Bewußtsein breiter, vornehmlich jüngerer und „besser gebildeter" Bevölkerungskreise.

II. Zum Erscheinungsbild der alternativen Bewegung

Abbildung 2

Beider alternativen Bewegung handelt es sich um eine Gruppe, die bei aller Heterogenität getragen ist von einem Selbstverständnis als neue Bewegung, die sich Freiräume erkämpft hat und aus dem Bewußtsein moralischer Verlegenheit selbstbewußt ihren Lebensraum gestalten will.

Wenn sie auch als eine Bewegung angesprochen wird, so sind es doch sehr verschiedene soziale, politische und weltanschauliche Strömungen, die die Dynamik der Alternativbewegung ausmachen. Es gibt gemeinsame Aktionen, Treffpunkte, eine gemeinsame Presse, aber auch viel Abgrenzung, inhaltliche Aus-einandersetzung untereinander, in vielen Gruppen auch fließende Grenzen zu etablierten gesellschaftlichen Einrichtungen. Ausgehend von der eigenen Betroffenheit von unterschiedlichen gesellschaftlichen Krisen-erscheinungen, Fehlentwicklungen und Mängeln (nicht einer theoretischen Analyse oder Konzeption!) erfolgt häufig als erster Schritt der Zusammenschluß mit anderen, die unter gleichen Problemen leiden, und danach die mehr oder weniger deutliche inhaltliche Bestimmung dieser Kritik. Gemeinsam werden alternative Entwürfe gelebt, eine neue Praxis entwickelt, die dann in vielen Gruppen auch politisch artikuliert und in Handlungsweisen umgesetzt wird.

Anhand dieser beiden Entwicklungsstränge, inhaltlich bestimmter Opposition gegenüber Mängeln der Mehrheitsgesellschaft, die auch in politischen Zusammenhängen geäußert wird, und Selbstbefreiung sowie neuer Lebensstil, sollen im folgenden die Initiativen dargestellt werden, die der alternativen Bewegung zuzurechnen sind.

Ausgehend von der Diskussion um die Grenzen des Wachstums, die Ausbeutung der natürlichen Lebenswelt des Menschen und die inzwischen manifest gewordenen Auswirkungen dieser Grenzen hat die Ökologiebewegung ein ökologisches Gesamtkonzept entwickelt mit dem Ziel, die Wohn-, Lebens-, und Arbeitswelt für die künftigen Generationen menschlicher zu gestalten. Charakteristisch für diese Bewegung ist, daß politische Aktivitäten und Aktionen verbunden sind mit einer Unzahl praktischer Versuche, neue Lebens-und Arbeitsformen zu finden. Grundlage der Bewegung ist die kritisch-emotionale Abwendung vom System der Großtechnologien, das geprägt erscheint von Technokratie, Diktatur der Sachzwänge, der Verselbständigung der Wirtschaft von den menschlichen Bedürfnissen, sinnlosem Wachstum, Zentralisierung, Gigantomanie, Verschleiß, Raubbau und Umweltzerstörung. Die Gegenentwürfe der Ökologiebewegung zielen auf System-und Selbstbegrenzung, planvolle Auflösung von Wachstumszwängen, organische Reintegration der Produktion in die Naturumwelt, wirtschaftliche Entflechtung, Dezentralisierung der Produktion, Entwicklung von Mittel-und Kleintechnologien, Abbau politisch-ökonomischer Machtzusammenballungen, auf Verselbständigung kleiner Einheiten, auf Sparsamkeit sowie Wieder-und Weiterverwendung von Material und Produkten. In eine ähnliche Richtung argumentieren lo kale oder auch überregionale Bürgerinitiati ven, die sich gegen einzelne technisch-bauli ehe Vorhaben wehren. Einige von ihnen sine Ende der sechziger Jahre als Wählerinitiativen für die SPD entstanden und mittlerweile zumeist Träger von außerparlamentarischen Aktivitäten im „Umweltschutzbereich". Ihre Ziele: Erhaltung von überkommenen natürlichen, sozialen und gesellschaftlichen Strukturen gegen bürokratisch-technologische Veränderungen. Sie werden von unterschiedlichen politischen Seiten häufig auch als Instrument zur Durchsetzung höchst partikularer zumindest privater Interessen benutzt.

Gegen die (vermeintliche) Einschränkung von bürgerlichen Rechten und Freiheiten haben sich Bürgerrechtsbewegungen gebildet, in denen Menschen aller Altersstufen und verschiedener Weltanschauungen sich für den Erhalt und die volle Verwirklichung dieser Rechte einsetzen. Einige Beispiele:

— Initiativen gegen Berufsverbote — Humanistische Union — Terre des Hommes — Amnesty International — Drittes Russell-Tribunal — Vereinigung: Bürger beobachtet Polizei, Berlin.

Die Initiativen meinen, einer Entwicklung vorn Welfare-Staat zum „Warfare-Staat", vom Sozialstaat zum Sozialpolizeistaat zu erkennen und ihr widerstehen zu müssen.

In der Friedensbewegung und in Dritte-Weit Initiativen findet sich in Nachfolge der Ostermarschbewegung ein breites Spektrum von der Bewegung der Kriegsdienstverweigerer über Solidaritätskampagnen mit den Unterdrückten in der Dritten Welt bis hin zur Kritik an Kultur-und Wirtschaftsimperialismus gegenüber der Dritten Welt. Diese Bewegung is 1 stark in der evangelischen Kirche verankert findet breiten Rückhalt in Jugendverbänder und in Studentengemeinden beider Konfesstonen.

Ihre wichtigsten Grundsätze, Gewaltfreiher und ziviler Ungehorsam, haben die anderer Zweige der Alternativbewegung beeinflußtDie undogmatische „Neue Linke“ hat sich au der Studentenbewegung und der APO entwik kelt und ist am ehesten als deren Nachfolge anzusehen. Dies nicht nur, weil es eine Konti nuität maßgeblicher Personen gibt, sonderi weil sie nach wie vor im universitären, intellektuellen Milieu am stärksten vertreten ist Das politische Spektrum reicht von Anhängern eines undogmatischen „wissenschaftlichen Sozialismus“ über Sozialrevolutionäre mit unterschiedlichsten Konzeptionen bis hin zu Marxisten. Sie sind kaum organisiert, lehnen den dogmatischen Marxismus-Leninismus ab, treten ein für Spontaneität, Autonomie und Selbstorganisation „Unterdrückter“, wollen vor allem an der Basis arbeiten. Ihr Verhältnis zur Gesellschaft bestimmt nach wie vor die Kritik des Kapitalismus, aber nicht, um in Verhältnisse des realen Sozialismus zu geraten, sondern, um in der Tradition der historisch unverzerrten Ursprünge des Sozialismus einen liberalen Selbstverwaltungssozialismus zu gewinnen. Im Dienste dieses Zieles haben sie als Gegengewicht zur orthodoxen marxistischen Dogmatik die Theorie des Anarchismus (Bakunin, Proudhon, Kropotkin, Landauer, Mühsam) wiederentdeckt. Auch von der Emanzipations-und Psychobewegung geprägt (Freud, Reich, Marcuse), entwickeln sie einen politischen Stil, der das Lustvoll-Witzige betont, die eigenen Bedürfnisse im Hier und Jetzt verwirklichen will: „Wir wollen alles." „Wir sind die, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben."

Im Stil ähnlich, aber in den Inhalten teilweise verschieden, sind die zahlreichen Spontigruppen, die sich auch vorwiegend im universitären Bereich anhand konkreter Problemsituationen zusammenschließen und nach Abschluß gemeinsamer Aktionen wieder auflösen. An der Frauenbewegung-wird besonders deutlich, wie sich das Bemühen um die Befreiung von überkommenen Strukturen in der eigenen Lebensweise mit politischer Aktion und Durchsetzung verbindet und gegenseitig beeinflußt. Sie ist eine politisch besonders wirkungsvolle Strömung der siebziger Jahre mit einem in der offiziellen starken Äquivalent Eine Vielzahl autonomer Frauenprojekte reicht in die alternative Szene hinein. Sie auf die Überwindung der überkommenen tielt Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, gleiche Rechte, Freiheiten und Verant-du wortlichkeiten für Männer und Frauen sowohl m Bereich der unbezahlten gemeinsamen aus-und Eigenarbeit als auch im Bereich der eruflichen Erwerbstätigkeit.

Die Jugendzentrumsbewegung hat vor allen ungen die Prinzipien der Selbstverantwortng, der Selbstorganisation, der direkten Demokratie und der Basisorganisation in die alternative Szene eingebracht. Jugendliche wollen mit selbstverwalteten Jugendzentren einen nichtkommerziell durchstrukturierten, nicht von Profis der Jugendhilfe durchpädagogisierten Freiraum, in dem sie ihre Freizeit selbst gestalten.

Grundlage ist auch die Annahme, daß das herrschende gesellschaftliche System, die so-genannte „Megamaschine“, die sozialen Gruppen entmische und die subjektiven Erwartungen ganzer Bevölkerungsgruppen wie Schüler, Studenten oder auch Rentner gegenüber den Produzierenden vernachlässige und sie in Randgruppenpositionen abdränge. Jugend werde zum Sozialfall gemacht!

Vorrangig um ein neues Bewußtsein, einen neuen Lebensstil und die Selbstverwirklichung geht es bei den folgenden Strömungen, die selbst kaum politische Aktionsformen entwickeln, sich mit den oben genannten Bewegungen wohl an manchen Punkten solidarisieren. Alternative Lebensstile haben sich in der Bundesrepublik eher individuell entwickelt; doch lassen sich eine Reihe gemeinsamer Züge ausmachen: die Abwendung von einer Welt, die sich um Sachen und um das Besitzen von Sachen dreht, hin zu einer Welt, die sich mehr um Menschen und ihr Sein dreht (Erich Fromm). Dazu gehört auch die Absicht, durch Selbstvertrauen und Eigenarbeit Abhängigkeiten (von der „Megamaschine") zu verringern, der neuen Wunsch, in alten und Formen gemeinschaftlichen Zusammenlebens der sozialen Isolation entgegenzuwirken. Kurz: die Idee, mit weniger besser zu leben. Dieser Wunsch verbindet sich mit dem Verlangen nach einer menschlich befriedigenden Ar-beitssituation, deren Frustationen nicht durch übersteigerten Konsum kompensiert zu werden braucht. Derartig begründete alternative Lebensweisen der selbstgewählten Einfachheit können in Deutschland z. B. auf die Tradition der „Lebensreformbewegung" der Jahrhundertwende („Reformhäuser") zurückgreifen.

Um eine radikalere Form alternativer Lebensweise handelt es sich bei der Landkommunenbewegung, in deren Begründung das Stadt-Land-Verhältnis als ein . Ausbeutungsverhältnis" mit einfließt, bis hin zur Behauptung eines „inneren Kolonialismus", der die ländliche Region zur abhängigen Peripherie der städtischen Metropolen „herabwürdigt". Landschaftliche Kulturformen und -Inhalte werden wiederentdeckt und zu bewahren gesucht. Die Überlieferung des Dialektes wird zur Überlieferung von aufs Neue als wertvoll angesehenen Deutungsmustern der Umwelt.

In Gegenbewegung zur Automatisierung und Funktionalisierung des einzelnen ist aus dem Bedürfnis nach ganzheitlichem Erleben, neuer Sinnlichkeit und Selbsterfahrung eine neue „Psychokultur“ entstanden mit eigenen Umgangsformen, Sprache und Gebärden. Selbstdarstellung und Ausdrucksfähigkeit sind neue Werte. Diese Form der alternativen Bewegung befindet sich im scharfen Gegensatz zu den lustfeindlichen, asketischen und dogmatischen Ideologien der K-Gruppen. Hinzu kommt seit Beginn der siebziger Jahre ein regelrechter Boom von mehr oder weniger qualifizierten Psychoangeboten, ein breiter grauer Markt, der neben den wenigen qualifizierten Möglichkeiten der Psychotherapie das Bedürfnis nach Hilfe in psychischen Krisen und nach ganzheitlichem Erleben aufgegriffen hat.

Eine ähnliche Motivation liegt dem neuen Spiritualismus und dem Bereich neuer religiöser Gemeinschaften zugrunde. In verschiedenen Meditationsformen, Yoga, vegetarischer Ernährung, Askese u. ä. werden neue religiöse Ausdrucksformen und Erfahrungen gesucht. Spiritualismus und die „neue Innerlichkeit" waren anfangs sehr stark mit der Landkommunenbewegung verbunden, finden sich aber neuerdings auch in der städtischen Szene. In diesem Zusammenhang ist auch die Neuentdeckung Hermann Hesses und der Philosophie Rudolf Steiners zu nennen. Alte Mythen und Kulte werden ausgegraben, insbesondere aus der Indianerkultur, vereinzelt treiben Okkultismus und Mystizismus seltsame Blüten. Die eher totalitären Organisationen einiger neuer Jugendreligionen wie der Vereinigungskirche und der Scientology-Church liegen allerdings außerhalb des Rahmens alternativer Ideen und Lebensvorstellungen.

Auch die „Homosexuellenbewegung" hat im Rahmen der Alternativbewegung ein Netz eigener Projekte verwirklicht. Die Enttabuisierung der Homosexualität zwischen Männern ist relativ weit entwickelt

Homosexualität zwischen Frauen tritt ausserhalb der Frauenbewegungkaum in Erscheinung.

Die große Mobilisierungskraft dieser Bewegungen ist maßgeblich darauf zurückzuführen, daß sich die politischen Aktionen auf Themenbereiche bezeiehen, von denen sich ein großer Teil der jüngeren Generation betroffen sieht. Die von den klassischen Arbeiterbewegung thematisierten Eigentumsfrage scheint demgegenüber heute weniger zentral zu den subjektiv erfahrbaren Widersprüchen zu gehören. Ein Teil dieser neuen Bewegung hat alllerdingd, ausgehend von einem bestimmten Anliegen, in ihrer Arbeit gesamtgesellschaftliche Zielsetzungen entwickelt und z.T. demokratisch-sozialistische Konzepte in die Diskussion eingebracht. Der Begriff einer sozialen Bewegung wird hier verwandt, da sowohl ein WIR-Gefühl aus einer Reihe gemeinsamer Grundvorstellungen heraus besteht als auch ein relativ kontinuierliches Handeln festzustellen ist. Daneben sind manche Alternativ-bewegungen auch mit einer Repolitisierungstendenz verbunden. Man findet überwiegend ein starkes Selbstbewußtsein aus dem Erfolg und Anwachsen der Bewegung heraus. Die politischen Einstellungen und Interessenvon aktiven Trägern der Alternativbewegungen sind ansonsten durch eine starke Heterogenität gekennzeichnet: Das Spektrum reicht von antiparlamentarischen Auffassungen bis hin zu radikaldemokratischen und linkssozialdemokratischen. Vereinzelt finden sich in der Diskussion um die Alternative Kultur Vorstellungen von einer Alternativszene im engeren Sinne, für die die relative Abgeschlossenheit des gesamten Lebensmilieus von der übrigen Gesellschaft kennzeichnend sei, wobei alle wesentlichen menschlichen Bedürfnisse (Produktion, soziale Absicherung, Information, Kommunikation) innerhalb eines solcheen integralen Lebenszusammenhangs befiredigt werden können.

Sicherlich will eine Reihe der Jugendlichen der Szene sich von den gesellschaftlichen Zwängen abheben um in der "Autonomie" angesichts der als übermächtig empfundenen Entfremdungserscheinungen in der „ersten Kultur“ das überleben zu organisieren. Es gibt auch Entwicklungsstränge innerhalb der Szene, die dies radikal durchführen wollen, jeden Dialog mit der Mehrheitsgesellschaft verweigern oder ironisieren (besonders in der Zür-cher Bewegung). In den Projekten und Initiativen der Szene ergeben sich jedoch vielfache Berührungspunkte mit der Mehrheitsgesellschaft, viele von ihnen streben auch bewußt eine gesamtgesellschaftliche Ausstrahlung an.

III. Alternative Projekte

Gerade in den alternativen Projekten werden die Entwürfe der Bewegung, ihre Chancen, aber auch ihre Grenzen konkret. Eine Reihe der Projekte arbeitet mit wenig Mitteln, viel Phantasie und kaum Verwaltung sehr wirkungsvoll. In ihnen machen junge Leute oft zum ersten Mal die Erfahrung, eigenhändig etwas aufzubauen, haben das Erleben relativ selbstbestimmter Arbeit Im Bereich Gesundheit und psychosoziale Dienste erreichen die Ansätze, gerade weil sie engagiert und nahe an der Lebensweit ihrer Klienten arbeiten, oft eine hohe Treffsicherheit.

Im „Stattbuch 2 Berlin 1980" werden für die Bundesrepublik und Berlin zwischen 11 000 und 12 000 alternative Projekte mit ca. 80 000 Aktivisten" angegeben; dabei dürfte Alternativkultur eher weit verstanden sein.

Die nachstehende Übersicht über die inhaltliche Ausrichtung der Projekte ist der Veröffentlichung „Wer soll das alles ändern?“ von Joseph Huber, Berlin, Rotbuch 1980 entnommen. Die Einschätzung der Ökonomie der Projekte orientiert sich ebenfalls an seiner Darstellung. In der Gesamtgesellschaft können etwa 5 bis 10% aller Arbeitsplätze den Bereichen Bewußtsein und Willensbildung zugerechnet werden. Bei Alternativprojekten sind es nach der Schätzung Josef Hubers jedoch etwa 60 %, denn man muß sehen, daß ja " in alternativen Buchläden, Kinos, Galerien, Theaterstücken, schulen, Kinderläden oder Therapiegruppen in erster Linie politische Inhalte, d. h. gesellSchafts-und lebensverändernde Ansprüche werden".fransportiert eit verbreitet ist auch die Vorstellung — vor dem in der alternativen Szene selbst —, daß ie Projekte, die irgendwelche Güter oder -enstleistungen erbringen, eine „alternative xonomie", einen „autonomen Wirtschaftsbe-nich‘ oder gar eine „Gegenökonomie" bilden, amit verbunden trifft man auf die Auffas-iunge der Bereich der alternativen Projekte ue schon den Einstieg in eine allgemeine 0 conomische Systemveränderung.

Diese „Eigenständigkeit und Autonomie" beruht jedoch in wirtschaftlicher Hinsicht auf einer Fehleinschätzung. Die Einnahmen der Projekte stammen bei nur knapp 40 % der Projekte überwiegend aus eigenständig erwirtschafteten Erlösen. Davon stammt wiederum nur ein Teil aus Verkäufen auf dem offenen Markt, wie etwa bei Zeitungen, wiederaufgearbeiteten Möbeln oder Vollkornbroten. Der andere Teil der Erlöse stammt aus Dienstleistungen im sozialstaatlichen Rahmen, z. B. aus Zuschüssen nach dem Bundessozialhilfegesetz für Einrichtungen wie therapeutische Zentren oder Heime. „Die restlichen 60 % der Projekte leben von vornherein in der Hauptsache von Subventionen. Von diesen 60 % werden 30 % überwiegend durch kirchliche und staatliche Subventionen finanziert, und die weiteren 30% überwiegend durch Eigensubvention, d. h. durch abgezweigte Privateinkommen, Solidaritätsspenden, Fördervereine, Solidaritätsfeten u. ä. Dabei sind indirekte Subventionen wie z. B. kostenlose Benutzung von Räumen und Grundstücken, Mieterlässe oder -nachlässe u. ä. noch nicht einmal berücksichtigt.

Das Bild gewinnt noch krassere Konturen im Hinblick auf die Personaleinkommen der Leute in den Projekten. In der Hälfte der Projekte leben alle Mitglieder von Einkommen außerhalb des Projektes, von Ehepartnern, Eltern, Freunden und von Sozialleistungen wie BAföG, Wohn-, Arbeitslosen-und Sozialhilfe. Weitere 30% der Projekte zahlen nur einem Teil ihrer Mitglieder Einkommen, und das heißt meistens einer Person oder zwei Personen von insgesamt fünf oder sieben Personen. Nur bei 20 % der Projekte beziehen alle Teilnehmer ein Einkommen aus ihrem Projekt. Man kann also sagen, daß gegenwärtig ungefähr nur ein Viertel der Projektaktivisten auch wirtschaftlich von ihren Projekten lebt, und dies in der Regel mehr schlecht als recht, während drei Viertel ökonomisch aus sozialstaatlichen Mitteln versorgt werden.“ (Huber, S. 44, 45) Untersucht man das ökonomische Bezugsfeld der Projekte, so ergibt sich folgendes Bild: „ 60— 65 % (50— 55 % professionelle und duale Projekte, 10 % Freizeitprojekte) arbeiten praktisch ausschließlich für ganz spezielle weltanschaulich geprägte Zielgruppen, für dieses oder jenes . Milieu', werden von einer eng um rissenen . Szene'frequentiert. Die restliche 30 % sind Eigenarbeitsprojekte, die von vorneherein für sich selbst arbeiten (Huber, S. 40) Jedoch zeigt sich z. B. in den biologischen Liden eine stärkere Öffnung zu einem breiten Publikum hin. Vergütung und soziale Absicherung der Mitglieder eines Projektes werfen Probleme auf. Vergütungen liegen, wenn es sie überhaupt gibt, zwischen 500, — und 1 000, — DM, nur selten zwischen 1 000, — und 1 500, — DM. Der Kapitalmangel wird durch Mehrarbeit und Konsumverzicht kompensiert. Steuern-, Kranken-und Rentenversicherungsbeiträge werden häufig nicht gezahlt.

Ambivalent ist das Verhältnis zu den Gewerkschaften. Diesen steht die Alternativkultur in der allgemeinen politischen Einstellung eher nahe, jedoch mit den alle Teile des politischen Systems treffenden Vorbehalten. Die Gewerkschaften fürchten, daß von den gegenökonomischen Arbeitsplätzen aus eine Entwicklung einsetzen könnte, die die Bedeutung des Tarif-rechts und des Arbeitsschutzes für die Arbeitnehmerschaft eher schwächen könnte, während eine Rezeption humanisierender Momente in die Arbeitsplätze der ersten Kultur bisher anscheinend weniger erwartet wird.

Der größere Teil der alternativen Projekte im sozialen und im Bildungsbereich erhält öffentliche Förderung bisher nur in sehr bescheidenem Umfang, vergleichsweise noch am ehesten in Berlin. Gegen die Förderung gibt es erhebliche politische und administrative Widerstände. Für diese Projekte ist in der Regel ein weitreichendes gesellschaftliches Engagement für sozial Benachteiligte prägend. Diese Projekte beschäftigen sich mit Arbeitslosen, Ausländern, sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen schlechthin, mit Behinderten, Drogenabhängigen, psychisch Kranken, alten Menschen, Trebegängern, Strafgefangenen; stark ist der Kinderladenbereich, bisher noch schwach der Bereich der alternativen Schulen. Die meisten Projekte sind stadtteil-orientiert. Es gibt Anhaltspunkte dafür, daß die alternative Orientierung oft individuelle Förderungsmöglichkeiten für sozial Benachteiligte erschließt, die tradierte Träger so nicht haben.

Vorbehalte und Widerstände gegenüber einer öffentlichen Förderung („Staatsknete") gibt es aber auch bei den meisten alternativen Projekten selbst. Diese gehen von der Befürchtung aus, die Mehrheitsgesellschaft könne alternative Projekte nur vereinnahmen oder stigmatisieren, die Inanspruchnahme öffentlicher Förderung bedeute, sich auf die vorhandenen politischen Strukturen einzulassen, und diese Förderung müsse zwangsläufig auch die Qualität und das Verständnis der alternativen Arbeit verändern. Dabei gibt es eine lebhafte Diskussion um die Tätigkeit hauptamtlicher Fachkräfte, die teils heftig abgelehnt und teils für nötig gehalten wird.

Ein Teil der alternativen Projekte nimmt Förderungsmittel, auch Beratung und andere Hilfe in Anspruch, teilweise allerdings nur insgeheim, d. h., dies wird gegenüber der Szene verschleiert. Einzelne Projekte akzeptieren auch Zwischenformen, z. B. ABM-Verträge für Mitarbeiter und ähnliches.

In bestimmten politischen Situationen müssen auch die Befürworter einer begrenzten Zusammenarbeit mit dem Staat aus Gründen der Solidarität die Zusammenarbeit zeitweise einstellen, selbst wenn ihnen daraus erhebliche Nachteile erwachsen. (Z. B. verweigern sie plötzlich Verhandlungen über die Verlängerung eines Mietvertrages über ein von ihnen mühsam erkämpftes Haus bis zur Freilassung eines in Strafhaft oder Untersuchungshaft ein-sitzenden gewalttätigen Demonstrationsteilnehmers aus der Szene.)

IV. Die alternative Presse

Die alternative Presse hat sich in ihrer heutigen Erscheinungsform in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre herausgebildet. Es dominieren Stadtzeitungen und Flugschriften von regionalen Initiativgruppen und Bewegungen. Alternative Medien erheben den Anspruch, ®e unterbliebenen Nachrichten zu veröffentihen. Ihre Anfänge lassen sich bis in die APO-Szene zurückverfolgen. In den Jahren st 1975 sind jedoch zahlreiche Zeitungsproe«e neu entstanden. Heute werden alternaIe Zeitungen längst nicht mehr nur von In-Sdern der Linken gemacht und gelesen. In ihnen kann jeder mitmachen. Die Trennung von Machern und Konsumenten soll entfallen; das Wort sollen nicht journalistische Profis haben, sondern die Betroffenen. Die Zielgruppen der Organe sind so unterschiedlich wie die Blätter selbst. So geben Frauen-, Mieter-, Kinderladen-oder Jugendgruppen eigene Zeitungen heraus, oder es wird nach dem sogenannten „Leserzeitungskonzept" verfahren, wobei eigenständig arbeitende Gruppen gemeinsam eine Zeitung herausgeben.

Nach diesem Konzept verfahren die meisten der derzeit erscheinenden Stadtzeitungen. Einige kommen wöchentlich heraus, andere erscheinen alle 14 Tage oder monatlich. 1976 existierten etwa 100 derartiger Publikationen in der Bundesrepublik. Vier Jahre später waren es 240 Zeitungen mit einer erheblich gesteigerten Auflage von rund 300 000 Exemplaren. Allein 1978 sind 41 neue Titel hinzugekommen; acht Blätter mußten eingestellt werden. Heute addiert sich die Gesamtauflage der regelmäßig erscheinenden alternativen Blätter monatlich auf mehr als 1, 6 Millionen Exemplare.

Große alternative Zeitungen sind:

— „Zitty", Berlin 45 000 Exemplare, — „TAZ", Berlin 30 000 Exemplare, — „Stadtrevue", Köln 22 000 Exemplare, — „Blatt", München 15 000 Exemplare, — „plärrer“, Nürnberg 10 000 Exemplare, — „Der Oxmox", Hamburg 42 000 Exemplare. Die beiden großen alternativen Frauenzeitschriften sind:

— „Emma" 130 000 Exemplare, — „Courage" 70 000 Exemplare.

Der jüngst eingestellte Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten (IDfür die alternative Presse eine wichtige Nachrichtenquelle. Die nach langen Diskussionsprozessen um Form und Inhalt heute bundesweit vertriebene Tageszeitung TAZ spielt für die alternativen Zeitungen die Rolle einer Presseagentur, der die überregionalen Themen entnommen werden.

Allerdings muß angemerkt werden, daß sich über den Anzeigenmarkt die Kommerzialisierung ausweitet; so haben sich 1978 die 12 größten alternativen Stadtillustrierten, die ihre Auflage mit knapp 200 000 angeben, zur „Szene-Programm-Presse" zusammengeschlossen, um mit dieser gemeinsamen Agentur auch lukrative Werbeanzeigen aufnehmen zu können. Andererseits sind gerade die preisgünstigen Kleinanzeigen das Medium das viele Leser anspricht und die alltägliche Kommunikation in der Szene ermöglicht.

V. Alternative Listen

Die zu allgemeinen Wahlen auf den verschiedensten Ebenen parlamentarischer Interessenvertretung kandidierenden Alternativen Listen bzw. Parteien müssen von den alternativen Bewegungen unterschieden werden, da nur ein kleiner Teil der in den Bewegungen Engagierten in ihnen aktiv mitarbeiten. Die bisherigen Kandidaturen waren in den Alternativbewegungen, die sich überwiegend als eine außerparlamentarische Kraft verstehen, durchweg umstritten. Dies wurde noch dadurch verstärkt, daß in diesen Parteien die Positionen professioneller Parteigründer von links-und rechtsaußen einen ungleich höhe ren Einfluß besitzen als in der Gesamtbewe gung.

Viele der Alternativen Listen haben kaun mehr Einfluß auf die alternative Szene insge samt als die traditionellen politischen Partei an. Während in den Großstädten Berlin und HamburgHamburg über die Alternative bzw. Bunte Li ste auch K-Gruppen-Anhänger in die Bezirksparlamente einzogen, sind in den bundesweiten Parteizusammenschlüssen konservativePositionen stark repräsentiert.

VI. Größenordnung, Potential und Mitgliedschaft der Alternativen Kultur

Nach all dem, was bisher zur Struktur der Alternativen Kultur gesagt wurde, ist ersichtlich, daß Zahlenangaben über Mitglieder nur sehr begrenzte Aussagekraft haben; Hinweise zu Herkunft und biographischen Merkmalen der Mitglieder finden sich vorwiegend in Einstellungsuntersuchungen, die eher den Grad alternativer Mentalität erfassen als den tatsächlichen Lebenszusammenhang.

Erste Anhaltspunkte ergeben sich aus einer neueren Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (Krause, Lehner, Scherer) über das politische Verhalten der Studenten für den studenl sehen Bereich: Zieht man die Hauptkriterium der Alternativkultur heraus, so gehören rund12% (in Frankfurt etwa 20%) der Studentenc ternativen Kulturen an. Der Anteil derjenigen Studenten, die ihre alternative Lebenswerte scharf von der von ihnen fast ausschließlich negativ bewerteten Mehrheitskultur ab grenzten, betrug weniger als 5%. 80 bis 9 der Studenten tolerierten die alternativ Wertvorstellungen, wobei bei etwa der Hälfte der Studenten die soziokulturelle Integration in die „erste" Kultur überwog, bei der anderen Hälfte waren bereits starke Affinitäten zur Alternativkultur vorhanden. Oltmanns zitiert in seinem Buch „Du hast keine Chance, aber nutze sie" (rowohlt, 1980) eine Allensbach-Umfrage aus dem Jahr 1978 unter 17-bis 23jährigen, die den Anteil jugendlicher Aussteiger mit 13 Prozent angibt.

Eine repräsentative Erhebung der Konrad-Adenauer-Stiftung für die Jugend der Bundesrepublik insgesamt kommt zu folgendem Ergebnis: „Dennoch lassen sich auf der anderen Seite gut 15 Prozent Jugendliche ausmachen, die nicht in das Modell der obrigkeitlichen Wohlstandsdemokratie passen, die sich auch nicht eingepaßt haben. Sie sind das Protestpotential unserer Tage. Diese Jugendlichen haben zur Demokratie in der Bundesrepublik, zur industriellen Leistungsgesellschaft und zu den herkömmlichen sozialen und wirtschaftlichen Wertorientierungen eine wesentlich kritischere Einstellung und lehnen das gesamte System’ der Bundesrepublik mehr oder weniger ab. 15 Prozent, das sind immerhin 1, 3 Millionen Jugendliche im Alter von 14 bis 21 Jahren. Zugleich sind das allerdings jene, deren überdurchschnittliches Engagement sie in der Öffentlichkeit entsprechend deutlich in Erscheinung treten läßt. — Diese Jugendlichen geben ein Bild der bundesrepublikanischen Jugend, das weitaus kritischer, unruhiger erscheint, als die Jugendlichen in ihrer Gesamtheit tatsächlich sind. Politisch neigen sie den Grünen und anderen . alternativen'Parteigruppierungen zu. Ideologisch ordnen sie sich selbst vornehmlich extrem links bis links ein und sind überwiegend Schüler höherer Schu-

enoder Studenten an Hoch-und Fachhoschu-

en. Daß sie stark überproportional Kinder der Oberschicht und der oberen Mittelschicht sind, ist nur scheinbar ein Paradox. Ein . gesi-chertes Leben’, eine . gute Ehe', . beruflicher Er-

°*g und . Sicherheit im Glauben'sind ihnen Vergleichsweise unwichtiger als den übrigen.

re Freizeit verbringen sie seltener als der urchschnitt der Jugendlichen in Diskotheen und zu Hause, sehr viel häufiger dagegen n reundeskreisen, wo auch mehr politisch diskutiert wird als anderswo."

Die jüngste Shell-Studie kommt zu ähnlichen rgebnissen. Dort wurde die in Frage kommende Gruppe über zwei Teilgrüppen erho-pen, nämlich diejenigen Jugendlichen, die in ukunft nur so viel verdienen wollen, wie sie zum Leben brauchen (7 %), und diejenigen, die es wirtschaftlich nicht so weit bringen wollen wie ihre Eltern (6%, während es 1973 nur 3% waren). Auch hier kommt man schließlich auf ein Potential der Alternativkultur, das für den repräsentativen Querschnitt bei etwa 10% liegt, bei Oberschülern und Studenten noch einige Prozentpunkte höher. Bei der Shell-Studie zeigte sich ein schwacher Trend, aber ein möglicherweise interessanter Hinweis auf Einstellungsänderungen der jüngsten in die Untersuchung einbezogenen Jahrgänge der 17-bis 19jährigen. Unter ihnen befinden sich mehr Befürworter eines gehobenen Lebensstandards (20%) und weniger Anhänger des einfachen Lebens (4%). Der Untersuchungsbericht fragt: „Kündigen die — schwachen — Abweichungen vom generellen Urteil eine neue Einstellung der Heranwachsenden Generation an?"

In der Literatur erfolgen häufige Hinweise darauf, daß der „Kern" der alternativen Kultur zwar zahlenmäßig klein ist, aber Gedankengut und Teile ihrer Lebenspraxis von einem sehr viel größeren Teil der Jugend aufgenommen wird. Dies gilt für die Studenten, wie die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt, in hohem Umfange. Aber auch die Repräsentativer-hebung für die gesamte Jugend der deutschen Shell zeigt, daß das Thema Umweltschutz vor der Jugendarbeitslosigkeit und dem Ausbildungsplatzmangel unangefochten vor allem bei der potentiellen Führungsschicht an der Spitze liegt. In der gleichen Studie identifizieren sich 21 % mit der Aussage „der technische Fortschritt macht für mich das Leben immer lebenswerter", während es bei der Aussage „ich fürchte, daß der technische Fortschritt unser Leben zerstört", 35% waren.

Es mehren sich auch Vorbehalte und Kritik gegenüber der Aussagekraft und Wahrnehmungsfähigkeit konventioneller repräsentativer Erhebungen, besonders gegenüber neu aufkommenden sozialen Bewegungen und ihren Erscheinungsformen. Die Frage ist, ob die Erhebungsinstrumente nicht von vornherein durch ihre Fragestellung und das ihnen zugrunde liegende Kategoriensystem nur bestimmte, vorweg angenommene Fragen erhellen und möglicherweise andererseits die Befragten ein erst im Entstehen befindliches Problembewußtsein und Lebensgefühl noch nicht hinreichend artikulieren können. Elemente von Alternativmentalität finden sich im Bewußtsein breiter, vornehmlich jüngerer und besser gebildeter Bevölkerungskreise. Es gibt Hinweise auf eine Veränderung gesellschaftlicher Wertesysteme dahingehend, daß nicht mehr materiellem Wohlstand und sozialer Sicherheit, sondern zunehmend der Lebensqualität („postacquisitive values") die oberste Priorität eingeräumt wird. Die Bedeutung von Arbeit in der gesellschaftlichen Werthierarchie nimmt zugunsten des Wunsches nach Selbstverwirklichung und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit ab. Der Traum vom Ausstieg aus den beruflichen und familiären Zwängen des Alltags ist keineswegs auf den engeren Bereich der Alternativ-kultur beschränkt. Neben dem Wegtauchen in die Alternativszene gibt es eine Reihe weiterer Phänomene gesellschaftlichen Fluchtverhaltens; erinnert sei hier nur an die — nicht ohne das Einbringen eigener Sehnsüchte — geführte Diskussion um die „midlife crisis", an z. B. die Vorliebe des Städters, Urlaub und Freizeit in möglichst unberührter Natur zu verbringen sowie an den Wandel auf dem Büchermarkt, wo die Literatur der „Neuen Innerlichkeit" im Verhältnis zu den politisch-aufklärenden gesellschaftswissenschaftlichen Sachbüchern an Bedeutung gewonnen hat.

Die im überwiegenden Teil der „Mehrheitskultur" anzutreffende Toleranz und Offenheit gegenüber den Realisierungsversuchen alternativer Lebensweisen dürfte wesentlich auf die Betroffenheit großer Teile der Bevölkerung von Problemen zurückzuführen sein, die von der „Bewegung" zu zentralen Themen gemacht worden sind, so z. B.der zunehmenden Unwirtlichkeit unserer Städte, dem Zerfall des gesellschaftlichen Fortschrittsglaubens oder der geringen Möglichkeit zu persönlicher Selbstverwirklichung.

Die Frage, ob es sich bei denjenigen, die ganz in der alternativen Szene leben, vorwiegend um Studenten und Oberschüler handelt, kann nach den vorliegenden Ergebnissen nicht abschließend beantwortet werden.

Kenner der Szene weisen hin auf eine mehrheitliche Vertretung von Jugendlichen mit höherem Bildungsgrad (Oberschüler, Studenten), Studienabbrechern, aber auch auf jugendliche Arbeitslose, Jugendliche mit Drogenerfahrung und Trebegänger, die in der Szene engagiert sind. Dabei ist zu berücksichtigen, daß auch insgesamt der Anteil der Schulabgänger mit Hoch-und Fachhochschulreife an der gleichaltrigen Wohnbevölkerung sehr zugenommen hat, von 7, 3% im Jahre 1960 auf etwa 25, 1% heute.

Nach der oben zitierten Studie von Krause, Lehner, Scherer sind in der Alternativkultur Studenten — aus den traditionellen Mittelschichten stark überrepräsentiert, — aus der Arbeiterklasse und aus dem Groß-bürgertum deutlich unterrepräsentiert, — aus selbständigen Akademikerfamilien so gut wie nie anzütreffen.

Die Studie deutet weiter darauf hin, daß Defizite in der Herkunftsfamilie eine Orientierung an alternativkulturellen Werten begünstigen. Ein Drittel der Angehörigen der Alternativ-kultur charakterisiert sein Elternhaus als äußerst konfliktträchtig und bei 45, 4% (!) der Alternativen kam es zum Bruch mit dem Elternhaus. Dabei sind die Konflikte im Elternhaus nicht dadurch gekennzeichnet, daß die Eltern einen besonders autoritären Erziehungsstil pflegten. Vielmehr liegt die Konfliktursache eher darin, daß sich das Elternhaus den Kindern als Orientierungsgröße „vor allem im Sinne konfliktorischen Aufarbeitens“ entzog.

Angehörige der Alternativkultur halten auch zur Schule konfliktreichere und problematischere Beziehungen.

Die moralisch-ethische Haltung spielte neben Vertretung der politischer Meinungen eine zentrale Rolle in den Konflikten mit Elternhaus und Schule. Im gleichen Maße, wie der Einfluß des Elternhauses abnahm, wuchs der Einfluß einer jugendlichen „Gegenkultur in Peer-groups einschließlich der Drogenszene.

VII. Bereitschaft zur Gewaltanwendung

Das Phänomen „Gewalt" tritt zwar auch bei gewissen Gruppen der alternativen Kultur auf, obwohl viele Tendenzen der alternativen Kultur eher gegen Gewaltanwendung gerichtet sind. Es gibt aber Gewalt unter Jugendlichen in vielfältiger Weise, die keinen Bezug zur alternativen Kultur oder kaum einen solchen Bezug hat, wie etwa bei wöchentlichen Aus-einandersetzungen im Fußballstadion, bei Punks, rechtsradikalen Stoßtrupps, oder auch Formen der Selbstaggression, die unter „drop outs" regelrecht kultiviert werden.

Im Unterschied zur 68er Generation, die von der Hoffnung auf umwälzende gesellschaftliche Erneuerung getragen war, steht den Ju gendlichen heute eher „das Wasser bis zum Hals", sie sehen ihre Lebensgrundlagen, Umwelt, Arbeit, Wohnen, bedroht. Das Vertrauen in den Staat, er könne diese Krise bewältigen, ist gering. Der „Marsch durch die Institutionen“ — das ist denen, die das Scheitern der 68er in den Anfängen ihres Studiums miterlebt haben, noch lebendig im Bewußtsein — ist fehlgeschlagen. So setzt die alternative Bewegung ganz auf den eigenen Vollzug des neuen Lebens; wo dies angegriffen und gefährdet wird, wehrt man sich mit vereinten Kräften. Auf dem Hintergrund der subjektiv empfundenen Lebensbedrohung wird ein Teil der Heftigkeit und oft irrational scheinenden Formen der jugendlichen Auseinandersetzung verständlich. Die Mehrzahl der „Aussteiger" in der Alternativkultur hat zunächst versucht, sich in die Gesellschaft einzubringen. Die Abwendung von der Gesellschaft geschah auf langen Wegen, für die Ohnmachtserfahrungen hinsichtlich der Möglichkeiten politischer und gesellschaftlicher Einflußnahme prägend waren. Nach langen Mißerfolgserlebnissen (in der Jugendarbeit z. B. beim Einsatz für ein Jugend-zentrum) kam es dann zu einem Punkt der Überzeugung, daß man mit dem Staat nicht reden und verhandeln könne („ich mache keine Kompromisse mehr). Dabei wurden teils der Inhalt der großen und kommunalen Politik, teils das Verhalten der Administration oder der Politiker,, teils beides als destruktiv angesehen. Diese Einschätzung dürfte weit über die alternative Szene hinaus und auch bis zu Bürgern der älteren Generation reichen.

Nach der Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung wird Gewalt in der Politik von 10% der jungen Menschen bejaht. Es ist aber fraglich, ob die Bereitschaft zur Gewaltanwendung bei Anhängern der Alternativkultur überdurchschnittlich stark ausgeprägt ist. In der Alternativkultur gibt es eine starke Tendenz zur Abkehr von Gewalt zugunsten einer alternativen Ghettobildung.

Wenn die Gewaltbereitschaft verstärkt im Zusammenhang mit den Hausbesetzern diskutiert wird, so ist zu unterscheiden: Nicht alle Hausbesetzer kommen aus der Alternativkultur. In Berlin werden bei den Hausbesetzern 2 Zt vier Gruppen unterschieden:

1 Die stadtpolitische Fraktion, die wesentlich aus städteplanerischen und aus sozialpädago-

gschen Gesichtspunkten heraus handelt und yor allem aus Anhängern von Bürgerinitiati-

Ven — mit einem starken Anteil von Architek-

turstudenten _ besteht,

2. die Anhänger der Anarchoszene (Slogan „legal — illegal — scheißegal"), 3. die existenziellen Hausbesetzer aus dem Stamm der 1 000 bis 1 500 (mit Drogenabhängigen vielleicht auch 3 000) jungen Trebegängern und Wohnungslosen, 4. modische Hausbesetzer, größerenteils Schüler, Studenten und Angehörige der sozialpädagogischen Berufe, die am Image der Hausbesetzungen partizipieren wollen.

In der zweiten und dritten Gruppe gibt es ein erhebliches irrationales Gewaltpotential; staatliche Stellen können mit diesen Gruppen kaum ins Gespräch kommen. Zwischen den Gruppen 1 bis 3 gibt es kaum Verbindungen. Gleichwohl genießen alle Gruppen die Solidarität der Szene, die sich bei Polizeieinsätzen sofort durch eine große Zahl von mit telefonischen Kettenanrufen herbeigerufenen Helfern mobilisieren läßt. Die Abwehr „struktureller Gewalt des Staates“ eint die Szene insgesamt. Dabei muß gesehen werden, daß das „Sichdurchsetzen gegenüber dem Staat" bzw. das „Jedenfalls-nicht-kampflos-Beigeben“ im Hinblick auf die geschilderten politisch-gesellschaftlichen Ohnmachtserfahrungen bei früheren Einflußnahmeversuchen (zuweilen wird es als Markierungspunkt in der Herausbildung einer eigenen Identität erlebt) subjektiv einen hohen Stellenwert hat. Die Szene reagiert außerordentlich sensibel (ob dies nun in der Logik ihrer eigenen Grundauffassungen liegt oder nicht) auf Reaktionen des Staates, die als übermäßig empfunden werden (z. B. Strafmaß gegenüber einem Demonstranten, der Gewalt angewendet hat, in Relation zu Wirtschaftsverbrechen, zur Gewaltanwendung sonst — z. B. Zusammenschlagen eines Jugendzentrums durch Rechtsradikale). Nach den bisherigen Erfahrungen wirkt eine härtere Haltung des Staates in der Tendenz dahin, daß die Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt in der Szene steigt und daß die Gewalt-schwelle sinkt (Nürnberg!).

Ausländer haben sich bisher an der Anwendung von Gewalt (einschließlich Hausbesetzungen) kaum beteiligt Maßgebend dafür ist die Befürchtung, bei einer solchen Beteiligung nach dem geltenden Ausländerrecht abgeschoben zu werden. Der Problemdruck für Ausländer ist besonders auf dem Wohnungssektor und für ausländische Jugendliche auf dem Arbeitsmarkt sehr groß. Die künftige Entwicklung — vor allem das Verhalten der zweiten und dritten Ausländergeneration — ist schwer abschätzbar. Mit ausländischen Ju13 gendlichen befaßte Sozialarbeiter und Pädagogen weisen darauf hin, daß unter diesen die Aussichtslosigkeit und unterschwellige Aggressionen sehr stark und Kompensationsmöglichkeiten kaum vorhanden sind.

Subjektive Erfahrungen und Einsichten, daß die erwarteten Verhaltensformen der indu-striellen Gesellschaft zunehmend emotional-seelische Verkrüppelung bewirkten und daß die Entwicklungstendenzen der Gesellschaft zunehmend in die ökologische, soziale und ökonomische Katastrophe führten, lassen ein Anwachsen von Gewaltbereitschaft und ursprünglich anarchischem Verhalten einer Teilgruppe junger Menschen befürchten.

VIII. Mögliche Folgerungen für die Politik

Für politische Folgerungen erscheint folgendes wichtig:

1. Die Kritik der Aussteiger richtet sich nicht gegen abstrakte Grundwertvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft wie persönliche Freiheit, Solidarität, soziale Gerechtigkeit. Die Aussteiger werfen der Mehrheitsgesellschaft vielmehr vor, daß sie diese Grundwerte gar nicht verwirklichen wolle und eine ihnen entgegengerichtete Politik betreibe. Auf ihre Fragen haben oft auch die Vermittler staatlicher Politik, Praktiker der Jugendbildung, Sozialarbeiter etc. keine Antwort. Grundsätzlich geht es um die Frage, ob eine klarere Orientierung der großen Politik wie der Kommunalpolitik an diesen Grundwerten möglich ist, ob diese Orientierung glaubhafter vermittelt werden kann und ob tatsächlich entgegenstehende Sachzwänge ihrerseits glaubhaft gemacht werden können. Damit ist auch die „politische Sozialisation" junger Menschen angesprochen, die Frage, wie abstrakt, vielleicht naiv sie an manchen Stellen verläuft, ob sie genügend Wissen um wirtschaftliche Zusammenhänge, internationale Verflechtungen vermittelt und ob sie zu historischem Denken und Vergleichen anregt.

2. Das politische Verhalten der jungen Generation ist weithin durch Ohnmachtserfahrungen hinsichtlich der Möglichkeiten politischer Einflußnahme bestimmt. Es sollte vor allem in politischen Parteien und ihren Gliederungen und in der Kommunalpolitik dafür Sorge getragen werden, daß der Prozeß der politischen Willensbildung von unten nach oben neu belebt und transparenter gemacht wird. Politische Verantwortung darf nicht hinter tatsächlichen oder vermeintlichen Sachzwängen verborgen werden.

Der Ansatzpunkt liegt sicher darin, die Wechselbeziehungen zwischen großer und kleinräumiger Politik deutlicher zu machen. 3. Nicht nur der Inhalt der Politik, sondern auch die Art und Weise, wie viele Politiker und ein großer Teil der Administration mit dem Bürger umgehen, wird häufig als destruktiv empfunden. Jugendliche sehen dies so, daß Politiker und Verwaltung ihnen fertige Lösungen und vorschnelle Erklärungsmuster präsentieren, die nicht auf ihre konkreten Probleme eingehen und zum Teil Antworten auf Probleme von gestern enthalten. Um die Kluft zwischen Spitzenpolitikern und politischer Basis, zwischen Politik und gesellschaftlichem Leben zu überbrücken, sollten Gespräche geführt und Dialogformen gesucht werden, deren Ergebnisse sich in der praktischen Politik auch sichtbar niederschlagen. 4. Die Dichte staatlicher Regelungen sollte vermindert, Zwänge und Bürokratie abgebaut werden, ohne daß der soziale Schutz geringer wird. In der Verwaltung sollten Letztentscheidungen weniger unter juristischen und sicherheitspolitischen Aspekten gefällt werden, sondern mit Blick auf eine langfristig menschliche Gestaltung der Lebenswelt des Bürgers. Mehr Raum für individuelles, persönliches, freies und spontanes Handeln verlangt auf Seiten der Verantwortlichen Mut zum Risiko, in der Jugndpolitik Persönlichkeiten, die auch Fehlschläge in Kauf nehmen, offensiven Modellen den Rücken stärken und sie verantworten.

5. Das Bild von der Gesellschaft der Zukunft richtet sich leicht auf eine Gesellschaft mit einheitlichen Wertmaßstäben und Verhaltensweisen, die sich vor allem im Einklang mi der technologischen Entwicklung befindet Realistisch ist eher, daß es auch in Zukunft neben der Mehrheitskultur auch Minderheitskulturen geben wird — wie es in der Regel in der Vergangenheit war —, die zum Teil im 26 wußten Gegensatz zur Mehrheitskultur stehen und stehen wollen. Solche Minderheits kulturen werden für die Bundesrepublik außer der alternativen Kultur auch die Kulturen der ausländischen Arbeitnehmer sein. Die Fähigkeit zum Umgang mit solchen Minderheitskulturen muß entwickelt werden. 6. Wenn die alternative Kultur menschliche Bedürfnisse innerhalb eines integralen Lebenszusammenhangs möglichst umfassend und in spezifischer Ausprägung befriedigen will, knüpft sie damit an Traditionen sowohl des kirchlichen Bereiches als auch zum Beispiel der Arbeiterbewegung an (Selbsthilfeorganisationen in den Bereichen Bildung und Kultur, Sport, Nachbarschaftshilfe, Kinder-und Jugendarbeit, Hilfe bei der Wohnungsversorgung, beim Hausbau usw.). Auch von den früheren gesellschaftlichen Organisationen hat sich ein Teil (z. B. die der Arbeiterbewegung mindestens in der Zeit vor der Weimarer Republik) in bewußtem auch politischem Gegensatz zur Mehrheitsgesellschaft entwickelt. Für religiöse und nationale Minderheiten galt ähnliches. Möglicherweise sollten sich Kirchen, politische Parteien und andere gesellschaftliche Kräfte auf unterschiedliche Lebensweisen von Teilen der Bevölkerung wiederum stärker einstellen.

7. Der Tendenz zu großräumigen Strukturen sollte entgegengewirkt werden. Politik und Verwaltung sollten sich stärker kleinräumig orientieren und Gleichförmigkeit vermeiden. Treffpunkte, die nicht nur funktional sind, sondern auch eine emotionale Ausstrahlung haben, Raum zur Selbstgestaltung lassen, sollten geschaffen bzw. dort, wo sie entstanden sind, unterstützt werden. In diesem Sinne sollten die Kommunen kreative Ansätze der alternativen Kultur fördern, ihre Andersartigkeit tolerieren und den Jugendlichen so eine Integration in das Gemeindeleben anbieten.

8. Faktoren, die die Jugendprobleme auslösen oder verstärken, sollten kritisch beleuchtet werden. Nötig wären eine menschlichere Schule, besserer Berufsübergang, Abbau von Jugendarbeitslosigkeit und Wohnungsnot. Die beiden letzteren Punkte haben in den aktuellen Unruhen eine sehr große Bedeutung; ihre Lösung sollte mit allen Kräften weiterverfolgt werden.

9. Die Hilfen für die Familie sollten verstärkt werden. Es kommt vor allem darauf an, daß Eltern bereit und fähig sind, persönlich auf die Probleme ihrer Kinder einzugehen, sich ihnen als Partner auch in Auseinandersetzungen zu stellen und in Krisen Orientierung anzubieten.

10. Kinder und Jugendliche sollten den nötigen Freiraum erhalten, ihre emotionalen Bedürfnisse in Familie, Schule, Beruf und Freizeit auszuleben, mit anderen weiterzuentwickeln. Dort, wo sie in Eigeninitiative ihren Lebensraum zu gestalten versuchen, ihr Zentrum selbst verwalten, sollten sie Fehler machen dürfen, sollten nicht Effizienz und reibungsloser Ablauf das oberste Beurteilungskriterium sein. Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Mitarbeit sollten den Jugendlichen in ihrem Alltag geboten werden.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Mit dieserAusgabe der„Beilage" will die Redaktion die bereits angelaufene Diskussion über aktuelle Tendenzen in der Jugend (vgl. dazu z. B. die Kontroverse zwischen von Balluseck, von Cube, H und Th. Castner in B 30/79 und B 21/80) fortführen. „Aufhänger“ ist ein Papier (oder auch „Paper"), das Anfang dieses Jahres im Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit entstand und nach einer Diskussion im Kabinett zur fnformation über Aussteiger, alternative Kultur usw. dienen sollte. Es wurde den Mitgliedern der Bundesregierung und den Abgeordneten des Deutschen Bundestages zugeleitet. Die Redaktion hat die Generalsekretäre der vier im Bundestag vertretenen Parteien gebeten, sowohl zur Einschätzung der alternativen Kultur als auch zu den politischen Schlußfolgerungen des „Papiers“ Stellung zu beziehen. Ob dieses Experiment geglückt ist, sei dahingestellt — dies hängt wohl von den jeweils zugrunde gelegten Erwartungen ab. Zumindest zweierleileistet dieseAusgabe der„Beilage" jedoch mit Sicherheit: Sie stellt ein relativ unkonventionelles Arbeitspapier aus einem Ministerium vor; und sie spiegelt die vorherrschenden Strömungen zur Auseinandersetzung mit der jungen Generation in den vier großen Parteien unseres Landes wider.