Starnberg, den 17. 3. 81
Sehr geehrter Herr Nestler!
Ihre Sorge ist die meine. Deshalb möchte ich so persönlich antworten, wie Sie geschrieben haben.
Ich baue jetzt in mein Einfamilienhaus einen Grundschutzraum (Fallout-und Trümmerschütz) ein, im wesentlichen auf eigene Kosten. Ich tue das, obwohl ich auf vier Fragen die Antwort nicht weiß:
1. Ich weiß nicht, ob es in unserem Lande zu einem Krieg kommen wird, in dem dieser Raum gebraucht würde.
2. Ich weiß nicht, ob der Raum im Augenblick eines Kriegs ausreichen würde, um uns zu schützen.
3. Ich weiß nicht, ob Menschen, die die Kriegs-handlungen überlebt haben, nicht nachträglich durch Hunger, Krankheit, Chaos sterben würden.
4. Ich weiß nicht, ob die überlebenden einer solchen Katastrophe nicht die Toten beneiden würden.
Zuerst eine allgemeine Antwort auf die Fragen.
Ich bin alt genug, um meinen eigenen Tod zu akzeptieren. Aber es geht nicht um mich. Ein Arzt, der ein Mittel weiß, in einer Epidemie das Leben auch nur eines Patienten zu retten, und der das Mittel nicht anwendet, macht sich schuldig. Und ein Arzt, der für sich nicht tut, was er anderen empfiehlt, wirft einen Schatten des Zweifels auf seine Empfehlung. 1. Wie wahrscheinlich ist ein Krieg in unserem Lande?
Die Wahrscheinlichkeit eines seltenen Ereignisses ist stets eine subjektive Schätzung. Hier meine eigene Einschätzung: In den kommenden zwei Jahrzehnten ist ein Krieg in unserem Lande wahrscheinlicher als jemals seit 1954, dem Jahr der ersten Wasserstoffbombe. Er ist viel wahrscheinlicher als z. B. eine nicht durch Krieg ausgelöste, große Teile der Nation in Mitleidenschaft ziehende Reaktorkatastrophe, die freilich eben eminent unwahrscheinlich ist.
Zur Begründung zunächst ein Blick zurück.
Als 1944 das Ende des Zweiten Weltkriegs in Sicht kam, erwartete ich für unser Jahrhundert wenigstens einen weiteren Weltkrieg um die Hegemonie auf der technisch-wirtschaftlich immer mehr zur Einheit wachsenden Erde. Die Kernwaffen, zumal die Wasserstoffbombe, belehrten dann die Weltmächte über die mit diesem Krieg verbundene Lebensgefahr für sie selbst. So erhielten wir eine Atempause von mehreren Jahrzehnten.
Neulich kam mir ein Aufsatz über weltpoliti-sehe Prognosen in die Hand, den ich 1964 geschrieben habe, als sich der Übergang vom Kalten Krieg zur Entspannungspolitik angebahnt hatte 1) • Ich erwartete für die damals bevorstehenden Jahrzehnte einen „weltpolitischen Zyklus". Die weltweite Übermacht der im Kalten Krieg verstrickten einzigen militärischen Großmächte USA und USSR nannte ich „gegnerische Bipolarität". Die gegenseitige Lähmung der beiden Großmächte durch diesen Clinch ließ andere Zentren der wirtschaftlichen und politischen Macht hervortreten, „Polyzentrismus" — so Westeuropa, China, Japan, auch die Willenszentren der Dritten Welt. Dies mußte die beiden Großmächte lehren, ihr gemeinsames Interesse an einem Maß von Verständigung zu erkennen: „kooperative Bipolarität", auch Entspannung genannt. Aber, so erwartete ich, gerade ihre durch die Entspannung wiedergewonnene Handlungsfreiheit würde sie schließlich zur Verfolgung ihres unauflöslichen Hegemoniekonflikts zurückkehren lassen, also zum Rückläufen des Zyklus in gegnerische Bipolarität. Heute scheint mir, daß der Zyklus in 15 Jahren einmal durchlaufen worden ist.
Die Kriegsgefahr für Europa ist heute größer als vor 15 Jahren. Warum haben wir überhaupt in Europa, anders als in den meisten Regionen der Erde, seit dreieinhalb Jahrzehnten keinen Krieg (nur einige Vergewaltigungen freiheitsliebender Nationen) gesehen? Das hat zwei Gründe, einen weltpolitischen und einen waf-fentechnischen. Politisch haben die beiden Weltmächte damals Europa in zwei deutlich abgegrenzte Interessenzonen eingeteilt, deren. Grenzen keine von beiden seitdem überschritten hat In der „dritten" Welt hingegen blieb ein zu Kämpfen herausforderndes, politisch nicht permanent geregeltes Machtvakuum. Waffentechnisch hätte ein Waffengang der Supermächte in Europa die Eskalation zum selbstmörderischen Weltkrieg angedroht. Heute ist die Wirkung beider Gründe geschwächt: Waffentechnisch ist ein begrenzter Krieg auch in Europa heute leichter vorstellbar als damals. Graf Baudissin, mit dem mich seit Jahrzehnten eine in freundschaftlicher Form ausgetragene Uneinigkeit über die Zuverlässigkeit der Kriegsverhütung verbindet, schätzt diese Gefahr auch heute geringer ein als ich; ich wäre glücklich, wenn sich erwiese, daß er recht hat. Ich kann die Argumente hier nicht ausdiskutieren. Aber jedenfalls scheint es mir nicht erlaubt, die Vorbereitung des möglichen Schutzes für den Fall, daß die Hoffnung auf Kriegsverhütung sich als irrig erweist, zu vernachlässigen.
Weltpolitisch branden in den jetzt kommenden Jahren mehrere voneinander anscheinend unabhängige Wellen der Gefahr gleichsam zu einer Springflut zusammen. Die sowjetische Rüstung war vor 15 Jahren noch im Aufbau. Heute erreicht sie wohl das Maximum ihrer relativen Stärke, zumal da nun Amerika bewußt wieder in den Rüstungswettlauf eintritt. Politische Früchte, welche die Sowjetunion kraft militärischer Stärke ernten will, muß sie vielleicht bald ernten. In dieser Lage ist die Frage, ob die sowjetische Rüstung defensiv oder aggressiv gemeint ist, nicht die entscheidende. Wirtschaftlich und ideologisch gerät die Sowjetunion immer mehr in die Defensive; um so nötiger wird ihr die militärische Stärke erscheinen. Dazu kommt die fortschreitende politische Erregung der dritten Welt, das Wachstum der Rüstungen dort, die kritische Entwicklung der Weltwirtschaft, die wachsende Selbstbehauptungstendenz der außereuropäischen Kulturen. Der Blick aufs öl aber genügt, um zu zeigen, welche Rückwirkungen auf Europa eine weltpolitische Krise haben kann.
Es gibt nur einen ernst zu nehmenden politischen Einwand gegen Zivilschutzvorbereitungen: die Besorgnis, eben diese Vorbereitungen erhöhten die Kriegsgefahr. Man kann dreierlei Gründe dafür anführen:
— sie würden vom Gegner als Kriegsvorbereitung empfunden — sie entzögen der zur Abschreckung erforderlichen Rüstung finanzielle Mittel — sie erregten die Bevölkerung und riefen dadurch entweder chauvinistische oder kapitulationswillige Strömungen wach.
Von diesen drei Gründen scheint mir der erste schwach. Jedermann, ganz gewiß die sowjetische Führung, weiß, was für eine Katastrophe selbst bei größtmöglichem Zivilschutz ein Krieg für unser grenznahes, dichtbebautes Land wäre. Eben darum habe ich niemals mit militärischen, sondern nur mit humanitären Argumenten für den Zivilschutz gesprochen. Der zweite Grund unterschätzt, wie groß in einem Land wie dem unseren, in dem fast nichts für Zivilschutz getan worden ist, der Schutzzuwachs schon durch relativ kleine Staatsausgaben sein kann, wenn die Bürger selbst bereit wären, die Initiative zu ergreifen. Zudem ist dieser Grund zu nahe der gefährlichen Alles-oder-nichts-Politik: Totalabschreckung oder Totalkatastrophe.
Der dritte Grund ist der stärkste. Man sieht schon jetzt, da die Menschen an die Kriegsgefahr wieder zu glauben beginnen, wie die Angst zu extremen Verhaltensweisen treibt. Und in der Tat glaube ich, daß Chauvinismus und offene-Kapitulationswilligkeit die Kriegs-gefahr erhöhen. Ein jahrzehntelang durch maßvolle, aber entschiedene Drohung stabilisiertes außenpolitisches System gerät durch beide Bewegungen ins Wanken, und das Wanken bringt erhöhte Kriegsgefahr. Schon aus diesem Grunde habe ich, obwohl ich seit zwanzig Jahren öffentlich für Zivilschutz eintrete, nie versucht, eine Volksbewegung dafür zu mobilisieren; ich habe mich stets an die Expertenmeinung und an die Regierung gewandt. Aber heute wird die Kriegsgefahr zu sichtbar, die Menschen sind zu sehr schon ohnehin beunruhigt, als daß man auf sinnvolle Zivil-schutzmaßnahmen verzichten dürfte, „um schlafende Hunde nicht zu wecken". Sie wachen schon, man muß ihnen Vernünftiges zu tun geben. 2. Gibt es effektiven Zivilschutz?
Das Alles-oder-Nichts-Denken ist die eigentliche Gefahr. Gewiß besitzen beide Supermächte ein Atomwaffenpotential, das selbst bei einem auf Mittel-und Westeuropa beschränkten, aber mit „eurostrategischen" Waffen ausgetragenen Krieg unser Land auslöschen könnte. Jede der beiden Mächte kann in Versuchung sein, das wirklich zu tun, wenn sie unser Land als Basis wesentlicher militärischer Bedrohung durch den Gegner sieht: die Sowjetunion, wenn auf unserem Boden Waf13 fen stehen, welche den sowjetischen Boden erreichen können, die USA, wenn die Schlachten eines europäischen Bewegungskriegs lange genug auf unserem Boden ausgefochten würden. Aber das sind extreme Möglichkeiten. Sie sind für beide Seiten zu nahe der höchsten, für sie selbst lebensgefährlichen Eskalationsstufe. Die beiderseitigen Aufmarschpläne gehen von begrenzten Kriegshandlungen aus. Alle Kriege der letzten Jahrzehnte wurden mit begrenzten Waffen auf begrenzten Territorien ausgefochten. Daß Europa westlich der sowjetischen Staatsgrenze zeitweilig ein solches begrenztes Schlachtfeld werde, ist eine reale Gefahr: auf sie nicht gefaßt zu sein, wäre unverzeihlich. Dabei könnte das atomare Tabu gebrochen, der Einsatz von Atomwaffen in begrenztem Rahmen gewagt werden. Die Waffen dafür sind seit langem entwickelt. Die Problematik der Neutronenwaffe z. B. liegt in der erleichterten Einsatzmöglichkeit, nicht in der demagogisch verwendeten Formel, sie töte Menschen und schütze Sachwerte.
Schutz in einem nach Waffenwirkung und zeitlicher Dauer begrenzten Krieg ist möglich. Er mag im Zentrum der Kämpfe wirkungslos sein, aber sinnvoll im weiteren Umkreis. Dort verdient die Radioaktivität die größte Beachtung. Es gibt einen relativ großen Dosisbereich, dessen Belastung den Organismus nicht tötet, aber mit jahrelang anhaltender, oft nie mehr heilender Wirkung radikal schwächt. Etwas vom Wichtigsten für das Weiterleben nach einem Krieg ist aber körperliche Gesundheit der Arbeitenden. Ein großer Teil der durch Waffen erzeugten Radioaktivität ist kurzlebig und klingt in einigen Tagen ab. Solange sollten Menschen sich gegen sie schirmen können.
Wir können grob drei Stufen möglicher baulicher Schutzmaßnahmen unterscheiden:
1. kleine, in bestehenden Bauten oder in Gärten improvisierbare Maßnahmen,
Von diesen Stufen ist die erste sehr wichtig und ohne Zweifel realisierbar. Die zweite ist heute nur noch eingeschränkt realisierbar, verdient aber m. E. starke Förderung. Die dritte Stufe kommt nur ausnahmsweise, vor allem für zentrale Versorgungsanlagen, in Betracht. Es kann nicht Aufgabe dieses offenen Briefs sein, die Menge der praktischen Maßnahmen zu erörtern. Ich verweise dafür auf ein demnächst erscheinendes Buch von Philipp Sonntag 2) und auf die Ihnen zugängliche Literatur des Bundesamts für Zivilschutz. Ich verweise ferner auf den hochwichtigen Vorschlag von Hans-Jürgen Schilling, unverteidigte Orte zu schaffen 3). 3. Was geschieht nach einem Krieg in unserem Lande?
Hier liegt vielleicht die größte, die eigentliche Gefahr. Ich spreche jetzt nicht von den für niemanden vorhersehbaren außenpolitischen Folgen; es ist unvorhersehbar, wer politischer Sieger eines solchen Krieges sein würde. Ich spreche von der Gefahr des Chaos.
Gerade weil noch immer ein europäischer Krieg unwahrscheinlicher ist als weitere, auch große Kriege in anderen Teilen der Erde, besteht die Gefahr, daß ein europäischer Krieg, wenn es doch zu ihm kommt, Folge und Teil eines weltweiten Kriegs, eines Weltkriegs im geographischen Sinn wird.
Was wären die Folgen? Vermutlich ein zeitweiliger oder langfristiger Zusammenbruch des Welthandels. Das hieße für unser Land, auch wenn es nur vorübergehend vom Krieg berührt worden wäre: Verlust des Ols sowie ein vielleicht ganz oder teilweise zerstörtes heimisches Verteilungssystem der Energie, Wegfall aller Lebensmittelimporte — dies angesichts einer auf Export spezialisierten Industrie, einer von den elementaren Bedürfnissen fortspezialisierten Landwirtschaft, ferner: Feldbestellung ohne Benzin. Die Zustände nach dem Zweiten Weltkrieg waren viel besser. Die dezentralen Kraftwerke und Bäckereien funktionierten damals noch. Der Welthandel war nicht zusammengebrochen, und wir wurden ihm bald wieder eingefügt. Sollte es je zu den hier geschilderten Zuständen kommen, so würde das Überleben der Übrig-gebliebenen, ihre gesamte Chance einer neuen Zukunft, daran hängen, ob wir hier und heute vorgesorgt haben. Eine der wichtigsten Maßnahmen zum Bevölkerungsschutz ist die Sicherstellung eines Existenzminimums an längerfristiger Versorgung durch Vorräte und die Ermöglichung einer partiell autarken Binnenwirtschaft. Dies ist eine Forderung, die uns am ehesten in die Resignation treiben könnte. Sie ist wichtiger, strukturell tiefergreifender und schwerer ausführbar als Bunkerbau. Sie kollidiert mit unseren heutigen Wirtschaftsinteressen. Man wird sie ernst nehmen, wenn man die Gefahr ernst nehmen wird, aber zu fürchten ist, daß man die Gefahr ernst nehmen wird, wenn es zu spät ist. Aber wir dürfen nicht resignieren, und wir brauchen es nicht zu tun. In dieser Hinsicht arbeitet die Veränderung des öffentlichen Bewußtseins für uns, die in den letzten zehn Jahren unter ganz anderen, nämlich ökonomischen und ökologischen Gesichtspunkten begonnen hat. Die Ölkrise lehrt Energie sparen. Die Suche nach alternativen Lebensformen hat tiefere, kulturelle Gründe: aber jedenfalls wittert sie u. a. die Gefährdung durch ein zentralisiertes, jedoch nicht autarkes Versorgungssystem. Jedes einzelne Beispiel der Sicherung lokaler Selbstversorgung ist so Hein, daß man es für belanglos halten könnte; aber der Wille zu dieser Sicherung ist lebenswichtig. Mußte man z. B. an vielen Stellen lokale Brunnen und Quellen trockenlegen, um die Häuser an die so viel verletzlicheren (und teureren) zentralen Wasserversorgungen anzuschließen? Hier ist eine Denkaufgabe, die das Problem des Zivilschutzes weit überschreitet. Die Polarisierung unserer öffentlichen Meinung in „Technokraten" und „Alternative" kündigt vielleicht ein kulturelles Erdbeben an, löst aber kein Sachproblem. Zu durchdenken, wie eine technisch moderne Wirtschaft effizient undkrisenresistent sein könnte, wenn die Krisen andere als innerökonomische Auslöser haben — diese Erforschung unserer Lebensbedingungen ist nicht geleistet. 4. Resignation?
Hier ist nicht mehr viel zu sagen. Uns bedroht eine Menschheitskrise. Eine ihrer möglichen Gestalten ist ein Krieg, der auch unseren Kontinent erreicht. Eine wirkliche Krise ist stets eine Gefährdung der Existenz, sie ist stets eine Todesdrohung. Wird sie bestanden, so kann uns das eine neue, vorher unerreichbare Ebene des vernünftigen Verhaltens eröffnen. Resignation heißt Lähmung der Kraft, die Krise zu bestehen. Resignation kann sich in die Maske des Nichtsehens der Gefahr kleiden. Resignation kann aber überwunden werden durch das Beispiel von Menschen, die nicht resignieren.
Ich wünsche Ihnen, Herr Nestler, daß Sie nicht resignieren. Ich schriebe Ihnen diesen Brief nicht, wenn ich zu resignieren bereit wäre.
Ihr Carl Friedrich Weizsäcker