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Krieg und Revolution in Afghanistan | APuZ 23/1981 | bpb.de

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APuZ 23/1981 Artikel 1 Der Nordirland-Konflikt Krieg und Revolution in Afghanistan

Krieg und Revolution in Afghanistan

Fred Halliday

/ 5 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die innenpolitische Lage Afghanistans ist ausgesprochen brisant, da sich die Demokratische Volkspartei nur mit militärischer Hilfe der Sowjetunion an der Macht halten kann. Der Autor zeigt im Detail auf, mit welchen innen-und außenpolitischen Kräfteverhältnissen die DVPA seit ihrer Machtübernahme konfrontiert war, welche Reformen sie durchführen wollte und welche Fehler sie dabei beging. Er kritisiert vor allem die repressiven Methoden, mit denen die DVPA ihre Gegner bekämpfte. Die sowjetische Intervention ist der sichtbare Endpunkt einer ganzen Reihe von Einmischungen.

Der Autor dieses Beitrages hat seine intensive Kenntnis der Mittel-ost-Szenerie nicht nur am Schreibtisch erworben, er verdankt sie — Ergebnis wiederholter Aufenthalte in der Region — auch der eigenen Anschauung. Die letzte Reise nach AJghanistan, die ihren Niederschlag im „Nachtrag" zu dem Artikelgefunden hat, unternahm er im Herbst 1980. Die Redaktion möchte die Analyse dieses ausgewiesenen Sachkenners den Lesern der Beilage nicht vorenthalten. Daß manche Bewertungen des Mitherausgebers der Londoner„New Left Review" von dem abweichen, was zum Thema Intervention als „communis opinio" gelten darf, kann nicht überraschen, sollte aber als Ausdruck des Bemühens um Eigenständigkeit und Differenziertheit des Urteils respektiert werden. Einige Einzelheiten im Text, die zur Zeit der Erstveröffentlichung wegen ihres Neuigkeitsgehaltes mehr Beachtung beanspruchen konnten als heute, wurden weggelassen.

Die Redaktion Die dramatischen Ereignisse von Ende 1979 — die Intervention russischer Streitkräfte in Afghanistan und der Sturz von Präsident Hafizullah Amin — spielten sich knapp zwei Jahre nach dem Aufstand vom April 1978 ab, durch den die (kommunistische) Demokratische Volkspartei Afghanistans (DVPA) an die Macht gelangte. Obwohl niemand sagen kann, wie sich die Dinge entwickeln werden, liegt es auf der Hand, daß die afghanische Revolution auf sehr schwachen Füßen steht: Um zu überleben, bedarf sie der militärischen Unterstützung der Sowjetunion; aus eben diesem Grunde ist sie jedoch besonders anfällig, weil sich die neue Regierung von Babrak Karmal mit der Armee einer fremden Macht identifiziert. Zudem ist die DVPA von einer schlimmen Cliquenwirtschaft durchdrungen, die die russische Einmischung nur noch beschleunigte und verstärkte. Die Ursache der Krise liegt auch in den außerordentlich sperrigen Problemen, mit denen sich die DVPA bei der Durchführung ihres revolutionären Programms konfrontiert sah, sowie in den Feh-Übersetzung aus dem Englischen: Inge Aldenhövel. Erstveröffentlichung in New Left Review, Jan. —Feb. 1980, p. 20— 41. Der „Nachtrag" erschien zuerst in New Statesman, 5. 12. 1980 lern, die sie dabei beging. Ähnlich wie in Ruß-land nach 1917 folgte auf die relativ schnelle Machtergreifung in den Städten ein länger anhaltender Bürgerkrieg mit vom Ausland unterstützten konterrevolutionären Kräften. Bevor das neue Regime sich die Unterstützung der Landarbeiter durch wirksame und für sie bedeutende Reformen sichern konnte, gelang es der Gegenrevolution, weite Teile der armen Landbevölkerung zu mobilisieren, wobei sie die Ausschreitungen des Bürgerkriegs ausschließlich der Machtergreifung durch das neue Regime zuschrieb. Man weiß, um welchen Preis und mit welchen Konsequenzen die Bolschewik! nach der Revolution von 1917 ihre Anfangserfolge verteidigt haben. In Afghanistan werden die Auswirkungen des Bürgerkriegs angesichts der Härte, mit der die mit Moskau verbündete DVPA vorgeht, wahrscheinlich noch verheerender sein: Gewiß haben die Bolschewik! — Lenin eingeschlossen — während des russischen Bürgerkriegs mit nicht zu rechtfertigenden Methoden der Repression gearbeitet; doch die Führung der DVPA bedient sich in ihrem Kampf gegen die afghanische Konterrevolution in noch weit stärkerem Maße der systematischen Gewaltanwendung. Außerdem wurde in der bolschewistischen Partei über politische Meinungsverschiedenheiten abgestimmt; in Kabul werden sie mit Gewehrkugeln ausgetragen.

I. Die Wurzeln der Konterrevolution

Stärke und Schwäche der DVPA und die Art ihrer Machtergreifung wurden bereits mehrfach untersuch Die Partei hatte sich die revolutionäre Veränderung einer der ärmsten Gesellschaften dieser Erde zum Ziel gesetzt; aus politischen und strategischen Gründen konnte sie mit erheblicher Unterstützung aus dem nördlichen Nachbarstaat, der UdSSR, rechnen. Rußland leistete Afghanistan bereits seit den fünfziger Jahren stärkste wirtschaftliche und militärische Unterstützung, außerdem war es sein wichtigster Handelspartner. Die kleine DVPA hatte damals vermutlich kaum 5 000 Mitglieder, fast ausschließlich Intellektuelle aus städtischen Gebieten und Armeeoffiziere. 90 Prozent der Bevölkerung waren Analphabeten; 87 Prozent lebten auf dem Land; Stammes-, Volks-und Religionszugehörigkeit bildeten die Grundlage der Gesellschaftsstruktur und der politischen Gesinnungen. Der Siegeszug der DVPA und die Bereitschaft der Sowjetunion, sie zu unterstützen, waren zwar eine echte Chance für Afghanistan, doch bestand auch die Gefahr, daß es der Partei, deren Einzugsgebiet die Städte waren, nicht gelingen würde, die breite Masse der Landbevölkerung für sich zu gewinnen, falls sie Reformen auf bürokratischem Wege erzwingen sollte. Außerdem war damit zu rechnen, daß Ansätze zur Veränderung des afghanischen Gesellschaftssystems in die falsche Richtung gelenkt würden, wenn, anders als bei wirtschaftlicher oder militärischer Unterstützung, politische Strukturen nach sowjetischem Vorbild aufgebaut werden sollten.

Ein weiterer ausschlaggebender Faktor ist die Sozialstruktur des Hinterlandes, die besondere Schwierigkeiten für eine Veränderung nach sozialistischem Vorbild in sich birgt. Die politische Führung Afghanistans befand sich von Anfang an in einer Zwickmühle: Wenn sie vorsichtig zu Werke gegangen wäre und ihr Reformprogramm ausgesetzt hätte, bis ihre Position gefestigt war, bestand die Gefahr, daß man es ihr als Desinteresse an der Masse der armen Landbevölkerung und der Lohnarbei-ter, die keinen Grund und Boden besaßen, ausgelegt hätte, wenn sie hingegen die Reformen in der Hoffnung auf materiellen Nutzen für die arme Landbevölkerung rasch durchgeführt hätte, wäre sie Gefahr gelaufen, in soziale Konflikte auf dem Lande verwickelt zu werden, wo die DVPA so gut wie gar nicht organisiert war.

Vier Charakteristika des ländlichen Gesellschaftssystems sind besonders hervorzuheben, die jedes Programm für einen sozialen Wandel erschwerten. Zunächst einmal verstand die Landbevölkerung die sozialen Verhältnisse nicht primär als Klassenverhältnisse. In der Tat überschnitt sich die Klassenstruktur, basierend auf wirtschaftlicher Macht, mit ethnischen und reiligiösen Strukturen sowie mit den Stammeszugehörigkeiten. Jeder Versuch, ein solches System mit einem Appell an das Klassenbewußtsein der armen, besitzlosen Landbevölkerung zu reformieren, mußte erhebliche Schwierigkeiten bereiten, da die drei anderen Faktoren (Volks-, Religionsund Stammeszugehörigkeit) einen sehr starken Einfluß ausübten.

Das zweite ausschlaggebende Merkmal des ländlichen Gesellschaftssystems war die traditionelle Unabhängigkeit der Gebirgsstämme, die in der Vergangenheit von der Zentralregierung Subventionen erhalten hatten; für sie gehörte das Tragen von Waffen zum natürlichen Erscheinungsbild des erwachsenen Mannes. Selbstverständlich sahen diese Stämme in den Vorstößen der DVPA, eine Bodenreform durchzuführen, ihre Kontrolle zu erweitern und den Schmuggel über die Grenze zu Pakistan einzudämmen, eine Bedrohung; es war daher nur natürlich, daß sie den bewaffneten Aufstand probten, und dies in einer Weise, in der sie große Erfahrung hatten.

Ein drittes Problem bildeten die starken politischen Traditionen Afghanistans, die sich auch innerhalb der DVPA widerspiegeln: Afghanistan ist ein Land, in dem politische und soziale Streitfragen von jeher mit Waffengewalt geklärt wurden, ein Land, in dem extrem wenig Raum ist für gewaltfreie Lösung von Konflikten auf staatlicher Ebene oder auch zwischen dem Staat und seinen Bürgern. Die Konterrevolutionäre gingen sehr schnell dazu über, Mitglieder der DVPA ohne weiteres zu erschießen; und das Regime ging gegen tatsächliche oder vermeintliche Gegner seinerseits mit breit angelegter Brutalität vor.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Fred Halliday, Revolution in Afghanistan, in: New Left Review (NLR) 112, November/Dezember 1978. Vgl. auch Louis Dupre, Afghanistan under the Khalq, in: Problems of Communism, Juli/August 1979, und Selig Harrison, The Shah, Not Kremlin, Touched Off Afghanistan Coup, in: Washington Post, 13. Mai 1979. Der letztgenannte Beitrag enthält Insider-Informationen, in denen die Schuld des Irans am Sturz des Daud-Regimes im April 1980 aufgezeigt wird.

Weitere Inhalte

Fred Halliday, geb. 1946 in Irland; Studium am Queens College, Oxford, und an der School of Oriental and African Studies, London; Research Fellow am Transnationalen Institut in Amsterdam; Mitherausgeber der New Left Review. Zahlreiche Veröffentlichungen über den Nahen und Mittleren Osten. Auf deutsch u. a.: Iran-Analyse einer Gesellschaft im Entwicklungskrieg, Berlin 1979; Iran im Zeichen der Revolution, in: Der Bürger im Staat (herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung, Baden-Württemberg), Heft 1/1981.