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Polen zwischen Beharrung und Erneuerung | APuZ 31/1981 | bpb.de

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APuZ 31/1981 Polen zwischen Beharrung und Erneuerung Entwicklungsmöglichkeiten in Polen

Polen zwischen Beharrung und Erneuerung

Christoph Royen

/ 59 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Seit den Arbeiterstreiks des Sommers 1980, die zum Sturz Giereks und zur Gründung der neuen unabhängigen Gewerkschaft „Solidarität" führten, ist knapp ein Jahr vergangen. Nicht nur in Polen, sondern auch bei den Bündnispartnern Polens sowie in der westlichen Staatengemeinschaft findet die Krise, in die das Land geraten ist, höchste Aufmerksamkeit. Neben der Frage, ob und wann Polen seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wieder zurückgewinnen kann, konzentriert sich das allgemeine Interesse auf die politischen Konsequenzen des „polnischen Sommers": Wird sich die sowjetische Vormacht des östlichen Bündnisses gezwungen sehen, erneut — wie 1953, 1956 und 1968 — zum Mittel der militärischen Intervention zu greifen, um einen Bundesgenossen „gleichzuschalten"? Oder sind die Ereignisse in Polen der Auftakt für eine Kette politischer Reformen in der gesamten sozialistischen Staatengemeinschaft? Oder gelingt es den maßgeblichen politischen Kräften Polens, den Prozeß der notwendigen Erneuerung an das Erfordernis der Stabilität im sowjetischen Hegemonialsystem und in den Ost-West-Beziehungen anzupassen? Die Untersuchung der Veränderungen, die die politischen Institutionen Polens bis zum 9. Parteitag der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei im Juli 1981 erfahren haben, sucht die Chancen dafür abzuschätzen, daß Polen seine Krise auf dem Weg der „sozialistischen Erneuerung" mit eigener Kraft meistern kann. Insgesamt ergibt sich ein Bild, das weder die Behauptungen östlicher Sprecher bestätigt, in Polen bestünde eine akute Gefahr für die „Errungenschaften des Sozialismus", noch dem in westlichen Informationsmedien verbreiteten Eindruck einer ständigen Konfrontation zwischen freiheitsliebenden Arbeitern und den Dogmatikern des Partei-und Regierungsapparats entspricht. Vielmehr zeichnet sich eine wachsende Übereinstimmung der „zentristischen" Führungskräfte in der Partei, der „Realisten" in der„Solidarität" und im Episkopat ab, den Extremisten entgegenzutreten. Hier liegt der wichtigste Unterschied zur Entwicklung des „Prager Frühlings" 1968, als die Voraussetzungen für eine Koalition der „gemeinsamen Vernunft und der vaterländischen Verantwortung" fehlten. Gleichwohl ist auf vier Bedingungen hinzuweisen, die bei der Prognose für das Gelingen der Erneuerung in Polen weiterhin Zurückhaltung gebieten: — Das Fehlen eines überzeugenden gemeinsamen Konzepts der westlichen Staaten zur Abschreckung der Sowjetunion von einer Intervention in Polen. — Die Ungewißheit, ob die sowjetische Führung die zwar weniger radikalen, dafür aber breiter in der polnischen Gesellschaft verankerten Wandlungsprozesse noch stärker fürchtet als seinerzeit den tschechoslowakischen Reformkommunismus. — Der Zweifel, ob der Realismus der politischen Eliten Polens in ausreichendem Maße der Bevölkerung vermittelt werden kann. — Das Nebeneinander von Erneuerungseuphorie und Angst vor der Zukunft unter den Menschen in Polen, das die Bildung der gemeinsamen Front der realistischen Kräfte bisher noch stört.

Die politischen Institutionen im Prozeß des Wandels

I. Die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP)

Der Brief des ZK der KPdSU an das ZK der PVAP vom 5. Juni spricht das aus sowjetischer Sicht zentrale Problem der Entwicklung der polnischen Krise offen an: In Moskau ist das Vertrauen in die Fähigkeit der polnischen Genossen, aus eigener Kraft die innere Stabilität des Landes wiederherzustellen, der Sorge gewichen, daß die PVAP die Kontrolle über die Ereignisse verliert und womöglich als marxistisch-leninistische Partei auf dem 9. Parteitag aufhöre zu bestehen. Angesichts der fundamentalen Bedeutung, die den kommunistischen Parteien in den Mitgliedstaaten des sowjetischen Hegemonialverbandes als den Steuerungsorganen aller politisch relevanten gesellschaftlichen Prozesse und zugleich als nationalen Garanten der sowjetischen Vormachtstellung in der Sozialistischen Staatengemeinschaft zukommt, hängt die Möglichkeit eines Modus vivendi zwischen der „Erneuerung“ in Polen und dem sowjetischen Hegemonialinteresse in erster Linie von der Analyse des Zustands der PVAP ab.

Das Prinzip der „führenden Rolle der Partei in Staat und Gesellschaft"

Die nationale Garantenstellung der einzelnen kommunistischen Parteien in den Mitglieds-ländern der Sozialistischen Staatengemeinschaft wird im offiziell üblichen Sprachgebrauch des kommunistischen Lagers als „die führende Rolle der Partei in Staat und Gesellschaft umschrieben. Seit dem Moskauer „Konzil vom November 1957 gehört die Führungsrolle der kommunistischen Parteien zu den obersten gemeinsamen Gesetzmäßigkeiten Eine erweiterte Fassung dieser Arbeit, die auch edenverweise enthält, wurde im Juni 1981 für die tiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen, erärbeitet. beim Aufbau des Sozialismus. Die Gefährdung der Gültigkeit des Prinzips der „führenden Rolle der Partei" führt zur Gefährdung der „sozialistischen Errungenschaften" des betreffenden Landes und notfalls zu der Notwendigkeit, die „gemeinsamen Interessen der Sozialistischen Staatengemeinschaft" an der Erhaltung des Herrschaftsmodells durch gewaltsamen Eingriff unter Berufung auf das Prinzip des „sozialistischen Internationalismus" zu verteidigen.

Deshalb war es für die PVAP und ihre Bruder-parteien im Warschauer Pakt bei der Bewertung der Streiks des Sommers 1980 und der folgenden Verhandlungsergebnisse mit der neuen Gewerkschaft „Solidarität" ausschlaggebend, daß die „Solidarität" die führende Rolle der PVAP im Staat in ihrem Statut anerkannte. Bald wurde indessen erkennbar, daß mit der bloßen erneuten Auswechslung von Persönlichkeiten die PVAP ihre Autorität nicht mehr herstellen konnte. Die Nachfolger Giereks erschienen weniger als Steuernde, sondern als durch die Forderungen der „Solidarität" in die Defensive Getriebene, nicht als Regierende, sondern als bloß Reagierende. Unter diesem Eindruck breitete sich in den Kommentaren der Bruderparteien und in der Kritik durch die „hardliner" der Partei das Wort von der „Doppelherrschaft" in Polen aus.

Nirgends wird zwar bisher in Polen offen die Forderung nach der Zulassung anderer um die Macht konkurrierender Parteien erhoben. Und die „Solidarität" hütet sich bislang, auf Überlegungen einzugehen, die neue Gewerkschaft als politische Organisation in die „Nationale Einheitsfront" einzufügen mit entsprechenden Konsequenzen einer Vertretung im polnischen Parlament und einer eventuellen Beteiligung an der Regierung. Dennoch betoB nen die Sprecher der „Solidarität" zumindest, daß sie gewillt seien, die Partei und die Regierung zu „kontrollieren". In den Mitte April veröffentlichten „Leitlinien für die Tätigkeit der . Solidarität'in der gegenwärtigen Lage des Landes", die vom „Zentrum für gesellschaftliche und berufsbezogene Analysen" (Orodek Prac Spoleczno-Zawodowych) beim Landeskoordinationsausschuß der „Solidarität" erarbeitet und als Diskussionsgrundlage akzeptiert worden sind, heißt es einleitend: „Unsere Gewerkschaft ist vor knapp einem Jahr aufgrund des Kampfes der Arbeiter entstanden, der durch das ganze Land unterstützt wurde. Wir sind heute eine große soziale Kraft.. . Und am Schluß der Leitlinien heißt es: „Die . Solidarität'ist die Hauptgarantie des Erneuerungsprozesses. Es gibt keine andere gesellschaftliche Kraft in Polen, die sie bei diesem Werk ersetzen könnte. Auf dem Weg der Erneuerung müssen wir entschlossen sein und bereit, Opfer zu bringen. Entweder gestaltet die . Solidarität'ihr gesellschaftliches Umfeld um, oder das bisherige System zwingt ihr seine Normen und Ziele auf, lähmt unsere Anstrengungen und verschlingt uns schließlich, womit die Hoffnungen auf eine Wiedergeburt zerstört wären."

Gleichzeitig sind innerhalb der Partei unter Parteitheoretikern Diskussionen in Gang gekommen, ob das Prinzip der führenden Rolle im Staat nicht einer zeitgemäßen Neuinterpretation bedürfe, etwa im Sinne einer Beschränkung auf eine „Leitungsrolle in der Gesellschaft“ — eine Formel, wie sie bereits anläßlich der Verfassungsreform von 1976 als Kompromiß zwischen Gierek und den Protesten aus der Dissidentenbewegung und aus der Kirche gefunden wurde.

Auch in den übrigen kommunistischen Parteien des Warschauer Pakts, einschließlich der KPdSU, ist in den letzten Jahren mehrfach von offizieller Seite gefordert worden, daß das Grundprinzip der „führenden Rolle der Partei" einer „Modernisierung" bedürfe. Entscheidend dafür, ob derartige Veränderungen noch im Rahmen des orthodox Zulässigen bleiben, ist aber, daß die Modernisierung nicht als der Partei von außen durch die Gesellschaft aufgezwungen, sondern als autonom eingeleiteter und in jeder Etappe beherrschbarer Prozeß erscheint. Die PVAP hatte nun auf ihrem außerordentlichen Parteitag zu beweisen, ob sie die sen Anforderungen genügen kann und dam der Forderung der KPdSU in dem gemeinst men Kommunique vom 4. März 1981 nach ei ner „Umkehr der Entwicklung" in ihrem Ken punkt zu entsprechen in der Lage ist.

Der „demokratische Zentralismus" und da Verhältnis von Basis und Parteiführung Die Stellung der Partei gegenüber andereng sellschaftlichen Kräften des Landes bildet nt einen Aspekt des Problems der „führende: Rolle der Pärtei" — das Außenverhältnis. Ii Innenverhältnis wird die führende Rolle de Partei verwirklicht mit Hilfe des Organis tionsgrundsatzes des sogenannten „demokr tischen Zentralismus“. Formal besagt diese Grundsatz, daß die Minderheit sich der Meb heit in strikter Disziplin unterzuordnen he De facto hat sich jedoch bereits unter Leni und dann vollends unter Stalin die Praxis hei ausgebildet, in der sich eine manipuliert Mehrheit der Basis den Anordnungen de Minderheit der Parteiführung zu fügen hat In den ersten Monaten nach den Streiks de „polnischen Sommers" sah es ursprünglic nicht so aus, als ob auch der „demokratisch Zentralismus" von dem Erneuerungsprozeß er faßt würde. Die einfachen Parteimitgliedern hen sich noch unmittelbarer als die Funktit näre der oberen Instanzen mit der Kritik um der Verachtung für die PVAP durch die breit Masse der Bevölkerung am Arbeitsplatz ode in der Wohngemeinschaft konfrontiert. A statt sich aber gegen die Kritiker zu wende begannen sie sich die Frage vorzulegen, We halb die Partei in immer kürzeren Abstände: seit 1956 in Krisensituationen geraten wä und welche Garantien dagegen errichtet We den könnten, daß die Partei „der Arbeiter’’ Zukunft sich nicht mehr von den Arbeiter entfremde. Die Vorbildwirkung des erfolgte chen Protests der Streikkomitees, aus dene die „Solidarität“ hervorging, und der Zorn übe die nun zutage tretende Korruption und Mi Wirtschaft in der Parteiführung führten zu de Erkenntnis, daß man die Kontrolle der Parte nicht der „Solidarität" überlassen dürfe, s® dern in die eigene Hand nehmen müsse.

Vor diesem Hintergrund entstanden im Lau des Winters innerhalb verschiedener Reg 1’ nen des Landes aus Vertretern der Basisorganisationen der Partei die sogenannten „horizontalen Verständigungen" oder „horizontalen Strukturen". Zunächst dienten sie schlicht der Beschaffung von Informationen, die von der lahmgelegten und desorientierten Partei-spitze nicht mehr eingingen. Der logisch nächste Schritt war der Austausch konkreter Erfahrungen, nachdem sich die eingehenden Weisungen von oben häufig als irreal oder widersprüchlich erwiesen hatten. Hieraus resultierten wiederum Absprachen über gemeinsames, paralleles Vorgehen bei der Bewältigung lokaler Konflikte. Die Erfahrung, daß auch ohne Anweisungen oder mitunter auch gegen die Direktiven der Zentrale erfolgreich gehandelt werden konnte, führte schließlich zu der Konsequenz, die neuen Formen der Basisarbeit auch bei dem wichtigsten Ereignis im Leben jeder Partei, den bevorstehenden Partei-wahlen vor dem Parteitag, zu erproben.

Als Mitte April in Thorn Vertreter verschiedener Regionen einen landesweiten Kongreß der »horizontalen Strukturen" veranstalteten, sah sich die Parteiführung zwar außerstande, eine offizielle Billigung auszusprechen, ließ aber immerhin einen führenden Funktionär des zentralen Apparats als Beobachter an dem Treffen teilnehmen. Hingegen versuchten die dogmatischen „hardliner" in der Partei und die Medien der Nachbarn sofort, die „Horizontalstrukturen" als „fraktionistisches" und als „revisionistisches" Phänomen zu brandmarken. Parteichef Kania sah sich auf dem 10. Plenum Ende April deshalb zu der mahnenden Klarstellung veranlaßt: „Wir betrachten die verschiedenen Kommissionen und Diskussionsgruppen als Ausdruck der Aktivität und der Belebung der Partei. Es muß jedoch unterstrichenwerden, daß diese Tätigkeit nicht zur Unterhöhlung und Veränderung der bewährten leninistischen Struktur der Partei, zur Infrage-stellung ihrer Geschlossenheit führen darf. Denn dies würde sich gegen die Einheit der Partei richten und die Voraussetzung für Spaltungen und Fraktionsbildungen schaffen."

Und in den veröffentlichten „Programmgrundlagen für den 9. Parteitag" heißt es: „In einigen Zentren des Landes sind Initiativen zur unmittelbaren Zusammenarbeit zwischen Basisor-I der Partei in Betrieben, Hoch-schulen und anderen Institutionen entstan5 den. Diese Zusammenarbeit soll dem Austausch von Erfahrungen dienen und die Tätigkeit der Partei bereichern; diese Form darf nicht zur Infragestellung der Struktur und der Geschlossenheit der Partei führen."

Abkürzungen ChSS ChrzeSciafiskie Stowarzyszenie Spoeczne (= Christlich-Soziale Gesellschaft) DiP DoSwiadczenie i Przyszo (= Erfahrung und Zukunft)

KOR Komitet Obrony Robotniköw (= Komitee zur Verteidigung der Arbeiter) KPC Kommunistische Partei der Tschechoslowakei KPdSU Kommunistische Partei der Sowjetunion Komitet Samoobrony Spolecznej KSS (= Komitee für gesellschaftliche Selbstverteidigung)

ODiSS Osrodek Dokumentacji i Studiöw Spolecznych (= Zentrum für Dokumentation und soziale Studien)

PVAP Polnische Vereinigte Arbeiterpartei PZKS Polski Zwiazek Katolicko-Spoleczny (= Polnischer Katholisch-Sozialer Verband)

RFER Radio Free Europe Research SD Stronnictwo Demokratyczne (= Demokratische Partei)

SDP Stowarzyszenie Dziennikarzy Polskich (= Polnischer Journalistenverband) TASS Telegrafnoe Agenstvo Sovetskogo Sojuza (= Nachrichtenagentur der Sowjetunion) ZBoWiD Zwiazek Bojowniköw o Wolno i Demokracje (= Verband der Kämpfer für Freiheit und Demokratie)

ZK Zentralkomitee ZSL Zjednoczone Stronnictwo Ludowe (= Vereinigte Bauernpartei)

Der Verlauf der bis zum 11. Plenum des ZK der PVAP am 9. /10. Juni zum Teil bereits abgeschlossenen Wahlen der unteren Gremien und Exekutivorgane der PVAP sowie der direkt von den großen Basisorganisationen zu entsendenden Parteitagsdelegierten hat jedenfalls gezeigt, daß die Grundgliederungen der Partei häufig weit mehr als die Hälfte der bisherigen Mandats-und Amtsträger abwählten. Sie waren nicht bereit, entsprechend einer in der neuen vorläufigen Parteiwahlordnung vorgesehenen Klausel in „begründeten Fällen" auch Nichtdelegierten der Wahlversammlung, also den von „oben" empfohlenen Kandidaten die Kandidatur im Wege des „Seiteneinstiegs" zu gestatten.

Vermutlich dürfte diese Entwicklung, die in der Perspektive bedeuten würde, daß der Parteitag ein völlig verändertes ZK und ein weitgehend aus eindeutigen Befürwortern der „Erneuerung" bestehendes Politbüro wählen würde, den wichtigsten Anlaß für den Brief des ZK der KPdSU vom 5. Juni gegeben haben. Während die interne „hardliner" -Fraktion schon seit Wochen, unterstützt von den Kommentaren der Medien aus den Nachbarstaaten, forderte, es müßten mehr „echte" Arbeiter gewählt werden, haben die Zentristen um Kania und Barcikowski flexibler reagiert. Sie verwiesen darauf, daß die bei den Parteiwahlen besonders erfolgreichen Vertreter der jungen technischen Intelligenz das Vertrauen der wählenden Arbeiter genießen und nicht von oben mit Mißtrauen begrüßt werden dürften. Gleichzeitig freilich versuchten sie nunmehr, in den verbleibenden Wochen bis zum Parteitag die Wahlgremien daran zu erinnern, daß der Erfolg der Erneuerung nicht nur vom Grad der Demokratisisierung abhänge, sondern auch von der Sicherung der Kontinuität der Parteiarbeit durch die ausreichende Wahl erfahrener Funktionäre. Einige Wahlkonferenzen, die nach dem Brief des ZK der KPdSU stattfanden, haben auf diesen Appell reagiert. Und anders als Barcikowski in Stettin, der nur nach heftigen Diskussionen zur Kandidatur als Parteitagsdelegierter zugelassen und gewählt wurde, wurden nunmehr Kania, Vizeministerpräsident Rakowski und der (inzwischen in diesem Amt zurückgetretene) Leiter der Medienabteilung beim ZK der PVAP, Klasa, bei der Wojewodschaftskonferenz in Krakau, sowie Vizeministerpräsident Jagielski in Elbing mühelos gewählt. Auch der Vorsitzende der Obersten Kontrollkammer, der alte Gegner Giereks, General Moczar, wurde in Kielce als Parteitagsdelegierter nominiert; ebenso General Jaruzelski durch die Parteiwahlen im Warschauer Militärbezirk. In den letzten Junitagen ist es der Parteispitze auch gelungen, die

Wahl der auf dem 9. Plenum des ZK noch als „Hartköpfe" angegriffenen Tadeusz Grabski und Stefan Olszowski sowie weiterer, ihnen nahestehender Personen zu sichern, um den Warnungen der sowjetischen Führung Genüge zu tun.

Programmatische Konsequenzen aus dem Scheitern Giereks Jede politische Führung der PVAP steht vor der Aufgabe, nach dem Zusammenbruch des Gierekschen Programms der beschleunigten industriellen Modernisierung und der breiten Wohlstandsanhebung, das mit einer Strategie des „importierten Wachstums" verwirklicht werden sollte, sich von der Gierek-Ära deutlich abzusetzen. Inzwischen lassen sich jedoch verschiedene Richtungen der Absetzungsbewegungen feststellen, die jeweils den Inhalt des Erneuerungsprozesses unterschiedlich beeinflussen. Bereits im Spätsommer 1980 nach der Ersetzung Giereks durch Kania kam esaul dem 6. Plenum des ZK der PVAP zu einer deutlichen Konfrontation zwischen denen, die seinerzeit von Gierek entmachtet worden waren und die nun die gesamten 70er Jahre als Fehlentwicklung ansehen wollten (z. B. Moczar), sowie denen, die die geistige und materielle Starre der späten Gomulka-Zeit nicht vergessen hatten und den Pragmatismus Giereks als richtigen Ansatz betrachteten (z. B. Rakowski). Hinter diesem Streit kündigten sich schon damals divergierende Auffassungen über das Konzept der Erneuerung an. Mittlerweile ist die Auseinandersetzung mit der Ära Gierek erneut von außen in den Kommentaren der sowjetischen Zeitungen und auch in dem Brief des ZK der KPdSU vom 5. Juni aufgenommen und nach Polen hinein-getragen worden. Im Zentrum der Kritik stehen nun nicht mehr nur die ökonomischen Fehlkalkulationen Giereks und Jaroszewiczs sondern auch die außenwirtschaftliche Öffnung nach Westen, die Polen vom Kapitalismus abhängig gemacht habe, sowie die ideologische Verarmung des politischen Lebens in der Partei, in den Medien und in der Kulturpolitik. Zum ersten Mal heißt es nun sogar, die sowjetische Führung habe Gierek schon seit einer Reihe von Jahren gewarnt. Gierek habe diese Warnungen jedoch in den Wind geschlaB gen. In Polen werden aber auch aus dieser sowjetischen Kritik keineswegs identische programmatische Schlußfolgerungen gezogen:

Eine Auffassung, die man als die Linie der konsequenten Erneuerung bezeichnen kann, sieht den ökonomischen Fehler Giereks in dem Zurückweichen vor der Verwirklichung der bereits auf dem Reißbrett entworfenen Pläne einer tiefgreifenden Wirtschaftsreform, in der Markt und Preis zu wichtigen Steuerungselementen der polnischen Binnen-und Außenwirtschaft würden. Die politische Kritik setzt ebenfalls bei einer Inkonsequenz Giereks an, der es versäumt habe, den anfänglich versprochenen und eingeleiteten Dialog und die Konsultation mit der Bevölkerung fortzusetzen.

Die ideologische Absicherung dieser Position erfolgt durch eine Gruppe von Parteitheoretikern, Historikern, Soziologen und Publizisten, die darauf hinweisen, daß der Kommunismus in Polen deshalb immer wieder in Krisen geraten sei, weil die stalinistischen „Geburtsfehler“ bei der Machtübernahme durch die polnischen Kommunisten nach der Befreiung Polens durch die Rote Armee nie überwunden worden seien. Es müsse daher auch im Interesse der heutigen sowjetischen Führung liegen, in Polen einen selbstbewußten Partner an ihrer Seite zu wissen, statt eines periodisch von neuen Eruptionen heimgesuchten Satelliten. Polens Krise sei zudem nicht singulär, denn auch die übrigen Volksdemokratien und die Sowjetunion stünden vor der Notwendigkeit tiefgreifender Änderungen und Reformen des Systems.

Für den anderen Pol im Meinungsspektrum der PVAP steht das Verhältnis zur Sowjetunion im Mittelpunkt aller programmatischen Überlegungen. Sie gehen davon aus, daß Polens Wirtschaft in den nächsten Jahren klar auf sowjetische Energie-und Rohstofflieferungen sowie auf Devisenhilfe angewiesen sein Werde. Sie erwarten, daß weder die amtierende sowjetische Führung noch deren Nachfolger zu weitgehenden Systemreformen bereit sein werden. Lenin gilt den Vertretern dieser Auffassung nach wie vor als der Schöpfer des Sowjetstaats unter den Bedingungen der kapitalistisch-imperialistischen Einkreisung, des Parteityps der Kaderherrschaft und der strengen hierarchischen Ordnung in der kommunistischen Weltbewegung.

Eine primitivere Variante zieht aus der Kritik an Gierek im Grunde nur die gegenwärtig populäre Schlußfolgerung, daß zunächst einmal mit den Mitgliedern der Gierek-Equipe abgerechnet werden müsse. Vielleicht hatten die Vertreter der Abrechnungs-Forderung ursprünglich sogar beabsichtigt, damit die Notwendigkeit eines außerordentlichen Parteitags, seiner programmatischen Vorbereitung und die Durchführung von Parteiwahlen als überflüssig erscheinen zu lassen oder den Parteitag vorwiegend mit der Abrechnung zu bestreiten. Inzwischen scheint sich jedoch allgemein die Auffassung durchgesetzt zu haben, daß die Peinlichkeit des Abrechnungsprozesses sich nicht auf ehemalige Hauptakteure beschränken ließe, sondern auch auf viele Mitglieder der neuen Führung einen Schatten werfen würde. Deshalb hat das 10. Plenum des ZK den heftigsten Kritiker Giereks, Tadeusz Grabski, mit dem Vorsitz einer neuen Partei-kommission betraut, die bis zum Beginn des Parteitags einen vorläufigen Abschlußbericht über die Aufklärung der Vorwürfe gegen Gierek und seine Parteigänger vorlegen sollte.

Die herrschende Meinung in den Spitzengremien der obersten Parteiorgane sucht zwischen diesen Extremen eine ausgleichende Linie. Kania und Jaruzelski konnten deshalb zunächst der Aufgeschlossenheit der abwägenden Führung der KPdSU um Breschnew gewiß sein. Erst als die Kreml-Führung zu der Auffassung gelangte, daß die Zentristen im Bemühen um die Wiedergewinnung des Vertrauens der Basis Gefahr liefen, die Balance zu verlieren, hielt sie es für notwendig, ein unüberhörbares Warnsignal zu geben. Dennoch dürfte es voreilig sein, aus der sowjetischen Medien-kampagne seit Mitte Mai und aus dem Brief des ZK der KPdSU abzuleiten, daß die sowjetische Führung bereits auf Ablösung der Zentristen durch die „hardliner" dränge. Viel eher entspricht es dem sowjetischen Interesse an baldiger Überwindung der polnischen Krise, daß die Zentristen an der Macht bleiben, aber künftig nicht mehr vorwiegend unter dem Druck der Basis und der „Erneuerer" handeln, sondern Rücksicht auf die Forderungen der „hardliner" nehmen.

Die neuen „hardliner"

In der Tat sind — anders als die alarmierten Kommentatoren aus den Nachbarstaaten Po-B lens gelegentlich glauben machen möchten — in der PVAP-Führung die Befürworter einer harten Linie gegenüber der „Solidarität", gegenüber den Dissidenten und gegenüber den „Auflösungstendenzen" in der Partei noch zahlreich und in der Lage, den Gang der Ereignisse mitzubeeinflussen. Auch hierin liegt wieder ein Unterschied zur Situation in der Führung der KP der Tschechoslowakei 1968, wo die „hardliner" vor dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen schon allgemein diskreditiert und im Vergleich zu dem eindeutigen Reformflügel als schwach galten. Dennoch stellt sich bei genauerer Prüfung heraus, daß die Zuordnung zur Gruppe der „hardliner" im konkreten Einzelfall nicht leicht ist bzw. daß der Sammelbegriff „hardliner" durchaus unterschiedliche Persönlichkeiten und Konzepte zusammenfaßt.

In den ersten Monaten nach dem Sturz Giereks richtete sich die Aufmerksamkeit westlicher Beobachter in erster Linie auf das rasche „Comeback" des von Gierek 1971 scheinbar endgültig entmachteten Führers der soge-nannten „Partisanen" -Gruppe, Moczar. Moczar galt seit der Unterdrückung der Studentenunruhen vom März 1968 und der gleichzeitigen „antizionistischen" Kampagne, die viele hervorragende polnische Wissenschaftler und Künstler in die Emigration trieb, als Protagonist eines „nationalstalinistischen" Kurses mit antisemitischen Zügen. Als Hausmachtbasis diente ihm der seinerzeit einflußreiche Kombattantenverband des „Verbandes der Kämpfer für Freiheit und Demokratie" (Zwiazek Bojowniköw o Wolno i Demokracje“, ZBoWiD). Die Moczar von Gierek übertragene Funktion des Präsidenten der Obersten Kontrollkammer (vergleichbar mit dem Bundesrechnungshof) erschien hingegen als ein bedeutungsloses Abstellgleis, bis eben diese Institution in die Lage versetzt wurde, die Unterlagen für die Abrechnung mit den Fehlern und Korruptionspraktiken der Gierek-Jahre bereitzustellen. Bisher hat Moczar jedoch keinen sichtbaren Versuch gemacht, in seine alte Funktion als Chef der Sicherheitskräfte zurückzukehren. Seit seiner Wiederwahl als Vorsitzender des ZBoWiD hat er sich hingegen in auffallender Weise bemüht, die ihm anhaftende Reputation als Antisemit zu widerlegen, indem er mehrfach den Beitrag der jüdischen Mitbürger zur polnischen Kultur und im Kampf gegen den Faschismus hervorhob, indem er ZBoWiD zusammen mit der „Sozial-und Kulturgesell Schaft der Juden in Polen" Gedenkfeiern für den Getto-Aufstand von 1943 durchführen und sogar eine ZBoWiD-Delegation zu den Feiern des Jahrestags der Befreiung des KZ Auschwitz nach Israel reisen ließ. In der Diskussion aktueller Themen konzentriert sich Moczar bei seinen verschiedenen Auftritten vor dem Sejm und vor dem Plenum des ZK der PVAP auf das sich aus seiner Hauptfunktion ergebende Thema der Sauberkeit der öffentlichen Verwaltung. Besondere Aufmerksamkeit aber verdient seine Rede anläßlich des Festaktes zum Siegestag am 8. Mai in Warschau, in der er die Erwartung ausdrückte, daß die „Solidarität" zum „dauerhaften und konstruktiven Faktor" im System der sozialistischen Demokratie werde, und feststellte, daß die von Kania und Jaruzelski propagierte „Politik des Dialogs und der Verständigung, nicht die gewaltsame Konfrontation", der „einzige Weg unseres Vol. kes, sein großer Wert" sei.

Während es so zur Zeit den Anschein hat, daß Moczar und der ZBoWiD heute der Zentrist! -sehen Linie Kanias und Jaruzelskis folgen, sind im Lauf der ersten Monate dieses Jahres verschiedene neue Gruppierungen an die Öffentlichkeit getreten, die den Eindruck hinterlassen, als seien sie für eine Fortsetzung des ehemaligen Moczarismus: Gleichzeitig mit der von Studenten der Warschauer Universität veranstalteten Gedenkfeier für die Opfer der Polizeiaktion vom 8. März 1968 versammelten sich Mitglieder einer bislang unbekannten Vereinigung unter dem Namen „Grunwald" zu einer Demonstration für die Opfer des Stalinismus und Zionismus in Polen. Damit sollte offenbar die auch in anderen osteuropäischen Staaten von konservativen Kommunisten aufgestellte Behauptung wieder hervorgeholt werden, die Praktiken des Spätstalinismus seien vor allem den jüdischen Kommunisten zur Last zu legen, die mit der Roten Armee in die Heimat zurückgekehrt seien. Obwohl sofort eine Serie von Protesten durch angesehene Künstler und Intellektuelle in der Zeitung „ycie Warszawy" veröffent licht wurde, schritten die Behörden nicht gegen „Grunwald" ein. Ende April erlangte die „Patriotische Vereinigung . Grunwald" die Registrierung als Verein. Bei dieser Gelegenheit wurde bekanntgegeben, daß den Vorsitz ein bekannter Filmregisseur, Bohdan Poreba, führt und daß die Vereinigung bereits über 100 000 Mitglieder mit über das ganze Land verbreiteten Regionaluntergliederungen haben soll. Die Vereinigung „Grunwald" gibt inzwischen eine Wochenzeitschrift, „Rzeczywisto", heraus und scheint in enger Verbindung zu der neuen Monatszeitschrift „Plomienie" des offiziellen Jugendverbandes zu stehen. Ferner steht „Grunwald“ hinter dem als Gegengewicht zu den neuen Diskussionsforen der Parteiintellektuellen gegründeten Diskussionsklub „Warszawa 80". Auffällig ist die mehrfache publizistische Unterstützung, die diese neokonservativen Gruppen durch sowjetische Medien erfahren. So wurde ein weiteres führendes Mitglied der Vereinigung, der Filmregisseur Ryszard Filipski, in einem Bericht des „Izvestija" -Korrespondenten wegen seines Pilsudski-Filmes gelobt, mit dem Filipski der gefährlichen Aufwertung des bourgeoisen Vorkriegspolens habe entgegentreten wollen. Die „Pravda" meldete Anfang Februar einen angeblichen Anschlag auf die Redaktion von „Plomienie", nachdem die Zeitschrift sich kritisch über die . Solidarität" geäußert habe.

Offiziell im Sinne der Aufrechterhaltung und der Stärkung der Beziehungen zur Sowjetunion wirkt die „Gesellschaft für polnisch-sowjetische Freundschaft“ (Towarzystwo Polsko-

Radzieckiej Przyjani, TPPR), die von dem ZK-Mitglied und Chefredakteur der Monatszeitschrift der PVAP, „Nowe Drogi", Stanislaw Wronski, geleitet wird. Sie macht es sich gegenwärtig zur Hauptaufgabe, im Zusammen-

wirken mit dem sowjetischen Botschafter in Warschau auf alle tatsächlichen oder auch nur vermuteten Tendenzen der Feindseligkeit gegenüber dem Nachbarn hinzuweisen.

Als bisher eindeutigste Gruppe von „hardli-nemn", die in der politischen Lösung der aufge-

brochenen Konflikte nur ein Zurückweichen vorder „Konterrevolution" sehen, ist Ende Mai das sogenannte „Kattowitzer Parteiforum" aufgetreten. Als Wortführer dieser Gruppe traten wei kaum bekannte Hochschuldozenten aus Kattowitz hervor. Die zeitweilig von der „Prav-

da", der „Izvestija" und dem „Neuen Deutschland“ verbreitete Meldung, das stellvertretende Politbüromitglied Gerard Gabry sei Vorsitzender des „Kattowitzer Forums", wurde alsbald von Gabry dementiert. Ungeachtet der offenbar geringen Zahl der Mitglieder fanden die Verlautbarungen des Forums nach ihrer Veröffentlichung in der Zeitung „Sztandar Mlodych" ein vielfältiges negatives Echo in Parteiversammlungen aller Ebenen, einschließlich des Politbüros. In eigenen Erklärungen verurteilten unter anderen auch Olszowski, Moczar und Grabski die Resolutionen des „Kattowitzer Forums" als „schädlich" oder „linkssektiererisch und dogmatisch". Um so mehr erregte es Aufsehen, daß gleichzeitig die sowjetische Nachrichtenagentur TASS einen zustimmend aufgemachten Bericht über die Thesen des Forums brachte und auch nach der Veröffentlichung der ablehnenden Haltung des Politbüros der PVAP in einem weiteren Bericht die Autoren des Forums gegen die „Kampagne der polnischen Massenmedien“ in Schutz nahm. Aufmerksamkeit verdient ferner die Tatsache, daß die Wochenzeitung der Vereinigung „Grunwald", „RzeczywistoSC", und der Diskussionsklub „Warszawa 80" sich veranlaßt sahen, Presseberichte, wonach sie sich von dem Kattowitzer Forum distanziert hätten, als unrichtig zurückzuweisen. Und auch Tadeusz Grabski relativierte seine ablehnende Stellungnahme wieder, als er vor dem 11. Plenum des ZK behauptete, das Politbüro habe sich entgegen den Pressemeldungen überhaupt nicht mit dem Kattowitzer Forum befaßt. Trotz der noch vor dem Bekanntwerden des Briefes des ZK der KPdSU abgegebenen Erklärung des Forums, es habe einstweilen bis zur endgültigen Entscheidung durch die Parteiführung seine Tätigkeit eingestellt, hatte es jedenfalls schon bis dahin als Einstimmung auf die massive sowjetische Kritik erfolgreich gewirkt. Inzwischen ist das Kattowitzer Forum zwei Wochen nach dem 11. ZK-Plenum erneut mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit getreten. Gleichzeitig stellte die sowjetische Nachrichtenagentur TASS eine zweite Diskussionsgruppe als „Posener Kommunistisches Forum" vor, deren Stoßrichtung mit der des Kattowitzer Forums übereinstimmt.

Letztlich maßgebend für den Einfluß der „neokonservativen" Kräfte, die der Erneuerung mit Mißtrauen oder klar feindselig gegenüberstehen, ist ihr Gewicht in den obersten Parteigremien, dem Zentralkomitee, dem ZK-Sekretariat und dem Politbüro der PVAP.

Wichtiger scheint jedoch der Hinweis, daß es zweckmäßig ist, zwischen flexiblen und starren „hardlinern" in der Parteispitze zu unterscheiden. Nicht so einfach einordnen läßt sich vor allem Stefan Olszowski. Aufgrund seiner häufigen Kontakte mit den Abgesandten der Moskauer Führung, seines Auftritts beim 16. Parteitag der KPC und seiner Scharfmacher-rolle in der Medienpolitik gilt er zwar als der zukünftige „Mann Moskaus". Nach seinem offenen Bekenntnis auf dem 9. Plenum, ein „Hartkopf zu sein, und seinen Sympathiebekundungen für die „Grunwald" -Gruppe auf einer Betriebsparteikonferenz hat sich Olszowski auf dem 11. Plenum auffallend schweigsam verhalten. Gleichzeitig wird ihm eine anfänglich unterstützende Rolle bei den Arbeiten des bekannten Kollegiums „Erfahrung und Zukunft“ (DiP) nachgesagt, das 1978 begonnen hatte, liberale Parteiintellektuelle, Vertreter der katholischen Intelligenz und den Dissidenten nahestehende Persönlichkeiten zusammenzuführen, um konkrete Bestandsaufnahmen der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Situation in Polen zu verfassen. Maßgebend beteiligt war Olszowski auch an der Ausarbeitung der „Programmgrundlagen für den 9. Parteitag". All dies mag es in den Augen der sowjetischen Führung als aussichtsreich erscheinen lassen, ihn im Falle des Versagens des gegenwärtigen Duos Kania-Jaruzelski als erfahrenen, flexiblen Taktiker an die Spitze der polnischen Partei treten zu lassen, der imstande sein könnte, die notwendigen Brücken zu schlagen und einer Spaltung der Partei entgegenzuwirken. Gelingt es dagegen Kania und Jaruzelski, ihren zentristischen Kurs auch nach dem 9. Parteitag fortzusetzen, dann verkörpert Olszowski mit seinen Anhängern zumindest eine gewisse Garantie dafür, daß die Zentristen auf Kurs bleiben und das Experiment der „Erneuerung“ nicht in den berüchtigten „Revisionismus“ abkippt.

Als Ergebnis dieses Überblicks über programmatische und personelle Strömungen in der PVAP kann festgehalten werden, daß die Gefahr für die innere Kontinuität der Partei jedenfalls bislang nicht aus einer Spaltung und einem Rechtsruck der Führungsgremien hervorgeht, sondern allenfalls von einer Erneuerungs-Euphorie der Parteibasis herbeigeführt werden könnte. In den folgenden Abschnitten wird zu untersuchen sein, wie der Prozeß der Erneuerung die übrigen Komponenten der politischen Landschaft Polens seit dem Umbruch des August 1980 verändert hat. Erst daraus läßt sich ein Urteil darüber ableiten, inwieweit die Führungsrolle der PVAP objektiv bedroht erscheinen kann.

II. Die Regierung des Generals Jaruzelski

Die Hauptlast der Verantwortung für die Überwindung der Wirtschaftskrise in Polen und bei den Verhandlungen über konkrete Forderungen der Gewerkschaften, der Bauern und der Studenten trug und trägt nicht die Partei, sondern die Regierung. Die noch vor der Beendigung der August-Streiks 1980 eingesetzte neue Regierung Pikowski erwies sich als der Aufgabe, eine Normalisierung des Verhältnisses zu der neuen Gewerkschaft „Solidarität" zu finden, nicht gewachsen. Ihr Verhalten war dadurch gekennzeichnet, daß sie den erhobenen Postulaten jeweils zunächst ablehnend entgegentrat, um anschließend den Streikdrohungen und Protestaktionen der „Solidarität" weitgehend nachzugeben. Insbeson-B dere bei den Auseinandersetzungen um die Verkürzung der Arbeitszeit im Januar erlitt die Regierung einen unübersehbaren Autoritätsverlust. Als daher Pihkowski auf dem 8. Plenum des ZK der PVAP seinen Rücktritt erklärte und das Parlament am 12. Februar den vom ZK vorgeschlagenen Verteidigungsminister, das Politbüromitglied General Jaruzelski, zum Ministerpräsidenten wählte, sah man darin in Polen und auch im Ausland eine hoffnungsvolle Wende. Indem Jaruzelski neben Jagielski, dem Führer der Regierungsdelegation bei den Danziger Verhandlungen vom August 1980, den vielleicht bekanntesten langjährigen Ver10 treter des Reformflügels in der Partei, den Chefredakteur der Wochenzeitung „Polityka", Mieczysaw F.

Rakowski, als weiteren Vize-premier für seine Regierung gewann und ihm die Aufgabe übertrug, die Verhandlungen mit den Gewerkschaften zu leiten und zu koordinieren, schien ein beinahe genialer Schachzug eingeleitet: Jaruzelski verkörperte das Ansehen der polnischen Armee sowohl nach außen im Kreise seiner Amtskollegen im War-schauer Pakt als auch nach innen, nachdem ihm nachgesagt wurde, er habe sich im Juni 1976 und im August 1980 strikt geweigert, die Armee zur Unterdrückung der Arbeiterunruhen einzusetzen. Der Bevölkerung erschien er deshalb als der wichtigste Garant dafür, daß die von Kania bei der Ablösung Giereks durchgesetzte politische Lösung der polnischen Krise nicht gewaltsam abgebrochen werde. Die Armee war von nun an offiziell in das Gelingen des Erneuerungsprozesses eingebunden, anstatt nur wie bisher als Zuschauer oder Schiedsrichter abseits zu stehen. Rakowski bot demgegenüber die Aussicht, daß dasAngebot der Partnerschaft an die „Solidarität“ als ernst gemeint verwirklicht werden würde. Inländische Kommentatoren sprachen deshalb von einer „Regierung der nationalen Rettung", und Gewerkschaftsführer Walesa erklärte, er begrüße die Regierung des Generals, da es nur mit einem starken Partner lohne, Verhandlungen zu führen und Verhandlungsergebnisse zu verwirklichen.

Diesen hochgeschraubten Erwartungen konnte freilich auch Jaruzelski kaum rasch gerecht werden. Sein bei der Regierungsübernahme ausgesprochener Appell, seiner Regierung 90 Tage der inneren Ruhe ohne Streiks einzuräumen, erwies sich nur als teilweise erfolgreich: Die Protestaktionen der nun ebenfalls um ihre Anerkennung und Registrierung ringenden Gewerkschaft der Individualbauern, Forderungen der „Solidarität" nach Ablö-sung diskreditierter regionaler oder lokaler Partei-und Verwaltungschefs sowie das gegen das Innenministerium gerichtete Verlangen, Rechtsverletzungen der Polizei zu untersuchen und auf Privilegien der Sicherheitsorgane, wie eigene Krankenhäuser und Erholungsheime, zugunsten der Allgemeinheit zu verzichten, äußerten sich insbesondere in Gestalt Von Gebäudebesetzungen. Bereits hier zeigte sich, daß bei der Beilegung derartiger Auseinandersetzungen die Regierung der vermittelnden Mitwirkung Wasas und des Kardinals Wyszyhski bedurfte. Schon fünf Wochen nach dem Amtsantritt sah sich die Regierung vor eine ernste Belastungsprobe gestellt durch die Konfrontation von Bromberg, bei der der radikale Flügel der „Solidarität" und Vertreter der Bauerngewerkschaft nach einer vorangegangenen tagelangen Besetzung des Gebäudes der Bauernpartei am 19. März in einer Sitzung des regionalen Nationalrats mit speziellen Einsatzkräften der Miliz zusammenstießen und dabei drei Mitglieder der Gewerkschaft unter ungeklärten Umständen zusammengeschlagen wurden. In Polen wurde damals der Polizeiübergriff vom 19. März offen als Provokation gegen die Regierung Jaruzelski bezeichnet. Der anschließend drohende Generalstreik brachte Polen dicht an den Abgrund der Beendigung der politischen Krisenlösung durch den Gebrauch von Gewalt. Jaruzelski beantragte daraufhin am 10. April im Sejm einen Beschluß zur zweimonatigen Aussetzung von Streiks und verband diesen Antrag mit einer Rücktrittsdrohung. Der Sejm konnte, da das neue Gewerkschaftsgesetz, das einen solchen Beschluß mit rechtlicher Wirkung vorsieht, noch nicht in Kraft getreten ist, nur eine Empfehlung beschließen, in der es das polnische Parlament für „unerläßlich" erachtete, sich für den genannten Zeitraum aller Streiks und Streikdrohungen zu enthalten. Nachdem die Schwierigkeiten bei der zunächst von der Regierung versprochenen Feststellung der Schläger von Bromberg und der verantwortlichen Stellen weiterhin fortdauerten, drohte jedoch die „Solidarität“ Anfang Juni abermals mit regionalen Warnstreiks. Erst die vom Papst gewünschte Aufrechterhaltung eines Friedensmonats nach dem Tod des Kardinals Wyszynski gab den Ausschlag, den neuen Warnstreik unmittelbar vor dem Beginn des 11. Plenums des ZK vorläufig bis zum 3. Juli abzusagen.

Die bisher wichtigste politische Entscheidung der Regierung Jaruzelski fiel in den Verhandlungen zur Beilegung der Bromberg-Krise, als die Regierung grünes Licht für die parlamentarische Vorbereitung der gesetzlichen Grundlagen der Registrierung der Bauern-„Solidarität" gab. Die sowjetische Parteizeitung sprach wenige Tage später erstmals in einem TASS-Bericht aus Warschau von einem „Zurückweichen" der Regierung gegenüber der „Solidarität" und leitete damit eine Kette ähnlicher kritischer Kommentare ein, die schließlich im Brief des ZK der KPdSU offiziellen Charakter bekamen.

Zu dem Druck durch die „Solidarität" und durch die Bruderparteien der Nachbarstaaten ist im Laufe des Monats Mai noch eine Welle der Kritik in den Medien gekommen, die sich an der mehrfachen Verschiebung des seit langem angekündigten „Berichts über die Lage der Wirtschaft" und dann an dem endlich Anfang Mai dem Sejm vorgelegten Bericht entzündete. Zwar konnte Jaruzelski nicht unmittelbar dafür verantwortlich gemacht werden. Und er erreichte es, daß auf dem 11. Plenum die Journalisten wegen ihrer harten Tonart gerügt wurden. Immerhin sah sich Jaruzelski jedoch veranlaßt, auf der Sejm-Sitzung vom 12. Juni den Rücktritt des auch international in Fachkreisen hochgeschätzten Vorsitzenden der Planungskommission, Henryk Kisiel, anzunehmen.

Ebensowenig trifft die Regierung die Schuld daran, daß die auf Druck der „Solidarität" im April eingeführte Lebensmittelrationierung keine Besserung der Versorgungslage der Bevölkerung gebracht hat und daß die Statistiken der Industrieproduktion und des Außenhandels von Monat zu Monat schlechtere Ergebnisse zeigen. Sie muß sich aber einer Welle von Gerüchten erwehren, die behaupten, die Regierung lasse heimlich Lebensmittel vom

III. Das polnische Parlament

Seit den Sejm-Wahlen vom Frühjahr 1976 erweckte das polnische Parlament in der Öffentlichkeit keinerlei Interesse mehr. Nach der Verweigerung eines Listenplatzes auf der Einheitsliste der Nationalen Einheitsfront für die Abgeordneten der treu dem Episkopat ergebenen „Znak" -Gruppe war der Sejm zu einer Abstimmungsmaschine geworden, die sich in das gewohnte Muster des Parlamentarismus in den kommunistischen Staaten einfügte.

Markt verschwinden, um dafür die „Solidarität" verantwortlich zu machen.

Die entscheidende Herausforderung für die Regierung Jaruzelski besteht in der zunehmend dringender werdenden Notwendigkeit, die gezeigte Bereitschaft zu Dialog und Partnerschaft mit der Aufrechterhaltung der staatlichen Autorität und der öffentlichen Ordnung zu verbinden. Die Meldungen über Zusammenrottungen gegenüber der Polizei, wenn diese ihren Aufgaben nachkommen will, und über das Anwachsen der Kriminalität mögen zwar hochgespielt sein. Erst recht spricht einiges dafür, daß die Berichte über anti-sowjetische Broschüren und Flugblätter sowie die jüngste Serie von Schändungen sowjetischer Ehrendenkmäler in Polen dem provokatorischen Zweck der Diskreditierung des Erneuerungskurses dienen. Dennoch wird Jaruzelski sehr bald zu beweisen haben, daß er imstande ist, diesen Tendenzen ein Ende zu setzen, will er nicht den Extremisten in der „Solidarität" und den „hardlinern" in-und außerhalb Polens gleichermaßen als Versager erscheinen. Vize-ministerpräsident Rakowski betonte deshalb in seiner Rede in Bromberg vom 8. Juni, daß der Spielraum für vernünftige Kompromisse „völlig ausgeschöpft" sei. Jaruzelski sah sich am 12. Juni vor dem Sejm veranlaßt, die Sicherheitsorgane aufzufordern, energisch und systematisch gegen die Fälle von Rowdytum und Vandalismus einzuschreiten und verlangte eine scharfe Überwachung der illegalen Kleindruckereien. Den damit näherrückenden lokal begrenzten Konfrontationen wird die polnische Regierung kaum länger ausweichen dürfen.

Der „polnische Sommer" hat auch hier beachtliche Veränderungen gebracht: Bereits die Sejm-Debatte Anfang September 1980 wurde ausführlich in den Zeitungen in einer Form wiedergegeben, die Meinungsverschiedenheiten nicht mehr verbarg und die Forderung der Sejm-Mitglieder deutlich machte, die verfassungsmäßige Rolle des Parlaments wiederherzustellen. Schon bald danach setzten die Abgeordneten der Volksvertretung dieses Postu-B lat in die Tat um, als der Sejm am 8. Oktober 1980 das klassische parlamentarische Verfahren der Fragestunde wiederbelebte und ankündigte, auch künftig die Vertreter der Administration in die Zange nehmen zu wollen. Zum ersten Mal wurden bei diesem Anlaß auch die Ergebnisse von Abstimmungen über die Berufung neuer Regierungsmitglieder bekanntgegeben, wobei immerhin Ansätze dafür sichtbar wurden, daß es von nun an die ehemalige automatische Einstimmigkeit nicht mehr geben werde. Bei der Sitzung des Sejm vom 12. Februar anläßlich des Regierungsantritts des Generals Jaruzelski wurde der gesamte Ablauf der Debatte im polnischen Rundfunk übertragen. Auf diese Weise bekam auch die Öffentlichkeit einen Eindruck von der Praxis der Erneuerung des parlamentarischen Lebens. Direktübertragungen der Sejm-Debatten gehören seitdem zum Bild des öffentlichen Lebens in Polen.

Daß der Sejm gewillt und in der Lage ist, seine Funktion als oberstes nationales Diskussionsforum nicht mehr aus der Hand zu geben, hat sich seither bei allen Parlamentssitzungen erwiesen. Kritik an Fehlern, Versäumnissen und der Unfähigkeit der Bürokratie sind fester Bestandteil des Debattenablaufs. Erhebliche praktische Bedeutung kommt der Arbeit der Sejm-Ausschüsse zu. Die von dem bekannten Soziologen Jan Szczepahski geleitete Sonder-kommission zur Überwachung der Abkommen des Sommers 1980 spielt inzwischen eine wichtige vermittelnde Rolle bei der Regelung von Konflikten zwischen der „Solidarität" und der Regierung.

Offen ist bisher noch, ob nach dem 9. Parteitag der PVAP ein neues Wahlrecht für den Sejm eingeführt werden wird und Neuwahlen zum Parlament stattfinden, die nach dem vorübergehenden bescheidenen Ansatz aus dem Jahre 1957 nunmehr erstmals dem Wähler echte Alternativen zwischen den Kandidaten eröffnen würden. Falls die gegenwärtigen Parteiwahlen nicht zu dem befürchteten Erdrutsch führen und die PVAP auf dem 9. Parteitag die Bestätigung ihres zentristischen Kurses erhält, sind entsprechende Initiativen im Sejm zu erwarten.

IV. Die Partner der PVAP in der „Nationalen Einheitsfront"

Zu den Merkmalen des Verfassungstyps der am Ende des Zweiten Weltkriegs in Osteuropa entstandenen „Volksdemokratien" gehört, daß die ehemaligen sozialistischen Parteien mit den kommunistischen Parteien zu einer Einheitspartei verschmolzen wurden, während die Überreste der ehemaligen bürgerlichen Parteien im Parlament, in der Publizistik und anderen Sektoren des politischen Lebens fortexistieren. Bedingung ihrer Fort-existenz ist jedoch die unbedingte Unterordnung unter die führende Rolle der kommunistischen Partei, die zumindest in Polen auch die Regierung allein bildet. In Polen bestehen seit dem Ende der 40er Jahre neben der PVAP als derartige „Satelliten" -Parteien nur noch die »Vereinigte Bauernpartei" ZSL und die „Demokratische Partei" SD, die vor allem Handwerker und die Mittelschicht der Intelligenz vertritt. Daneben hat die spezifische Rolle des Katholizismus in Polen zur Bildung mehrerer parteiähnlicher Gruppierungen geführt. Als solche existieren heute: die 1945 gegründete regimetreue Katholikenbewegung PAX, die 1956 entstandene episkopatstreue Bewegung „Znak“ sowie eine weitere Gruppe unter der Bezeichnung „Christlich-Soziale Gesellschaft" ChSS, die sich 1956 von der PAX-Gruppe abgespalten hatte. 1976 kam es außerdem zu einer Spaltung des „Znak", aus der eine regime-freundliche Gruppierung unter der Bezeichnung ODiSS (inzwischen umbenannt in PZKS) hervorging, die von der Nationalen Einheitsfront sämtliche Parlamentssitze der alten „Znak" -Gruppe zugewiesen bekam. Gegenwärtig befinden sich im polnischen Parlament aufgrund der letzten Sejm-Wahlen vom März 1980 rund 55 % Abgeordnete der PVAP, rund 25 % Abgeordnete des ZSL und rund 8 % Abgeordnete des SD. Von den übrigen parteilosen Abgeordneten gehören 6 der PAX-Gruppe, 5 der ODiSS-Gruppe sowie 5 dem ChSS an.

Die Krise, in die der „polnische Sommer" die PVAP gestürzt hat, hat zwangsläufig auch das ZSL und das SD erfaßt. In beiden Parteien sind inzwischen bereits erhebliche personelle Veränderungen in den Führungsgremien eingetreten. Die PVAP wird insbesondere im Hinblick auf die Zusammenarbeit bei der Über-windung der wirtschaftlichen Probleme des Landes den neu erwachten Selbständigkeitsambitionen ihrer kleineren Partner Zugeständnisse machen müssen. Gleichzeitig hat die Angewiesenheit der PVAP auf die moralische Autorität der Kirche dazu geführt, daß die bisherige Spaltung der katholischen politischen Gruppierungen in regimetreue und kirchentreue Gruppen an Bedeutung verliert: Sowohl PAX als auch der PZKS bemühen sich nun um die Beilegung ihrer Konflikte mit dem Episkopat.

V. Die Informationsmedien des Staates und der Partei

Der Brief des ZK der KPdSU vom 5. Juni hat die sowjetische Kritik an der Entwicklung in Polen besonders klar gegen die polnischen Informationsmedien gerichtet. Dieser Angriff kommt indessen nicht überraschend. Denn die für jeden Leser polnischer Zeitungen, für die Zuhörer der Radiosendungen und die Fernsehzuschauer täglich spürbare Erweiterung des Freiheitsraums für sachliche Information und für die Offenlegung von Kontroversen steht in klarem Gegensatz zu der schon frühzeitig einsetzenden Kritik aus den Nachbar-staaten und den zur Zurückhaltung mahnenden Appellen der Parteispitze.

Ungeachtet der seit langem zu beobachtenden relativen Lebendigkeit und Farbigkeit insbesondere der polnischen Presse, hat die seinerzeit nach der Flucht eines Mitarbeiters der Zensurbehörde in den Westen auch in Polen bekannt gewordene Praxis dieses Amtes dem Mißtrauen der Bevölkerung gegenüber der amtlichen Informationspolitik eine konkrete Grundlage gegeben. Deshalb verlangten die streikenden Arbeiter an der Ostseeküste die Überprüfung des Zensurgesetzes und erreichten eine entsprechende Zusage der Regierung in der Danziger Vereinbarung vom 31. August 1980. Am 27. November 1980 veröffentlichte die Zeitung „ycie Warszawy" zwei Varianten des Entwurfs für ein neues Zensurgesetz — einen Regierungsentwurf und einen von Journalisten und Intellektuellen erstellten sogenannten „gesellschaftlichen" Entwurf. Beide Entwürfe liegen seit Anfang April dem Sejm vor, und die letzten Berichte besagen, daß in den Ausschußberatungen die Abgeordneten überwiegend dem weiter gehenden zweiten Entwurf zu folgen beabsichtigen. Zwar ist die Forderung aus Journalistenkreisen, bereits schon jetzt die nicht mehr umstrittenen Teile des Gesetzentwurfs in Kraft zu setzen, nicht verwirklicht worden. Dennoch ist offensichtlich, daß die Zensurbehörde seit Monaten damit begonnen hat, sich auf eine neue Zukunft einzustellen.

Die polnischen Medien haben gegenüber direkten Angriffen von außen und gegenüber den verzerrenden Berichten und Kommentaren zu der polnischen Entwicklung in Presse, Rundfunk und Fernsehen der Nachbarstaaten, über die beinahe täglich in den polnischen Zeitungen zusammenfassend berichtet wird, keine Repliken unternommen. Nur selten deutet ein polnischer Autor an, was er von der Berichterstattung in den „Bruderländern" hält.

Trotz der bewundernswerten Vernunft der polnischen Journalisten befindet sich die PVAP in ihrem Verhältnis zu den Medien in einem klaren Dilemma. Nicht nur sieht sie sich dem wachsenden Druck der Nachbarparteien ausgesetzt, die Erneuerung in den polnischen Informationsmedien zu bremsen, sondern die Medienpolitik ist auch innerhalb der PVAP selbst ein heiß umstrittenes Thema. Die „Zentristen" haben deshalb schon auf dem 7. Plenum Anfang Dezember begonnen, die Journalisten zu kritisieren, weil sie nach der ehemaligen Mitwirkung an der Gierekschen Erfolgspropaganda nun ins Gegenteil des puren Negativismus verfielen.

Im Rückblick auf die Rolle, die während des „Prager Frühlings" die Zeitung des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes „Literärni Listy" spielte, ist die Sorge der PVAP vor einer Öffnung des Schleusentores für offene Auseinandersetzungen mit der Haltung der Nachbarn zur polnischen Erneuerung verständlich. Der Rat des Polnischen Journalistenverbandes SDP zeigte in einer Sitzung vom 17. Juni, daß er der Parteiführung in ihrem Dilemma entgegenkommen will. Er verwahrte sich zwar gegen die Unterstellung, die polnischen Journalisten seien „anti-sozialistisch" oder „anti-sowjetisch" eingestellt. Er forderte aber seine Mitglieder auf, sich in den Wochen bis zum 9. Parteitag allen Extremismen entgegenzustellen und, ohne Kritik zu vernachlässigen, sich mehr auf konstruktive Fragen als auf die Sensationen der „Abrechnung" zu konzentrieren. Freilich gilt auch hier wiederum, daß die PVAP bei ihrem schwierigen Balanceakt nicht zuletzt auf die Einsicht und die Kooperation ihrer Partner in Moskau, Prag und Ost-Berlin angewiesen ist. Ohne deren Verzicht auf die Fortsetzung undifferenzierter Angriffe auf tatsächliche oder angebliche „anti-sowjetische" Tendenzen in Polen ist es schwer vorstellbar, daß die polnischen Medien und die breite Bevölkerung ihren unvermeidlich steigenden Zorn unter Kontrolle zu halten imstande sein werden.

VI. Die Gewerkschaften

Die Schlüsselstellung der „Solidarität" im Erneuerungsprozeß Wohl kein ausländischer Beobachter hätte es noch Mitte August 1980, als die Forderung der streikenden polnischen Arbeiter nach einer „freien" Gewerkschaft erhoben wurde, für möglich gehalten, daß diese „freie" Gewerkschaftsbewegung damit einen Umbruch in Polen einleitete, der binnen weniger Monate den Fortbestand des politischen Systems der Volksrepublik Polen in Frage gestellt hat. Selbst diejenigen, die in Polen seit Jahren auf eine grundlegende Erneuerung des Gewerkschaftswesens gedrängt haben, wie die Teilnehmer an den Streiks von 1970/71, sodann die Dissidenten des KSS „KOR" und schließlich die Autoren des Kollegiums „Erfahrung und Zukunft", dürften derart weitreichende Konsequenzen ihres Verlangens vorhergesehen haben. Wenn heute die „Solidarität" sich in ihren Diskussionsthesen für ein Grundsatzprogramm als den einzigen „Garanten" der Erneuerung bezeichnet, so mag sie in einem ganz anderen Sinne als gemeint der faktischen Lage sehr nahekommen: Vor allem von der „Solidarität" hängt es nämlich ab, ob der Prozeß der „Erneuerung" sich in das ideologische und machtpolitische System in Osteuropa so einfügen kann, daß die polnische Entwicklung evolutionär verläuft und kontrollierbar bleibt, oder ob die Erneuerung zu einer Umwälzung zu werden droht, der die bisherigen Machthaber nicht anders als mit dem Einsatz von Gewalt begegnen zu können glauben.

Um Mißverständnisse zu vermeiden: Anders als die Ideologen und Propagandisten des „rea-len" Sozialismus behaupten, will auch heute unter den ernst zu nehmenden Führern der „Solidarität" und ihren Beratern subjektiv niemand die fundamentale Umwälzung des kommunistischen Herrschaftssystems in Polen und die daraus erwachsenden potentiellen Folgewirkungen für das internationale System in Europa. Vielmehr ist es der allgemeine Zustand des politischen Systems selbst, der die objektive Ursache dafür bildet, daß auch zunächst begrenzte Veränderungen Erschütterungen der gesamten Herrschaftsstruktur nach sich ziehen. Dieser Befund ist nur deshalb in Polen früher als in anderen Staaten der Sozialistischen Staatengemeinschaft offen zutage getreten, weil spezifische Besonderheiten der geistigen und gesellschaftlichen Tradition Polens es verhindert haben, daß in Polen ein ebenso dichter Gürtel der Abschirmung von der Außenwelt entstand wie in den Nachbar-ländern.

Hier liegt der zutreffende, nicht als bloße Taktik abzutuende Kerngehalt der von der Partei geprägten Formel von der „Front der kollektiven Vernunft und der patriotischen Verantwortung". Ob diese gemeinsame Front entstehen und Bestand haben kann, hängt deshalb nicht nur von der Aufrichtigkeit und von der Behauptungsfähigkeit der Zentristen in der PVAP gegenüber inneren und äußeren „hardlinern" ab, sondern es kommt auch auf die Einsicht der maßgebenden Kräfte der „Solidarität" in die Zusammenhänge an, in denen die Erneuerung stattfindet, und auf die Durchsetzung eines so begründeten Realismus gegenüber radikalen Utopisten und gegenüber der Aufbruchstimmung der Masse der „Solidaritäts" -Mitglieder.

Der Zerfall der Einheitsgewerkschaft Offiziell hält die PVAP — wie insbesondere die „Programmgrundlagen" für den 9. Parteitag zeigen — noch immer an dem Prinzip fest, daß die nach dem Zerfall des ehemaligen Einheitsgewerkschaftsverbandes entstandenen drei Arbeitnehmergewerkschaften gleichrangig zu behandeln sind und ihre engere Zusammenarbeit zu fördern ist. Das Festhalten an der Gleichberechtigung der Gewerkschaften mag ideologischen Notwendigkeiten dienen, daneben auch Ausdruck des Offenhaltens aller Optionen der künftigen polnischen Entwicklung, einschließlich einer letztlich doch gewaltsamen Lösung, sein. Faktisch hat die Partei-und Staatsführung inzwischen längst die „Solidarität" als den vorrangigen Ansprech-und Verhandlungspartner unter den Gewerkschaften akzeptiert.

Die eigentlichen Nachfolger des Einheitsgewerkschaftsverbandes, die sogenannten „Branchengewerkschaften", haben zwar unlängst noch bekanntgegeben, sie verträten 5 140 872 organisierte Arbeiter. Realistische Schätzungen des Mitgliederbestandes bewegen sich aber bei höchstens drei Millionen. Längerfristig kann nicht ausgeschlossen werden, daß sich die Branchengewerkschaften auch unter der Voraussetzung einer friedlichen Entwicklung des Erneuerungsprozesses erholen. Doch liegt dies kaum in ihrer eigenen Macht, sondern hängt vorläufig allein vom Erfolg oder vom Scheitern der „Solidarität" ab. Die Branchengewerkschaften suchen einstweilen ihren Platz zu behaupten, indem sie einerseits die Regierung auffordern, die Bevorzugung der „Solidarität" zu beenden, andererseits gegenüber der „Solidarität" und den Arbeitern als Trumpfkarte die immer noch zum Teil fortbestehende Verfügungsmacht über das Sachvermögen der alten Einheitsgewerkschaft, vor allem die Sozialeinrichtungen, ausspielen. Als taktische Generallinie befolgen sie einen Mittelweg zwischen den Forderungen der „Solidarität" und den Vernunftappellen der Partei und der Regierung. Im konkreten Falle kann dies freilich auch heißen, daß sich die Branchengewerkschaften an Arbeitsniederlegungen beB teiligen, wie etwa schon während der Auseinandersetzungen im Januar um die Arbeitszeit-verkürzung. Im Mai kam es sogar erstmals zu eigenen streikähnlichen Protestaktionen einer Branchengewerkschaft der Feuerwehrleute, die Lohnerhöhungen zum Ziel hatten — und deshalb auf besonders heftige Proteste der „Solidarität" stießen, die seit dem Frühjahr bewußt auf nominale Einkommenssteigerungen verzichtet, da deren fatale inflatorische Wirkung längst offensichtlich geworden ist. Die jüngste Gewerkschaftsvereinigung der so-genannten „autonomen" Gewerkschaften soll eigenen Angaben zufolge zu Jahresbeginn 600 000 Mitglieder gehabt haben. Die „Autonomen" treten verhältnismäßig wenig hervor und schwimmen meist im Kielwasser der „Solidarität". Ihre Mitglieder scheinen vorwiegend qualifizierten Berufsgruppen anzugehören. Daher stellen die „autonomen" Gewerkschaften sich im Grunde als eine Art Angestelltengewerkschaft dar.

Insofern ergibt sich die Stellung der „Solidarität" als Hauptkontrahent und -partner der Regierung weder nur aus der Militanz der „Solidarität" noch lediglich aus dem guten Willen der Regierung, sondern schon allein aufgrund der tatsächlichen Situation in den Betrieben.

Das Angebot der Partnerschaft und die Forderung nach Mitverantwortung der „Solidarität"

Verantwortliche Stimmen aus der PVAP haben schon früh davor gewarnt, die Beziehungen zur „Solidarität" nur als taktische Aufgabe aufzufassen. Gleichwohl ist selbst das aufrichtigste Angebot der Partnerschaft immer Bestandteil der prinzipiellen Machtfrage, das heißt der Aufrechterhaltung der „führenden Rolle der Partei" — und wird auch so von den Beteiligten gesehen. Im Laufe der bisherigen Entwicklung dieser „antagonistischen Partnerschaft" hat sich herausgestellt, daß beide Kontrahenten ursprünglich einer Fehleinschätzung unterlagen: Während die „Solidarität“ dem Beitritt von Parteimitgliedern mißtrauisch gegenüberstand, forderte die Partei die eigene Basis auf, der „Solidarität" beizutreten, um für den sozialistischen Charakter der neuen Gewerkschaft zu sorgen. Heute muß jedoch die Partei eingestehen, daß die Einfluß16 nähme der einen Million Parteimitglieder der „Solidarität" statt in der erhofften Richtung vielmehr umgekehrt als Rebellion der Basis gegen die eigene Parteiführung wirkt. Gleichzeitig steht die Führung der „Solidarität" nicht mehr vor der Frage, wie sie sich vor den PVAP-Mitgliedern schützen soll, sondern sie müßte sich eher darum sorgen, wie sie die eigenen Mitglieder davon abhält, die Prozeduren der Gewerkschaft in die Partei zu übertragen und so das Gespenst aller leninfesten Parteiideologen, den „Anarcho-Syndikalismus", heraufzubeschwören.

Das gegenseitige Mißtrauen setzt sich nunmehr fort, obwohl die Überwindung der inneren Krise und die Abwendung der von außen drohenden Gefahren das Zusammenwirken in gemeinsamer Verantwortung verlangen. Naturgemäß ist es hier der jüngere Partner, der fürchtet, durch Übernahme der von ihm erwarteten Mitverantwortung sowohl für frühere Fehler des Regimes nachträglich mithaftbar gemacht zu werden als auch künftig als Sündenbock für alle weiteren Schwierigkeiten herhalten zu müssen. Das Maß und die Felder gemeinsamer Verantwortung will die „Solidarität" deshalb autonom bestimmen.

Wasa und andere Sprecher der „Solidarität" haben in den letzten Wochen mehrfach die Notwendigkeit anerkannt, die drei Grundabkommen vom Sommer 1980 und die vielen darauf fußenden Detailregelungen im Lichte der seitherigen Wirtschaftsentwicklung auf ihre wirtschaftliche Erfüllbarkeit zu prüfen. Ebenso verschließt sich die „Solidarität" nicht der Einsicht, daß der gemeinsame Hintergrund des Ausbruchs der Krisen von 1970, 1976 und 1980: die ökonomisch verfehlte Einfrierung der Preise für Grundnahrungsmittel, endlich beseitigt werden muß. Die Experten der „Solidarität" haben für das dabei einzuschlagende Verfahren Vorschläge ausgearbeitet. Gleiches gilt für die Lösung des Problems des katastrophalen Absinkens der Kohleförderung, aus der Polen theoretisch sofort eine fühlbare Verbesserung seiner Zahlungsbilanz erwarten könnte, tatsächlich aber zur Zeit nicht einmal den dringenden Inlandsbedarf decken kann. Die -Solidarität" hat sich gegen die Rückgängigmachung der Fünftage-Woche für die Bergarbeiter mit dem einleuchtenden Argument gewehrt, daß auf diese Weise nur die technischen und organisatorischen Mängel im Kohlebergbau abermals auf Kosten der Gesundheit der Menschen verdeckt werden würden. Die Regierung hat dies inzwischen eingesehen und schlägt nun vor, daß die Zechen sechs Tage arbeiten, die zahlenmäßig vergrößerten Belegschaften aber weiterhin in den Genuß der Arbeitszeitverkürzungen kommen sollen. Ausschlaggebend für die Verwirklichung von Partnerschaft und gemeinsamer Verantwortung ist freilich, ob auch die Sphäre der innenpolitischen Entwicklung davon erfaßt wird. Denn dort entscheidet sich, ob die PVAP und ihre Bündnispartner im Warschauer Pakt in der „Solidarität" das Entstehen einer um die Macht konkurrierenden Partei, die in allen Bereichen des politischen Lebens Kompetenzen beansprucht, sehen müssen, oder ob die „Solidarität" das bleibt, was sie ihrem Statut nach ist: eine Gewerkschaft.

Die inneren Auseinandersetzungen in der „Solidarität" um Ziele und Taktik der Gewerkschaft

Ungeachtet der vielen Interviews mit westlichen Medien, die Wasa mit sensationell wirkenden Posen und Aussprüchen zu Wort kommen lassen (und ein entsprechendes Echo in den Kommentaren der sozialistischen Nachbarn Polens finden), tritt der Vorsitzende des Landeskoordinationsausschusses in Polen schon seit langem als nüchterner Verteidiger der praktischen Vernunft auf. Erste Berichte über eine Abstimmungsniederlage Walesas bei einer so wichtigen Frage wie der Entscheidung über die Streiks um die Arbeitszeitverkürzung datieren vom Januar 1981. Und schon Anfang November — also noch vor dem erfolgreichen Abschluß des Ringens um die Registrierung der „Solidarität" — rief er seinen Kollegen zu: „Man darf nicht nur fordern, sondern muß auch aufbauen"! Seit der Bromberg-Krise fordert Wasa immer eindeutiger, die allzu starke Ausrichtung der „Solidaritäts" arbeit auf politische Probleme einzuschränken zugunsten der Konzentration auf die Aufgaben des Gewerkschaftsalltags und auf die Schaffung einer arbeitsfähigen Organisationsstruktur. Anläßlich der Bromberg-Krise mußte Wasa zweimal — sowohl bei der Beschlußfassung über die Abfolge von Warnstreik und anschließend angedrohtem Generalstreik als auch bei der Entscheidung über die Annahme der Einigung mit der Regierung — zu dem Mittel der Rücktrittsdrohung greifen, um seine Ansicht im Führungsgremium der „Solidarität" durchzusetzen. Dabei und bei weiteren Gelegenheiten wurde erkennbar, daß es in dem Führungsorgan der „Solidarität", dem Landeskoordinationsausschuß, heftige Auseinandersetzungen um die Strategie und Taktik der neuen Gewerkschaft gibt. Dabei mag zum Teil auch die begreifliche Sorge der Partner Wasas eine Rolle gespielt haben, Wasa sei nach seinen Empfängen bei Kania, Pikowski und Jaruzelski sowie bei Kardinal Wyszyhski und insbesondere bei Papst Johannes Paul II. in Rom im Begriff, ein autoritätes Ein-Mann-Regime in der „Solidarität" einzuführen. Dennoch sollten diese Auseinandersetzungen nicht überbewertet werden. Denn in einem politischen System, in dem jahrelang der Öffentlichkeit die Beschlußfassung über politische Fragen als Akte der einstimmigen Akklamation vorgeführt wurden, muß die „Solidarität“, ebenso wie die Partei, das Parlament und die Öffentlichkeit, erst lernen, Formen offener Diskussion wieder zu beherrschen.

Weit bedeutsamer als die sachlichen Differenzen in der „Solidaritäts'-Führung sind die grundsätzlichen Spannungen in der Gesamt-gewerkschaft, die ihre Wurzeln letztlich in nach Alter und Herkunftsregion unterschiedlichen Erfahrungshorizonten haben und daher nicht ohne weiteres durch Diskussion zu überwinden sind: Leute wie Wasa oder auch Jacek Kuroh gehören zu der Generation, die heute noch in den Branchengewerkschaften die Mehrheit bildet. Sie wissen um die vielfältigen Möglichkeiten, die den Machthabern zu Gebote stehen. Die Masse der „Solidaritäts" -Mitglieder ist dagegen so jung, daß sie selbst die Arbeitererschießungen des Dezember 1970 bestenfalls als Jugendliche in ihre Erinnerung aufgenommen haben und während des „technokratischen Liberalismus" der Ära Gierek eigene Erfahrungen mit dem Repressionsapparat des Staates höchstens oberflächlich und vorübergehend machen konnten.

Deshalb befinden sich in der Tat Wasa und seine Berater in einer Situation gegenüber der Basis der „Solidarität", die der der Zentristen in der Führung der PVAP im Verhältnis zu den Grundorganisationen der Partei vergleichbar scheint. Während jedoch die Partei noch immer über jahrelang bewährte Verfahren zur Steuerung der Basis verfügt, besitzt die junge Gewerkschaft keine entsprechenden Mittel. Damit aber sieht sich die „Solidarität" in besonders hohem Maße mit der Gefahr konfrontiert, bei Konfliktsituationen, die durch Provokationen der Gegner der Erneuerung noch verschärft werden können, die Kontrolle über die Reaktion der Basis zu verlieren.

Die Zukunft der „Solidarität"

Bislang sind über die Trends der zur Zeit stattfindenden Wahlen in der „Solidarität" kaum zuverlässige Informationen zu erhalten. Unverkennbar ist jedoch, daß die Führung der „Solidarität" bis zum Landeskongreß der Gewerkschaft Ende August alle Anstrengungen unternimmt, eine organisatorische Straffung zu erreichen. Schon im November 1980 versuchte die Zentrale in Danzig, lokale Streikaktionen an die Genehmigung des Landeskoordinationsausschusses zu binden. Dabei war ihr in den folgenden Monaten überwiegend, aber keineswegs immer Erfolg beschieden. Gegenwärtig wird in der gesamten Gewerkschaft darüber diskutiert, ob und wie die Gliederung der „Solidarität" nach dem Regionalprinzip durch eine Neugliederung nach dem Branchenprinzip ersetzt oder wenigstens ergänzt werden kann. Dahinter verbirgt sich weniger das Bestreben, den Branchengewerkschaften noch stärkere Konkurrenz zu machen. Das Regionalgliederungsprinzip beruht auf der Tatsache, daß die „Solidarität" aus den im Sommer 1980 überall im ganzen Land spontan gebildeten „Zwischenbetrieblichen Streikkomitees" entstanden ist. Mittlerweile erweist sich dieses Gliederungsprinzip jedoch als ein wesentliches Hindernis für die Bewahrung des notwendigen Zusammenhalts der „Solidarität". Offenbar leisten die regionalen und lokalen Gliederungen der von der Zentrale ausgehenden Bestrebung, zum Branchenprinzip überzugehen, beträchtlichen Widerstand, weil es ihren Vorstellungen von Demokratie zuwider-läuft. Bei konkreten Entscheidungen in Situationen der Konfrontation mit der Regierung konnte die Führung der „Solidarität“ ihre Linie des Maßhaltens bisher immer auch durch das gleichzeitige Einwirken von Appellen der Kirche absichern. Daran dürfte auch der Tod des Kardinalprimas nichts Entscheidendes geändert haben. Die prinzipielle, mit vergleichsweise abstrakten Argumenten oder Schlagworten geführte Auseinandersetzung um die Durchsetzung des Branchengliederungsprinzips ist jedoch dem Einfluß der Kirchenvertreter sehr viel weniger zugänglich. Erst recht kann die „Solidaritäts'-Führung um Wasa hier kaum Hilfe durch die Regierung erwarten. Deren beständige Aufforderung an die „Solidarität", sich von radikalen Elementen zu trennen, stößt vermutlich bei Teilen der Gewerkschaftsführung auf Verständnis. Jeder Versuch der Regierung, diesem Verlangen von außen nachzuhelfen, wird aber vorläufig noch den radikalen Strömungen in der Gewerkschaftsbewegung Auftrieb geben. Zudem stehen — unabhängig vom Parteitag der PVAP und von dem Landeskongreß der „Solidarität" — die Sejm-Beratungen der beiden für die Arbeit der „Solidarität" elementar wichtigen Gesetze über die Gewerkschaften und über die Zensur bevor. Sprecher der „Solidarität" haben Widerstand gegen alle Lösungen angekündigt, die die Interessen der „Solidarität" verletzen. All dies läßt gegenwärtig im Grunde nur die Schlußfolgerung zu, daß die Stabilisierung der „Solidarität" und ihre Einbindung in einen evolutionären Erneuerungsprozeß nicht von ihr allein bewerkstelligt werden können, sondern letztlich doch der Hilfe durch die Partei und durch die Regierung bedürfen. Damit bestätigt sich erneut, daß die beiden Kontrahenten und Partner der Erneuerung aufeinander angewiesen sind, wollen sie Polen aus der Krise herausführen. Sofern die PVAP die KPdSU davon überzeugen kann, daß das polnische Problem nicht mit einer Radikalkur gelöst werden kann, wird es dann in der Zukunft darauf ankommen, daß die Partei den Teil ihrer Basis, der gleichzeitig in der „Solidarität" aktiv ist, wieder zurückgewinnt, um ihn als Stützelement für die Realisten in der „Solidarität" einsetzbar zu machen. So schwierig dies auch sein mag — jeder andere Weg setzt das Gelingen des Erneuerungsprozesses in Polen der Gefahr des Scheiterns aus.

VII. Die Agrarverfassung: Die „sozialistische Umgestaltung auf dem Lande“ und die Bauern-, Solidarität"

Naturgemäß findet das Tauziehen zwischen der Partei-und Staatsführung und der „Solidarität" mit der Kirche als Vermittler im Hintergrund sowie mit den Pressionsmöglichkeiten der Nachbarn Polens die breiteste Aufmerksamkeit aller, die sich mit dem „polnischen Sommer" und seinen Folgen befassen. Dabei wird allzu leicht vergessen, daß die Ursache für die Fleischpreis-Steigerung und die daraus resultierenden Arbeiterstreiks die seit der Mitte der 70er Jahre stagnierende oder sogar zurückgehende Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse war. Dies wiederum beruht auf der oft dargestellten Inkonsequenz, die die Agrarpolitik der polnischen Kommunisten seit 1956 kennzeichnet, als Gomulka zwar den Kollektivierungsprozeß rückgängig machte, aber den drei Millionen Individualbauernhöfen, die noch heute drei Viertel der landwirtschaftlich genutzten Fläche Polens bewirtschaften, die nötige Unterstützung verweiger19 te, die es ermöglicht hätte, in Polen eine moderne, leistungsfähige Agrarproduktion aufzubauen. Die streikenden Arbeiter, die selbst zum großen Teil noch auf dem Lande geboren sind, waren sich dieses Grundübels der polnischen Wirtschaft bewußt und nahmen deshalb in ihren Forderungskatalog auch auf: — „Die Schaffung dauerhafter Perspektiven für die Entwicklung der bäuerlichen Familien-wirtschaft — die Grundlage der polnischen Landwirtschaft;

— die Gleichstellung der Sektoren der Landwirtschaft beim Zugang zu allen Produktionsmitteln, einschließlich des Bodens; — die Schaffung der Voraussetzungen für das Wiedererstehen der ländlichen Selbstverwaltung."

Da sich bereits im Sommer 1980 eine weitere Verschlechterung der Versorgung der Bevöl-B kerung mit Grundnahrungsmitteln abzeichnete, weil selbst das schon zuvor ungenügende Importvolumen von Futtermitteln nun angesichts der offenbar gewordenen Überschuldung des Landes als ungesichert erschien, blieb der polnischen Führung von vornherein nichts anderes übrig, als diese Forderungen zu unterschreiben.

Danach suchte sie zunächst die gemachten Konzessionen auf das unvermeidliche Minimum zu begrenzen. Gemeinsam mit der Bauernpartei veröffentlichte das Politbüro der PVAP am 20. Oktober 1980 den Entwurf eines gemeinsamen Positionspapiers, das drei Monate später endgültig als „Leitlinien der Agrarpolitik, der Landwirtschaft und der Nahrungsmittelwirtschaft" vorgestellt wurde. Die Autoren hatten sich darin zwar dazu durchgerungen, die Gleichberechtigung des staatlichen, des kollektivierten und des individualbäuerlichen Sektors der Landwirtschaft anzuerkennen und den Individualbauern zu versichern, sie könnten sich darauf verlassen, daß ihre Betriebe eine „dauerhafte Entwicklungsperspektive" in Polen vor sich hätten. Um das Versprechen zu unterstreichen, kündigten die „Leitlinien" an, daß die „Unantastbarkeit des bäuerlichen Eigentums und das Recht seiner Vererbung gesetzliche Bestätigung“ finden würden. Ferner hieß es in dem Dokument: „Beim Verkehr mit landwirtschaftlich genutzten Grundstücken wird mit voller Konsequenz das Prinzip angewandt: der Boden für die besten Landwirte. Es werden breite günstige Möglichkeiten für den Bodenerwerb und für die Vergrößerung der Individualbauernwirtschaften geschaffen.“ Alle diese Versprechungen und Zusagen wurden jedoch durch einen Passus der Leitlinien relativiert und in den Augen der Adressaten entwertet, der geeignet war, Mißtrauen in den Willen der politischen Führung zu schaffen, die „Erneuerung" auch in der Agrarpolitik zu verwirklichen. Denn die Verfasser des Dokuments konnten sich nicht dazu entschließen, die seit 1956 stetig proklamierte Zielvorstellung von der „sozialistischen Umgestaltung auf dem Lande" aufzugeben. Die Leitlinien formulierten: „Die Landwirtschaftspolitik wird auf der Grundlage der gerechten und gleichberechtigten Unterstützung aller Sektoren den sozialistischen Umgestaltungen auf dem Lande, der Entwicklung von staatlichen Landwirtschaftsbetrieben, landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und anderen Formen des gemeinsamen Wirtschaftens die_ne_n.

Zwar mag es ungerechtfertigt sein, daraus abzuleiten, die PVAP und die Bauernpartei seien von vornherein willens, die zeitweilig unumgänglichen Konzessionen an die Individualbauern bei nächster Gelegenheit wieder zurückzunehmen. Denn die Verfasser des Dokuments mußten selbstverständlich Rücksicht nehmen auf die „Allgemeinen Prinzipien beim Aufbau des Sozialismus", die seit 1957 für alle orthodoxen kommunistischen Parteien verbindlich sind. Dennoch erwies sich in der Folgezeit, daß das Dilemma der polnischen Kommunisten und der ihr gefügigen Bauernpartei nicht nur im abstrakt-theoretischen Bereich, sondern sofort bei einer sehr konkreten Gegenwartsfrage fühlbare Auswirkungen hatte: Schon 1978 waren in einigen Gegenden Polens Zusammenschlüsse von Individualbauern entstanden, die sich unter ähnlichen Bezeichnungen sämtlich als „Gewerkschaften" deklarierten. Im Herbst 1980 hatte sich diese Bauerngewerkschaftsbewegung über das ganze Land ausgebreitet. Die polnischen Bauern forderten nun — nach dem Vorbild der Arbeitnehmer-gewerkschaft „Solidarität" und mit deren Unterstützung — ebenfalls die Anerkennung und Registrierung als „Unabhängige Selbstverwaltende Gewerkschaft der Individualbauern — . Solidarität " (im folgenden kurz: Bauern-„Solidarität"). Die Regierung befürchtete davon vor allem eine praktische Konsequenz: künftige Streiks der landwirtschaftlichen Erzeuger. Die PVAP sah die Institutionen in Gefahr, die Gomulka seinerzeit als vermittelnde Lösung zwischen dem orthodoxen Gebot kollektiven Wirtschaftens und dem Verzicht auf die Kollektivierung eingeführt hatte: die sogenannten „Agrarzirkel" und die dazu gehörigen administrativen Lenkungsstrukturen. Außerdem erblickte sie — wie Kania Anfang Februar 1981 sagte — in der Zulassung der Bauern-„Solidarität" den möglichen Beginn eines „politischen Kampfes auf dem Lande". Die Führung der Bauernpartei schließlich ahnte, wie sich alsbald zeigte, zu Recht, daß der Streit um die Bauern-„Solidarität“ ihr eigenes politisches überleben gefährden würde, als der Vorsit-B zende der Bauernpartei und Parlamentspräsident, Gucwa, erklärte, die Bauern-„Solidarität" wolle die Bauernpartei „spalten".

Eine Zeitlang konnte diese gemeinsame Front der Gegner der Bauern-„Solidarität" den Gang der Entwicklung dadurch hemmen, daß das zur Entscheidung über den Registrierungsantrag aufgerufene Gericht rechtlich zutreffend die Registrierung verweigerte mit der Begründung, es fehle an einer ausreichenden Rechtsgrundlage. Der Einwand der Anwälte der Bauern-„Solidarität", in der sozialistischen Planwirtschaft seien auch die privaten Hofeigentümer materiell so vom Staat abhängig, daß sie unselbständigen Arbeitnehmern gleichzustellen seien, konnte als rein politisches Argument vom Gericht nicht akzeptiert werden.

Eben damit wurde aber bereits erkennbar, daß die rechtlichen Hindernisse für eine Registrierung nur so lange Bestand haben würden, bis eine entsprechende politische Willensbildung die Initiative zur Schaffung neuer rechtlicher Grundlagen ergreifen würde.

Der Sejm schuf am 6. Mai die Rechtsgrundlage für die Registrierung durch ein eigenes „Gesetz über die Individualbauerngewerkschaften". Die gerichtliche Registrierung erfolgte am 12. Mai.

Zum Ausgleich für dieses Nachgeben der Regierung und der beiden betroffenen politischen Parteien diente jedoch die gleichzeitige Registrierung des „Zentralverbands der Agrarzirkel und -Organisationen" (Centralny Zwiazek Kolek i Organizacji Rolniczych, CZKiOR). Damit ist ebenso wie in der Industrie mit den Branchengewerkschaften nun auch auf dem Lande ein Gegengewicht gegen die „Solidarität" vorhanden. Die Mitgliederzahl der Agrarzirkel wird derzeit auf rund 2, 6 Mio. geschätzt, während für die Bauern-„Solidarität" von 3, 5 Mio. Mitgliedern ausgegangen werden kann. Für die wirtschaftliche und für die politische Entwicklung des „Erneuerungs'-Prozesses auf dem Lande in Polen wird es nunmehr in erster Linie darauf ankommen, ob die beiden neuen Bauerngewerkschaften gegeneinander kämpfen oder ob sie imstande sein werden, ihre gemeinsamen Interessen an der Gesundung der polnischen Landwirtschaft gegenüber Parteien und Regierung geltend zu machen. Die Aussichten für eine positive Gestaltung des Verhältnisses sind, insgesamt betrachtet, nicht schlecht.

Aktueller hingegen ist ein potentieller Konflikt zwischen den beiden „Solidaritäts" -Gewerkschaften: Der schon bisher bei der Stadtbevölkerung verbreitete — zum Teil auch von der kommunistischen Propaganda mitgeförderte — Glaube, die Privatbauern hätten es besser als die Arbeiter, könnte einen neuen Aufschwung erfahren, wenn die unvermeidliche Reform des Preissystems für Grundnahrungsmittel eingeführt wird. Die Härten, die dabei für die Verbraucher trotz der Kompensationszahlungen für sozial Schwache entstehen werden, stehen dann in scheinbarem oder echtem Gegensatz zur Verbesserung der Einkommen der Landwirte, denen durch Anhebung der Aufkaufpreise des staatlichen Handels gerade der entscheidende Anreiz zur vermehrten Marktproduktion geboten werden soll. Hier liegt auch ein Ansatzpunkt für provokatorische Versuche aller Art, das innenpolitische Klima zu stören. Aufgabe der Führungen beider Gewerkschaften und ihrer zum Teil identischen Beratergruppen aus der katholischen Intelligenz sowie der Kirche wird es deshalb sein, einem derartigen Bruderzwist in der „Solidarität" entgegenzuwirken, wenn die Partei-und Staatsführung dazu nicht bereit oder in der Lage sein sollte.

Fest steht indessen, daß die im Grunde von allen gewünschte Steigerung der Leistungsfähigkeit der polnischen Landwirtschaft verhältnismäßig geringen finanziellen Aufwand erfordert. Würden erst einmal die doktrinären und bürokratischen Hemmnisse aus dem Weg geräumt, der Kleinindustrie und dem Handwerk auf dem Dorf Freiraum für Eigeninitiative gegeben und die Umorientierung der Industrie auf die Bereitstellung von Produktionsmitteln für die Landwirtschaft durchgeführt, müßte Polen nicht nur imstande sein, seine eigene Bevölkerung zu ernähren, sondern darüber hinaus auch wieder zum Devisenverdiener durch den Export von Agrargütern zu werden.

VIII. Die Mittlerstellung der Katholischen Kirche

Mehrfach wurde im Verlauf der vorstehenden Darlegungen auf die wichtige allgemeine Mittlerrolle der Katholischen Kirche und auf ihr vermittelndes Wirken bei konkreten Konflikten hingewiesen. Das allein schon rechtfertigt es, auch die Kirche Polens als eine der politischen Institutionen des Landes zu behandeln, ohne dazu auf die historischen Gründe für die Stellung der Kirche in Polen zurückzugreifen. Rückblickend bleibt jedoch festzuhalten, daß die aktuelle politische Profilierung der Kirche nicht erst mit dem „polnischen Sommer", auch nicht erst mit der Wahl des Kardinals Wojtyfa zum Papst, sondern bereits in der zweiten Hälfte des Jahres 1976 begann, als Gierek sich der Autorität der polnischen Bischöfe bediente, um die nach den Juni-Unruhen gefährdete Ruhe und Arbeitsdisziplin im Lande wiederherzustellen. Die unmittelbare Gegenleistung für diesen Dienst bestand in einer wachsenden Bereitschaft der politischen Führung, auf die seit Jahren vergeblich vorgebrachten Anliegen des Episkopats, wie die Genehmigung zum Bau von Kirchen oder die bessere Zuteilung von Papier für das kirchliche Presse-und Verlagswesen, einzugehen. Vor allem aber nutzte die Kirche ihre Fähigkeit zum Dialog mit allen Kräften des politischen Spektrums, um ihrerseits die Machthaber zur Achtung der Menschenwürde sowie zur Schaffung der politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für gerechte zwischenmenschliche Beziehungen zu mahnen. Daraus wiederum erwuchs ihr eine weitere Steigerung ihres nationalen Ansehens.

Auf den ersten Blick scheint es, als ob die Schwächung der Staats-und Parteimacht im Gefolge des „polnischen Sommers“ bei gleichzeitiger Vervielfältigung und Intensivierung der inneren Konflikte diese Autorität und Mittlerstellung der Kirche dauernd weiter stärken müßte. Dennoch ist gerade dieser Anschein zumindest fragwürdig.

Unübersehbar ist der enge Dialog, in dem die Kirche heute mit der Partei und mit der Regierung steht. Schon im Herbst 1980 wurde vereinbart, daß eine gemeinsame Kommission der Regierung und des Episkopats zu regelmäßigen Sitzungen zusammenkommen solle. Seit-B her haben derartige Sitzungen in etwa zweimonatigen Abständen stattgefunden. Ihre Ergebnisse werden in der Presse mitgeteilt. Bei der jüngsten Zusammenkunft gestand die Regierungsseite den Bischöfen den Ausbau des kirchlichen Schulwesens und eine flexiblere Behandlung von Anträgen auf Rückgabe des 1945 beschlagnahmten Grundvermögens der Kirche zu.

Die Aufwertung der Rolle der Kirchenführung und das erweiterte Echo für Ereignisse im Leben der Kirche in den Informationsmedien gingen nicht spurlos an der Diskussion in der Partei vorüber. Vor allem tauchte nun die Forderung auf, die Partei müsse in ihrem neuen Statut und in der Praxis ihr Verhalten zu den gläubigen Parteimitgliedern neu bestimmen. Im Mittelpunkt des Meinungsstreits stand die Frage, ob diese Parteimitglieder darauf verpflichtet werden sollen, die marxistisch-leninistische Weltanschauung zu akzeptieren und aktiv zu vertreten, oder ob es genüge, wenn sie die Politik der Partei in allen praktischen Sachfragen mittragen und sich ihrerseits aller Bekehrungsversuche enthalten.

Die immanente Problematik der Streitschlichtung und der Rolle des Vermittlers beruht indessen darauf, daß der Vermittler von beiden Seiten zwar dankbar begrüßt wird, wenn der Konflikt ohnehin so beschaffen ist, daß eine beide Streitparteien befriedigende Lösung möglich ist. Je mehr aber die Konflikte so gravierend sind, daß die beiderseitigen Positionen zu weit auseinander liegen, um mit einer Vermittlung eine versöhnende Lösung zu erreichen, wenden sich einer oder beide Kontrahenten gegen den Schlichter, der ihnen als mit dem Gegner im Bunde erscheint. Vor dieser Gefahr steht die Kirche inzwischen.

Bezeichnend für die Rollenverteilung zwischen Angreifer und Verteidiger in der derzeitigen polnischen Konstellation ist, daß die politische Führung bisher mit dem Wirken der Kirche zufrieden ist. Lediglich aus den Nachbarstaaten sind Kommentare zu verzeichnen, die auch die Katholische Kirche als „antisozialistische Kraft“ bezeichnen bzw.den Papst ein „reaktionäres Element" nennen oder andeuten, der Papst sei der Mentor der Streikaufrufe Walesas. Um so heftiger sind die Angriffe, die von derjenigen Seite gegen den Episkopat gerichtet werden, die ursprünglich der Kirche weit näher zu stehen schien als die polnischen Kommunisten: von den Dissidenten und deren Freunden im westlichen Ausland.

Erstmals wurde Kritik am Episkopat laut, als der Kardinalprimas während der entscheidenden letzten Augustwoche 1980 in Tschenstochau die Arbeiter zum Maßhalten aufrief und jedenfalls in der von den staatlichen Informationsmedien verbreiteten Fassung zur Beendigung der Streiks aufzufordern schien. In der in Paris erscheinenden Emigranten-Monatszeitschrift „Kultura" wurde daraus der Vorwurf abgeleitet, der Kardinalprimas habe sich durch das Gespenst der sowjetischen Intervention ins Bockshorn jagen lassen und beinahe die streikenden Arbeiter um den Erfolg gebracht. Ähnliches wiederholte sich, nachdem der Sprecher des Kardinals, Pfarrer Orszulik, westlichen Pressekorrespondenten ein Interview gegeben hatte, in dem er angeblich angedeutet haben soll, die Mitglieder des „KOR", insbesondere Jacek Kuroh, verfolgten Ziele, die nicht im Interesse Polens lägen.

Inwieweit derartige Kritik auch in Polen unter den gläubigen Katholiken weit verbreitet ist oder nur die Standpunkte bestimmter polnischer Emigrantengruppen widerspiegelt, läßt sich von außen schwer beurteilen.

Aber wenn die Erneuerung in Polen überhaupt eine Chance haben soll, die Besorgnisse der Nachbarn Polens zu überleben, und wenn die PVAP, die „Solidarität" und die Kirche sich zu der „Front der gemeinsamen Vernunft und der patriotischen Verantwortung" zusammenschließen sollen, kann es keine realistische Alternative zu dem Kurs des polnischen Episkopats geben.

Diesem pragmatischen, verantwortungsbewußten Kurs entspricht auf der Gegenseite in der PVAP die Linie, die der Minister für Kultur und Kunst, Jzef Tejchma, vor dem 11. Plenum des ZK der PVAP wie folgt umriß: „[Gegenwärtig] spricht man ... von einem Widerspruch zwischen der führenden Rolle der Partei und dem Zustand der Religiosität der Gesellschaft. Diese Frage soll man nicht theoretisch mehr komplizieren als es in der Praxis möglich ist, sie zu lösen ... In der ... Partei gibt es eine große Anzahl gläubiger Menschen, die ohne Konflikt mit ihrem Gewissen im Geist der Ideen des Sozialismus und seiner grundlegenden humanistisch-sozialen Werte erzogen worden sind. Es gibt jedoch keinen Grund zu einer Abkehr von den theoretisch universellen ideologischen Grundlagen der Partei, die auf dem Fundament des Marxismus beruhen. Dies wäre ein Schritt zurück vom Standpunkt der Partei, aber auch vom Standpunkt anderer ideell-philosophischer Strömungen, einschließlich der katholischen. Wenn wir etwas Neues suchen können und müssen, dann ist das eben der aufrichtige Dialog der universellen Humanismen — des marxistischen und des katholischen; denn in diesem Dialog, nicht aber in einer ideologischen Kapitulation, können neue Werte entstehen in der Kultur, in der Moral, beim Aufbau des sozialistischen Systems sowie letztlich bei der Festigung und der Entwicklung des Marxismus selbst."

IX. Schlußbemerkung

Die vorstehende Untersuchung der wichtigsten Strömungen und der Entwicklung der politischen Institutionen im Prozeß der Erneuerung in Polen hat gezeigt, daß — anders als 1968 in der Tschechoslowakei — keine akute Gefahr für ein Abkippen der Volksrepublik Polen in den „Reformismus" besteht. Zumindest auf der Führungsebene der drei wichtigsten Kräfte im politischen Leben Polens — der Partei, der „Solidarität" und der Katholischen Kirche — herrscht ein zentristischer Kurs vor.

Die Extremismen des „Dogmatismus" und des neostalinistischen Nationalismus einerseits sowie des „Revisionismus" und des antisowjetischen Nationalismus andererseits nehmen dort nur Randpositionen ein.

Insofern sollte man annehmen dürfen, daß auch die sowjetische Führung es weiterhin vorziehen wird, den Erneuerungsprozeß in Polen zwar kritisch zu kommentieren, mit verschiedenen Einwirkungsmitteln zu bremsen und so in annehmbaren Grenzen zu halten, aber nicht zum letzten Mittel der gewaltsamen Unterdrückung greift. Die seit Mitte Mai beinahe täglich zu registrierenden massiven Vorwürfe, Forderungen und bedrohlich wirkenden Wiederholungen von Teilstücken aus dem Szenarium der Reaktion des Warschauer Pakts auf den „Prager Frühling" haben bislang eine wichtige Grenzlinie noch nicht überschritten: den unzweideutigen Aufruf an alle übrigen Warschauer-Pakt-Mitglieder, „gemeinsam" die „sozialistischen Errungenschaften" anstelle einer dazu nicht mehr fähigen polnischen Führung zu sichern. Noch scheint die Vormacht des Pakts zu erwarten, daß der entfesselte Nervenkrieg in Polen nach dem 9. Parteitag der PVAP Wirkung zeitigt.

Dennoch sind einige Fragezeichen hinter diese „optimistische" Lageeinschätzung zu setzen: — Die unter westlichen Beobachtern verbreitete Erwartung, die Sowjetunion werde es nicht wagen, die von Moskau noch angestrebten Vorteile der Fortsetzung des Entspannungsprozesses durch Gewaltgebrauch gegen Polen aufs Spiel zu setzen, setzt voraus, daß die westlichen Staaten — anders als noch im Fall der sowjetischen Intervention in Afghanistan — zu einem gemeinsamen und angemessenen Vorgehen imstande sind. Die gemeinsamen Kommuniquös der NATO-Staaten und die bilateral der sowjetischen Führung übermittelten Warnungen dürften diese Fähigkeit noch nicht zweifelsfrei erweisen.

— Es ließe sich auch die Auffassung begründen, daß der Reform„frühling" in der Tschechoslowakei 1968 im Grunde ungefährlicher für das sowjetische Herrschaftssystem war als der polnische Erneuerungsprozeß. Denn gerade die Radikalität und das Tempo der Veränderungen in der Tschechoslowakei, vor allem in der kommunistischen Partei selbst, hätten damals zu der Überlegung im Politbüro der KPdSU führen können, daß die Reformer um Dubcek sehr bald an den inneren Schwierigkeiten und Widersprüchen gescheitert wären, die ihr Programm in sich barg. Der Erneuerungsprozeß des „polnischen Sommers" baut dagegen auf einer weit solideren Grundlage auf und würde weniger leicht in sich zusammenbrechen. Entweder besitzen die sowjetischen Machthaber nicht den nötigen Weitblick, um in der polnischen Krise den Vorboten ähnlicher Entwicklungen in anderen Volksdemokratien im Laufe der 80er Jahre zu sehen, oder sie besitzen diese Einsicht durchaus, ziehen daraus aber gerade die Konsequenz, daß sie sich bereits jetzt einer derartigen Entwicklung notfalls mit Gewalt entgegenstemmen müssen. In beiden Fällen würden die polnischen Zentristen um Kania und Jaruzelski in Moskau sehr bald kein Gehör mehr finden.

— Schließlich muß auch vor dem Mißverständnis der Euphorie in Polen gewarnt werden, als sei sie der Ausdruck der inneren Stärke des Erneuerungsprozesses. Die Begeisterung über die neu gewonnenen Freiheiten in Polen und die den Besucher erstaunende Furchtlosigkeit der Menschen dieses Landes sollten nicht darüber hinwegtäuschen, daß darunter eine Schicht der Angst liegt. Denn alle Beteiligten des Erneuerungsprozesses — vor allem die „Solidarität" und die PVAP — sind sich noch keineswegs sicher, daß der „polnische Sommer" eine unumkehrbare Entwicklung eingeleitet hat. Aus dieser Unsicherheit erwachsen einerseits Ungeduld und Übereifer vieler Anhänger der „Solidarität", andererseits die Zurückhaltung der Machthaber, sich auf den Dialog als das prinzipielle Mittel zur Beilegung der Konflikte in der polnischen Gesellschaft einzulassen. Im Ergebnis entsteht so ein fataler Kreis aus Mißtrauen und Aggressivität, der erst dann überwunden werden könnte, wenn der Erneuerungsprozeß die Phase der Euphorien und der auf seine Rückgängigmachung gerichteten Drohungen hinter sich gelassen hat.

X. Nachtrag

Der 9. (außerordentliche) Parteitag der PVAP begann, wie geplant, am 14. Juli. Seine Dauer mußte jedoch um zwei Tage verlängert werden, so daß im Zeitpunkt der Abfassung dieses Nachtrags die Schlußdokumente noch nicht vorliegen. Dennoch lassen sich aus den bisheB rigen Nachrichten bereits einige Ergebnisse vorstellen.

Der Abschluß der Parteitagsvorbereitungen Die Ende Juni abgeschlossenen Parteiwahlen hatten auf der unteren und mittleren Ebene der Parteiinstanzen zu einer Auswechslung durchschnittlich der Hälfte der Ersten Sekretäre geführt. In den Komitees lag der Prozentsatz der Veränderungen teilweise noch weit höher. Von den gewählten 1964 Delegierten des 9. Parteitages waren sogar nur 170 Teilnehmer frührerer Parteitage. Immerhin hatten neun von elf Politbüromitgliedern (Kania, Jablonski, Jagielski, Jaruzelski, Olszowski, Barcikowski, Zabinski, Moczar und Grabski) und drei der fünf Politbürokandidaten (Fiszbach, Kruk und Ney) die Nominierung als Parteitagsdelegierte erhalten. Ebenso waren alle drei Nichtpolitbüromitglieder des Sekretariats des ZK (Kurowski, Cypryniak und Gabrielski) nominiert worden. Die Vollmitglieder und die Kandidaten des Zentralkomitees waren jedoch nur zu rund 30% zum Parteitag entsandt worden. Insgesamt lag der Anteil der Arbeiter unter den Delegierten bei 22, 3% — bei einem Anteil am Gesamtmitgliederbestand der PVAP von 44, 7% —, während die Bauern mit knapp 10% ihrem zahlenmäßigen Gewicht in der Partei etwa entsprechend vertreten waren. Von den Delegierten gehörten 405 der „Solidarität", neun der Bauern-„Solidarität", 1099 den Branchengewerkschaften, 18 den Autonomen Gewerkschaften und 93 dem Gewerkschaftsverband der „Agrarzirkel" an.

Die in Polen und auch von ausländischen Beobachtern geäußerte Erwartung, daß der zentristische Kurs Kanias und Jaruzelskis auf dem Parteitag seine Bestätigung finden werde, war zwar insofern begründet, als eine Reihe profilierter Reformer ebenso bei den Partei-wahlen gescheitert war wie manche eindeutigen Vertreter der harten Linie. Dennoch bildete die überaus große Zahl der Neulinge einen Faktor der Ungewißheit. Hinzu kam, daß wenige Tage vor dem Parteitag an verschiedenen Orten Polens erstmals seit Anfang April regionale Gruppen der „Solidarität" wieder zu Warnstreiks gegriffen hatten, um sehr verschiedenartigen, darunter auch materiellen Forderungen Nachdruck zu verleihen, obwohl Lech Wasa fortfuhr, die Mitglieder der „Solidarität" vor Protestaktionen zu warnen. Er selbst wurde bei den Delegiertenwahlen des „Solidaritäts" -Bezirks Danzig mit klarer Mehrheit in seiner Funktion als Vorsitzender des Regionalverbandes bestätigt. Gleichzeitig freilich wurde in Bromberg auch der extreme Führer der dortigen „Solidarität", Jan Rulewski, wiedergewählt. Angesichts der von der Regierung Anfang Juli angekündigten durchschnittlichen Preiserhöhung für Lebensmittel um 123% und vor dem Hintergrund eines neuen Gesetzentwurfs der Berater der „Solidarität", mit dem ein radikales Modell der Arbeiterselbstverwaltung auf der Grundlage sogenannter „gesellschaftlicher Betriebe" propagiert wird, war so dem Parteitag noch einmal deutlich vor Augen geführt worden, daß die Lösung der Krise des Landes mehr verlangen würde als die Abrechnung mit den alten Spitzenpolitikern und die Erprobung des neuen innerparteilichen Demokratieverständnisses bei den Wahlen des Parteitags.

Für eine gewisse Beruhigung von außen sorgte der Besuch Gromykos in Warschau vom 3. bis 5. Juli. In dem gemeinsamen Kommunique nahmen Bekundungen der außenpolitischen Übereinstimmung mit der polnischen Führung den breitesten Raum ein. Lediglich der folgende Satz erinnerte an die Warnungen, die das ZK der KPdSU in seinem Brief vom 5. Juni an die PVAP gerichtet hatte: „Die Verteidigung der Errungenschaften des Sozialismus in der Volksrepublik Polen ist untrennbar von den Fragen der Unabhängigkeit und der Souveränität des polnischen Staates, von seiner Sicherheit und von der Unantastbarkeit seiner Grenzen."

Die Ergebnisse der Parteitagswahlen Nach dem spektakulären Verlauf der Parteitagsvorkonferenzen, der Grabski von einem „Wahlamoklauf" sprechen ließ, überrascht es nicht, daß auch der Parteitag selbst die Wahlen in den Mittelpunkt seiner Aktivität stellte. Der ursprüngliche Plan, die Wahl des Ersten Sekretärs der PVAP sofort zu Beginn der Beratungen durchzuführen, stieß offenbar auf den Widerstand der Mehrheit der Delegierten. Deshalb wurden zuerst das neue Zentralkomi25 tee mit 200 Vollmitgliedern und 70 Kandidaten sowie die 90 Mitglieder der zentralen Kommission für Parteikontrolle und die 70 Angehörigen der Zentralen Revisionskommission gewählt. Das Ergebnis dieser Wahlen entspricht rein quantitativ fast genau dem Verhältnis von Neulingen und Veteranen unter den Delegierten: Nur 41 der bisherigen Mitglieder der genannten Gremien fanden sich unter den 430 Gewählten wieder. Dagegen kam es zu einer unerwarteten Umkehr des zuvor von vielen kritisierten Mißverhältnisses in der Repräsentation der Arbeiter und Bauern auf dem Parteitag: Im neuen Zentralkomitee haben Arbeiter und Bauern zusammen die Mehrheit.

Angesichts des bislang kaum über den lokalen Bereich hinausgehenden Bekanntheitsgrades vieler dieser neuen ZK-Mitglieder lassen sich Aussagen über das politische Profil des neuen Zentralkomitees vorläufig noch am ehesten anhand der Erfolge und der Niederlagen bekannter Politiker machen. Aus dem alten Politbüro finden sich im neuen ZK nur noch Jaruzelski, der die Rekordzahl von 1615 Stimmen erhielt, Kania (1335 Stimmen), Barcikowski und Olszowski. Zusammen mit Vize-premier Rakowski ergibt sich daraus eine prominente Fünfergruppe, die den Balanceakt des Erneuerungskurses ziemlich genau in ihrer Zusammensetzung widerspiegelt. Allerdings ist nicht zu verkennen, daß eine Reihe wichtiger Protagonisten eines eindeutigen Erneuerungskurses wie Fiszbach, Klasa, Dabrowa durchgefallen sind und nur der Parteichef der Danziger Lenin-Werft, Labecki, aus dieser Gruppe im ZK verblieben ist. Zwar sind auf der anderen Seite auch Grabski, abiski und Moczar auf der Strecke geblieben. Sie haben jedoch in dem Bauarbeiterführer Siwak, dem Innenminister Milewski und dem wegen seiner antizionistischen Schriften bekannten Polizeihochschuldirektor Walichnowski gleichgesinnte Nachfolger gefunden. Erwähnt sei hier auch, daß ungeachtet der nominellen Mehrheit der Delegierten aus den Branchen-gewerkschaften ihr Vorsitzender, Szyszka, den Sprung in das ZK nicht schaffte.

Die relativ erfolgreiche Behauptung der „hardliner" hat sich bei den Wahlen zum Politbüro und zum Sekretariat bestätigt. Erster Sekretär wurde erneut Kania. Die Delegierten gaben ihm rund zwei Drittel der abgegebenen Stimmen. Sein einziger Gegenkandidat, der jedoch von vornherein nur der Form halber kandidierte, war Barcikowski. Rakowski, der mit einem ausdrücklichen Bekenntnis zu einem „Reformkurs“ sowohl begeisterte Zustimmung als auch scharfe Zurechtweisung unter den Delegierten fand, verzichtete ebenso wie Olszowski auf eine Gegenkandidatur, die nur die Gefahr offener Richtungskämpfe an der Parteispitze bedeutet hätte. Im neuen Politbüro, das vom Zentralkomitee am 19. Juli gewählt wurde, findet sich die obengenannte prominente Fünfergruppe um Rakowski vermindert. Als ausgewiesene Erneuerer können hier nur Labecki und bis zu gewissem Grad auch der Breslauer Parteichef Porebski gelten. Ihnen stehen jedoch insbesondere der erst kürzlich zum ZK-Kandidaten aufgestiegene Siwak und Milewski gegenüber. Im Sekretariat garantieren Olszowski und Milewski, daß reformistische Tendenzen sich kaum entfalten können. Wer den Beifall der Delegierten bei der Rede Jaruzelskis vor dem Parteitag am 19. Juli hörte, der jedesmal dann aufbrach, wenn die Rede von der Stärkung der Staatsmacht gegenüber den Kräften der „Anarchie“ war, wird jedenfalls vorsichtig sein mit der Behauptung, die personelle Erneuerung der Kader habe auch die programmatische Erneuerung der PVAP gefördert.

Erste Schlußfolgerungen Ohne Prüfung der noch ausstehenden Abschlußdokumente wie des Parteiprogramms und des neuen Statuts kann heute nur festgestellt werden, daß das Gesamtbild des Verlaufs zumindest zwiespältig wirkt: Die Lebhaftigkeit und Spontaneität der Diskussionsbeiträge, die Tatsache, daß erstmals bei einem kommunistischen Parteitag in einem der osteuropäischen Staaten Wahlen stattfanden, die ihren Namen verdienen, sollen keineswegs in ihrer Bedeutung unterschätzt werden. Gleichwohl ist unverkennbar, daß die Reden Kanias und Jaruzelskis kaum neue Wege aus der Krise gewiesen haben — wohl auch von vornherein nicht weisen konnten. Die Aufsplitterung der Sachdiskussion in 16 Arbeitsgruppen tat ein übriges, um zwar viele Sprecher zu Wort kommen, aber doch wenig davon erkenB nen zu lassen, wie aus der Masse der Einzelvorschläge ein geschlossenes, überzeugendes Aktionsprogramm, vor allem zur Überwindung der ökonomischen Probleme des Landes, werden kann. Der Abschluß der „Abrechnung" mit der Gierek-Gruppe, der nun im Parteiausschluß des ehemaligen Ersten Sekretärs der PVAP gipfelte, hat allenfalls den einen Nutzen, daß künftig dieser Themenbereich den Blick in die Zukunft nicht länger verstellen kann.

Ein „Reform" parteitag? Wohl kaum. Der Brief der KPdSU-Führung und die übrigen Warnsignale aus dem Warschauer Pakt haben gewirkt. Der Parteitag der „sozialitischen Erneuerung"? Ja, wenn man dessen eingedenk bleibt, daß weder Kania noch Walesa, weder der Papst in Rom noch der neue Kardinalprimas Glemp aus der Realität der geopolitischen Lage Polens ausbrechen können und daß die „Front der gemeinsamen Verantwortung und der vaterländischen Vernunft" bestenfalls erst am Beginn ihrer Verwirklichung und jedenfalls vor weiteren ernsten Belastungsproben steht.

Literaturhinweise

(Im folgenden sind lediglich seit dem August 1980 erschienene, in westlichen Sprachen verfaßte Analysen und Dokumentationen zusammengestellt.)

Dokumente AUGUST 1980 — The Strikes in Poland, München (Radio Free Europe Research) 1980, XIV, 447 S.

DOKUMENTE zur Krise in Polen — Die Entwicklung von Juli bis Anfang November 1980, in: Europa-Archiv, Vol. 35, No. 24 (25. Dezember 1980), S. D 659—D 696 DOKUMENTE zur Krise in Polen — Die Entwicklung im November und Dezember 1980, in: Europa-Archiv, Vol. 36, No. 4 (25. Februar 1981), S. D 109—D 134 DOKUMENTE zur Krise in Polen — Die Entwicklung von Januar bis März 1981, in: Europa-Archiv, Vol. 36, No. 12 (25. Juni 1981), S. D 303—D 334 Monographien, Zeltschriftenaufsätze und Kurz-analysen ALEXIEV, Alexander /JOHNSON, A. Ross /WIM-BUSH, S. Enders, If the Soviets Invade Poland, Santa Monica/Cal. 1980 (The RAND-Corporation P 6569), 9 S.

BADER, Erik-Michael, Polens lange Krise, in: Europa-Archiv, Vol. 36, No. 4 (25. Februar 1981), S. 97— 116 BIALER, Seweryn, Poland and the Soviet Imperium, in: Foreign Affairs, Vol. 59, No. 3 (Frühjahr 1981), S. 522— 539 BROMKE, Adam, Poland — The Cliffs Edge, in: Foreign Policy, No. 41 (Winter 1980/81), S. 154— 162 DARNTON, John, Sixty Days That Shook Poland, in: New York Times Magazine, 9. 11. 1980, S. 39— 41, S. 109— 119 — The Polish Awakening, in: New York Times Magazine, 14. 6. 1981, S. 32— 35, S. 74— 88 GRIFFITH, William, The Significance of Strikes and Reforms in Poland: An Assessment, in: United States Wireless Bulletin, No. 185, 1. 10. 1980, S. 25— 31 JOHNSON, ARoss /DEAN, Robert W. /ALE-XIEV, Alexander, East European Military Establishments: The Warsaw Pact Northern Tier, Santa Monica/Cal. 1980 (The RAND-Corporation R— 2427/1—AF/FF); XII, 205 S.

MUSHKAT, Marion, The Evolution of the Situation in Poland in 1980, Köln 1981 (Berichte des Bundes-instituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, No. 15— 1981), V, 148 S.

POLEN 1980: Erste Analysen der Entwicklungen nach den Streiks — Mit Beiträgen von Dieter BINGEN, Günter JAEHNE, Bernd KNABE, Heinrich MACHOWSKI, Christian MEIER, Fred OLDENBURG, Eberhard SCHINKE, Alarich SCHOLZ, Georg W. STROBEL — Köln, November 1980 (Sonderveröffentlichung des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien), 68 S.

PORTER, Bruce, The Repercussions of Gdansk: Polands Crisis and the Socialist Community, in:

RFER — RL 163/81, 16. 4. 1981, 20 S.

ROYEN, Christoph, Der „polnische Sommer" 1980 — Zwischenbilanz und Ausblick, in: Europa-Archiv, Vol. 35, No. 24 (25. Dezember 1980), S. 735— 746 WEYDENTHAL, Jan B.de, Workers and Party in Poland, in: Problems of Communism, Vol. 24, No. 6 (November/Dezember 1980), S. 1— 22

Fussnoten

Weitere Inhalte

Christoph Royen, Assessor jur., geb. 1937; Studium der Rechtswissenschaften, Slavistik und Osteuropäischen Geschichte in Frankfurt, Kiel, Berlin und New York; seit 1970 wissenschaftlicher Referent für Außenpolitik und Völkerrecht der osteuropäischen Staaten in der Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen/Isartal. Veröffentlichungen u. a.: Die sowjetische Koexistenzpolitik gegenüber Westeuropa — Voraussetzungen, Ziele, Dilemmata, Baden-Baden 1978; Die Einstellung der Sowjetunion und der übrigen osteuropäischen Staaten zu obligatorischen (gerichtlichen und schiedsgerichtlichen) Formen der friedlichen Streitbeilegung, in: B. Simma/E. Blenk-Knocke (Hrsg.), Zwischen Intervention und Zusammenarbeit — Interdisziplinäre Arbeitsgrundlagen zu Grundfragen der KSZE, Berlin 1979; Polens Entwicklung im europäischen Entspannungsprozeß der 70er Jahre, Eben-hausen 1979; Der „polnische Sommer" 1980 — Zwischenbilanz und Ausblick, in: Europa-Archiv 24/1980.