L Einleitung
Die Weltlage ist unsicherer geworden. Mit diesen fünf lapidaren Worten kann man die allgemein im Westen sich ausbreitende politische Stimmung kennzeichnen. Diese Stimmung entstand nicht unversehens. Nach dem Optimismus der späten sechziger Jahre können die Jahre danach, vom „ölschock" bis zur sowjetischen Invasion in Afghanistan, als ein Jahrzehnt ständiger Verschlechterung des Klimas der internationalen Beziehungen interpretiert werden.
Aber nicht nur die Weltlage ist unsicherer-geworden; auch die vorhandenen Perzeptionsmuster und Interpretationsrahmen zur Erklärung der Weltlage scheinen nicht mehr richtig zu fassen. Das betrifft die Akteure in den Regierungen und Administrationen in ähnlicher Weise wie die professionellen Beobachter der internationalen Politik, die Politikwissenschaftler. Weil aber die Unsicherheit in diesen beiden Gruppen für die Öffentlichkeit bemerkbar geworden ist, reagieren viele Menschen mit Furcht, manche mit Zynismus auf die neuesten Entwicklungen der internationalen Politik.
Aus der Perspektive westlicher Gesellschaften erscheinen nun nicht nur die Perzeptionsmuster und Interpretationsrahmen für die westliche Politik gegenüber der Sowjetunion und ihren Verbündeten sowie gegenüber den Entwicklungsländern fragwürdig geworden zu sein. Für den ersten Fall drückt sich das etwa in der Morschheit des seit 1967 (dem „Harmel" -
Bericht) geltenden westlichen Entspannungs-Konzepts aus. Viel eigentümlicher, aber auf jeden Fall überraschend, ist der Tatbestand, daß sich auch über das westliche Binnen-Verhältnis, in westdeutscher Perspektive also hauptsächlich im Verhältnis zwischen den USA und Westeuropa, eine neuartige Unsicherheit ausgebreitet hat. Die widersprüchliche Resonanz auf die ersten hundert Tage der Präsidentschaft Reagans diesseits des Atlantiks ist ein markantes Symptom dieser Unsicherheit.
Diese Resonanz, so steht zu befürchten, ist nur zu einem Teil den Selbstverständnis-Problemen der neuen Administration in Washington und den von dort aus in der Tat zuweilen nicht leicht zu gewichtenden unterschiedlichen Stellungnahmen zum gleichen außenpolitischen Problem anzulasten. Irritieren muß in erster Linie jener westeuropäische „Alarmismus", der gleich von mehreren Seiten praktiziert wird. Gemeint ist mit diesem Wort jenes, die . neue'amerikanische Weltpolitik ausdrücklich einbeziehende, ziemlich atemlose und manchmal schon ins Hysterische zielende Gerede von den neuen Gefahren des Westens
In der ersten Version des Alarmismus warnen die bei solchen Gelegenheiten gerne mit einer Metapher aus der Ornithologie bezeichneten „Falken" vor erneuten Expansionsschüben des sowjetischen Imperialismus und vor einer Selbstfinnlandisierung Westeuropas. In der zweiten Version des Alarmismus warnen die dann entsprechend so genannten „Tauben" vor einem in Aufrüstungsbeschlüsse umgesetzten Vormachtstreben der USA, das den Europäern ein „Euroshima mon futur" bescheren werde In einer ganz verquer beide Perspektiven ineinander schiebenden Weise warnen schließlich wieder andere prophylaktisch vor einem tiefsitzenden und die Vernichtungsängste der Westdeutschen ausnützenden Antiamerikanismus in unserer Republik, den es zu bekämpfen gälte
Andersherum betrachtet: Natürlich ist eine Ursache der hierzulande anzutreffenden Unsicherheit über den außenpolitischen Kurs der USA in den Unsicherheiten der neuen Administration in Washington zu suchen. Schwerer wiegend, so scheint es, ist eine andere: Allgemein verbreitet sich in der politischen Öffentlichkeit des Westens der Eindruck, daß sich seit Beginn der achtziger Jahre ein tiefgreifender weltpolitischer Wandel vollzieht (für den als ein folgenschweres Symptom etwa die drastische Verschlechterung in den Beziehungen zwischen den USA und der UdSSR zu erkennen ist), daß indes die Richtung dieses Wandels schwer auszumachen ist.
Diese weltpolitische Optik wird reflektiert (leider aber nicht weiter erhellt) in der mit beträchtlichem politischen Aplomb verbreiteten internationalen Studie der Direktoren von vier renommierten Instituten zur Erforschung der internationalen Politik Grob gesprochen, sehen die Direktoren und ihre zahlreichen Mitarbeiter die Sicherheit des Westens gegenwärtig im wesentlichen durch drei Faktoren gefährdet:
1. durch die gewachsene und weiter wachsende militärische Stärke der Sowjetunion, die sie zunehmend zur direkten und indirekten Intervention außerhalb ihres eigentlichen Bündnisbereichs politisch nutzbar macht;
2. durch die Folgen der zunehmenden Destabilisierung der Dritten Welt;
3. durch die weltweite Wirtschaftskrise, die innere und äußere Spannungen der westlichen I ndustriegesellschaften schürt.
Für unser Thema ist diese Studie schon deshalb von besonderem Interesse, weil sie mit wenigen Ausnahmen die Perzeption der Außenpolitiker unter Reagans Mitarbeitern übernimmt Die Autoren der Studie übersetzen das (zwar zu enge, aber ansonsten wohl durchaus realitätsgerechte) Krisenszenario vornehmlich in die geopolitische Dimension der militärischen Sicherheit und blenden damit, wie G. Ziebura als einer der ersten und u. E. zu Recht kritisch eingewandt hat, das sozio-ökonomische Substrat der globalen Krise weitgehend aus. Die Probleme der Dritten Welt auf das Ölproblem der Industrieländer zu reduzieren und sie vornehmlich auf ihre Anfälligkeit gegenüber einem sowjetischen Zugriff zu prüfen, kann schwerlich als ein analytischer Zu-gewinn bei der dringend notwendigen Erforschung der Bedingungen internationaler Politik in den achtziger Jahren betrachtet werden
Außerdem versucht die Gemeinschaftsstudie der vier Institutsdirektoren als Antwort auf die schon während der letzten Phase der Carter-Administration sich abzeichnende Veränderung in der amerikanischen Weltpolitik eine Art politik-taktisches Überholmanöver. Ziel jener Veränderung waren ja die Rekonstruktion der amerikanischen Führungskraft, die Intensivierung der westeuropäischen Verteidigungsbemühungen, die Wiedererlangung des militärischen Gleichgewichts (strategisch, konventionell, regional) sowie die Eindämmung des sowjetischen Einflusses. In der Studie wird vorgeschlagen, den westeuropäischen Einfluß auf die derart geänderte amerikanische Politik durch neue, institutionalisierte Konsultationsmechanismen abzusichern, um dann ganz vorsichtig die amerikanische Weltpolitik mit westeuropäischen Interessen anzureichern. Ein besonders offenkundiges Beispiel für die These, daß die Unsicherheit über die amerikanische Weltpolitik primär eine Folge der unsicheren Einschätzung der westeuropäischen Situation ist und weniger eine Folge der Unklarheiten des amerikanischen Konzepts selbst, gibt Rudolf Augsteins vielbeachtete Politik-Empfehlung am Ende einer diesbezüglichen Lageanalyse ab: „So bleibt uns (den Westeuropäern, d. Verf.) die sonderbare Aufgabe, uns einerseits die Protektion der Schutzmacht USA zu verdienen. Andererseits müssen wir, wo immer wir dies tun können, ohne dabei ertappt zu werden, Sand ins Getriebe streuen. Wir müssen so wenig rüsten wie möglich, wir müssen dem Bestreben, die Russen totzurüsten, widerstehen. Der Friede dieser Staaten-welt, und hinter ihr wird es für uns keine mehr geben, verlangt das. Wehe den Siegern!"
Hier drängt sich nun endgültig die Vermutung auf, daß ein beachtlicher Teil der Kommentare (gerade auch der von Experten) zu den ersten Monaten der Reagan-Präsidentschaft bloßer Zweckoptimismus war, motiviert von dem Bemühen, den Prozeß der Formulierung amerikanischer Forderungen an Westeuropa wenigstens in seiner Endphase noch mit thematisieren zu können. Ob das erfolgreich sein wird, wissen wir nicht. Aber wir sind sicher, daß derartige Kommentare, auch in Form von Studien hochberühmter Politikwissenschaftler und -berater, eine klärende Analyse keinesfalls ersetzen können. Benötigt wird eine Untersuchung der weltpolitischen Konzeption der Reagan-Administration und ihres weltanschaulichen Fundaments. Erst dann kann man zu einer sichereren Bewertung dieser Konzeption gelangen, die es erlaubt, den Horizont der für die Sicherheit Westeuropas unverzichtbaren Positionen abzustecken. Solche im einzelnen erläuterbaren Positionen werden dann gewiß konstruktiver in den allianzpolitischen Dialog eingebracht werden können als das Augsteinsche „Sand-ins-Getriebe-Streuen".
II. Das außenpolitische Konzept der Reagan-Administration: Selbstdarstellung
1. Zur weltpolitischen Lagebeurteilung
Unumstrittener Brennpunkt der weltpolitischen Lagebeurteilung des sich in einem offensiven Sinne als konservativ verstehenden Teams von Reagan ist die Stärke Amerikas. Ihren Grund hat sie in dieser Sichtweite in der prinzipiellen Überlegenheit der amerikanischen moralischen und politischen Grundwerte und Ideale, im technologischen Standard, der Größe und Beschaffenheit der eigenen Wirtschaft sowie in der Stärke der eigenen Streitkräfte. Unter Außenpolitik verstehen Reagan und seine Mitarbeiter deshalb einen so legitimierten Globalismus, der diese Grundwerte insbesondere gegenüber dem moralischen und politischen Gegenpol zu den USA, der Sowjetunion und dem Kommunismus, zu verteidigen hat Weil in dieser Sichtweise amerikanische Superiorität moralische Pflicht ist, gehört in der Weitsicht Ronald Reagans und seiner Mitarbeiter an oberste Stelle in ihrer Lagebeurteilung die Feststellung, daß sich die Stellüng der USA in der Welt verschlechtert hat. Die einstige amerikanische Überlegenheit ist insbesondere als Folge der Auswirkungen der Dötente-Politik (Entspannung) abgebröckelt
Zwar wird die Verschiebung der globalen Machtstruktur in der Staatenwelt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs durchaus gesehen anders jedoch als in früheren Diagnosen (z. B. auch von Henry Kissinger), in denen die Bipolarität des Kalten Krieges von pentagonalen oder doppelt triangulären Bezie-hungs-und Machtmustern abgelöst erschien, gilt jetzt wieder der Antagonismus der USA und der UdSSR als die entscheidende weltpolitische Macht-und Konfliktstruktur.
Diese dominante Grundstruktur hat sich vornehmlich in zwei Bereichen zuungunsten der USA entwickelt:
Wie einer der einflußreichsten Berater Reagans für seine Politik gegenüber der Sowjetunion, Richard Pipes hervorhebt, gibt es einen grundsätzlichen Unterschied in den Nuklearstrategien der USA und der UdSSR: Für erstere habe nach den traumatischen Erfahrungen von Hiroshima und Nagasaki der Krieg mit Nuklearwaffen nie mehr ernsthaft eine rationale politische Option (im Sinne der Clausewitzschen Definition des Krieges) sein können. Demgegenüber würde die sowjetische Nuklearstrategie betonen, daß unangesehen aller Opfer auch ein Nuklearkrieg siegreich beendet werden könnte — von dem Land, das sich besser darauf vorbereitet habe. Allein dieser Unterschied in den Nuklearstrategien zwinge die USA, ihre Anstrengungen auf den Gebieten der strategischen Rüstung und der strategischen Verteidigung zu verstärken
Die Auswirkungen der rüstungstechnologischen und -politischen Bemühungen der UdSSR auf die globale Interdependenz hat der Ständige Vertreter der USA im Nordatlantik-rat kürzlich wie folgt beschrieben: „Der seit Jahren zu beobachtende stetige und heftige Drang der Sowjetunion — eines ideologisch gescheiterten, wirtschaftlich sterilen, aber militärisch bis an den Zähne bewaffneten Landes —, das Gleichgewicht umzustoßen, hat viele Formen angenommen. Die Aggressionen der Sowjets in Afghanistan, ihre Einflußnahme auf Gebiete wie Angola, Kambodscha und nunmehr El Salvador in Form von Aggressionen durch Stellvertreter und der rasche Aufbau von Waffen und Streitkräften, die weit über die legitimen Verteidigungserfordernisse hinausgehen, sind manifeste Verstöße gegen das, was man das Prinzip der Ausgewogenheit nennen könnte ... wir müssen uns der unerfreulichen Tatsache stellen, daß in der Welt ein erheblicher strategischer Wandel eingetreten ist. Die Rote Armee hat sich von einem vornehmlich kontinentalen Landheer zu einer globalen Streitmacht unter Einschluß von See-und Luftstreitkräften gewandelt. Ihr steht zudem ein weltweiter Subversionsapparat zur Seite, der die imperialistische Außenpolitik der Sowjetunion ergänzt." Wenn in der neuen Administration, die ganz offensichtlich die drastische Sprache bevorzugt, vom „internationalen Terrorismus“ die Rede ist, ist übrigens meist dieser zuletzt angesprochene Tatbestand gemeint.
Aus dieser Lagebeurteilung ergibt sich, daß umfangreiche politisch-militärische Probleme mit Vorliebe unter militärischen Aspekten analysiert werden. Das gilt z. B. für die Situation im Nahen und Mittleren Osten, die der Leiter des Büros für politisch-militärische Angelegenheiten im State Department, Richard Burt, folgendermaßen betrachtet: „Wir sehen den Mittleren Osten einschließlich des Persischen Golfes als Teil einer weiter gespannten politisch-strategischen Szenerie an, wobei diese Region durch die Türkei, Pakistan und das Horn von Afrika begrenzt wird, und wir betrachten sie als eine strategische Einheit...
Es ist daher nötig, die arabisch-israelische Frage und andere regionale Streitfragen in einem strategischen Gesamtrahmen zu behandeln, der'die umfassende Bedrohung durch den sowjetischen Expansionismus erkennt und darauf reagiert." In einem solchen Panorama kommt dann folgerichtig den regionalpolitisch konzipierten ägyptisch-israelischen Friedensgesprächen keine auffällige Priorität mehr zu Gleichermaßen erweitert sich in diesem Gesamtzusammenhang aber auch die Bedeutung der Atlantischen Allianz, so daß die „ganze Welt... in der Tat das Anliegen der NATO" ist
Hinter solchen Worten verbirgt sich die Vorstellung, daß eine grundsätzliche Übereinstimmung zwischen den USA und ihren westeuropäischen Verbündeten über weltpolitische Grundprobleme besteht, daß die westeuropäischen Staaten den gleichen weltpolitischen Gefahren ausgesetzt sind wie die USA, allerdings in noch stärkerem Maße (infolge ihrer geographischen Lage), und daß schließlich die Westeuropäer den sowjetischen Expansionismus in den siebziger Jahren nicht in angemessener Weise wahrgenommen haben. Eine „verzerrte Interpretation" der Ost-und Entspannungspolitik habe in Westeuropa eine „deutlich pazifistische Gesinnung" entstehen lassen Vehikel der so definierten westeuropäischen Malaise sei die in Westeuropa verbreitete Furcht vor der militärischen Überlegenheit der UdSSR; sie würde noch verstärkt durch die wachsende Abhängigkeit dieser Länder vom Ost-West-Handel (hier insbesondere vom sowjetischen Erdgas). Dies und eine zunehmende Konzentration auf interne Probleme begründeten die Tendenz zu einer Art Selbstfinnlandisierung Anders als in Westeuropa drohen in vielen lateinamerikanischen Staaten von außen gezielt gesteuerte Subversionen, die u. U. ein direktes militärisches Eingreifen erforderlich machen werden.
Auch wenn die Reagan-Administration die UdSSR als weltpolitischen Feind Nummer eins ansieht, so wird doch nicht übersehen, daß auch die VR China sich als ein kommunistisches Land begreift. Zwar wird begrüßt, daß die VR China einen beachtlichen Teil des sowjetischen Militärpotentials bindet. Indes wird das Verhältnis zur VR China anders als unter der Präsidentschaft Carters nicht mehr als eines betrachtet, das über ein bestimmtes Maß hinaus enger werden kann. Demgegen-ber erscheinen die Beziehungen zu den ASEAN-Staaten als von zentralem strategischen Wert > Zusammenfassend läßt sich die weltpolitische Lagebeurteilung der Reagan-Administration in den Worten Alexander Haigs wie folgt kennzeichnen: „Die heutige Welt stellt die Vereinigten Staaten von Amerika vor drei wesentliche Entwicklungen. Erstens, die Macht ist weit unter vielen Ländern verteilt, und einige von ihnen sind bereit, Gewalt anzuwenden, um ihre Ziele zu erreichen. Zweitens, wir und unsere Verbündeten sind heute gegenüber internationaler Unruhe und gewaltsa-, mem Umsturz verwundbar. Drittens, und das ist am gefährlichsten, der Zuwachs der militärischen Macht der Sowjets versetzt diese Leute in die Lage, eine imperiale Außenpolitik zu betreiben. Der letzte Trend ist am alarmierendsten. Das sowjetische Abenteurertum am Horn von Afrika, in Südasien, am Persischen Golf und in Südwestafrika scheint auf ein grundlegendes und gefährliches Ziel hinaus-zulaufen: In Ländern zuzuschlagen, die an oder nahe den lebenswichtigen Versorgungslinien des Westens liegen." 2. Zum außenpolitischen Ziel-Mittel-Komplex Motiv und Ziel der amerikanischen Weltpolitik ist die Erhaltung oder Wiederherstellung der Stärke Amerikas. Dazu dient eine angesichts der diagnostizierten Weltlage auf drei Fundamenten aufbauende globale Machtpolitik. Diese Fundamente sind:
— Eine wirkungsvolle, d. h. von institutionellen Handicaps möglichst befreite Außenpolitik (im Sinne von außenpolitischen Handlungsmöglichkeiten) des Präsidenten. Zu diesem Zweck wurden bereits einige legislative Initiativen eingebracht, die zur Folge haben sollen, „bestimmte strenge Einschränkungen der Fähigkeit des Präsidenten (zu) beseitigen", welche ihn bislang daran hindern, „eine wirkungsvolle und flexible Außenpolitik zu betreiben."
— Eine starke und wieder genesende Wirtschaft. Drastische Änderungen der US-Wirtschaftpolitik sind von der neuen Administration eingeleitet worden. Mit einschneidenden Budgetkürzungen im sozialpolitischen Bereich und Steuersenkungen zur Förderung der Privatinitiative solle eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik den erhofften Genesungsprozeß herbeiführen helfen.
— Eine Wiederherstellung des Sicherheitsspielraums als Konsequenz erheblich verstärkter militärischer Macht In erster Linie soll dieser Sicherheitsspielraum gegenüber der Sowjetunion in Anspruch genommen werden, wobei das amerikanische Interesse an „konstruktiven Rüstungskontrollgesprächen"
mit der Sowjetunion durchaus nicht abhanden gekommen ist. Indes bleiben solche Gespräche in ein linkage-Konzept eingebunden, das der geänderten Weltlage Rechnung tragen soll. In den Worten von Außenminister Haig: „Aber ich glaube, daß eine strenge Auflistung bei der Verbesserung der Ost-West-Beziehungen nicht das ist, worum es beim Konzept der linkage wirklich geht. Andererseits ist natürlich klar, daß das umfassende Ost-West-Verhältnis, daß ein Fortschritt in den verschiedenen Bereichen — einschließlich Rüstungskontrolle, Kredit, Technologietransfer — abhängig ist von dem allgemeinen Verhalten der Sowjetunion innerhalb der Staatenfamilie. Und ich würde sagen, daß es bei diesem Gesamt-verhalten Raum für erhebliche Verbesserun-gen gibt. Aber nicht etwa mit festen Ultimaten in diesem oder jenem Bereich..."
Auch wenn es voreilig sein dürfte, in diesem Konzept nichts als die Wiederbelebung früherer Eindämmungsmuster zu erkennen, von denen ihr Schöpfer, George F. Kennan, bekanntlich seit langem behauptet, sie wären schon damals mißverstanden worden führt eine forcierte Politik zur Wiederherstellung des als in den letzten Jahren verloren angesehenen militärischen Gleichgewichts zwischen Ost und West zwangsläufig in eine Konstellation, die ähnliche Aktions-Reaktions-Muster in der Ost-West-Politik zur Folge haben werden.
Etatmäßig liegt der Schwerpunkt der neuen amerikanischen Rüstung bei der Marine. Die Flotte soll überall dort präsent sein, wo die UdSSR Regionen und Länder bedroht, möglicherweise bedroht oder vielleicht bedrohen könnte. Ferner wurde das Programm zum Bau des strategischen Bombers B 1 reaktiviert, das landgestützte und bewegliche Raketensystem MX beschleunigt sowie die Absetzung des Mi-nuteman-II-Programms einer Revision unterzogen. Für den Bereich der NATO kommt die Dislozierung von Mittelstreckenraketen (LRTNF) und Marschflugkörpern hinzu. Die amerikanischen Intentionen " für die globale Rolle der NATO hat Richard Burt folgendermaßen zusammengefaßt: „Aus naheliegenden Gründen streben wir keine formelle Rolle der NATO an. Wir denken vielmehr an individuelle, aber ergänzende Anstrengungen auf folgenden Gebieten:
— Erhöhte Verteidigungsanstrengungen in Westeuropa und Japan können die amerikanische Flexibilität zur Begegnung von Ernstfällen in Südwestasien verbessern.
— Enge politische Beziehungen zu Ländern in ganz Südwestasien würden das Verständnis für die westlichen Zielsetzungen in der Region und unsere gemeinsamen Interessen an der Abwehr einer sowjetischen Aggression verstärken. — Sicherheitsvereinbarungen zwischen unseren Verbündeten und Ländern in Südwest-asien können unseren Freunden in der Region helfen, ihre Fähigkeit zur Selbstverteidigung zu stärken.
— Viele unserer Verbündeten können ihre wirtschaftliche Unterstützung befreundeter
Länder in Südwestasien und im östlichen Mittelmeerraum erhöhen.
— Die Dislozierung von Streitkräften einiger westeuropäischer Staaten in Südwestasien kann verstärkt und mit amerikanischen militärischen Aktivitäten in der Region koordiniert werden.“
Diesen differenzierten Vorstellungen, nach denen einzelne NATO-Mitgliedsländer im Rahmen der amerikanischen Weltpolitik unterschiedliche Funktionen übernehmen, entspricht auch der Gedanke, wonach die USA außerhalb des traditionellen und routinemäßigen Konsultationsprozedere im Gesamtrahmen der NATO verstärkt bilaterale Konsultationen mit den Verbündeten suchen werden, und zwar um Übereinstimmung gerade auch da zu erzielen, wo Einstimmigkeit nicht herrscht. Dies letztere trifft insbesondere auf die amerikanische Politik im Nahen und Mittleren Osten zu.
Noch deutlicher werden die regionalen Akzente der amerikanischen Außenpolitik bei der Betrachtung der Außenwirtschaftspolitik, deren erster Grundsatz und „wesentlicher, bestimmender Faktor die Notwendigkeit des Schutzes und der Erhöhung unserer Sicherheit" sein wird Damit kommt der sogenannten Sicherheitshilfe eine hohe Priorität zu. Sie soll vor allem solchen Ländern gewährt werden, die in geographischer Nähe von benötigten Ressourcen liegen oder von regional-strategischem Interesse sind. Allgemein zielt die Sicherheitshilfe darauf ab, einen eventuellen sowjetischen Angriff zu teuer, zu kompliziert und damit letztlich unwahrscheinlicher zu machen. Die für 1982 geforderten und gegenüber den Vorjahren kräftig erhöhten Mittel der Sicherheitshilfe sollen mit rund 70% des Gesamtvolumens in den Nahen Osten fließen. Wichtigste Empfängerländer sind hier Israel, Ägypten und der strategisch bedeutsame , Staat'Oman. Hauptnutznießer in Europa sind Griechenland, die Türkei, Spanien sowie Portugal. In Ostasien kommen vor allem Korea, Indonesien, die Philippinen und Thailand in den Genuß von Unterstützung. In Mittelamerika fungiert El Salvador als Testgebiet für die neue Eindämmungspolitik.
Im Gegensatz zur Sicherheitshilfe soll die herkömmliche Entwicklungshilfe gekürzt wer-den, zunächst um mehr als 1 Mrd. US-Dollar (gleich ca. ein Viertel). Von der Restsumme geht die Hälfte in humanitäre Programme zur Minderung von Hunger und Unterernährung in der Dritten Welt. Bedeutungsvoll ist eine Akzentverschiebung: Die mit dem politischen Mittel der Entwicklungshilfe eröffneten Chancen zur Beeinflussung des ökonomischen, sozialen und politischen Wandels in der Dritten Welt sollen langfristig weniger über die multilateralen Entwicklungsbanken fließen — Zwischenträger von Entwicklungshilfe mit einer relativen Autonomie —, sondern über bilaterale Konsultationsprozesse und Entwicklungsprogramme direkt ausgeschüttet werden.
Bezüglich der sonstigen vorhandenen Institutionen der Weltwirtschaft wird es kaum wesentliche Änderungen geben. Allerdings sollen die Anstrengungen verstärkt werden, Überschußländer vermehrt einzubeziehen (Stichwort: Rückschleusung der Petro-Dollar); der Aktionsspielraum der Weltbank, die ja in der multilateralen Entwicklungspolitik eine hervorragende Rolle spielt, wird zudem eingeschränkt werden.
II. Hintergründe des außenpolitischen Konzepts und seiner Umsetzung
1. Innenpolitische Aspekte Das Reagan-Team hat weder im Wahlkampf noch seit der Amtsübernahme einen Hehl daraus gemacht, daß es seiner Politik ein umfassendes Konzept zugrunde legt, in dem sowohl die Innen-wie die Außenpolitik ein großes Ziel anstreben, nämlich die nationale Erneuerung als Rückbesinnung auf traditionelle Werte und als Neuentfaltung nationaler Stärke.
Dieser neue amerikanische Nationalismus erfüllt sowohl auf der konzeptionellen wie auf der Umsetzungsebene nachgerade lehrbuch-artig drei wesentliche Funktionen:
— Integration nach innen als positive Identitätsfindung;
— Schutz vor äußeren Feinden, und zwar sowohl faktisch als auch im Sinne randscharfer negativer Identitätsabgrenzung;
— Maximierung eines günstigen Tauschverhältnisses in Außenwirtschaftsbeziehungen
In Westeuropa werden die amerikanischen Identitäts-und Konsensusprobleme meist viel zu vordergründig allein am Vietnam-und Watergate-,. Trauma" festgemacht. Ihre Wurzeln reichen jedoch tiefer Einige Stichworte sol-len an dieser Stelle den Umfang des sozialen Desintegrationsprozesses andeuten: Die segmentäre Sozialstruktur der USA ist als Folge der lange anhaltenden Wirtschaftskrise, des Versagens von „big government" trotz Steuer-progression und Staatsverschuldung und allgemeiner, auffälliger Krisenerscheinungen (Verödung der Großstädte, furchterregende Kriminalitätsstatistik, wachsende Zahl der Armen) noch heterogener geworden. Dementsprechend wurde die Anerkennung des politischen Systems unterhalb der ideologischen Ebene mehr und mehr davon abhängig, wie-viel Extraleistungen die Politiker für ihre Klientele herausschneiden konnten
Die Konservativen versuchen — verstärkt seit Mitte der siebziger Jahre —, diesem Desintegrationsprozeß energisch entgegenzusteuern Die innenpolitischen Themen Reagans, seine Aktualisierung der überlieferten „amerikanischen Werte", verschmolzen bruchlos mit dem klaren außenpolitischen Feindbild; denn die Sowjetunion stellt in dieser Perspektive nahezu in allem das genaue Gegenteil dessen dar, was man den „amerikanischen Traum“ nennen könnte übrigens wies die Wiederwahlkampagne Carters das gleiche Grundmuster auf — ein «deutlicher Hinweis auf die Kraft dieser Perspektive.
Die legitimatorische Funktion eines durch soziale, politische, ökonomische sowie nicht zuletzt moralische Antagonismen scharf konturierten Feindbildes wird in jüngster Zeit nicht nur für die politische Öffentlichkeit der USA eingesetzt, sondern darüber hinaus auch als Kohäsionsmittel für die parlamentarischen Entscheidungsträger. Das „moralische" Desaster der Präsidentschaft Nixons hatte bewirkt, daß Repräsentantenhaus und Senat ihre angestammten verfassungsmäßigen Mitbestim-mungsund Kontrollrechte wieder mit Nachdruck einzufordern begannen. Das den Präsidenten mit großer Machtfülle ausstattende Mittel der „executive agreements" sollte seiner Wirkung beraubt werden Mit diesem neuen parlamentarischen Selbstbewußtsein zerbrachen der unter dem Banner des Antikommunismus nach 1945 zustande gekommene außenpolitische Grundkonsens, die so-genannte bipartisanship, und die traditionelle, an den großen alten Männern im Kongreß orientierte politische Führungsstruktur. Eine Folge davon war, daß z. B. Präsident Carter durch extremes Taktieren sich jeweils eine an eine Sache gebundene Ad-hoc-Mehrheit beschaffen mußte.
Diese empfindliche Beschneidung des außen-politischen Spielraums des Präsidenten, die in vielen Fällen nicht nur eine Blockierung, sondern sogar eine völlige Verkehrung seines Konzepts war, veranlaßte Carter — der seinen ersten Wahlkampf ja u. a. mit dem groß aufgemachten Versprechen geführt hatte, kein „imperialer" Präsident sein zu wollen —, mit seiner primär innenpolitisch angelegten Menschenrechtskampagne den Konfrontationskurs des Kongresses populistisch zu unterlaufen, die buntscheckig liberalen und konservativen Abgeordneten gegenüber der Offentlichkeit auf seinen Kurs zu verpflichten und sich auf diese Weise wieder etwas mehr Handlungsfreiheit zu erkämpfen
Die im allgemeinen konservativen Trend der späten siebziger Jahre immer deutlicher zutage tretenden und vom Sicherheitsberater Brzezinski immer nachdrücklicher akzentuierten antikommunistischen und antisowjetischen Elemente dieser Politik brauchte Ronald Reagan bloß zu übernehmen, von ambivalenten außenpolitischen Anteilen zu reinigen und mehr innere Konsistenz und Kohärenz zu versprechen. 2. Bündnispolitische Funktionen Vor Jahren hat Henry Kissinger vier Bedingungen formuliert, die erfüllt sein müssen, wenn ein Bündnis erfolgreich sein soll. Bündnisse müssen erstens eine gemeinsame Zielsetzung haben (in der Regel Verteidigung gegen eine gemeinsame Gefahr). Sie müssen sich zweitens auf ein ausreichendes Maß gemeinsamer Politik stützen können. Drittens müssen sie über technische Möglichkeiten zur Kooperation verfügen. Viertens muß es für den Fall einer verweigerten Kooperation eine Strafe geben Von den amerikanischen Bündnissen erfüllt die NATO diese Bedingungen gewiß am besten. Vor dem Hintergrund der globalen politischen Ziele der Reagan-Administration lassen sich für die NATO-Politik der USA zwei große Aktionsbereiche ausmachen: Zum einen geht es um die Straffung der asymmetrischen Kooperationsmuster unter wiedererstarkter amerikanischer Führung — die insbesondere unter dem Einfluß der Weltwirtschaftskrise gewachsenen westeuropäischen regionalen und nationalen Sonderinteressen sollen abgebaut werden. Zum andern geht es um einen angestrebten arbeitsteiligen Globalisierungsprozeß der Allianz unter amerikanischer Führung. Westeuropa soll eine mit der amerikanischen Weltpolitik abgestimmte Außenpolitik betreiben, die dabei hilft, der Politik des Westens weltweit Vorteile zu ver-schaffen. Schon allein deswegen wird eine westeuropäische Definition von Europas politischer, wirtschaftlicher und militärischer Sicherheit, in der die fortgesetzte Entspannungspolitik gegenüber der UdSSR einen beachtlichen Stellenwert hat, in Washington mit einigem Mißtrauen betrachtet.
Inwieweit der sogenannte NATO-Doppel-beschluß von solchen Überlegungen mitbestimmt worden ist, läßt sich gegenwärtig kaum beantworten. Allerdings hat er, folgt man dem Kissingerschen Bedingungsgefüge, bündnis-politisch zwiespältige Effekte.
Wie insbesondere die erste Nah-Ost-Mission von Außenminister Haig deutlich gemacht hat, soll der dezidiert auf die Sowjetunion zielende Zuschnitt der US-Außenpolitik innerstaatliche, zwischenstaatliche und regionen-spezifische Konflikte in der Dritten Welt mittels eindeutiger Frontstellung und daran ausgerichteten amerikanischen Gratifikationen wieder leichter steuerbar machen. 3. Zur Haig/Weinberger-Kontroverse Schon die Außenpolitik Carters war für jedermann sichtbar durch organisatorische und persönliche Querelen zwischen den jeweiligen Außenministern (Vance, später Muskie) und dem Sicherheitsberater Brzezinski beeinträchtigt gewesen. Nach dem Amtsantritt Reagans gab es in den westeuropäischen Medien längere, oft ziemlich undisziplinierte Mutmaßungen über den Einfluß der Hauptakteure der neuen Außenpolitik: Haig (Außenminister), Weinberger (Verteidigungsminister), Allen (Sicherheitsberater) und Bush (Vizepräsident). Unklar scheint vor allem, worauf die uneinheitliche Darstellung der Außenpolitik beruht. Findet tatsächlich ein persönlicher Machtkampf zwischen Caspar Weinberger, Alexander Haig und Richard Allen statt, oder ist es bloß eine taktische Finesse zum „Weichklopfen" der widerborstigen Verbündeten?
Wenn auch vieles dafür spricht, daß dem zeitweise überehrgeizigen Außenminister Haig in den ersten Monaten nach der Amtsübernahme die Grenzen gezogen wurden, so signalisiert die irritierende Uneinheitlichkeit bei den Formulierungen der neuen amerikanischen Außenpolitik doch ein offenbar weit über das Persönliche hinausgehendes Strukturproblem des außenpolitischen Entscheidungsprozesses in den USA
Ohne an dieser Stelle im einzelnen auf dieses Strukturproblem einzugehen, läßt sich als Ergebnis vielfältiger Untersuchungen doch festhalten, daß es der Administration des Pentagon nach dem Zweiten Weltkrieg gelungen ist, sich als überlegener Konkurrent des State Department zu etablieren, und daß ferner der Koordinator des 1947 gegründeten National Security Council, der Sonderberater des Präsidenten für Fragen der nationalen Sicherheit, schon deshalb eine hervorragende Stellung im außenpolitischen Entscheidungsprozeß einnimmt, weil es gerade seine Funktion ist, die weitverzweigten außenpolitischen Kompetenzen zu koordinieren.
Bei der Beurteilung der amerikanischen Außenpolitik im allgemeinen und gerade auch bei der von Präsident Reagan sollte man zwei Dinge besonders beachten:
Erstens: „Das Denken der Militärs — das militärische Denken — nimmt im amerikanischen außenpolitischen Entscheidungsprozeß einen großen Platz ein.“
Zweitens: Trotz mancher im Detail unterschiedlicher Aussagen und Gewichtungen ist das Team von Präsident Reagan und ganz besonders die Crew der außenpolitischen Entscheidungsträger sehr viel homogener zusammengesetzt als die Vorgänger-Administration.
III. Zur Beurteilung der US-Weltpolitik unter Reagan
1. Die Ost-West-Dimension Für eine Beurteilungsgrundlage des Zu-schnitts und der Inhalte der Reaganschen Außenpolitik reichen die bislang unter funktionalen Gesichtspunkten untersuchten Hintergrundbedingungen nicht aus. Der Schlüssel zum Verständnis und zur Kritik dieser Politik läßt sich vielmehr dort finden, wo Reagan und seine Mitarbeiter ihr Konzept selbst substantiieren, wo sie selbst das Grundverhältnis der gegenwärtigen Staatenwelt erkennen. Und wie man an den Selbstzeugnissen ablesen kann, gilt ihnen mit größerer Klarheit als der Carter-Administration das Ost-West-Verhältnis als die entscheidende Grundstruktur der internationalen Beziehungen
Durch diese Einsicht ist die Außenpolitik der USA in einer der Wirklichkeit angemessenen Weise in die Lage versetzt, jene gemeinhin Nord-Süd-Konflikt genannten Probleme der Dritten Welt nicht mehr nur ökonomisch zu definieren, sondern eben auch als Vehikel für Aktionen der Führungsmächte oder ihrer Stellvertreter zu erkennen. Der Prozeß der Entkolonialisierung war ja immer begleitet von einem heftigen Wettbewerb der beiden Führungsmächte, der zur Sicherung ihrer Blockperipherie auch immer dringlicher geworden zu sein scheint.
Ebenso ist es realistisch zu versuchen, block-interne Beziehungsmuster nicht symmetrischgleichgewichtig, sondern asymmetrisch als System kooperativer Suprematie der jeweiligen Führungsmacht zu gestalten. Die Reagan-Administration strebt deshalb keinen illusionären, sich aus ökonomischen Sachgesetzlichkeiten angeblich herausbildenden Harmonisierungsprozeß an, vielmehr eine klar umrissene und im Blick auf den Bündniszweck anerkannte Führungs-und Hierarchiestruktur.
Was ergibt sich aus diesen Annahmen für den Katalog der Ziele in der „Ostpolitik" der neuen amerikanischen Administration?
Das politische Verhältnis zwischen den USA und der UdSSR wird durch die jeweils vorhandenen Militärpotentiale und Einsatzdoktrinen für strategische Nuklearwaffen bestimmt. Angesichts der waffentechnologischen Entwicklung in Ost und West (Stichworte: verbesserte Zielgenauigkeit, Mehrfachsprengköpfe, herkömmliche Warnsysteme unterlaufende Flug-körper, ganz abgesehen von allem, was bereits auf den Blaupausen der Rüstungsplaner steht) ist eine Neujustierung des amerikanisch-sowjetischen Verhältnisses erforderlich geworden. Denn insgesamt kommen diese neueren Entwicklungen einer Erosion der bisher gegenseitig gesicherten Zweitschlagskapazität (MAD) gleich. Die bislang geübte SALT-Rü-stungskontrollpolitik kann solchen Entwicklungen nicht mehr Herr werden.
Die entscheidende Frage zum Verständnis der Politik Reagans ist deshalb, warum er und seine Mitarbeiter bei im Prinzip richtiger Analyse des aufziehenden Gefahrenpotentials ihre Erkenntnis in ein globales amerikanisches überlegenheitsstreben umsetzen, in eine Beschleunigung des Wettrüstens mit für den first strike tauglichen Waffensystemen, und warum sie damit — gewiß unter kräftiger Mithilfe der sowjetischen Außenpolitik, deren Handlungspotential in anderer Weise zu dramatischer Selbstfesselung drängt — notgedrungen die kooperativen Elemente des amerikanisch-sowjetischen Verhältnisses weiter abbauen
Vergegenwärtigt man sich noch einmal die oben skizzierte weltpolitische Lageanalyse und insbesondere die Vorstellungen der neuen Administration zum Ost-West-Verhältnis, dann gelangt man zu der Hypothese, daß Reagan und seine Mitarbeiter wegen ihres nationalen Identitätsentwurfs in einer Art Bewußtseinsfalle sitzen. In diese Falle gerät man immer dann, wenn das antagonistische Beziehungsmuster Ost/West als derart übermächtig perzipiert wird, daß es „normalen" politischen Verkehr auszuschließen scheint. Vor gut einem Jahrzehnt hat Dieter Senghaas für den sich aus dieser Perzeption entwickelnden Zustand den höchst unglücklichen Begriff des „Autismus" in der internationalen Politik zu prägen versucht Damit ist gemeint: Ein sich von beiden Seiten her gegenseitig ausschließender Monopolanspruch für die Definition dessen, was der Mensch und welche Lebensform ihm einzig angemessen ist, ergibt auf die Dauer eine Logik der Ausschließlichkeit, die tief in die Politik eindringt, das Verständnis für die Lage und die Lagebeurteilung des antagonistischen Gegenüber verschüttet und schließlich die Auseinandersetzung mit ihm nur noch als Null-Summen-Spiel gestattet. Jene aus der Einsicht in Notwenigkeiten geborene Entspannungspolitik (auf den Namen kommt es dabei nicht an), die ja auf einem gemeinsamen Interessenhorizont bei der Verhütung des Einsatzes von letztlich selbstzerstörerischen Nuklearwaffen beruht, hat unter anderem die Antagonisten in die verzwickte Situation gebracht, das eine zu tun — nämlich den Monopolanspruch in faktischer Konkur-renz durchzuhalten — und das andere zu lassen — nämlich den gemeinsamen Interessen-horizont abzubauen
Die Logik der Entspannung ist nicht in erster Linie ein Verstandesproblem. Sie hat auch mit Identitätsproblemen zu kämpfen; an dem nicht ausgehaltenen und verarbeiteten Gegensatz zwischen dem so unmittelbar aufeinander bezogenen WIR und den ANDEREN droht sie zu scheitern, denn das notwendige Verständnis für die mit negativer Wertung bedachte Gegenseite bringt einen in den Ruch der Identitätsaufgabe. In eine etwas geläufigere Sprache hat dieses Dilemma Bernard Willms übersetzt: „Entspannung bedeutet, daß in einem grundsätzlich hochbrisanten Spannungsverhältnis sich Notwendigkeiten zur Kooperation ergeben. Das wiederum kann nur bedeuten, daß ebenso notwendig die Situation von Entspannung ein neues, eigenes Konfliktpotential ausbildet. Voraussetzung der Entspannung kann jedenfalls nicht sein, daß der andere sich wandelt, dies muß nicht einmal auf lange Sicht ein Ergebnis sein, jedenfalls keines, von dessen Erwartbarkeit die Bereitschaft zur Entspannungspolitik abhängig ist... Einerseits muß also vom jeweiligen Selbstverständnis her der andere auch . anders'bleiben können, was das Verhältnis zu einem politischen macht. Andererseits setzt Entspannung bestimmte gemeinsame Interessen — etwa das Vermeiden des Kollisionskurses — voraus. Dies kann nur bedeuten, daß eine Entspannungspolitik eine bestimmte Art von . flankierenden Maßnahmen'notwendig macht, die von sich her eben nicht auf Entspannung gehen, sondern auf Abgrenzung ... Die Notwendigkeit der Politik der Entspannung verlangt soviel Kooperation wie möglich und soviel Abgrenzung, wie in infolgedessen nötig-"
Das Verständnis für diese gar nicht so komplizierten Zusammenhänge ist schon während der Regierungszeit Carters zugunsten einer simplen Logik der Ausschließlichkeit weitgehend verdrängt worden, wobei die UdSSR tatkräftig mithalf Die inzwischen fast überall anzutreffende Retardierung des Sicherheitsverständnisses auf die militärisch-geopolitische Dimension von Sicherheit biegt die oben begrüßte realistische Weitsicht der außenpolitischen Mitarbeiter Reagans so an einem entscheidenden Punkt ins Negative um. 2. Die Nord-Süd-Dimension Auch hier können wir konstatieren, daß die neue amerikanische Administration die Verhältnisse durchaus angemessen zu analysieren weiß, unter dem Druck jener Logik der Ausschließlichkeit jedoch die wirtschaftlichen Strukturbrüche und -probleme unangemessen marginalisiert, ganz zu schweigen von den sozialen, politischen und ökonomischen Problemen der Dritten Welt, die zwar insgesamt in den Ost-West-Konflikt tief eingespannt ist, deren Probleme aber mit der einzig auf diesen Konflikt gerichteten globalen oder regionalen Sicherheitspolitik (in dem oben angedeuteten verkürzenden Verständnis von Sicherheit) kaum gemildert werden können Vielmehr ist zu vermuten, daß die neue Weltpolitik der USA diese Probleme, die zu einem großen Teil an die Herrschaftsstruktur der Staatenwelt gebunden sind, mittels der eingesetzten Lösungsstrategien über Rückkoppelungseffekte eher noch verschärfen wird.
Allerdings muß differenziert werden: Das kurzatmige Protestieren etwa gegen die Kürzung der Entwicklungshilfe ist schon allein deswegen ganz unangebracht, weil das bisherige System der Entwicklungshilfe aller westlichen Länder zu ineffektiv geblieben ist, und zwar gemessen an den Zielen der Geberländer und mehr noch an den proklamierten Zielen der Geber-und Empfängerländer. Das grundsätzliche Verhältnis zwischen der westlichen Welt und den Entwicklungsländern im Kon-text des Weltwirtschafts-und Weltherrschaftssystems steht gegenwärtig ohnehin vor einer neuen Dimension von Problemen, so daß effektive Lösungen nur auf einem neuen Niveau zu erreichen sein werden
So paradox das möglicherweise angesichts der Literatur zum Nord-Süd-Problem klingen mag (in der allerdings häufig die romantischen Helfersyndrome von Peace-Corps-Gymnasiasten in sozialwissenschaftlicher Terminologie verkleidet wieder auftauchen): Erste Voraussetzung für seine Lösung ist das von der Entspannungslogik getragene Verständnis einer antagonistischen Verklammerung der Staaten aus der heraus, mit neuen Formen von Kooperation und Abgrenzung, allein ein achtbarer Verhaltenskodex der Weltführungsmächte sich entwickeln kann, der ihre jeweilige Politik gegenüber der Dritten Welt umgreift
In der Tat bieten sich die im Kolonialismus deformierten gesellschaftlichen Strukturen der Länder der Dritten Welt zur verlagerten Ost-West-Auseinandersetzung, hier jetzt auch unter Einmischung anderer, nämlich militärischer Mittel, geradezu an, ohne daß allerdings die Weltführungsmächte oder ihre regionalen Stellvertreter in der Lage wären, die inneren oder regionalen Konflikte dieser Länder vollständig nach ihrem Perzeptionsmuster zu gestalten. Unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen ist jedenfalls eine periphere Block-stabilisierung weder für die UdSSR noch für die USA möglich. Die jüngsten Schwierigkeiten in dieser Hinsicht demonstrieren — im Einzelfall unterschiedlich gelagert — Afghanistan und El Salvador. 3. Die atlantische Dimension Unsere These ist: Gelingt ein zwischen den Polen Kooperation und Abgrenzung feinglied-rig ausbalancierter Verhaltenskodex für das Ost-West-Verhältnis nicht, werden den westlichen industriellen Kernländern über die dann eingefrorenen Strukturen und den daraus resultierenden, beschleunigt ausbrechenden Hunger-und sonstigen Katastrophen in der Dritten Welt auch innere Loyalitätsprobleme erwachsen, in deren Verlauf das, was heute die westliche Identität ausmacht und ihr Wertkonsens genannt werden könnte, zu Bruch gehen kann. Die dann wirklich neue, nämlich globale Frage dürfte vermutlich zu einem affektiv motivierenden Kernteil der Handlungsideologie einer außerparlamentarischen und antibürgerlichen (nicht aber unbedingt sozialistischen) Opposition werden, die durch keinen traditionellen Diskussions-und Integrationsprozeß mehr aufgefangen werden kann, weil sie in ihrer Grundstruktur eher eine soziale und weniger eine politische Bewegung sein wird
Zynisch formuliert: Wie viele Millionen Hungertote hält das westliche Moral-oder Wert-system aus, ohne an der Mitverantwortlichkeit daran zu zerbrechen?
Die Lagebeurteilung der Reagan-Administration bezüglich Westeuropa ist an folgenden Punkten unbestreitbar richtig:
— Die Industrieländer Westeuropas sind in die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung tiefer als die USA eingebunden und dementsprechend anfälliger für strukturelle Krisen der Weltwirtschaft
— Europa besitzt die größte konventionelle und nukleare Militärdichte, so daß Entwicklung und Dislozierung neuer Waffentechnologien eine unmittelbare militärische Gefährdung bedeuten
— Die Bundesrepublik Deutschland zählt zwar zu den ökonomisch gewichtigsten und zu den militärisch stärksten Ländern, ist jedoch zugleich dasjenige Land, das militärische und außenwirtschaftliche Konflikte und Gefährdungen am wenigsten kompensieren kann, und zwar wegen ihrer relativ hohen Abhängigkeit von der Weltwirtschaft, wegen ihrer Grenzlage zum Ostblock mit dem neuralgischen Punkt Berlin samt der Zufahrtswege dorthin und schließlich wegen ihrer Rolle als des größten Gastlandes von US-Streitkräften außerhalb des nordamerikanischen Kontinents. So richtig deshalb der Satz von Alexander Haig ist, wonach „die ganze Welt" Angelegenheit der NATO sei, so problematisch ist daran, daß ein zweiter Satz mit dem Inhalt fehlt, daß es sich die Westeuropäer gerade wegen ihrer ökonomischen und militärischen Autonomie-grenzen eben nicht angelegen sein lassen können, für sie ungünstige Entwicklungen in anderen Regionen mit den Mitteln interventionistischer Politik lösen zu wollen Weltpoli-tisch kann Westeuropa nur Verbandlungsmacht einsetzen, und auch das nicht ungeschmälert, sofern es nicht bereit ist, Kompromisse und Strukturveränderungen in anderen Regionen hinzunehmen, auch wenn sie europäische Verhältnisse selbst betreffen
Die Aussage von Haig ist auch mit der Struktur der NATO in Beziehung zu setzen. Die NATO ist keine Organisation, supranationale sondern ein Bündnis herkömmlicher Art, dem trotz aller Beteuerungen im Vertrag über Zielsetzungen und Zusammenarbeit nach wie vor ein solider politisch-institutioneller Rahmen fehlt. Die von Reagan offenbar beabsichtigte Aufteilung der Mitgliedsländer nach Sonder-rollen im amerikanischen Globalkonzept und das Führen bilateraler Verhandlungen außerhalb der mit den NATO-Gremien gebotenen Foren drohen die angeborene Strukturschwäche des Bündnisses zu aktualisieren.
Bei der Dislozierung der nuklearen Mittelstreckenwaffen in Westeuropa und vornehmlich in der Bundesrepublik Deutschland, wie sie der derzeit von Teilen der Öffentlichkeit diskutierte NATO-Doppelbeschluß vom Dezember 1979 vorsieht, droht eine weitere Konfliktlinie der Allianz aus der mühsam gehaltenen Latenz zu geraten, die sich aus der Differenz zwischen geopolitisch motivierter Verteidigungsplanung (mit starken bündnispoliti-sehen Integrationsmotiven) und der nach militärischen Gesichtspunkten eigentlich primär sinnvollen Verteidigungsplanung ergibt
Die politische Brisanz einer solchen Entwicklung liegt, worauf Alfred Mechtersheimer hingewiesen hat, in der rationalen und nicht mehr nur weltanschaulichen Kritik an der NATO-
Sicherheitspolitik, die sich also z. B. in der Bundesrepublik nicht mehr auf die traditionellen Minderheitspositionen wird beschränken lassen
Die in diesem Zusammenhang allerdings häufig empfohlene partielle Abkoppelung Westeuropas von der Sicherheitspolitik der USA würde, ganz vorsichtig ausgedrückt, einer inneren Krise der atlantischen Welt von ungeahnten Ausmaßen gleichkommen. Da jedes westeuropäische Land für sich allein zu schwach ist (und die Bundesrepublik unter ihnen zugleich das stärkste und in gewissem Sinne das schwächste), bleibt ohne Zweifel nur der allerdings intellektuell wenig herausfordernde und bekanntlich sehr dornenvolle Weg verstärkter westeuropäischer Kooperation, und zwar mit dem Ziel, Allianzerschütterungen durch das Beharren auf westeuropäischen Sicherheitsinteressen zuvorzukommen. Insbesondere die Bundesrepublik ist auf westeuropäische Anwaltschaft dringend angewiesen. Auch hier muß allerdings gleich hinzugefügt werden, daß ein lautstarker Alarmismus Fehl am Platze ist. Die Gefahr besteht gegenwärtig mehr darin, daß sich die Politik Westeuropas als unfähig erweist, existentielle Probleme ohne Verzerrungen und Verzeichnungen überhaupt zu definieren, darüber einen tragfähigen nationalen und regionalen Konsensus herzustellen und das Sicherheitskonzept der Allianz in einem fairen Verhandlungsprozeß mit den USA den gewandelten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen anzupassen. Wer heute, aus welchen Gründen auch immer, politische Diskussionen durch das Menetekel des Antiamerikanismus zu unterdrücken oder zu steuern versucht, bekommt diesen, falls er sich durchsetzt, etwas später als Quittung. Hier scheinen, was die Bundesrepublik betrifft, beachtliche Einschätzungsund Handlungsdefizite der Führungen beider Regie-rungsparteien schwer von der Hand zu weisen zu sein. Und wer meint, die neokonservative Welt der Reagan-Administration lasse einen fairen Aushandlungsprozeß aus national-egoistischen Gründen nicht zu, verkennt völlig die Struktur außenpolitischer Entscheidungsprozesse in den USA. Die Nicht-Existenz europäischer pressure groups in den USA, die, nebenbei bemerkt, in einer Demokratie ja nur dann anrüchig sind, wenn sie sich gesetzwidriger Mittel bedienen, läßt darauf schließen, daß solches Verkennen allerdings weit ist. 4. Die deutsch-amerikanische Dimension In der Literatur zu den deutsch-amerikanischen Beziehungen wird zumeist ihre Verflechtung mit der weltpolitischen Lage der USA sowie mit dem Zustand der Ost-West-Be-ziehungen als hervorstechendes Merkmal angesehen. Es ist deshalb nicht nur der bundesdeutschen Politik zuzurechnen, wenn die Außenansicht dieser ungleichen Partnerschaft im Gefolge der westdeutschen Ostpolitik, dem amerikanischen Vietnam-Debakel, Watergate sowie der weltwirtschaftlichen Strukturverschiebungen, um nur die wichtigsten Stichworte zu nennen, sich erheblich verändert hat.
Zur Zeit der Präsidenten Ford und Carter zeigte sich das westdeutsche Selbstbewußtsein im Umgang mit den USA auf einer zuweilen sogar ans Peinliche grenzenden Höhe
Das Politikkonzept der Reagan-Administration weist solche verhaltenen Großmachtattitüden wieder in ihre angestammten Grenzen. Zugleich aber verbaut es mit der Eingliederung der Bundesrepublik in die eigene Weltpolitik (und vor dem Hintergrund weltwirtschaftlicher Probleme, die spätestens seit dem zweiten ölpreisschock 1979/80 innenpolitisch durchschlagen) der Bundesregierung in Bonn jenen bequemen, aber immer schon illusionären Rückzug in eine vormalige Idylle. Die Außenpolitik der Bundesrepublik läßt sich nicht mehr auf der fiktiven Grundlage eines weltpolitischen Zwergdaseins mit wirtschaftlichen Riesenkräften gestalten. So heißen die Forderungen heute denn auch: „Bonn muß sich stellen", muß „den Kopf aus dem Sand ziehen" und seine „beträchtlichen außereuropäischen Interessen", die „nicht weltumspannend, aber weltweit", nicht „nur wirtschaftlich, sondern auch politisch" sind, im westeuropäischen Kontext artikulieren und durchsetzen
Der Zwang zur Formulierung eines weltpolitisch adäquaten Selbstinteresses ist im Grunde heilsam und deshalb begrüßenswert. Indes kann er auch in eine falsche Richtung wirken. Die in der Logik der Ausschließlichkeit formulierte amerikanische Weltpolitik lädt sich nämlich im durch die Existenz der „deutschen Frage“ strukturell defizitären Bereich des (west) deutschen Nationalinteresses und gesellschaftlicher Identität emotional auf und produziert eine . Optik nationalstaatlicher Ohnmacht'gegenüber den USA, welche die Bundesrepublik — über das Faktum ihrer speziellen regionalen und globalen, politischen und ökonomischen Verflochtenheit hinaus — als bloßen Spielball fremder Interessen und Mächte erscheinen läßt.
Nun ist das nicht ausschließlich ein Reflex auf amerikanische bündnispolitische Forderungen. Die an der Krise des Weltmarktes mit redlichen ordnungspolitischen, natürlich unzureichenden wirtschaftspolitischen Instrumenten und Theorien laborierende Bonner Politik sucht sich durch die auch innen-, koalitions-und parteipolitisch motivierten Warnungen vor Antiamerikanismus den Rücken für den eingeebneten politischen Spielraum freizuhalten. Sie gibt damit aber — ohne Not, wie Umfrageergebnisse erweisen — von sich aus das Stichwört für eine verquere Lageanalyse des Landes, in der die eigenen innenpolitischen Probleme auf allzu simple Weise an das asymmetrische Kooperationsmuster der deutsch-amerikanischen Beziehungen sowie des Ost-West-Konflikts gebunden werden können.
Anstatt die mit der im übrigen seit langem absehbaren sowjetischen Dislozierung von Raketen des Typs SS 20 beginnende öffentliche alli-anz-und sicherheitspolitische Debatte dazu zu nutzen, die spätestens seit der nur halbherzig betriebenen Umstellung von der Abschrekkungsdoktrin der massiven nuklearen Vergeltung zur Strategie der abgestuften Reaktionsfähigkeit überfälligen Schwachstellen der NATO-Doktrin aufzuarbeiten und damit die komplexen und notwendig mit Angst besetzten Zusammenhänge zwischen atomarer Bestandsbedrohung, Bündnispolitik, Rüstungskontrollproblemen und -dilemmata bekannt zu machen und mithin die Sicherheitspolitik neu zu justieren und zu legitimieren, wird diese Diskussion mit einer politisch sehr problematischen Aktualisierung überlieferter Feindbilder abgewürgt. Dies gelingt nicht, weil es zudem noch dilettantisch passiert; statt dessen wird eine argumentativ schwächliche, zuweilen ganz absurde Vorstellungen pflegende, eben halbseitig „abgewürgte" Friedensbewegung produziert, deren emotionale Integrität jedoch durch die Art und Weise ihrer Behandlung durch die etablierten Mitwirkungsinstitutionen der politischen Willensbildung eher noch verstärkt werden dürfte.
Was zunächst eine bloß militärstrategisch-militärtechnische Frage nach der angemessensten Antwort auf die östliche Raketenbedrohung beim Scheitern der „eurostrategischen Abrüstung" war, wächst sich in der deutsch-amerikanischen Politikkombination zu einem hochbrisanten allianz-und innenpolitischen Grundsatzproblem aus. Denn man kann mit von Weizsäcker davon ausgehen, daß die landgestützten neuen amerikanischen Mittelstreckenraketen in weit größerem Maße als heute Ängste in der Bevölkerung hervorrufen werden.
Wichtige Elemente der neuen amerikanischen Außenpolitik in Verbindung mit der geborenen Strukturschwäche der Atlantischen Allianz, der Stagnation der westeuropäischen Integration und den gegenwärtigen Schwierigkeiten westdeutscher Politik drohen uns vor falsche Alternativen zu führen: entweder westdeutsche Bündnistreue gegenüber den USA oder Sicherheitsbedarfsdeckung für die Bevölkerung.
Aus diesem Dilemma ist nur gemeinsam in einem allianzpolitischen „fair deal" herauszukommen. Verfestigt sich dagegen der von den Antiamerikanismus-Warnungen schon fast bestätigte Eindruck, die USA nutzten ihre landgestützten eurostrategischen Waffen zur politischen Disziplinierung der Westeuropäer dann steht als scheinbarer Ausweg ein bereits formulierter, gegenwärtig noch in extremer Minderheitenposition befindlicher „neuer" Nationalismus von links und (mehr noch, natürlich) von rächts parat Dieser „neue" Nationalismus operiert hinter der Dekkung der verfassungspolitisch gebotenen Wiedervereinigung und des Selbstbestimmungsrechts der Völker, spekuliert international auf die politischen und ökonomischen Krisen des Ost-wie des Westblocks und national auf die platzgreifenden Delegitimierungs-Wellen der parlamentarischen Demokratie. Er beschwört geschickt einen den beiden deutschen Staaten aufgezwungenen Kolonialstatus und zielt sowohl mit einer gesamtdeutschen ünd einer borniert nationalstaatlichen Interessensrhetorik auf eine europäische und globale Veränderung des Status quo.
Ein solcher zugleich antirussischer und antiamerikanischer deutschnationaler Revisionismus besetzt den angesichts der drohenden Probleme gewachsenen Selbstverständigungsbedarf der Gesellschaft mit anachronistischen Inhalten, weil er mit halbwahren und halbgaren Problemanalysen der heutigen Welt die Zukunftsängste der Bürger auf einen hoffnungslos verqueren Begriff bringt.
Jenes Klima des Alarmismus, das heute die Diskussion der internationalen Politik des Westens beherrscht, könnte schon auf mittlere Dauer die deutsch-amerikanischen Beziehungen und die atlantischen Beziehungen von innen her vergiften. Es ist höchste Zeit für Rationalität, Abgewogenheit, Berechenbarkeit und die Überwindung der Logik der Ausschließlichkeit.