Im Gegensatz zu landläufigen Meinungen bei uns, aber auch zum Selbstverständnis der SED, ist deren Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie außerordentlich vielgestaltig . und durch zum Teil abrupte Kurswechsel und Brüche geprägt. Die SED hat dabei spezifische wiederkehrende Argumentationsmuster entwickelt, die vom schärfsten denkbaren Verdikt — dem traditionellen „Sozialfaschismus'-Vorwurf — bis zu der These reichen, daß sich eine wachsende Übereinstimmung zwischen sozialdemokratischen und kommunistischen Auffassungen abzeichne. Es fällt auf, daß die negativen und positiven Wertungen sozialdemokratischer Ideologie und Politik durch die SED keineswegs der Entwicklung des Systemkonfliktes zwischen Ost und West folgen, denn gerade zu Beginn der Entspannung zwischen beiden deutschen Staaten eingangs der siebziger Jahre verschärft sie in auffallender Weise ihre Kritik. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Begriff „Sozialdemokratismus", der gemeinsam mit einer scharfen prinzipiellen Abgrenzung immer dann Anwendung findet, wenn die SED innere Krisen, eine Gefährdung ihres Herrschaftssystems zu bewältigen hat. Dies ist Ende der vierziger Jahre, als die Führung die SED in eine „Partei neuen Typus" transformierte, ebenso der Fall wie im Zuge der Erschütterungen des 17. Juni 1953, des Mauerbaus 1961, des „Prager Frühlings" 1968 und schließlich wie zu Beginn der Entspannung, deren innere Rückwirkungen — der Abbau des Feindbildes und ein Aufleben von Reformerwartungen — es zu neutralisieren galt. In solchen Situationen treten außenpolitisch motivierte Kooperationsangebote regelmäßig in den Hintergrund. Beides, die Verschärfung der Abgrenzung von der Sozialdemokratie im Zeichen innerer Krisen wie Kooperationsangebote und moderate Kritik im Interesse außenpolitischer Ziele — die „Sicherung des Friedens“ wird hier an erster Stelle genannt —, deutet darauf hin, daß die Auseinandersetzung der SED mit der Sozialdemokratie primär eine defensive, system-integrierende Funktion zu erfüllen hat. Hinsichtlich Ausmaß und Schärfe der Abgrenzung sind die SED-Theoretiker jedoch keineswegs einer Meinung. Vielmehr treffen in den 35 Jahren seit Gründung der SED sowohl in der Publizistik als auch in der Wissenschaft der DDR unterschiedliche Charakterisierungen und Analysen der Sozialdemokratie aufeinander, die bis hin zu expliziten Kontroversen reichen. Es hat daher den Anschein, als stelle die Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie innerhalb der SED eine Scheidelinie zwischen solchen Kräften dar, die eine eher repressiv-administrative Herrschaftsvariante verfolgen, und solchen, die eher auf Integration und Partizipation abzielen.
Ganz entgegen dem eigenen, Kontinuität und „wissenschaftliche Einsicht in die Entwicklungsgesetze der Gesellschaft" verheißenden, Selbstverständnis der SED ist ihr Verhältnis zur Sozialdemokratie außerordentlich vielgestaltig und durch zahlreiche Kurswechsel sowie tiefgreifende Brüche gekennzeichnet Die beiden folgenden Zitate mögen beispielhaft verdeutlichen, zu welch unterschiedlichen Bewertungen der Sozialdemokratie die SED im Verlauf der 35 Jahre ihres Bestehens gelangte.
Aus den Jahren der Transformation der SED in eine „Partei neuen Typus", einer Phase schärfster innerer Repression, stammt die folgende drastische Einschätzung: „Was der Agent Lorenz und näch ihm andere Agenten enthüllten, was wachsame Funktionäre und was unsere Volkspolizei aufdeckte, zeichnet ein erschütterndes Bild der Verkommenheit der rechtssozialistischen Führerclique. Herr Reuter, der die Berliner S-Bahn demolieren und Sprengkapseln legen läßt, der geifert: . Berlin ist einen neuen Krieg wert', befleißigt sich immer wieder, zu bestätigen, daß die SPD-Führerschaft eine Bande ist, die im Interesse der Imperialisten solche Verbrechen begeht und noch zu begehen bereit ist, vor denen die Gangster Chikagos als Stümper erscheinen. Der Weg des Rechtsopportunismus, des Reformismus-Revisionismus, mit einem Wort des Sozialdemokratismus, führte zum kriminellen Verbrechertum im Dienste des Imperialismus."
Nur wenige Jahre später, im Anschluß an den XX. Parteitag der KPdSU 1956, heißt es dagegen ebenfalls im Parteiorgan „Einheit": „Der Münchner Parteitag hat deutlich gemacht, daß es in den Fragen des Friedens, der Entspannung und Abrüstung, in der Verteidigung der politischen und wirtschaftlichen Interessen zu einer Übereinstimmung oder einer weitgehenden Annäherung der Positionen der SPD, der SED und der KPD gekommen ist."
Charakteristische Merkmale der Kritik an der Sozialdemokratie
Beide Kommentare beziehen sich auf die Politik der SPD-Führung, der bis in die 70er Jahre stellvertretend für die sozialdemokratische Bewegung überwiegend das Interesse der SED gilt. Mit ihnen werden gleichsam die Pole sichtbar, zwischen denen sich die Auseinandersetzung der SED mit der Sozialdemokratie seit 1946 bewegt: Auf der einen Seite unübersehbare Anklänge an das Sozialfaschismus-Syndrom der späten 20er und frühen 30er Jahre, das erneut im Zuge des 17. Juni 1953, des Mauerbaus und der CSSR-Intervention an Bedeutung gewinnt. Auf der anderen Seite eine positive Würdigung sozialdemokratischer Politik, wie sie ähnlich auch für die unmittelbare Nachkriegszeit ünd die Monate des Redner-austausches 1966 charakteristisch ist.
In ihrer 35jährigen Geschichte hat die SED-Führung im wesentlichen drei weitere Argumentationsmuster entwickelt, die zwischen den beiden genannten Polen zu lokalisieren sind. Sie unterscheiden sich vor allem in der Zuordnung der sozialdemokratischen Führung zum Imperialismus. Dem Sozialfaschismus-Vorwurf am nächsten kommt die Vorstellung, daß die sozialdemokratische Parteiführung vollständig in das imperialistische System „integriert" sei, „die Positionen des Imperialismus" vertrete und sich zu seinem „Erfüllungsgehilfen“ entwickelt habe — Thesen, wie sie mit Eintritt der SPD in die Regierung der Großen Koalition, verschiedentlich aber auch in den Jahren davor Anwendung finden In einer weiteren Version, wie sie vor allem seit Bildung der sozialliberalen Koalition anzutreffen ist, wird der SPD nachgesagt, sie vertrete zwar im ganzen die Interessen des Imperialismus, stütze sich dabei jedoch auf den „realistischen", entspannungsfreundlichen Teil der Monopolbourgeoisie, dessen Positionen sie repräsentiere
Der wohlwollenden Zustimmung zur sozialdemokratischen Politik am nächsten kommt eine Betrachtungsweise, bei der in der Führung selbst unterschiedliche Gruppierungen oder Fraktionen wahrgenommen werden. Danach verlaufe die „Klassenlinie", die die kapitalistische Gesellschaft spalte, unmittelbar durch die Parteiführung, so daß sich dort neben dem traditionell-reformistischen ein proimperiali-stischer Flügel herausbilde 1954 wird auf diese Weise eine „amerikanische Fraktion“ um Carlo Schmid und Willy Brandt 1959 eine „Kapitulantengruppe“ um Brandt, Mommer und später auch Herbert Wehner konstatiert
Die unterschiedlichen Wertungen der offiziellen sozialdemokratischen Politik und ihrer Akteure haben erhebliche Konsequenzen auch für die Diskussion kommunistischer Parteienstrategie in den kapitalistischen Ländern, namentlich der Einheitsfront und der Aktionseinheit mit den Sozialdemokraten. Hier reichen die Konzeptionen von einer „Einheitsfront von unten", sei es zur „Entlarvung“ der sozialdemokratischen Führer sei es im Interesse gemeinsamer Kampfziele über eine Einheit „auf allen Ebenen bis hin zu dem Angebot eines gemeinsamen Vorgehens der Parteiführungen, wie es sich in zahlreichen Briefen der SED an den Parteivorstand der SPD niederschlägt
In welch rascher Folge sich die Argumentationsmuster ablösen, sei anhand einer Über-sicht demonstriert, die für den Zeitraum von 1946 bis 1974/75 erstellt wurde und exemplarisch die Charakterisierung der SPD-Führung durch die SED erfaßt
Die Übersicht verdeutlicht ein weiteres Mal die Vielfalt und den zum Teil abrupten Wechsel der Argumentationsmuster. Zugleich macht sie aber auch sichtbar, mit welcher Beständigkeit sich positive und negative Wertungen der sozialdemokratischen Parteiführung im Verlauf der vergangenen 35 Jahre gegenseitig ablösen
Grundprobleme in den Beziehungen der SED zur Sozialdemokratie
Hinter den vielfältigen Erscheinungsformen und dem diskontinuierlichen Verlauf der Kritik an der Sozialdemokratie verbergen sich allerdings Regelmäßigkeiten, auf die im folgenden näher eingegangen werden soll. Zuvor gilt es auf einige Grundprobleme aufmerksam zu machen, die das Verhältnis der SED zur Sozialdemokratie maßgeblich prägen.
Anders als die bürgerlichen liberalen und konservativen Parteien des Westens tritt die Sozialdemokratie — und insbesondere die SPD — der SED gleichsam in zweierlei Gestalt gegenüber: Zum einen als politischer Akteur des kapitalistischen Gegensystems und zum anderen in der Gestalt einer Partei, die sich nicht nur wie die SED und die kommunistische Weltbewegung vor allem auf die Arbeiterklasse stützt, sondern darüber hinaus mit ihr durch eine gemeinsame Traditionslinie verbunden ist. Diese gemeinsame Tradition und die Verwurzelung in der Arbeiterklasse erschweren es, die Sozialdemokratie und ihre programmatische Zielsetzung eines freiheitlichen Sozialismus brucios mit dem kapitalistischen Gegensystem gleichzusetzen, prädestinieren sie vielmehr als Adressaten von Bündniserwartungen. Zugleich konstituieren sie jedoch zur Begründung der eigenen autoritären Herrschaftsstrukturen die Notwendigkeit einer ideologischen Abgrenzung von eben diesen sozialdemokratischen Sozialismus-Konzeptionen. Dabei bemüht sich die SED um den Nachweis, daß die Sozialdemokratie keinesfalls geeignet sei, den Interessen der Arbeiterklasse in der gleichen Weise Geltung zu verschaffen, wie es die marxistisch-leninistischen Parteien zu tun vermögen, deren Weg zum Sozialismus daher als einzig möglicher Weg erscheint und als solcher ausgegeben wird.
Ähnlich ambivalent ist, wie zahlreiche Beispiele aus der Geschichte der beiden deutschen Staaten belegen, das Verhältnis der SED zur Sozialdemokratie in ihrer Rolle als politischer Akteur des Gegensystems. In den langen Jahren der Opposition diente die. SPD, sei es zur Verhinderung der bundesdeutschen Wiederbewaffnung, sei es im Interesse einer Anerkennung der DDR, häufig als Adressat von Bündniserwartungen, mit denen der Kern einer breiten gesellschaftlichen Opposition gegen den Kurs der CDU-geführten Bundesregierung geschaffen werden sollte. Anders in der Regierungsverantwortung. Dort, auf staatlicher Ebene, sah die SED in der SPD erst einen Gegner, wie in den Jahren der Großen Koalition, und nahm sie erst anschließend, geraume Zeit nach Bildung der sozialliberalen Koalition als Partner wahr, mit dem sie gemeinsam die Entspannungspolitik zu realisieren vermochte.
In diesem komplizierten Geflecht konkurrierender innen-und außenpolitischer, staatlicher und gesellschaftlicher Ebenen entwik-kelte die SED in den vergangenen 35 Jahren ihr Verhältnis zur Sozialdemokratie. Daraus ergaben sich Probleme, die sich beispielhaft an der Aktionseinheit und deren Implikationen demonstrieren lassen. Sie mag aus außenpolitischen Gründen vorteilhaft sein, bedingt jedoch ideologische Konzessionen an den Bündnispartner, die wiederum innenpolitisch ganz und gar unvertretbar erscheinen. Aus diesem Grund muß die SED verhindern, daß solche Konzessionen, wie sie sich z. B. in der programmatischen Zielsetzung einer „antimonopolistischen Demokratie“ mit garantierten Freiheitsrechten niederschlagen, im eigenen sozialistischen System als Anreiz für Reform-erwartungen wirksam werden — eine Gefahr, die theoretisch und propagandistisch um so schwerer zu bewältigen ist, als einer solchen Demokratie bereits wesentliche protosozialistische Züge beigemessen werden und sie keineswegs im Sinne der ideologischen Abgrenzung als reformistischer Irrweg abgetan werden kann.
Bestimmungsfaktoren
Die Vielzahl der Handlungsebenen, auf denen die Sozialdemokratie der SED in unterschiedlicher Gestalt gegenübertritt, begründet auch, warum sich die SED in der Gestaltung ihres Verhältnisses zur SPD nur begrenzt von der Entwicklung des Systemkonfliktes zwischen Ost und West leiten ließ. Auf dem Hintergrund der wechselhaften inneren Entwicklung und variierender außenpolitischer Problemstellungen der DDR, der Veränderungen in der internationalen Lage, von Ereignissen innerhalb des sozialistischen Lagers und schließlich der Entwicklung der Sozialdemokratie selbst ist das Verhältnis der SED zu ihr vielmehr Brüchen unterworfen, die auf weitere Determinanten verweisen, denen ein unterschiedliches Gewicht beizumessen ist.
Von besonderer Bedeutung sind dabei die innenpolitischen Probleme der DDR, die sich am nachhaltigsten in der Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie niederschlagen und diese weit mehr als andere Einflußfaktoren bestimmen. Dies geschieht in der Weise, daß Krisen des Herrschaftssystems der DDR und im besonderen auch Krisen der führenden Partei SED regelmäßig und notwendig zu einer scharfen ideologischen Abgrenzung von der ozialdemokratie führen, während der Umgang mit ihr in den Phasen innerer Stabilität merklich moderater ausfällt.
Vor diesem Hintergrund hat die Abgrenzung von der Sozialdemokratie seit Gründung der SED eine spezifische Aufgabe zu erfüllen: Mit ihr wurden nicht nur die marxistisch-leninistisch begründeten Herrschaftsstrukturen in der DDR etabliert und die SED im stalinistischen Sinne „bolschewisiert", mit ihr werden sie auch bis heute gegen alle Anfechtungen verteidigt. Dabei bedient sich die SED-Führung zur Denunziation möglicher Abweichungen vom verbindlichen marxistisch-leninistischen Herrschaftsverständnis neben der prinzipiellen, bis zum Sozialfaschismus-Vorwurf reichenden Verurteilung der Sozialdemokratie mit Vorliebe zweier, im Verlauf der Transformation der SED zu einer „Partei neuen Typus“ Ende der 40er Jahre geprägten Kampf-instrumente: des Begriffes „Sozialdemokratis-mus“ und des Verweises auf die einschlägigen Daten des sozialdemokratischen „Klassenverrates". So geschah es 1953, als sie nach den Ereignissen des 17. Juni zuerst die Arbeiterschaft disziplinierte und anschließend die Partei säuberte, so geschah es 1968 im Zuge der Krise in der CSSR, die sich auf die DDR auszuweiten drohte, und so geschah es auch 1970/71, als es zu Beginn der Entspannung zwischen beiden deutschen Staaten galt, die mit ihr einhergehenden innenpolitischen Reformerwartungen zu neutralisieren. Während der Gebrauch des Begriffes „Sozial-
demokratismus" recht vielgestaltig ist wird der sozialdemokratische „Klassenverrat" regelmäßig mit der Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten 1914, ihrem Verhalten in der November-Revolution 1918/19, ihrer widerstandslosen Hinnahme des Faschismus, in besonders zugespitzten Fällen auch ihrer Zustimmung zu Hitlers Außenpolitik im Reichstag 1933 und schließlich mit Schumachers Absage an die Aktionseinheit 1945/46 begründet. Die historischen Exkurse sollen augenscheinlich demonstrieren, wohin es führt, wenn eine Arbeiterpartei vom wohlverstandenen Pfad des Marxismus (-Leninismus) abweicht, und dienen damit zugleich auch zur Verteidigung der konstitutiven Merkmale des marxistisch-leninistischen Herrschaftsverständnisses gegen reformorientierte Anfechtungen, wie sie im Laufe ihrer Geschichte mehrfach auch innerhalb der SED virulent wurden. Diese konstitutiven Merkmale sind: die Führungsrolle der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei, der demokratische Zentralismus, das Volkseigentum an den Produktionsmitteln, die Einheit der marxistisch-leninistischen Weltanschauung.
Sind historische Exkurse eine typische Begleiterscheinung innerer Krisen, so beschränkt sich die Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie in innenpolitisch stabilen Phasen, wie beispielsweise Mitte der 60er und 70er Jahre, überwiegend auf eine kritische Diskussion ihrer aktuellen Rolle im kapitalistischen Gegensystem. Dabei wird ihr zumeist nur eine inkonsequente Haltung angelastet, mit der sie zwar partielle Verbesserungen für die Lage der Arbeiterklasse in den kapitalistischen Ländern erreiche und daher als Bündnispartner in Frage komme, den eigentlichen Zielen der Arbeiterbewegung jedoch nicht gerecht werden könne.
Weniger gewichtig sind die außenpolitischen Interessen der. SED. Sie bewirken grundsätzlich, daß die SPD als politischer Akteur des Gegensystems und nicht als Risiko für die eigene Herrschaftslegitimation wahrgenommen wird. Ihnen kommt insofern nur eine nachgeordnete Bedeutung zu, als — wie besonders in den 50er Jahren sichtbar wird — die in innenpolitischen Krisen virulenten Imperative der Systemräson auch dann auf eine prinzipielle Abgrenzung und scharfe Verurteilung der Sozialdemokratie drängen, wenn diese aus außenpolitischen Kooperationsinteressen nicht angezeigt scheint.
Nur zweimal ist die SED im Verlauf ihrer Geschichte von diesem Prinzip abgewichen, wobei sie eine systematische Trennung der Argumentationsebenen vornahm. 1970/71, als sie die entspannungspolitische Kooperation auf staatlicher Ebene mit heftigen Angriffen gegen den „Sozialdemokratismus" verknüpfte. Und nach dem 17. Juni 1953, als sie nach innen im Kampf gegen den „Sozialdemokratismus" der Krise Herr zu werden versuchte, die SPD unter dem Juni 1953, als sie nach innen im Kampf gegen den „Sozialdemokratismus" der Krise Herr zu werden versuchte, die SPD unter dem Stichwort „sozialdemokratisch-faschistische Provokationen" gar unmittelbar verantwortlich zu machen suchte 16), nach außen dagegen eben diese Partei an ihre „große Verantwortung" erinnerte und ihr eine Koalitionsregierung mit der KPD antrug 17). Schwächten die außenpolitischen Kooperationsinteressen, wie sie in Angeboten zum gemeinsamen Handeln anläßlich des Kampfes gegen die bundesdeutsche Wiederbewaffnung und zu Beginn der 60er Jahre in der gemeinsamen Politik der „kleinen Schritte" wirksam wurden, die ideologische Abgrenzung, führte umgekehrt die außenpolitische Frontstellung zwischen SED und SPD, die besonders zu Beginn der Großen Koalition sichtbar wurde, zu deren Verschärfung. Dies geschah jedoch in einer von der innenpolitisch gewendeten Kritik deutlich abweichenden Form. So wurde weniger eine Abgrenzung von den spezifisch sozialdemokratischen Traditionen, ihrem „Klassenverrat" und ihrer Ideologie vollzogen, sondern statt dessen darauf abgehoben, daß die SPD ohne realen Einfluß auf die Politik der Bundesregierung sei und zudem nichts mehr mit der traditionellen Sozialdemokratie gemein habe.
Die Ereignisse innerhalb des sozialistischen Lagers treten, wie auch das konkrete politiB sehe Verhalten und die Programmatik der Sozialdemokratie, in ihrer Bedeutung für das Verhältnis zwischen der SED und der Sozialdemokratie deutlich weiter zurück. Sie stellen übereinstimmend nur ein Element des Hinter-grundes dar, auf dem sich in komplexer Weise und vielfach konkurrierend die konkreten innen-und außenpolitischen Interessen der SED herauskristallisieren, die dann deren Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie bestimmen.
Sieht man von den frühen 50er Jahren ab, als sich die DDR — ohne eigene Souveränitätsrechte — weitgehend der sowjetischen Westund Deutschland-Politik unterordnete, so ist ein unmittelbarer Einfluß allein dem XX. Parteitag der KPdSU im Jahre 1956 zuzuschreiben. Er veranlaßte auch die SED zu einem kurzfristigen Kurswechsel und ließ sie ohne erkennbaren Widerspruch dem von der KPdSU proklamierten Programm einer Aktionseinheit mit der Sozialdemokratie folgen. Wie abrupt diese Umorientierung erfolgte, läßt sich anschaulich an zwei Beiträgen demonstrieren, die der damalige KPD-Vorsitzende Max Reimann Anfang 1956 im theoretischen Organ der SED „Einheit“ publizierte. Noch im Februar charakterisierte er die SPD-Führung mit der Bemerkung, sie sei „offen" auf die Seite der Imperialisten übergegangen und wolle beweisen, daß sie „die bessere Regierungspartei im Sinne der Bourgeoisie" sei Nur zwei Monate später hingegen heißt es bei ihm, daß „alles Trennende beiseite zu schieben“ und das „Gemeinsame ... ganz entschieden in den Vordergrund" zu stellen sei; er verwahrt sich dagegen, daß es sich bei der Aktionseinheit, „wie manche Kommunisten noch meinen..., um eine Bekehrung, um eine Eroberung der Sozialdemokraten handelt“, und er fordert, künftig „nicht mehr, wie das bisher der Fall war, so lange Sündenregister über die Vergangenheit“ aufzustellen
Demgegenüber sind die Auswirkungen von Erschütterungen innerhalb des sozialistischen Eagers, wie sie beispielsweise 1956 Ungarn, 1968 die CSSR und mehrfach Polen erfaßten, auf die Auseinandersetzung der SED mit der Sozialdemokratie nur indirekt greifbar. Sie gewinnen offenbar nur insoweit an Bedeutung, als sie grundsätzlich Konsequenzen auch für die Stabilität des Herrschaftssystems in der DDR beinhalten können.
In welch geringem Maße Veränderungen in Politik und Programmatik der Sozialdemokratie deren Bewertung durch die SED beeinflussen, machen nicht nur die Wechselbäder von Zustimmung und Ablehnung, Polemik und Bündnisangeboten im Verlauf der 50er Jahre deutlich, als die SED prinzipiell mit der SPD darin übereinstimmte, Wiederbewaffnung und Westintegration der Bundesrepublik zu verhindern. Auch die scharfe Abgrenzung vom „Sozialdemokratismus" im Zuge der sozialliberalen Ostpolitik, die der SED zu Beginn der 70er Jahre immerhin die lange herbeigewünschte internationale Anerkennung der DDR verschaffte, verweist darauf, daß andere Einflußfaktoren — die jeweiligen innen-und außenpolitischen Interessen der SED — deren Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie nachhaltiger prägen als das Verhalten der SPD selbst.
Allein die berühmte außenpolitische Erklärung, mit der Herbert Wehner am 30. Juni 1960 vor dem Deutschen Bundestag die prinzipielle Zustimmung der SPD zu der nahezu ein Jahrzehnt bekämpften Außenpolitik der CDU-geführten Regierung proklamierte, löste bei der SED eine unmittelbare scharfe Reaktion aus. In ihr sah die SED einen neuerlichen „Verrat an der deutschen Nation von ungleich größerem Ausmaß und weit tragenderen Folgen“ als der „Verrat" von 1914 und 1933 sowie ein . Angebot der aktiven Mithilfe bei der Schaffung der Voraussetzungen für den Krieg, für den Atomkrieg der deutschen und USA-Imperialisten und Militaristen“ Auf die für das Selbstverständnis der SPD weit gravierendere Verabschiedung des Godesberger Programms im Jahr zuvor hatte die SED dagegen weit verhaltener reagiert. Zwar attestierte sie der SPD damals, daß sie mit diesem „Kapitulationsprogramm“ einen verhängnisvollen Weg be-schreite, doch veränderte sich damit die grundsätzliche Einschätzung der SPD kaum
Offenkundig fühlte sich die SED von der Neuorientierung der sozialdemokratischen Außen-und Deutschlandpolitik ungleich härter getroffen als von der vor allem für die bundesdeutsche Innenpolitik bedeutsamen Aufgabe der antikapitalistischen Perspektive im Godesberger Programm. Dies kann deshalb nicht verwundern, als sie mit dem deutschlandpolitischen Kurswechsel der SPD nicht nur endgültig den einzig verbliebenen Adressaten für gemeinsame Anstrengungen im Kampf um die von ihr propagierte nationale Einheit verlor. Er stellte auch die Legitimation des ostdeutschen Wiedervereinigungspostulates in Frage, das sich auf den Anspruch stützte, die nationalen Interessen der gesamtdeutschen Arbeiterklasse vertreten zu wollen, was nunmehr — anders als in den Jahren zuvor — auf westdeutscher Seite keine Entsprechung mehr finden konnte. Auch hier zeigt sich mithin, daß es sehr eigennützige Interessen sind, die die SED zu einer derart scharfen Replik auf Herbert Wehners Erklärung im Bundestag veranlassen.
Ein Beispiel: Die Kritik des „Sozialdemokratismus"
Der Vorwurf des „Sozialdemokratismus" ist neben dem Verweis auf den sozialdemokratischen „Klassenverrat" eines der wichtigsten Instrumente, mit denen die SED-Führung nach dem Zweiten Weltkrieg die Transformation der SED sowie die Disziplinierung der Parteimitglieder und der Bevölkerung in der DDR vorantrieb. Dabei unterlag der Begriff zahlreichen inhaltlichen Modifikationen, die auf dem Hintergrund wechselnder Erfordernisse exemplarisch den für die SED charakteristischen instrumenteilen Gebrauch der Kritik an der Sozialdemokratie verdeutlichen. Zur Illustration auch der bisher entwickelten Thesen soll daher auf seine Handhabung in den vergangenen 35 Jahren näher eingegangen werden.
Der Begriff Sozialdemokratismus fand erstmals um die Jahreswende 1948/49 Eingang in den Wortschatz der SED-Führung. Wie geraume Zeit später im Parteiorgan „Einheit" kritisch vermerkt wird, stützte sie sich dabei augenscheinlich auf den Stalinschen Sprachgebrauch aus den späten 20er Jahren: „Die Oktober-Revolution . bedeutet...den Sieg des Marxismus über den Reformismus, den Sieg des Leninismus über den Sozialdemokratismus, den Sieg der III. Internationale über die II. Internationale'. Vergleicht man dies mit der richtigen These Stalins, daß der Leninismus der Marxismus der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution ist, so muß man den Sozialdemokratismus für den Reformismus oder eben schlechthin den Opportunismus in der Epoche des Imperialismus halten.“
Mit dem Sozialdemokratismus identifizierte die Führung der SED nun, wenige Jahre nach ihrer Gründung, jenes mit der Vereinigung von SPD und KPD in die neue Partei eingeströmte Gedankengut, das den stalinistischen Vorstellungen von einer marxistisch-leninistischen Avantgarde der Arbeiterklasse entgegenstand und jetzt im Prozeß der Transformation der SED zu einer „Partei neuen Typus“ liquidiert wurde. Dabei sind bereits in dieser Phase unterschiedliche Schwerpunkte festzustellen. Zu Beginn der Transformationsperiode zwischen der 1. Parteikonferenz Anfang 1949 und dem III. Parteitag Mitte 1950 wird der Begrif! stärker personalisierend und in der Tradition vorhergehender Attacken in erster Linie auf die „Schumacher-Agenten" innerhalb der SED bezogen In systematischer Verbindung mit der SPD gelten als Sozialdemokratismus die „Agenturen" des Imperialismus in der Arbeiterbewegung und in der SED Offenkundig richten sich die Angriffe in diesen Monaten vor allem gegen prominente Einheitsgegner sowie Gegner des neuen repressiven Kurses vornehmlich aus der alten Sozialdemokratie; auf diese Weise sollen potentielle Einflüsse aus dem Westen eliminiert werden.
Im Übergang zum III. Parteitag, der eine Säuberung der SED beschließt, wird der Sozialde-mokratismus dagegen allein noch als ein originäres Phänomen der SED betrachtet, konsequent auch gegen ehemalige Kommunisten gewendet und von der Politik der westdeutschen SPD abgelöst. Nunmehr ist, da mit Gründung der SED dem „Sozialdemokratismus als dem Opportunismus und Reformismus die organisatorische Grundlage genommen" wurde, nicht mehr von . Agenturen“, sondern allein noch von seinen „Überresten" in der SED die Rede Sozialdemokratismus ist jetzt . Ausdruck der bürgerlichen Ideologie, die unter Mißbrauch alter sozialdemokratischer Ideen die Entwicklung des proletarischen Klassenbewußtseins hemmt" und sich gleichermaßen gegen alle antistalinistischen Strömungen in der Arbeiterbewegung von der Sozialdemokratie über Rechtsabweichungen und „Luxemburgismus" in der KPD bis hin zum Trotzkismus richtet
Nach Abschluß der mit Hilfe des Sozialdemokratismus-Vorwurfs durchgeführten Partei-säuberung, die bis Ende 1951 zum Ausschluß von 150 000 Mitgliedern führt, verliert der Begriffvorübergehend an Bedeutung. Die stalinistische Transformation des Herrschaftssystems war weitgehend abgeschlossen; zugleich bemühte sich die SED im Verlauf des Jahres 1952 gemeinsam mit der Sowjetunion auf dem Hintergrund des Notenwechsels zur Deutschlandfrage um eine Verständigung mit der SPD.
Erst nach der 2. Parteikonferenz, die gegen Ende 1952 den „Aufbau des Sozialismus" in der DDR proklamiert, gewinnt der Begriff Sozialdemokrätismus abermals, jedoch inhaltlich grundlegend neu gefaßt, an Bedeutung. Jetzt dient er nicht mehr zur Denunziation abwei-chenden Gedankengutes innerhalb der SED, wie es bis zur Errichtung des stalinistischen Herrschaftssystems geboten schien, vielmehr wird er als Kampfinstrument zur Durchsetzung des forcierten Entwicklungstempos gehandhabt und daher, seiner historisch konkreten Bindung an die Sozialdemokratie und die SED entkleidet, als eine dem „Aufbau des Sozialismus" hinderliche negative Grundhaltung vor allem im Partei-und Staatsapparat angesehen. Danach werden vor allem „Passivität", „Initia-
tivlosigkeit und Gleichgültigkeit" und eine „unkämpferische Haltung" in Parteiorganisation, Gewerkschaft und Verwaltung mit dem Etikett des Sozialdemokratismus belegt, der — wie Rudolf Herrnstadt, seinerzeit Kandidat des Politbüros, namens der Parteiführung formuliert — keineswegs nur mehr in Gestaltvon „Überresten“ innerhalb der SED fortexistiere, sondern ein „regelrechtes Erbübel der Deutschen" sei, das sich in immer „neuen, den veränderten Verhältnissen angepaßten Formen"
zeige. Eine typische Form des Sozialdemokratismus veranschaulicht Herrnstadt mit dem “ folgenden Beispiel: „Wir haben, wohin wir blicken, Erscheinungen desselben Charakters.
An Stellen, wo Eisenbahnwaggons nicht nötig sind, stauen sie sich, wo wir sie brauchen, fehlen sie. Eine Stelle sucht die Schuld bei der anderen, und alle gemeinsam resignieren."
Es hat den Anschein, als beabsichtigte Herrn-stadt gemeinsam mit der Mehrheit der damaligen Parteiführung den „Aufbau des Sozialismus" in der DDR mit einer Art neuen revolutionären Welle zu bewerkstelligen und dabei zugleich die verbürokratisierten Strukturen in der DDR mit revolutionärem Elan zu beleben, wenn nicht sogar neu zu fundieren — eine Position, die zwar der neuen, selbstgestellten Aufgabe der SED entsprechen mochte, zugleich aber eine unübersehbare Abkehr von bisherigen Grundauffassungen der Partei beinhaltete — dies um so mehr, als Herrnstadt auch konstatierte, daß sich heute niemand mehr auf die „angebliche Rückständigkeit unserer Werktätigen herausreden" könne — ein für das Selbstverständnis der SED als marxi-stisch-leninistischer Avantgarde zentrales Theorem
Eine solche Auffassung mußte den Argwohn konservativer, am überlieferten stalinistischen Herrschaftsverständnis orientierter Kader wecken, und tatsächlich bleibt das neue Verständnis des Sozialdemokratismus nicht unwidersprochen. So wendet sich beispielsweise die Leiterin der Parteihochschule, Hanna Wolf, explizit gegen die These, der Sozialdemokratismus sei „ein Erbübel der Deutschen", und beharrt darauf, daß er als „organische (besonders gefährliche) Begleiterscheinung des Imperialismus" konkret in Gestalt der opportunistischen Parteien und ihrer Agenturen zu bekämpfen sei Ähnlich bemüht sich auch Walter Ulbricht, Partei und Verwaltung von den Anfechtungen Herrn-stadts zu entlasten. Dort auftretende Versäumnisse lastet er der „amerikanischen Agentur" und imaginären Feinden an während Sozialdemokratismus in seinen Augen an ganz anderer Stelle sichtbar wird: „Der Sozialdemokratismus findet in der SED nicht nur seinen Ausdruck im ungenügenden Kampf gegen die Ideologie der Sozialdemokratie, sondern auch in der Unterschätzung der Rolle unserer Staatsmacht, in dem Glauben an eine Spontaneität der Entwicklung, in der Mißachtung der ökonomischen Gesetze, die in der Deutschen Demokratischen Republik wirksam sind, in der Unterschätzung der führenden Rolle der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in dem Unverständnis in bezug auf das Bündnis der Arbeiterklasse mit den werktätigen Bauern und in der Unterschätzung des Studiums der Lehren von Lenin und Stalin."
Bereits mit dieser Definition werden Herrn-stadt und seine Auffassung implizit selbst des Sozialdemokratismus bezichtigt. Nach den Ereignissen des 17. Juni 1953, die eine weitere wichtige Zäsur markieren, fällt er diesem Verdikt dann tatsächlich zum Opfer und wird aus der Parteiführung und wenig später auch aus der Partei ausgeschlossen.
Während Ulbricht und seine Auffassung vom Führungsanspruch der Partei über die innerparteilichen Gegner, obsiegten, wird der Begriff Sozialdemokratismus im Interesse einer repressiven Stabilisierung der inneren Lage abermals neu gefaßt. Wiederum enger mit der sozialdemokratischen Programmatik und der SPD verknüpft gilt als Sozialdemokratismus nunmehr die sozialdemokratische Ideologie, die von außen in die DDR hineingetragen werde und dort als wichtigstes Instrument der „faschistischen Provokation" die Ereignisse des 17. Juni ausgelöst haben soll. Zugleich erscheint der Sozialdemokratismus aber auch als Relikt in „rückständigen" Schichten der Arbeiterklasse, denn im Angesicht der breiten Streikbewegung auch in traditionellen Hochburgen der deutschen Arbeiterbewegung sah sich die SED-Führung offenkundig gezwungen, eine besondere Empfänglichkeit für diese Ideologie in der Arbeiterschaft der DDR zu konstruieren. Dabei werden nicht nur die „schwankenden und irregeleiteten früheren Sozialdemokraten" angesprochen Vielmehr erhalten sich nach Auffassung der SED im Übergang zum Sozialismus in der Arbeiterklasse „gewisse reaktionäre Züge", die sich „die Agenten des Ostbüros der SPD zunutze" machen konnten
Das vorhergehende Verständnis von Sozialdemokratismus, wonach dieser als „regelrechtes Erbübel der Deutschen" galt, wird jetzt offiziell verworfen, da es sich als „überaus schädlich'erwiesen habe: „In der Tat, wenn der Sozialdemokratismus eine in der deutschen Geschichte besonders tief verwurzelte moralisch-politische Krankheit ist, wenn er nicht seine konkreten ökonomischen und politischen Ursachen im Imperialismus hat, dann kann man ihn auf allen Gebieten suchen, dann -kann man alles und jedes als Sozialdemokratismus ausgeben.“ Doch schon wenige Monate nach Konsolidierung der Macht ändern sich für die Parteiführung abermals die Prioritäten. Nun wird der Sozialdemokratismus-Vorwurf im Vorfeld des IV. Parteitages ein weiteres Mal als Instrument zur Säuberung der Partei auf allen Ebenen eingesetzt, gilt es erneut, seine „Überreste"
aus der SED zu tilgen. Ihnen wurde — so eine kritische Anmerkung — in den Monaten davor „zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet“, habe es doch Tendenzen gegeben, „die Auseinandersetzung mit den Theorien des Sozialde-
mokratismus als Selbstzweck aufzufassen
Allem Anschein nach wollte sich die SED jedoch diesmal nicht völlig von ihrem vorhergehenden Sprachgebrauch abwenden, denn es werden — mit Ausnahme von Herrnstadts Verständnis — alle vorherigen Definitionen integriert, so daß der Sozialdemokratismus nunmehr in folgende Richtungen bekämpft werden sollte: „Erstens, gegen den offiziellen Sozialdemokratismus, d. h. gegen die verräterische Politik der rechten SPD-und Gewerkschaftsführer in Westdeutschland, als notwendiger Bestandteil für die Gewinnung der sozi--aldemokratischen Arbeiter und Funktionäre sowie der Gewerkschafter für die Aktionseinheit. Zweitens, gegen die feindliche Wühlarbeit der rechten sozialdemokratischen Führer, die sie mit Hilfe ihres Ostbüros und seiner Agenten gegen die Deutsche Demokratische Republik und unsere Partei führen. Drittens, gegen die rückständigen Auffassungen bei Teilen der Werktätigen in unserer Republik, die durch die Hetze von außen ständig genährt und von neuem hineingetragen werden. Viertens, unsere Partei kann diesen Kampf nur erfolgreich führen, wenn sie alle Überreste des Sozialdemokratismus in ihren Reihen aus-merzt."
Dieser umfassendste Definitionsversuch bil-det zugleich den vorläufigen Abschluß in dem Versuch der SED, innere Probleme mit Hilfe des Sozialdemokratismus-Vorwurfs zu lösen. Nach dem IV. Parteitag Mitte 1954 verliert sich der Begriff allmählich im Sprachgebrauch der SED und wird erst Ende der 60er Jahre anläßlich der Liquidation des „Prager Frühlings“ erneut breit aufgegriffen. Auf dem Hintergrund dieser Ereignisse werden mit ihm, ähnlich wir kurz darauf zu Beginn des Entspannungsprozesses zwischen beiden deutschen Staaten, Reformerwartungen bekämpft, wie sie augenscheinlich im Zuge der Prager Entwicklungen und später dann im Zuge des Abbaus der Konfrontation zwischen Ost und West auch in der DDR geweckt wurden.
In diesem Zusammenhang wird der Sozialdemokratismus ein weiteres und vorläufig letztes Mal neu definiert. Er gilt jetzt, sowohl 1968/69 als auch 1970/71, allein noch als „gesellschaftspolitisches Modell" der Sozialdemokratie das auf dem Wege der ideologischen Diversion die sozialistischen Länder aufweichen und deren „Sozialdemokratisierung" herbeiführen soll In einer damals viel beachteten programmatischen Erklärung macht Erich Honecker kurz vor der Ablösung Walter Ulbrichts deutlich, warum es gelte, den Sozialdemokratismus bedingungslos zu bekämpfen: „Er ist in seinem Wesen die Verneinung der Notwendigkeit einer revolutionären Partei der Arbeiterklasse, einer Partei neuen Typus, unter deren Führung die Arbeiterklasse den Imperialismus überwindet, selbst die politische Macht ergreift und den Weg zum Sozialismus beschreitet. Der Sozialdemokratismus bezweckt das Gegenteil. Er bedeutet Entwaffnung der Arbeiterklasse, Spaltung ihrer Reihen, Auslieferung der Arbeiterklasse an die bürgerliche Ideologie. Er verfolgt das Ziel, die Arbeiterklasse in das imperialistische System zu integrieren, den Kapitalismus vor Erschütterungen zu bewahren und auf dem Feld der Außenpolitik die Machtausdehnung des Imperialismus zu betreiben.“
Hier wird in konzentrierter Form sichtbar, mit welcher Absicht die SED-Führung bei allen inhaltlichen Modifikationen den Begriff Sozialdemokratismus — sieht man einmal von der kurzen Episode zu Beginn des Jahres 1953 ab — regelmäßig in die innenpolitische Aus-einandersetzung der DDR einführte: Zur Abwehr vermeintlicher und tatsächlicher Angriffe auf die konstitutiven Merkmale des marxistisch-leninistischen Herrschaftsverständ-nisses, zur Abwehr auch potentieller Reform-erwartungen und letztlich zur repressiven Stabilisierung der Herrschaft des Parteiapparates im Zeichen innerer Krisen.
Unterschiedliche Bewertungen der Sozialdemokratie
Der Vorwurf des Sozialdemokratismus fand als Disziplinierungsinstrument vor allem auch innerhalb der SED Anwendung. Wurden dort abweichende Auffassungen oder Reformer-wartungen mit einem solchen Etikett belegt, so konnten sie — dergestalt diskreditiert — als Abweichungen vom wohlverstandenen Pfad des Marxismus-Leninismus ausgeschaltet werden. Sollten Reformforderungen an Gewicht gewinnen, mußten deren politische Träger daher bestrebt sein, solche Etikettierungen im innerparteilichen Diskussionsprozeß auszuschließen.
Tatsächlich hat es in der Geschichte der SED an derartigen Versuchen nicht gemangelt. Einige von ihnen wurden sogar öffentlich erörtert. So wendet sich beispielsweise im Anschluß an den XX. Parteitag der KPdSU, der auch in der DDR Hoffnungen auf eine grundlegende Reform des politischen Systems weckte, ein Beitrag im Parteiorgan „Einheit" gegen den Begriff Sozialdemokratismus, weil dieser „die positiven Seiten der sozialdemokratischen Traditionen negiere", und fordert, ihn nicht „stillschweigend, ohne Begründung" fallenzulassen, sondern sich explizit von seinem Gebrauch zu distanzieren Gleiches gilt für den „Revisionismus“ und „Opportunismus". Auch diese Bezeichnungen sollten offenbar als „Methode der unmotivierten und einseitigen Etikettierungen", mit denen „. unverbesserliche Dogmatiker'die mißliebigen Anschauungen Andersdenkender belegen“ würden, „ein für allemal“ aufgegeben werden — eine Forderung, der Prof. Dr. Alfred Kosing 1970 entgegenhält, daß beide Begriffe eine „reale Tatsache" bezeichneten und daher unverzichtbar seien
Sichtbar werden solche Differenzen auch in einer unterschiedlichen Bewertung der Sozialdemokratie selbst. Namentlich ihre Geschichte — Kontinuität des „Klassenverrats" seit Bernstein oder Bruch und qualitativ neue Rolle der heutigen SPD —, aber auch ihre Einbindung in das imperialistische System, der antikapitalistische Gehalt ihrer Pro-grammatik und Politik und Fragen der Aktionseinheit sind hier von Bedeutung und Anlaß für kontroverse Urteile, die sich durch zahlreiche Beispiele belegen lassen
Es hat somit den Anschein, als sei die Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie zugleich auch ein wichtiges Medium zur Diskussion kontroverser innenpolitischer Konzepte innerhalb der SED, wobei sich offenbar eine repressiv-administrative, an der Stabilität der Institutionen orientierte und eine eher inte-grative, auf eine schöpferische, reformfreudige Anwendung des Marxismus-Leninismus zielende Richtung gegenüberstehen
Zur Funktion der Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie
Die vorgestellten Differenzen unterstreichen — wie bereits die zum Teil abrupten Brüche im historischen Verlauf—, daß die Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie und der Gebrauch des Begriffes Sozialdemokratismus entgegen den eigenen wissenschaftlichen Ansprüchen einer ausgesprochen instrumen-talistischen Absicht folgen. Damit soll nicht gesagt werden, daß sie allein taktisch bedingt wären. Vielmehr ist die Kritik sozialdemokratischer Ideologie und Politik augenscheinlich ein grundlegendes Erfordernis der Herrschaftslegitimation in der DDR; sie dient der SED unmittelbar als Instrument zur Legitimation eigener innen-und außenpolitischer Absichten. Insoweit auch ist sie überwiegend defensiv auf die Integrität der eigenen, vorgeblich sozialistischen Staatlichkeit bezogen und weniger auf die offensive programmatische Zielsetzung einer Befreiung der Arbeiterklasse in den kapitalistischen Staaten. Dies gilt nicht nur für die defensive Form des Umgangs mit der Sozialdemokratie, bei der die SED auf ein breites Aktionsbündnis abzielt und auf diese Weise unter dem Stichwort „Sicherung des Friedens" ihren außenpolitischen Zielen Geltung zu verschaffen sucht Vor allem auch gilt es für die offensiven Varianten mit ihrer besonderen Akzentuierung des revolutionären Subjekts, der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen . Avantgarde" sowie der gleichzeitigen scharfen Abgrenzung von anderen, reformistischen Wegen zum Sozialismus, denn sie gehen zumeist mit einer Zuspitzung innerer Probleme einher, der regelmäßig eine defensive Abschließung der DDR folgte.
Hans-Joachim Spanger, Dr. phil., geb. 1953; Studium der Politikwissenschaft, Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Rechtswissenschaften in Mainz und Frankfurt; Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hessischen Stiftung Friedens-und Könfliktforschung (HSFK) in Frankfurt.
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