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Habe ich den Fehler meines Lebens gemacht? | APuZ 33/1981 | bpb.de

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APuZ 33/1981 Artikel 1 „Deutscher Sonderweg". Zur Geschichte und Problematik einer zentralen Kategorie des deutschen geschichtlichen Bewußtseins Die SED und der „Sozialdemokratismus" Die Acht-Stunden-Ideologie Habe ich den Fehler meines Lebens gemacht?

Habe ich den Fehler meines Lebens gemacht?

Manuela Wenau

/ 13 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Aufzeichnungen von Manuela Wenau und Matthias Bothe sind einem demnächst erscheinenden Band der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung entnommen. Darin wird anläßlich des 20. Jahrestages des Baues der Mauer in Berlin hauptsächlich von Jugendlichen ihr Weg von Deutschland nach Deutschland beschrieben: Welche Erfahrungen machten sie in der DDR, welche in der Bundesrepublik?

Die'zweite Hälfte meiner Kindheit (Schulzeit und Jugend) verbrachte ich in Mirow, einem Ort in Mecklenburg. Für meine Geschwister, Freunde und schließlich für mich bedeutete dies ein Erleben unbeschwerter Kindertage in einem Haus am Rande des Ortes. Die Landschaft in unmittelbarer Nähe war die beste Voraussetzung dafür. Im nahe liegenden See konnten wir unbegrenzt schwimmen, mit dem Boot fahren, Schlittschuh laufen, in den Wäldern viele unvergessene Abenteuer erleben. Kurz gesagt, durch die vielseitigen Möglichkeiten unserer Freizeitgestaltung ist es mir kaum vorstellbar, in einer anderen Gegend eine ähnliche Kindheit zu verbringen.

Meine Schulzeit dagegen wurde durch ganz andere Aspekte geprägt. Seit dem Beginn meiner Erziehung durch staatliche Institutionen lernte ich das Ziel des Systems „begreifen", das heißt, linientreu zu sein und, damit verbunden, Höchstleistungen für die DDR zu vollbringen. So rang ich im Sport um Medaillen, in der Schule um gute Zensuren und um Auszeichnungen in der Pionier-und später in der FDJ-Organisation. Doch warum floh ich aus dieser „heilen" Welt?

Vielleicht müßte ich damit beginnen, daß sich der Gedanke der Flucht nicht allein in mir selber geformt hat. Während sich Flüchtlinge, die die DDR verlassen wollen, meist viele Jahre mit diesem Gedanken beschäftigen, war es bei mir völlig anders. Ich mußte mich in wenigen Minuten zur Flucht entscheiden. Das fiel mir nicht schwer, denn die Flucht war die einzige Möglichkeit, mit meinen Eltern und Geschwistern zusammenzubleiben.

Ja, sicherlich waren da Gedanken über die Probleme, die durch die Spaltung entstanden, Vorhanden. Doch sie beschränkten sich darauf:

Warum es nicht möglich war, unsere Verwandten zu besuchen; warum wir ihnen auf einmal nicht mehr schreiben sollten; warum durfte man kein Westfernsehen gucken; warum sollte ich keine Jeans tragen; warum ... warum ... warum?

Alles Fragen, auf die ich in der Schule zwar Antworten bekam, die ich jedoch nicht weiter hinterfragte und deshalb wohl nie richtig verstand. Doch diese Kleinigkeiten hätten nicht allein der Anlaß für eine Flucht sein können. Man hatte es ja jahrelang gelernt, damit zu leben. Tag für Tag lernte ich in der Schule, ja sogar schon im Kindergarten, daß im anderen Teil Deutschlands unsere „Feinde" wohnten. Doch dort waren ja auch meine zahlreichen Verwandten; sie konnten doch unmöglich zu denen zählen? Genauso ein Junge aus Westdeutschland, den ich kennenlernte, als er in unserem Ort zu Besuch war. Zwei Wochen waren wir fast jeden Tag zusammen. Vielleicht könnte man sagen, daß hier meine Flucht begann, nämlich die Flucht vor mir selber. Ich verstand die Welt nicht mehr, denn er stellte mir Fragen, auf die ich keine Antwort wußte: Warum ist es nicht möglich, daß du mich einmal besuchen kannst? Warum müssen wir jetzt ein Jahr warten, bis wir uns vielleicht einmal wiedersehen? Ich gab ihm Antworten, die ich in der Schule gelernt hatte, doch zweifelte ich selber an ihrer Richtigkeit.

Ich wurde zu dieser Zeit 17 Jahre alt. Es waren Sommerferien, und ich hatte’die Schule gerade abgeschlossen. Kurz nach diesen Ereignissen fuhr ich mit meinen Eltern und Geschwistern in den Urlaub. Auf der Fahrt erfuhr ich von meinem Vater, daß wir vorhatten, von dieser Reise nicht mehr nach Hause zurückzukehren. Natürlich wollte ich mit bei meinen Eltern und Geschwistern bleiben und war davon überzeugt, das Richtige zu tun.

Ich hatte Angst davor, daß jemand von unseren Plänen erfahren könnte und war froh darüber, daß meine Eltern sie mir nicht zu einem früheren Zeitpunkt mitgeteilt hatten. Nun verstand ich auch die vielen merkwürdigen Dinge, die schon Wochen und Monate zuvor zu Hause passiert waren, warum mir die Eltern oft abgespannt, müde und nervös erschienen. Nie hatte ich gewagt, nach den Gründen zu fragen. Meine Eltern hatten nicht die Möglichkeit, mir vorher mitzuteilen, was sie vorhatten. Wenn sie uns gesagt hätten, daß sie fliehen wollten, als wir noch zu Hause waren, wäre die Gefahr des Verrates viel zu groß gewesen. Ohne es zu wissen, hätten wir es verraten können durch eine unbedachte Bemerkung, der wir keine Wichtigkeit beigemessen hätten — aber der Stasi (Staatssicherheitsdienst der DDR). Er hatte seine Augen und Ohren überall. Es wurde immer wieder praktiziert, daß man uns in der Schule versuchte auszufragen, um so festzustellen, ob die Eltern auch linientreu blieben.

Um nicht aufzufallen, waren meine Eltern gezwungen zu schweigen. Ich hatte schon kaum die wenigen Tage der Spannung bis zur Flucht ertragen. Wieviele Tage hatten sie mit Ängsten, Sorgen und Gedanken, die sich nur noch um die Flucht drehten, leben müssen. Dieses Gefühl, am letzten Tag zu Hause zu sein, alles aufzugeben, Freunde und Bekannte das letzte Mal zu sehen, ohne ihnen Lebewohl zu sagen, ist mir erspart geblieben. Es gab keinen Weg mehr zurück.

Ich entschied mich zu einem Schritt, der mein ganzes Leben verändern sollte. In meinem Kopf waren Gedanken, als wenn ich diesen Schritt schon Tage, Monate oder -Jahre über legt hätte, wie zum Beispiel, warum meine Eltern nicht schon damals gegangen sind, als es noch nicht so gefährlich war, als viele unserer Verwandten gingen. Wo war all das, was ich gelernt hatte? War ich noch dieselbe Person, die zuvor als Klassenbeste, als FDJ-Sekretärin und ... und die Schule abgeschlossen hatte? Hatte ich vergessen, daß mir alle Wege offen-standen? Für etwas Ungewisses, von dem ich in keiner Weise wußte, wie es sein wird, gab ich alles auf!

Dann kam die Flucht. Während sie meiner Mutter mit meinen beiden jüngeren Brüdern glückte, wurden mein Vater und ich festgenommen, verurteilt und inhaftiert. Nun hatte ich genügend Zeit, über diesen schnellen Entschluß nachzudenken. Doch ich kann mich nicht daran erinnern, daß ich diesen Schritt jemals bereut hätte. Je mehr man versuchte, mir klarzumachen, daß ich einen Fehler gemacht hätte, um so fester war ich davon überzeugt, das Richtige getan zu haben.

Ich hatte Angst davor, in die DDR entlassen zu werden, denn ich hätte keine Minute mehr das vertreten können, was ich immer wieder gelernt hatte: die Treue zum Staat und zu einer Partei, die immer recht hat, wie man es uns beigebracht hatte. Die Ereignisse (Verhöre Verhandlung, usw.) und der Strafvollzug öffne ten mir die Augen und Ohren, die zuvor wie mit Scheuklappen versperrt waren. Die Wirk lichkeit stand auf einmal vor mir; die Wirk lichkeit, die ich bisher nicht gesehen hatte nicht sehen konnte, wollte oder durfte. Wit auch immer — sie war da und ich war schok kiert. All das, was ich in 17 Jahren als Wahr heit gesehen hatte, brach zusammen wie eil Kartenhaus durch einen kleinen Windstoß.

Wo hatte ich jemals in der Schule etwas übe politische Gefangene gehört? Nun war icl selbst einer und wußte nicht einmal warum Weil ich bei meinen Eltern und Geschwisten bleiben wollte?

Ich konnte einfach nicht mehr an die Verspre chungen glauben, die mir immer wieder ge macht wurden, damit ich dort bliebe. Viel z groß war die Enttäuschung über das, was ic miterleben mußte, was ich selber sah. Ich hat! das Vertrauen in meine Mitmenschen verk ren, war bisher nur denn es ein blindes Ve: trauen gewesen.

Immer wieder stellte ich mir die Frage, wie t möglich ist, daß ein Staat solche Mensche wie mich „produziert" und dadurch leben kan Warum sieht keiner, daß es eine Lüge ist, de alles in Ordnung wäre? Warum haben nur f wenige den Mut, es zu sagen, wenn sie es e kennen? — Fragen, die mir auch heute noc immer wieder gestellt werden, die auch jet noch für mich offen sind.

Viele Überlegungen bringen mich den Ar werten etwas näher, aber sie beantworten dl Fragen nie vollständig. Wenn ich einmal de Schritt wage und eine Parallele zum Nationc Sozialismus ziehe und mir dieselben oben g nannten Fragen stelle, so muß ich feststelle daß auch diese für mich bis heute noch nie beantwortet sind. Durch einige Fragen ui Gedanken möchte ich dies zum Ausdru bringen: Ist es der Druck, der durch den Sta ausgeübt wird; ist es ein „Zwang“, mitzumachen, um nicht anders zu sein? Was ist es, das'so viele junge Menschen immer wieder zu „blinden", „tauben“ und „stummen“ Mitläufern werden läßt und diesem Staat somit zum Leben verhilft?

In einem Buch von J. London fand ich einen Satz, der mich am meisten dem Ziel entgegen-brachte, auf diese Fragen eine Antwort zu finden: „Der Zwang, die Geheimnistuerei und die eiserne Kontrolle des Gefängnislebens haben in ihnen eine zweite, furchtbare Persönlichkeit entwickelt." Diese Worte beziehen sich auf ein Gefängnisleben und sind deshalb vielleicht etwas hart, doch ich finde sie sehr treffend, wenn man berücksichtigt, daß die DDR allein mit ihrer Mauer doch ein großes Gefängnis ist. Ich vermute, daß viele Jugendliche durch das Leben in diesem Staat mit dieser zweiten Persönlichkeit herumlaufen, ohne es selber zu wissen, wie es auch bei mir war. Ich möchte nicht die Zahl der Menschen kennen, die ins Wanken kommen würden, wenn sie nur einmal die Gelegenheit hätten, etwas anderes kennenzulernen.

Als sich meine Haftzeit dem Ende näherte, fragte man mich immer wieder, was ich anschließend tun wollte. Für mich gab es nur eine Antwort: in die Bundesrepublik! Keine der Androhungen, man würde mich nie dort hinlassen und meinen Vater schon gar nicht, konnte mich von meinem Entschluß abbringen. In den vielen „freien" Stunden der Haft waren schon längst neue Fluchtpläne entstanden. Nichts hätte mich in diesem Staat mehr halten können. Ich hatte zwar kaum Vorstellungen, was mich in dem anderen Teil erwarten würde, aber ich wußte eines: es konnte nur besser sein; besser als die Schikanen und Erniedrigungen, mit denen ich in der Haft hatte leben müssen und auch in der „Freiheit" in der DDR hätte weiterleben müssen. Dieses Leben schien mir nicht mehr lebenswert.

Ich versuchte, mir Vorstellungen zu machen, Was mich erwarten würde. Alte Kindheitserinnerungen, die ich schon längst vergessen hatte, wurden wach. Bis zum Mauerbau hatte ich oft meine Großeltern in Berlin besucht. Aus dieser schönen Zeit wurden Bilder in mir wach.

Doch wie sieht es dort zehn Jahre später aus?

Diese Frage konnte ich mir nicht beantworten. Ich war ja nun älter und stellte andere Ansprüche an das Leben. Die kindliche Faszination von diesen hellerleuchteten Straßen und den riesigen Warenhäusern, in denen es Sachen gab, die ich zu Hause nur durch Pakete meiner Verwandten kannte, erlebte ich als Kind. Doch wie würde es jetzt auf mich wirken? Wie sieht das Leben dort aus? Ich konnte mir kein Bild davon machen — woher auch, aus dem vom Staat aufgebauten Feindbild in mir.

Dann kam der Tag. Ich wurde entlassen, nach einem Jahr Haft. Ich kam zu meiner Mutter und meinen beiden jüngeren Brüdern nach Bremen.

Meine Brüder hatten sich so verändert, daß ich sie auf der Straße nicht wiedererkannt hätte. Aber nicht nur äußerlich hatten sie sich gewandelt, sie führten ein anderes Leben, ein Leben, daß ich noch nicht kannte.

Es ist schwer vorstellbar, aber meine eigene Mutter und meine Brüder waren mir fremd, so wie das unbekannte Leben, das sie führten.

Vieles war anders, doch heute bin ich kaum noch in der Lage, dieses Fremdartige auszudrücken, weil ich mich sehr schnell daran gewöhnte. Schon als mein Vater wenige Zeit später kam, war ich mit diesen unbekannten Dingen vertraut. Ich hatte es oft einfach, denn Probleme mit den Ämtern oder dem Geld hatte ich nicht, man hatte von allen Seiten für mich vorgesorgt. Diese Erleichterung, sich in diesem neuen Leben zurechtzufinden, haben viele Flüchtlinge nicht, aber sie sind bestimmt auch nicht das Wichtigste. Die wirklichen Schwierigkeiten sollten sich erst in der folgenden Zeit zeigen.

Ich hatte mich entschlossen, weiter zur Schule zu gehen und kam in die 11. Klasse eines Bremer Gymnasiums. Was ich jetzt sah, hörte und kennenlernte, ließ mich erfahren, wie anders die Menschen durch die völlig unterschiedliche Erziehung waren.

Die bisherigen Eindrücke waren untergegangen in dem anhaltenden Glücksrausch, endlich aus der Haft und bei den Verwandten zu sein. Ich hatte bisher nirgends Schwierigkeiten gehabt, weil mir fast immer jemand hilfreich zur Seite stand, doch nun war ich unter Gleichaltrigen in der Schule allein. Ich erin43 nere mich noch sehr gut an meinen „ 1. Schultag“. Es gab hier keine Klassenverbände mehr, so daß ich jede Stunde mit anderen zusammen war. Niemandem wäre wahrscheinlich aufgefallen, daß ich völlig neu in der 11. Klasse, ja in der Schule und in diesem Land war, wenn mir nicht das Folgende passiert wäre:

Ich ging in den Klassenraum, in dem die erste Stunde stattfinden sollte, suchte mir einen Platz und sah mich um. In dem Raum „saßen“

schon etwa 20 Schüler. Ich war erschrocken über diese neue Umgebung. Dabei . waren die andere Sitzordnung und die Einrichtung des Klassenraumes Dinge, die ich erst später bemerkte. Die Jugendlichen saßen auf den breiten Fensterbänken, auf den Tischen und auf der Erde. Erst als die Lehrerin schon an ihrem Platz war, bewegte man sich allmählich zu einer notwendigen Sitzordnung. Ich fragte mei-. nen Nachbarn, ob die Lehrerin denn nichts zu dieser Unordnung sagen würde. Er guckte mich an, als könnte er nicht glauben, daß ich diese Frage wirklich gestellt hatte. Ungünstigerweise hatte ich gerade einen von diesen Jugendlichen angesprochen, für den es völlig normal war, sich so zu verhalten. Er gehörte zu der Gruppe von jungen Leuten, mit denen ich von Anfang an und bis heute noch Schwierigkeiten habe, mich zu verständigen.

Ich möchte versuchen zu beschreiben, warum es für mih schwer war, diese Jugendlichen zu verstehen. Die Gruppe, von der ich spreche, sind die jungen Menschen, die versuchen, alle bestehenden Regeln in Frage zu stellen — und entsprechend verhalten sie sich. Sicherlich entsteht ein anderes Leben durch eine neue Generation, aber gewisse Regeln müssen doch einfach eingehalten werden, weil sonst ein Chaos entsteht. Sie stellen diese Regeln in Frage und merken gar nicht, daß sie sich dabei selbst teilweise noch viel unverständlicheren Regeln unterwerfen, weil'sie den verschiedensten einseitigen politischen, religiösen oder anderen Gruppen blindes Vertrauen schenken. Ich stellte bei vielen Jugendlichen eine Flucht in Gruppen fest. Also genau den umgekehrten Prozeß, der sich zur Zeit bei mir vollzog: Ich war froh, endlich einmal nicht immer nur im Geiste der Gruppe denken zu müssen, sondern für mich selbst.

Wie sollte ich da das Mädchen verstehen können, das auf mich zukam, weil es wußte, daß ich aus der DDR war. Sie fragte mich, warum ich von dort weggegangen sei, es wäre dort doch alles viel besser als hier. Ich versuchte, sie zu fragen, ob sie schon einmal dort gewesen wäre. Doch ohne mir darauf zu antworten, redete sie weiter auf mich ein, um mir klarzumachen, daß ich den Fehler meines Lebens gemacht hätte.

Es wurde soviel geredet und diskutiert in der Schule, daß ich völlig verunsichert war und glaubte, nicht mitreden zu können. Kaum einer gab sich die Mühe, sich einmal mit mir auseinanderzusetzen, ohne mich gleich von seiner Meinung überzeugen zu wollen. Ich konnte nicht so schnell und vor allem so viel reden wie die anderen. Ich war immer noch bemüht, viel zu hören, aufzunehmen und damit kennenzulernen. Trotzdem begeisterten mich die Diskussionen, weil sie mir die Vielfalt dei verschiedenen Meinungen zeigten. Ich mußte jedoch sehr schnell feststellen, wie wichtig dieses Reden war, denn die Zensuren wurden dadurch beeinflußt. Daß die Noten ausschlag; gebend für einen Studienplatz sein würden, wurde mir sehr bald klar, denn ich war schon mitten in dem Kampf um gute Zensuren. Ich versuchte in diesem „Wettlauf“ zu bestehen, doch ich war weit abgeschlagen.

Bei einem Studium an einer Universität wäre es mir sicherlich ähnlich ergangen, und so bin ich heute froh, daß ich an einer kleinen privaten Studienstätte lernen konnte. Dort herrschte nicht dieser Leistungsdruck und die Anonymität, wie ich sie am Gymnasium kennengelernt hatte. Es hat mich viel Energie gekostet, diese Schulzeit zu überstehen, denn dort fand ich kaum Gelegenheit, jemand näher kennenzulernen, geschweige denn eine Freundschaft entstehen zu lassen. Viel zu sehr waren sie alle mit der Schule, aber vor allem mit sich selbst beschäftigt. Ich konnte in dieser Zeit niemanden finden, der mir hätte helfen können, das Leben von gleichaltrigen Jugendlichen hier zu verstehen. Auch meine Eltern konnten dies nicht erreichen, obwohl sie sich immer wieder bemühten. Sie schickten mich hier hin und dort hin, damit ich Gleichaltrige kenhenlernte, aber ich hatte Kontaktschwierigkeiten. Ganz langsam fing ich an, einen neuen Bekanntenkreis aufzubauen und fand Menschen, die mir halfen, mich zurechtzufinden, die ver suchten, mich zu verstehen. Eine Zeitlang hatte ich noch Kontakt zu einer Freundin in der DDR. Doch schon bald erfuhr ich, daß sie deshalb Schwierigkeiten bekam, und so konnten wir uns nicht mehr schreiben. Das, was man am schwersten wieder aufbauen kann, aber unwiderruflich verliert beim Verlassen der DDR, sind die menschlichen Beziehungen. Gegenstände wie Möbel, Kleidung usw. kann man sich bald wieder kaufen, aber Freunde und Bekannte sind nicht für Geld wie in einem Warenhaus zu erwerben.

Sicher kann ich von Glück reden, daß meine Verwandten in der Nähe waren. Wieviele Menschen kommen hier an und kennen niemanden! Ich hatte „nur" die Schwierigkeit, dieses andere Leben kennenzulernen und einen neuen Bekanntenkreis zu finden. Viele haben nicht die Kraft, dieses „Alleinsein" in einer für sie fremden Welt zu überstehen — und scheitern daran.

Inzwischen konnte ich diese Eingewöhnungsschwierigkeiten zum größten Teil bewältigen, weil mir Freunde und Bekannte, die ich während der Studienzeit fand, dabei halfen. Dennoch bin ich mit diesen Problemen immer noch vertraut, weil mein älterer Bruder erst vor zwei Jahren zu uns aus der DDR kam. Auch für ihn ergaben sich ähnliche Schwierigkeiten.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Manuela Wenau, 25 Jahre alt, wohnte in Teltow und Kleinmachnow (bei Berlin) und Mirow (Mecklenburg) in der DDR. Dort absolvierte sie die Schulzeit bis zur 10. Klasse. Im Sommer 1972 Fluchtversuch der Familie; danach ein Jahr Haft; anschließend in die Bundesrepublik nach Bremen. Besuch eines Bremer Gymnasiums, Abitur; im April 1981 Abschluß des Studiums an der Freien Kunststudienstätte in Ottersberg als Kunsttherapeutin und -pädagogin.