Zur 150. Wiederkehr seines Todestages
. Gleich Oberbergrat zu werden, das ist doch ein bisgen viel": so schrieb der König an den Minister, der die Beförderung eines 24jährigen Referendars zum Oberbergrat beantragt hatte. Aber der junge Mann, so die sofortige Antwort, habe sich „durch ausgezeichneten akademischen Fleiß und auf Reisen erhaltene Kenntnisse wahre Verdienste erworben", auch sich in des Ministers Ressort bereits hervorragend bewährt. Ohne weiter zu zögern, ließ daraufhin der König, der dieses Ministers Rat schätzte, die Ernennungsurkunde ausfertigen.
Man schrieb den März 1782. Der König war Preußens Friedrich II., später der Große genannt, der Minister ein Freiherr v. Heinitz, der jugendliche Oberbergrat der 1757 in Nassau an der Lahn geborene Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein, der ein Vierteljahrhundert danach an der Wiederaufrichtung des zusammengebrochenen Hohen-zollernstaates maßgeblich beteiligt sein sollte.
Stationen des Lebenslaufes
Stein, seiner Herkunft nach kein preußischer Untertan, dürfte sein Wirken für diesen Staat als eine Art freiwilliger Dienstleistung angesehen haben. Auch noch nach dem Untergang des alten Reiches, den er im Grunde niemals verschmerzt hat, erscheint sein nicht unbeträchtlicher Stolz zu einem guten Teil auf die alte Reichsunmittelbarkeit seines Geschlechtes gestützt. Dabei ist das Territorium derer vom Stein von einer heute kaum begreiflichen Winzigkeit gewesen. Es hat aus den beiden oberhalb des unteren Lahntales gelegenen Dörfern Frücht und Schweighausen bestanden; der von der Ruine der Stammburg überragte Ort Nassau, in dem die Familie ein Schloß bewohnte, hat dem gleichnamigen Fürstentum und späteren Herzogtum angehört. Aber noch 1818 hat Stein dem Herzog von Nassau-Usingen, an den seine Dörfer im Zuge der sogenannten Mediatisierung gefallen waren, den Untertaneneid verweigert, was zu jener Zeit freilich nicht einmal als Rechtsverwahrung noch sinnvoll gewesen ist.
Der Eintritt in den preußischen Staatsdienst ist nicht unmittelbar nach einem in Göttingen absolvierten Studium der Rechts-und Staatswissenschaften erfolgt. Der junge Mann arbei-tet zunächst einige Monate am Reichskammergericht in Wetzlar, lernt einige der kleineren deutschen Fürstenhöfe und den in seiner Ohnmacht fast gespenstisch wirkenden Reichstag zu Regensburg kennen und ist schließlich in Wien, der Quasi-Hauptstadt des morschen Gebildes, von dem kurz zuvor Voltaire gesagt hat, daß es weder heilig noch römisch noch ein Reich sei. Seither bemerkt man an Stein die etwas widersprüchlich anmutende Verbindung einer bleibenden Hochschätzung des Reichsrittertums mit einer unverhohlenen Verachtung der deutschen Klein-und Mittelstaaten. Später wird er auch oder gerade in der Frage der deutschen Einheit seine Hoffnung ausdrücklich auf die beiden „militärischen Mächte" Preußen und Österreich setzen. Der „Schildkrötenpanzer", den Jean Paul diesen beiden zuschrieb, ist Stein wohl eher als Vorzug erschienen.
Ein Brief, den die Mutter in Nassau — von ihr, einer geistig hochstehenden Frau, hat Stein die Energie geerbt — an die „geheiligte Person" des Königs von Preußen geschrieben hat, scheint den Eintritt in den Dienst des Potsdamers vorbereitet zu haben. Von 1780 bis 1804, und damit unter drei in ihrer Wesensart höchst ungleichen Monarchen, leistet Stein diesen Dienst weit überwiegend in Preußens westdeutschen Landesteilen. Schon 1784, noch nicht 27 Jahre alt, ist er Leiter des gesamten Bergwesens dieser Gebiete; danach steht er verschiedenen der Kammern vor, die man mit den späteren Regierungspräsidien vergleichen mag. 1793 heiratet er, kaum ganz ohne Berechnung, Wilhelmine Reichsgräfin von Wallmoden-Gimborn, die Tochter eines hannoverschen Generals: es ist dies eine im Sinne der Zeit „ebenbürtige" Ehe. 1796 wird er Oberpräsident, und als im neuen Jahrhundert durch den Reichsdeputationshauptschluß Münster und Paderborn preußisch werden, hat er sich der Aufgabe der verwaltungsorganisatorischen Eingliederung dieser Territorien zu stellen. Zuvor gibt es die Episode einer Studienreise nach England, die der Unermüdliche dem Minister von Heinitz gegenüber mit der Absicht begründet, „die dortigen metallischen, zu einem hohen Grad der Vollkommenheit gebrachten Fabrik-Anstalten und zu deren Betrieb angelegten Maschinen zu studieren und demnächst die erworbenen Kenntnisse zum Nutzen ... anzuwenden". Heute nennt man so etwas Industriespionage, die übrigens im konkreten Fall, in dem es der Besucher mit zu Recht mißtrauischen Briten zu tun bekam, wenig oder nichts erbracht hat.
Insgesamt handelt es sich bis 1804 um nicht viel mehr als die rasche Karriere eines Beamten, der sich als Behördenleiter immer erneut bewährt, aber dabei — das weisen die äußeren Daten nicht aus — einen Einblick in bürokratische Auswüchse und bedenkliche Mängel der gesamtstaatlichen Ordnung gewinnt. Das große Geschehen, das in diese Zeitspanne fällt, die Französische Revolution, hat Stein natürlich nicht unberührt gelassen, aber er hat es auch nicht vorübergehend mit der Begeisterung begrüßt, wie sie so viele der prominenten Zeitgenossen aufbrachten. Wäre die Entwicklung in Frankreich nur bis zur Errichtung der gewaltenteilenden konstitutionellen Monarchie fortgeschritten, so hätte der durch Montesquieu beeinflußte Stein sie fraglos akzeptiert; als er jedoch den „Umsturz einer Menge alter nützlicher Begriffe und Gewohnheiten" und „überspannte Grundsätze des Geistes der Neuerung" bemerkt, versagt er die Zustimmung.
Mit der im Herbst 1804 erfolgten Ernennung zum preußischen Staatsminister, die ihn aus der Provinz in die Hauptstadt ruft, beginnt das Jahrzehnt Steinscher Tätigkeit, durch das er in die Geschichte eingegangen ist. Er wird Finanzminister, wobei ihm, der in den westli-chen Landesteilen Wirtschaft und Verkehr nachdrücklich gefördert hat, auch das „Fabri-ken-Departement" untersteht. Dabei ist seine Berufung nach Berlin keineswegs glatt über die Bühne gegangen. Einige der höheren Beamten scheinen sie angeregt zu haben; andere haben warnend auf des Mannes „in Unruhe ausartende Tätigkeit, die jedes Neue schnell umfaßt und nicht ermüdet, das Neue nach kurzer Zeit mit etwas Neuerem zu vertauschen", verwiesen; gezögert hat dann Friedrich Wilhelm III., der geistig enge und wenig entschlußfreudige König.
Der Konflikt bleibt nicht aus. Stein wird nach schwerem Zerwürfnis mit dem König Anfang 1807 aus dem Ministeramt entlassen, aber noch im gleichen Jahre, in Preußens größter Not, erneut berufen. In der Zwischenzeit ist in seinem Geburtsort, in den er sich zurückgezogen hat, die seither so genannte Nassauer Denkschrift entstanden. In der nur vierzehnmonatigen zweiten Amtsperiode — von September 1807 bis November 1808 — ist er, ohne den Titel zu führen, Premierminister und auf der Höhe seines Wirkens: Er bringt mit der Bauernbefreiung und der Städteordnung das Hauptstück des mit seinem Namen verbundenen Werkes zustande. Nachdem ein Brief, in dem er sich über die Möglichkeit einer Erhebung gegen die Fremdherrschaft geäußert hat, in französische Hände gefallen ist, wird seine Position abermals unhaltbar. Er gibt sein Amt auf, wird durch Napoleon geächtet, flieht nach Böhmen; nun hat er nichts anderes mehr im Sinn als die deutsche Befreiung durch den Sturz des Franzosenkaisers.
Im Frühjahr 1812 durch den Zaren Alexander als dessen Berater für die deutschen Angelegenheiten nach Petersburg berufen, erlebt er Napoleons russisches Debakel. Anfang 1813 ist r in Königsberg, nun zwischen Rußland und Preußen in schwieriger Stellung, an der dort einsetzenden preußischen Erhebung führend beteiligt. Er drängt auf den Abschluß des preußisch-russischen Bündnisses, kehrt aber nicht in den preußischen Staatsdienst zurück. Man überträgt ihm das Präsidium eines Ver-wältungsrates der verbündeten Mächte für die in Deutschland befreiten Gebiete. Der Wiener Kongreß sieht ihn in wenig einflußreicher Position; 1815 aber hat er am Abschluß des Zweiten Pariser Friedens Anteil. „Stein", so Hugo Preuß über diese Jahre nach 1808, „fiel, und Deutschlands größter innerer Staatsmann ist niemals wieder zur Macht gekommen. Bei der großen Wende der deutschen Dinge durfte er im Gefolge des Kaisers von Rußland außer-amtlich mitwirken."
In der folgenden Friedenszeit wohnt er zumeist in Cappenberg bei Lünen in Westfalen, wo er eine säkularisierte Abtei erworben hat. Er begründet die „Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde", unterhält — bei bleibendem Interesse an den öffentlichen Angelegenheiten — die Verbindungen mit alten Freunden, unternimmt eine fast einjährige Reise durch die Schweiz nach Italien, wird Marschall des westfälischen Provinzial-Landtages. Am 29. Juni 1831 stirbt er; in der Gruft, die er im früher Steinschen Dorf Frücht hat errichten lassen, wird er beigesetzt.
Die Persönlichkeit
Er habe ihn, so Friedrich Wilhelm III. in einem Brief an seinen Minister Stein, immer für einen „denkenden, talentvollen und großer Konzeptionen fähigen Mann", dabei allerdings für . exzentrisch und genialisch“ gehalten; offenbar aber sei der Adressat „ein widerspenstiger, trotziger, hartnäckiger und ungehorsamer Staatsdiener", der, wenn er sein „respektwidriges und unanständiges Benehmen" nicht ändere, nicht im Staatsdienst verbleiben könne. Eine halbe Stunde nach Empfang dieses Schreibens, am Abend des 3. Januar 1807 in Königsberg, beantragt Stein seine Entlassung, unter die der König am folgenden Tag seinen Namen setzt.
Preußens schwarzer Oktober, mit der Katastrophe von Jena und Napoleons Einzug in Berlin, lag erst einige Wochen zurück; da mag man annehmen, daß Friedrich Wilhelm, dessen Finanzminister Stein übrigens beim Verlassen der Hauptstadt die königlichen Kassen in Sicherheit gebracht hatte, einfach den Kopf verloren habe. Aber so ist der erstaunliche Brief nicht zu erklären. Unzweifelhaft hat Stein den König aufs äußerste gereizt, dies zumal durch seine in der Sache gerechtfertigten, in der Form jedoch überzogenen Angriffe auf die „Kabinettsregierung", durch welche höchst nachteilige Konstruktion der Staatsspitze es der Monarch unmittelbar nur mit seinen Kabinettsräten zu tun hatte, die den Ministern den direkten Zugang zu ihm versperrten.
In einem Falle ist freilich Steins diesbezügliche Kritik gar nicht an den König gelangt: Seine noch vor dem Kriege niedergeschriebene „Darstellung der fehlerhaften Organisation des Kabinetts und der Notwendigkeit der Bildung einer Ministerial-Konferenz" hat jedoch der Königin Luise, auch Hardenbergvorgelegen. In ihrem sachlichen Teil waren diese Darlegungen wohl unangreifbar, dieser aber wird unversehens unterbrochen durch eine Kaskade heftigster Verbalinjurien. Die seinerzeit amtierenden Kabinettsräte, also immerhin die nächste Umgebung des Königs, hat damals auch der General Blücher in seiner unvergleichlichen Orthographie eine „boßhaffte Rotte niederer Faull Tiere" genannt; Stein aber geht die Reihe auch noch namentlich durch, und da ist dann die Rede von beschränkten Kenntnissen, einer vollkommenen Gleichgültigkeit gegen das Gute und Böse, unreinen und schwachen Händen, einem Umgang mit leeren und erbärmlichen Menschen, moralischer Verderbtheit, einem süßlichen und geschmeidigen Betragen; da ist der eine ein „abgestumpfter Wollüstling", ein anderer „ein ungebildeter Kopf von einem gemeinen Charakter".
Solcher — in diesem Fall zudem noch zu Papier gebrachter — Ausbrüche ungehemmten Zornes ist Stein fähig gewesen, und wenn man bedenkt, daß er jenes Schriftstück dem König hat zuleiten wollen, dessen nächste Berater er hier aufs Korn nahm, so bemerkt man die erstaunliche Unfähigkeit zu besonnener Taktik und diplomatischem Vorgehen, die auch bei anderen Gelegenheiten hervortrat. Er hat — ganz anders geartet als der geschmeidige, nicht zufällig wesentlich erfolgreichere Metternich, anders auch als Hardenberg und Wilhelm von Humboldt— die seinem Wesen angeborenen Kanten und Ecken niemals abgeschliffen; er konnte aufbrausen, brüskieren, auch verletzen. Für den „Beruf des Diplomatikers, des Ministers der auswärtigen Verhältnisse" — dieses Ressort trägt ihm der König bald nach Jena an — sieht er sich ungeeignet, in welcher Selbsteinschätzung man ihm nachträglich beipflichtet.
Für Ernst Moritz Arndt, der 1812/13 sein Sekretär gewesen ist und noch in hohem Alter über seine „Wanderungen und Wandelungen" mit ihm ein Buch geschrieben hat, war Stein „durch Gott ein Mensch des Sturmwinds". Aber Arndt, der dem von ihm Bewunderten immerhin die Fähigkeit zu „unerträglicher Grobheit“ attestiert, hält auch fest, daß dieser imstande gewesen sei, „als ein wahrhaft demütiger und rechtschaffener Mann seine Fehler nicht nur anzuerkennen, sondern auch wiedergutzumachen, wo er glaubte, gute Menschen durch zu große Geschwindigkeit und Heftigkeit verletzt zu haben" „Demütig vor Gott, hochherzig gegen Menschen" — so liest man am Grabe in Frücht. An der Demut vor Gott, und damit an der Echtheit von Steins Religiosität, für die das lutherische Bekenntnis die Richtschnur abgab und auf die die Strenge seiner sittlichen Maßstäbe zurückging, ist nicht zu zweifeln. Hingegen wird man die „Hochherzigkeit gegen Menschen" nicht zum Nennwert nehmen; der „Mensch des Sturmwinds", der die Kabinettsräte so wütend attackierte, hat den oder die Widersacher auch in keinem anderen Fall geschont. Im ganzen bemerkt man einen Charakter der geraden und klaren Linien, in dem die Verbindung eines massiven Selbstbewußtseins mit einer Selbstlosigkeit, die jedes eigene Interesse hintansetzt, hervortritt.
Stein und Hardenberg im verfassungsrechtli-eben und gesellschaftspolitischen, Scharnhorst und Gneisenau im militärischen Sektor — das sind die großen Namen der preußischen Reform nach 1806/07; keiner der Männer war geborener Preuße. An Stein bemerkt man eine „altväterische Rückständigkeit, durch die er zweifellos unter allen Reformern der unmodernste war" Tatsächlich ist er in der Viererreihe der rechte Flügelmann: vom Geist einer neuen Zeit weniger berührt als selbst die beiden Soldaten, mit denen er indessen durch wechselseitigen Respekt und völliges Vertrauen verbunden war, während ihn Hardenbergs Wandlungsfähigkeit im Laufe der Zeit immer mehr irritierte bis hin zu entschiedener Antipathie; noch in einem 1829 an Gneisenau gerichteten Brief hat er des Amtsnachfolgers „Stolz", „Unsittlichkeit" und „Geist der Intrige" getadelt. Er selbst aber ist noch für den späten Metternich ein „Phantast“ gewesen. Politiker urteilen nicht immer sehr freundlich übereinander: das war so, ist gegenwärtig so und wird auch zukünftig so sein. Daß Stein und Metternich, die beide dem reichsritterlichen Stande entstammten und deren Geburtsorte Nassau und Koblenz nahe beieinander liegen, bei der völligen Verschiedenheit ihrer Charaktere und ihrer Verhaltensweisen zu keiner Zeit Verständnis füreinander aufgebracht haben, kann kaum überraschen.
Die Reformen
Die mit den Namen Stein und Hardenberg verbundene preußische Reform nach der Katastrophe von 1806/07 ist natürlich nicht bis ins Detail durch diese beiden Minister gestaltet worden. Aus einer Reihe höchst fähiger Mitarbeiter ist etwa Theodor von Schön zu nennen, der die Bauernbefreiung bei Steins Rückkehr mit anderen so weit vorbereitet hatte, daß das berühmte „Edikt, den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums sowie die persönlichen Verhältnisse der Landbewohner betreffend" schon am 9. Oktober 1807, wenige Tage nach der zweiten Amtsübernahme, vom König unterzeichnet werden konnte. Ähnliches gilt für das zweite Hauptstück der Reform, die im November 1808 ergangene Städteordnung; ihre Textfassung wird besonders dem Königsberger Polizeidirektor Frey zugeschrieben. „Der persönliche Anteil Steins an der Städteordnung war gering." Man darf jedoch nicht meinen, daß die Reformen auch ohne Stein hätten Zustandekommen können. Nur durch seine unbeugsame Energie ist am Ende das, was in ihm und in anderen an Vorstellungen und Zielbildern angelegt war, in der gewiß unvollkommenen, dabei aber richtungweisenden Form, in der es sich in der Rückschau darstellt, in die Wirklichkeit überführt worden.
Das Oktoberedikt hat den Zorn der Gutsherren erregt; es sei, so ist gesagt worden, schlimmer als drei Schlachten von Jena, übrigens hat es, zusammen mit einigen Nachträgen, nicht nur Gutes erbracht, nämlich im Endeffekt, sehr gegen den Willen der Urheber, den Groß-grundbesitz gefördert. Aufgehoben wurde die Erbuntertänigkeit der Bauern mit den aus ihr sich ergebenden Verpflichtungen; auch sollten die Nichtadeligen nun adelige Rittergüter erwerben können. Und „jeder Edelmann ist ohne allen Nachteil seines Standes befugt, bürgerliche Gewerbe zu treiben, und jeder Bürger oder Bauer ist berechtigt, aus dem Bauern-in den Bürger-und aus dem Bürgerin den Bauernstand zu treten“. So hat der Erlaß überlebten ständischen Kastengeist den dem ersten siegreichen Stoß versetzt und eine Überbrückung der Gegensätze der verschiedenen Bevölkerungsschichten teils geschaffen, teils vorbereitet“ Um eine Aufhebung dieser Unterschiede im Sinne eines späteren Volksgemeinschaftsbegriffes, der über Steins Vorstellungen weit hinausgeht, hat es sich nicht gehandelt. Was die nur von fern angedeutete Gewerbefreiheit betrifft, so hat hier später Hardenberg deutlichere Marken gesetzt.
Steins Reformwerk, das ist oft gesagt worden, ist ein Torso geblieben. Aber die zweite Amtszeit, in der Preußens leitender Minister überdies schwierige Verhandlungen über die an Frankreich zu zahlende Kriegsentschädigung zu führen hatte, hat nur knapp vierzehn Monate gedauert. Was er unter Dach, das heißt in die verbindliche Rechtsform, gebracht hat, ist viel, wenn man die Kürze der Zeitspanne bedenkt; es bleibt indessen hinter seinen Absichten weit zurück.
Am 24. November 1808, dem Tage seiner abermaligen Entlassung, ergeht eine „Verordnung, die veränderte Verfassung der obersten Verwaltungsbehörden in der Preußischen Monarchie betreffend". Die Zeit der Kabinettsräte ist damit abgelaufen; an die Stelle eines Nebeneinanders von Sach-und Provinzialressorts auf der höchsten Ebene treten fünf Fachministerien; eine Neuordnung erfahren auch die Provinzialbehörden.
Nur wenige Tage zuvor ist durch die Städte-ordnung das Tor zur kommunalen Selbstverwaltung aufgestoßen worden. Noch bleiben die Landgemeinden unberührt; auch kommt es nicht zu den gewählten Vertretungen auf den höheren Stufen bis hinauf zu den preußischen „Reichsständen", an die Stein denkt. Immerhin: In den Städten gibt der Staat die bisherige Position auf, behält sich dort nur Justiz und Polizei sowie ein gewisses Aufsichtsrecht vor. Von der Bürgerschaft gewählte Stadtverordnete sollen einen Magistrat wählen; das Wahlrecht steht dabei — noch kann sich niemand ein allgemeines Wahlrecht vorstellen — den Bürgern zu, die über Grundeigentum oder ein Mindesteinkommen verfügen; es gilt mit dieser Einschränkung jedoch „ohne alle Beziehung auf Zünfte, Stand, Korporation und Sekte", was besagt, daß die Stadt als echtes Gemeinwesen, der Bürger als ihr unmittelbar angehörig gesehen wird. Bemerkenswert ist, daß Stein in dieser ersten Fassung der Städteordnung — sie ist noch zu seinen Lebzeiten abgeändert worden — innerhalb von innerstädtischen Bezirken wählen läßt, und dies trotz der geringen Einwohnerzahl der meisten damaligen Städte; nicht nur in diesem Punkt hat er in Artur Mahraun, der in unserem Jahrhundert die nachbarschaftliche Aufgliederung der gesamten Wählerschaft gefordert hat, einen Nachfolger Für ostdeutsche Verhältnisse und Begriffe war die Städteordnung; wie zuvor die Aufhebung der Erbuntertänigkeit, geradezu revolutionär, und wahrscheinlich hat Hugo Preuß recht, wenn er meint, den Städten sei diese Magna Charta „gegen das warnende Jammergeschrei ihrer alten Magistrate, die von so zügelloser Freiheit den Weltuntergang prophezeiten", auferlegt worden, auch seien die Bürger selbst „stumm und stumpf" geblieben Es hat sich um ein Licht gehandelt, das nicht aus dem Osten hätte kommen können; Stein war, als er dieses Werk gestaltete oder gestalten ließ, aus anderer Richtung beeinflußt, etwa durch die „Amts-oder Erbentage" der Grundbesitzer, die er in Westfalen kennengelernt hatte, durch das englische Selfgovernment, durch die alt-deutsche Städtefreiheit und vielleicht auch die altgermanischen Ordnungen.
Man greift zu kurz, wenn man seine Reformen nur von außen, also auf das rein Formale hin betrachtet. Dem Gesamtkonzept, von dem nur ein Bruchteil verwirklicht worden ist, liegt eine erzieherische Absicht zugrunde, die man bei Stein schon vor dem Zusammenbruch von 1806/07 und der danach gebotenen Vorbereitung des Befreiungskampfes bemerkt. „Die despotischen Regierungen", so schreibt er schon 1796, „vernichten den Charakter des Volkes, da sie es von den öffentlichen Geschäften entfernen und deren Verwaltung einem eingeübten, ränkevollen Beamtenheer anvertrauen". Er will Kräfte wecken, die in der Passivität des Untertanentums brachliegen; er erkennt ein breites Potential von ungenutzten Fähigkeiten, das auf allen Ebenen, von der Kommune bis hinauf zum Gesamtstaat, in den Dienst am Gemeinwesen eintreten soll. In der Nassauer Denkschrift von 1807, dem großzügigen Entwurf des Reformwerkes, fordert er, „die Regierung durch die Kenntnisse und das Ansehen aller gebildeten Klassen zu verstärken, sie alle durch Überzeugung, Teilnahme und Mitwirkung bei den National-Angelegenhei-ten an den Staat zu knüpfen, den Kräften der Nation eine freie Tätigkeit und eine Richtung auf das Gemeinnützige zu geben, sie vom müßigen sinnlichen Genuß oder von leeren Hirngespinsten der Metaphysik oder von Verfolgung bloß eigennütziger Zwecke abzulenken".
Der „Formenkram und Dienst-Mechanismus“ der bisherigen Behörden müsse „durch Auf. nähme von Menschen aus dem Gewirre des praktischen Lebens zertrümmert" werden. Eine „Ersparung an Verwaltungs-Kosten" sei dabei „der weniger bedeutende Gewinn", denn „weit wichtiger ist die Belebung des Gemein-geistes und Bürgersinns", auch der „Einklang zwischen dem Geist der Nation, ihren Ansich-ten und Bedürfnissen und denen der Staats-Behörden". Wenn in diesem Zusammenhang von notwendiger „Wiederbelebung der Gefühle für Vaterland, Selbständigkeit und Na. tional-Ehre" die Rede ist, tritt die Absicht der Aktivierung geistig-sittlicher Kräfte hervor, ohne die sich der Moralist den Befreiungskampf nicht vorstellen kann.
„Alles kommt darauf an, die Nation zu gewöhnen, selbst ihre Geschäfte zu betreiben durch Bildung zweckmäßiger Kommunitäts-, Provinzial-und Staats-Verfassungen, und nicht ihre wichtigsten Angelegenheiten besoldeten Mietlingen zu überlassen.“ Diesen Satz schreibt der Emigrant, der sein Werk nicht hat vollenden können, 1809 in Brünn. Die „Mietlinge“ und einen gründlich verachteten „Mietlingsgeist" trifft man in seinen Niederschriften mehrfach an; gegen bürokratisches Unwesen zieht er immer erneut vom Leder. So will er von den Städten „eine formelle, alles lähmende Kontrolle und unfruchtbare, schädliche Schreiberei" fernhalten. Zur Städteordnung ist übrigens zu bedenken, daß kommunale Selbstverwaltung ursprünglich nicht die auf der Gemeindeebene vorgenommene Ersetzung des Staatsbeamten durch den Gemeindebeamten, vielmehr die nebenberufliche, ehrenamtliche Übernahme von Funktionen durch eingesessene Bürger bedeutet. Was aber Steins Widerwillen gegen eine ineffizient arbeitende, überholte Zustände konservierende Bürokratie angeht, so hat diese Stoßrichtung einiges zustan-degebracht; jedenfalls hat in unserer Zeit Alexander Rüstowin einem „preußisch-deutschen Reformbeamtentum" die „wahrhaft fortdauernde geschichtliche Schöpfung des Freiherrn vom Stein" gesehen
Natürlich darf oder muß man fragen, wie der Reformer Stein in geistesgeschichtlicher Sicht einzuordnen, wo ihm im Felde der Ideen oder Ideologien ein Platz anzuweisen ist. Da ent-deckt man bei näherem Zusehen bei diesem „Gebildeten unter den Verächtern" der Metaphysik so etwas wie eine hausbackene Staats-oder Sozialphilosophie, welche die Züge eines späteren Soziologismus, der die Zustände dem Geist voraufgehen läßt, vorwegnimmt. Für Stein sind nämlich die bürgerlichen Tugenden, die des Stadt-und/oder des Staatsbürgers, nicht a priori gegeben; er will Strukturen errichten, die sie überhaupt erst hervorrufen. „Die bisherigen Maßregeln gewöhnen die Menschen an ein träges, sinnliches Leben, welches sie herabwürdigt." Also müssen neue „Maßregeln" her, und zwar Ordnungen, die die Menschen an die „Geschäfte" — so nennt er beharrlich, und für den heutigen Leser mißverständlich, die öffentlichen Angelegenheiten — heranführen, „überhaupt werden sich die Menschen erst durch Geschäfte bilden, und durch Handeln wird die Nation erst mit ihrer Geschäftsfähigkeit bekannt."
An „demokratische Grundsätze in einer monarchischen Regierung" hat Hardenberg gedacht, während man bei Stein das Wort „demokratisch" nicht antrifft. „Seine Staatsauffassung ist dualistisch: Staat und Bürger, Staat und Gesellschaft, Staat und Volk stehen sich gegenüber, gehen nicht ineinander über." Das „auf die Volksgesamtheit gegründete genossenschaftliche Gemeinwesen", das der Historiker des deutschen Genossenschaftsrechtes Otto von Gierke 1909 in einer Berliner Universitätsrede preist wobei er dessen Existenz auf Steins Städteordnung zurückführt, lag einmal jenseits Steinscher Vorstellungen und Absichten und war zum andern im Wilhelminis-mus von 1909 bestimmt noch nicht gegeben. Im letzteren Punkt hat der Gierke-Schüler Hugo Preuß, der zum „Vater der Weimarer Verfassung" werden sollte, klarer gesehen, als er im für festrednerische Übertreibungen nicht mehr geeigneten Jahre 1917 meinte, daß „die Institute der Selbstverwaltung, torsoartig isoliert, innerhalb der alten Staatsstruktur stehen blieben". Die „Stein-Hardenbergsche Neuorientierung" sei „weder eine abgeschlossene Vergangenheit noch ein gesicherter Besitz der Gegenwart, sondern ein Programm der Zukunft" • Vielleicht sollte man darüber nachdenken, in welchem Sinne dies auch für die Bundesrepublik der achtziger Jahre noch gilt.
Auf Stein, den zu seinen Lebzeiten heftig Angefochtenen, haben sich nachträglich die verschiedensten Richtungen berufen. Die Liberalen können geltend machen, daß er gegen „alle überflüssige und schädliche Einmischung der Regierung bei Gegenständen, welche der Fürsorge jedes Einzelnen überlassen werden können", war, auch die „freiwillige Bewegung der Köpfe" und den „Gedankenumlauf" nicht hat behindert sehen wollen. Die Konservativen erfreut, daß der durch Justus Möser und Edmund Burke Beeinflußte, der das Gewordene — soweit irgend möglich — respektierte, immer wieder darauf gedrängt hat, „daß man das Gegenwärtige aus dem Vergangenen entwikkelt". Doch eine Kluft hat ihn, der jedenfalls Veränderung hat bewirken wollen, geschieden von jenen konservativen oder reaktionären Ultras, die es in diesem Lande damals gab, heute noch oder wieder gibt und wahrscheinlich auch morgen geben wird.
Gegen Napoleon
Vor dem Zeitalter der Revolution und Napoleons ist die deutsche Bildungsund Oberschicht von einer Abneigung gegen Frankreich, die Franzosen oder gar die französische Kultur bekanntlich weit entfernt gewesen; daß der spätere Napoleon-Hasser Stein in seiner Frühzeit die Mehrzahl seiner Briefe in französischer Sprache abgefaßt hat, ist nicht erstaunlieh. Wohl erstmals in einem Brief von 1793, also nach dem Umschlag der Revolution in den Terror, ist bei ihm von der „scheußlichen Nation der Franzosen" die Rede. Bemerkenswert ist in diesem Brief die Voraussage, daß es „einen Krieg von mehreren Jahren" geben werde. Tatsächlich hat der Erste Koalitionskrieg kein rasches Ende gefunden; auch liegt es nahe, das von 1792 bis 1815 andauernde Ringen zwischen Frankreich auf der einen, den je-weiligen Koalitionspartnern auf der anderen Seite, rückschauend als ein Ganzes, nämlich die mit Campo Formio (1797) beginnenden Friedensschlüsse der Epoche nur als zeitweilige Waffenstillstände anzusehen.
Anfang 1795 hat der Kammerpräsident Stein für die Verpflegung der in Westfalen stehenden preußischen Truppen zu sorgen. Daß er sich dabei einer „etwas unbürokratischen Methode" bedient, wie ein neuerer Biograph schreibt kann bei dem Verächter des „For-menkrams" kaum verwundern. Verbittert ist er bald darauf durch den Frieden von Basel, mit dem Preußen unter Preisgabe des linken Rheinufers aus dem Kriege ausscheidet; er schreibt seinem Schwiegervater Wallmoden, daß „dieser unglückselige Friede ... die Prinzipien allen Unglücks enthält, das uns bevorsteht". Eigentlich unglaublich, aber offenbar wahr ist, daß seine Wiederberufung im Jahre 1807, bald nach dem Tilsiter Frieden, auf Anraten Napoleons, mindestens aber mit dessen Billigung erfolgt ist. Die Erklärung liegt vielleicht darin, daß der Sieger, der aus Preußen beträchtliche Zahlungen herauspressen wollte, dort einen hochqualifizierten Finanzminister zu sehen wünschte. Wirklich hat Stein damals zunächst das betrieben, was unter vergleichbaren Vorzeichen in der Weimarer Ära von deutschen Nationalisten als „Erfüllungspolitik" gebrand-markt worden ist. Daß er schon bald auch an anderes denkt, erweist der der französischen Besatzungsmacht im August 1808 in die Hände gefallene Brief, der die Vorbereitung eines Befreiungskampfes andeutet. Noch ist mit der gefährlichen Panne sein persönliches Schicksal nicht sogleich entschieden; die zweite Entlassung aus dem Ministeramt erfolgt erst am 24. November. Drei Wochen danach durch den Imperator als „Feind Frankreichs und des Rheinbundes" geächtet, überdies durch den französischen Gesandten in Berlin gewarnt, verläßt er Preußen als Flüchtling und trifft im Januar 1809 in Prag ein.
über drei Jahre, bis zur Berufung nach Ruß-land im Frühjahr 1812, bleibt der Emigrant in Österreich. Von preußischer Amtspflicht frei, richtet er den Blick auf das zu befreiende Deutschland als ein Ganzes, ja auf Europa.
Eine unmittelbare Einwirkung auf den Ablauf der Dinge ist ihm versagt, aber er führt Gespräche, schreibt Briefe, entwirft Pläne, stellt Verbindungen her, wird zum Kristallisations. I punkt von Kräften. Daß „das Schicksal ... Machwerk dessen, der so gewaltig auf seine Zeitgenossen drückt, zertrümmern" werde steht für ihn fest, aber er will diesem Schicksal nachhelfen. Noch knapp vor dem Ende von Österreichs tapferem Alleingang von 1809 denkt er an eine „Aufregung aller National-kräfte", an eine englische Armee, die in Norddeutschland landen soll, an dort aufzustellende deutsche Truppen. Es fällt auf, daß er mit solchen Projekten oder auch nur Träumereien sogleich die Forderung nach neuen „Kommu-nal-Verfassungen“ verbindet. Sein innenpoliti. sches Konzept ist nicht verblaßt und die große Bedeutung, die der inneren Verfassung eines Gemeinwesens in der Bewährungsprobe eines I nach außen zu führenden Kampfes zukommt, bleibt ihm bewußt.
Am Ende der drei Jahre stellt er elegisch fest, daß er „seit 1809... in der Erwartung glücklicherer Ereignisse" gelebt habe. Dann wird er, nur wenige Wochen vor dem Beginn von Napoleons russischem Abenteuer, zum Berater des Zaren Alexander. Zweifellos hat er in dieser Funktion beträchtlichen Einfluß ausgeübt. Aber der begeisterte Arndt, an der Seite des standesbewußten Reichsfreiherrn nur eine gehobene Schreibkraft ohne Einblick in die entscheidenden Vorgänge, übertreibt wohl, wenn j er meint, „der Gewaltige" sei „im Rat des Zaren Alexander der Erste und Oberste" gewesen Es scheint immerhin zuzutreffen, daß Stein in Petersburg zur Kaltstellung des Kanzlers Ro- j manzoff beigetragen und damit die Partei am Zarenhof gestärkt hat, die für die Fortsetzung des Krieges auch nach der Befreiung des russischen Territoriums eintrat. Dabei liegt freilich die in jüngster Zeit erneut bejahte Frage nahe, ob nicht der ruhmsüchtige Alexander den Marsch nach Westen in jedem Falle, was auch immer die Berater meinten, angeordnet hätte
Mit Sicherheit ist es abwegig, in Stein den — das heißt den einzigen, alleinigen — Überwin-der Napoleons zu sehen. Die Grabschrift in Frücht, gewiß in gehobener Sprache abgefaßt, nennt ihn maßvoll und eben dadurch zutreffend „Deutschlands Mitbefreier". Napoleon ist nicht bezwungen worden durch Stein, auch nicht — um auf eine andere Verdienstzuweisung anzuspielen — durch Cneisenau, auch nicht durch Preußen, das sich aus jenem 23jäh-rigen Ringen, 1792 bis 1815, das zu jeder Stunde das ganze Deutschland anging, für eine lange Zeit abgemeldet hatte. Napoleon ist 1813/14, und noch einmal 1815, durch eine Koalition bezwungen worden, in der Preußen ein bewundernswerter Partner gewesen ist und zu deren Zustandekommen Stein einen wesentlichen Beitrag geleistet hat. .
Die gesamtdeutsche Frage
Das Wort vom „unteilbaren" Deutschland, respektabel durch die ihm zugrunde liegende Zielvorstellung, hat mit der geschichtlichen Wahrheit wenig zu tun. Deutschlands Teilbarkeit ist aus der Geschichte abzulesen; sein Normalzustand ist der der Geteiltheit. Das 1806 zu Grabe getragene alte Reich ist für Jahrhunderte nur ein brüchiges Dach über Gebilden verschiedenen Umfanges gewesen, von denen sich die größeren, Brandenburg-Preußen allen voran, oft und gern mit dem Ausland verbündeten, und dies ohne jede Rücksicht auf den Zusammenhalt des Ganzen, das womöglich weiter geschwächt werden sollte.
Der 1815 errichtete, 1866 zerstörte Deutsche Bund „war nicht schlecht von Haus“ (Grillparzer) ; daß ihn eine ziemlich erbärmliche Reaktion als Werkzeug nutzte, hat mit seinem Umfang und seiner Struktur nichts zu tun. Wer heute als Deutscher die in jenem Halbjahrhundert gültige Karte Mitteleuropas betrachtet, wird nachdenklich. Aber es kam Bismarck, dessen sogenannte Einigung den Ausschluß einer achtstelligen Zahl guter Deutscher aus Deutschland bedeutete. Der nächste Einiger, der Mann aus Braunau, Österreichs Rache für Königgrätz brachte die Russen an die Elbe.
Die heutige Dreiteilung — Bundesrepublik Deutschland, Deutsche Demokratische Republik, Österreich — ist mehr und anderes als nur das Ergebnis einer zufälligen Panne. Die „geschichtliche Dreiheit des altdeutschen, des südostund des nordostdeutschen Lebensraumes“ hat es längst zuvor gegeben. Bei jeder sozusagen tektonischen Erschütterung bricht Deutschland in diese drei Teile auseinander, wobei deren Grenzen gewiß wechseln. „Schweiz und Niederlande", so 1852 Georg Gottfried Gervinus, „fielen von uns ab-, unsere Großmächte im Osten, Preußen und Österreich, stellten sich auf eigene Füße; der übrige sieche, geteilte Körper blieb regungslos liegen, ein Spielwerk aller Rührigen und Tätigen" Ein höchst „Rühriger und Tätiger", Frankreichs Imperator, hatte sich zu Steins Zeiten des „übrigen Körpers" angenommen, um ihn in die Form des Rheinbundes zu bringen. Rheinbund, Preußen, Österreich: das war die napoleonische Dreiteilung, die der heutigen, bei der indessen die Machtgewichte anders gelagert sind und die Außenbeziehungen anders aussehen, nicht ganz unähnlich ist.
Die drei Teile unter ein neues gemeinsames Dach zu bringen, war die 1814/15 anstehende Aufgabe. Stein, seit 1808 „Staatsmann ohne Staat" stand in der ersten Reihe derer, die dazu gedankliche Vorarbeit geleistet hatten. Von einer auch nur gefühlsmäßigen Bindung an Preußen war er nun frei. Sein Bekenntnis, daß er „nur ein Vaterland, das heißt Deutschland“ habe und daß ihm „die Dynastien in diesem Augenblick der großen Entwicklung vollkommen gleichgültig" seien, ist oft wiedergegeben worden. Seinen Traum, das alte Reich wiederaufgerichtet zu sehen, mochte er nicht verleugnen; in einer für den Zaren bestimmten Denkschrift von 1812 hat er den deutschen Zustand „unter unseren großen Kaisern des 10. bis 13. Jahrhunderts" gepriesen, schon zuvor aber festgestellt, daß „die Wiederherstellung der ehemaligen Reichsverfassung ... unmöglich“
sei. Als man in der Folge daran dachte, die Kaiserwürde wieder dem Hause Habsburg anzutragen, hat das Haupt dieses Hauses, genauer gesagt dessen Minister Metternich, frühzeitig abgewinkt, übrigens haben nach der Leipziger Schlacht einige begeisterte Offiziere einem Staatsrechtslehrer die Frage vorgelegt, ob Stein nach den alten Reichsgesetzen zum deutschen Kaiser gewählt werden könne. Von einer vergleichbaren Sympathie für den immer wieder unbequemen Hitzkopf sind die zum Wiener Kongreß entsandten Bevollmächtigten, Preußens Vertreter einbegriffen, völlig frei gewesen.
Natürlich hat in Wien, soweit es sich dort um die deutsche Frage handelte, der von Gervinus so genannte „übrige Körper" — im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts ist oft vom „dritten Deutschland" die Rede gewesen — besonders schwierige Probleme aufgegeben. Stein hätte in diesem Raum gern eine gründliche Bereinigung vorgenommen; gegen die dort gebietenden „ 36 Despoten", die in der Mehrzahl recht getreue Gefolgsleute des Eroberers gewesen waren, hat er leidenschaftlich gewettert. Er selbst hatte schon 1812 vorgeschlagen, Preußen und Österreich als deutsche Führungsmächte einzusetzen, das eine für Norddeutschland und das andere für Süddeutschland; in den ungefähr durch den „Lauf des Mains" getrennten beiden westdeutschen Zonen sollten die kleineren Staaten verschwinden, die größeren als „Vasallen" der betreffenden Vormacht bestehen bleiben. Als er dieses Projekt 1813 noch einmal aufgriff, ging er so weit, von einem „Bund von Deutschland Österreich und Preußen" zu sprechen: diesmal war „Deutschland" nur der früher von ihm „das Reich" genannte Raum diesseits der beiden deutschen Ostmächte.
Der Deutsche Bund, wie er durch die Wiener Bundesakte von 1815 errichtet wurde, ist für Stein, der bis zuletzt einen engeren Zusam. menschluß erhofft hatte, eine herbe Enttäuschung gewesen. Das sei, so lautete die Klage, ein Gebilde „ohne Haupt, ohne Gerichtshöfe schwach verbunden für die gemeine Verteidi. gung"; auch seien „die Rechte der Einzelnen. durch nichts gesichert als die unbestimmte Erklärung, daß es Landstände geben solle“.
Fast gleichzeitig mit jener „unbestimmten Erklärung" hat Preußens Friedrich Wilhelm III. recht bestimmt verfügt, daß in seinem Lande, über das er praktisch uneingeschränkt gebot, „eine Repräsentation des Volks gebildet" werden solle. Als dieses eindeutige Verfassungsversprechen auch nach drei Jahren nicht eingelöst ist, stellt Stein fest, daß „hierdurch...der Unwille des Volkes gereizt und die moralische Kraft des Staates gelähmt“ werde. Wieder ist bei ihm 1818 die Rede von dem „Gemeingeist, der nur da wurzelt, wo eine Teilnahme am Gemeindewesen statthat"; nur durch „Teilnahme" — und da denkt er nicht nur an die Gemeinde — seien „die unvermeidlichen Unvollkommenheiten einer Verwaltung zu beseitigen, die ausschließend Beamten übertragen ist". Das ist die Stimme des Urhebers der Städteordnung von 1808, und dieser Stein spricht auch noch in unsere Zeit herein.