Vorbemerkung
Seit dem spektakulären Geschehen anläßlich des „feierlichen" Rekrutengelöbnisses im Mai vergangenen Jahres im Weserstadion zu Bremen hat das Problem der Traditionspflege in der Bundeswehr, das auch in den vorhergehenden Jahren immer wieder gelegentlich diskutiert wurde, ein erhöhtes öffentliches Interesse gefunden. Die sich bis zum Jahresende — im Jahre des 25jährigen Bestehens der Bundeswehr — anschließenden Ereignisse um die Gelöbnisfeiern haben dieses Interesse wach-gehalten und eher noch gesteigert. Wäre es nicht so makaber, so könnte die Anschauung jener Vorkommnisse zu der bissig-ironischen Feststellung führen, die gewalttätigen Demonstrationen seien eine augenfällige Form praktizierter militärischer Traditionspflege: Die Polizei benutzte Helme mit Visier und Schutzschild wie im Mittelalter, die Demonstranten warfen Pflastersteine in zwei Phasen, exakt nach dem Exerzierreglement der preußischen Infanterie im 18. Jahrhundert Allerdings hat die Form dieser Auseinandersetzungen nicht dazu beigetragen, das Problem sachlich anzugehen. Immerhin dürfte aber deutlich geworden sein, wie nötig es für die Klärung unseres politischen Selbstverständnisses ist, die Diskussion mit breiter Öffentlichkeitswirkung sachgerecht zu führen. Wurde sie bisher doch überwiegend vordergründig, zwar mit begrüßenswertem Engagement, deshalb aber doch auch sehr emotional bestritten.
Gewiß hat es unterdessen auch Ansätze zu einer vertieften, wissenschaftlich begründeten Auseinandersetzung mit dem Komplex der Traditionspflege der Bundeswehr gegeben. Das gilt etwa für die Arbeitstagung des Gesamtdeutschen Instituts im Auftrage des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen und des Bundesministers der Verteidigung im November 1980 in Lohmar-Kreuznaaf -Sie stand allerdings weniger im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Hingegen ist zu erwarten, daß eine Befragung, die der Bundesminister der Verteidigung im April d. J. abhält, eine ge. wisse Klärung zur Problemlage und den darauf aufbauenden praktischen Folgerungen bringen wird, die auch hinreichende öffentliche Resonanz finden dürfte.
Auch dieser Aufsatz versteht sich als ein Beitrag zur Objektivierung der Diskussion. Deshalb bemüht er sich auch um brauchbare Instrumente aus dem sozialwissenschaftlichen Arsenal, die hilfreich sein können. Unter poli. tologischer Fragestellung erweist sich das Konzept der „Politischen Kultur“ als geeigneter Bezugsrahmen für den Komplex demokratische Prinzipien, Tradition und militärische Verhaltensnormen, um den es hier geht. Dabei soll von drei Thesen ausgegangen werden. Sie geben zum Teil nur Selbstverständlichkeiten wieder, die aber in der bisherigen Diskussion häufig übersehen worden sind und deshalb wieder bewußt gemacht werden sollen. Zum anderen wollen sie aber auf den zentralen Punkt des Problems hin differierende oder gegensätzliche Auffassungen provozieren, um die Diskussion weiterzutreiben. Das gilt vor allem für die zweite These.
1. über das, was Tradition ist, haben zunächsl jeweils die Betroffenen selbst zu befinden Also im Falle militärischer Tradition die in dei Bundeswehr Diensttuenden, nicht aber Politologen (auch der Verfasser nicht), ambitionierte Parlamentarier oder Pfarrer, auch nicht Chef Ideologen politischer oder konfessioneller Ju gendverbände. Ja nicht einmal ein Ministei kann per Erlaß Tradition „verordnen“, auch nicht eine Parlamentsfraktion durch „Richtli nien". Denn Tradition läßt sich nicht oktroyie ren. Wenn sie lebendig wirkend sein soll, mut si aus echtem Betroffensein und Aufnahme bereitschaft der Beteiligten erwachsen, von ih nen verinnerlicht werden. Erst auf einer zwei ten Stufe der Traditionsentwicklung kann unc muß sich demokratische Öffentlichkeit mit In halten und Formen militärischer Traditioi auseinandersetzen. Sie muß dann auswählen welche Elemente sie integrieren will, weicht sie bloß tolerieren kann und welche sie strikt ablehnen muß.
Das Spannungsverhältnis zwischen demohratischen Prinzipien und den Funktionsbejürfnissen bewaffneter Macht ist grundsätzlich unaufhebbar und nur durch Kompromisse zu überbrücken. Es muß in dieser Weise auch in die Gestaltung der militärischen Traditionsoflege in einem demokratischen Staat eingehen, inhaltlich und formal seinen Ausdruck finden. Der Versuch einer Identitätsherstellung militärischer und politischer Intentionen, auch unter demokratischem Vorzeichen, würde zu zwei verhängnisvollen Alternativen führen. Entweder würde er in einen pseudodemokratisch-militanten Totalitarismus münden, oder die militärische Funktionsfähigkeit würde durch unzweckmäßige Verhaltensweisen beeinträchtigt.
Das Verhältnis Demokratie zur Tradition muß überdacht werden. Steht Demokratie als „progressive" Größe in einem prinzipiellen Gegensatz zum Traditionellen? Haben nicht auch Überlieferungselemente eine stabilisierende Wirkung für eine demokratische Ordnung? Sind nicht aber auch dominierende Einflüsse militärischer Faktoren auf das gesellschaftliche Leben ein Symptom für die mangelhafte Ausbildung demokratischer Tradition in Deutschland?
I. Zum Konzept der „Politischen Kultur"
Die Bezeichnung „Politische Kultur" hat in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Entwicklung durchgemacht Obwohl der Amerikaner Almond den Begriff der Politischen Kultur schon in den fünfziger Jahren zur vergleichenden Untersuchung politischer Systeme vorgeschlagen hat 2), ist er eigentlich erst mit der Wende zu den siebziger Jahren in die deutsche Politikwissenschaft aufgenommen worden 3). Größere Beachtung fand er jedoch vorerst nicht. Politische Kultur galt als eine Art Geheimcode für Eingeweihte.
Erst in der sich ausweitenden Diskussion der jüngsten Zeit, die mit Schlagworten wie . Staatsverdrossenheit" oder „Unregierbarkeit" der westlichen Demokratien eine Verunsicherung der Grundlagen politischen Selbstverständnisses erkennen läßt, die nach Orientierungshilfen sucht, erweist sich auch die Nützlichkeit des Begriffes „Politische Kultur". Seine Verwendung durch Politiker und politische Publizisten gibt ihm eine größere Öffentlichkeitswirksamkeit. In einem strengeren wissenschaftlichen Sinn wird versucht, Politische Kultur als Untersuchungskonzept einzusetzen.
Die vielseitige Verwendungsmöglichkeit des Begriffes „Politische Kultur" beruht auf der wenig präzisen Umschreibung dessen, was alles darunter gefaßt wird: Werthaltungen, Normen, Moralvorstellungen, Glaubensrichtungen, Sitten und Gebräuche, Stimmungen, Konventionen und Spielregeln („Fair play"), politischer Stil in Umgangsformen und Symbolen, Ideologien usw. Alle diese Elemente machen Politische Kultur zu einem bloßen Inbegriff aller für das politische Handeln relevanten Dispositionen. Damit wird Politische Kultur ein „fragwürdiger" Begriff. Es besteht die Gefahr, daß er zu einem bloßen „kurzlebigen Modewort" (Reichel) verkommt. Es gibt aber auch die Chance, Politische Kultur zu einem Forschungskonzept zu entwickeln, mit dessen Hilfe besser begründete Erklärungen für politische Sachverhalte gefunden werden können. Von einem solchen Bemühen ist die aktuelle Grundlagendiskussion in der deutschen Politikwissenschaft gekennzeichnet
Worum geht es dabei? Das leitende Frageinteresse lautet: Was veranlaßt Menschen zu einem bestimmten politischen Verhalten? Und wie läßt sich ihr Handeln erklären? Zunächst kann angenommen werden, daß die einzelnen als Angehörige einer sozialen Gruppe in dieser ihrer sozio-ökonomischen Stellung in der Gesellschaft — Marxisten sprechen von der „Klassenlage" — bestimmte Interessen entwikkeln, die ihr Verhalten bestimmen. Das tatsächliche politische Verhalten ist jedoch nicht als bloßes Umsetzen dieser objektiv gegebenen Interessenlage auszumachen. Hier kommt ein weiterer Erklärungsansatz hinzu, der darauf verweist, daß sich das politische Handeln an bestimmten vorgegebenen Normen orientiert. Mit dieser subjektiven Voraussetzung politischen Verhaltens ergibt sich ein Beziehungsdreieck Gesellschaftsstruktur— Normorientierung— Verhalten, das dazu beitragen kann, soziale Wirklichkeit zu erklären. Der Bezugsrahmen für diesen Erklärungsansatz ist das Politische System als ein Handlungssystem. Personen und soziale Gruppen verkörpern, indem sie miteinander in Beziehung treten, bestimmte „Rollen", die die Strukturen und Funktionen des Systems prägen und politische Prozesse in Gang setzen. Dabei orientieren sie ihr Verhalten an Werten und Normen, die sich in politischen Einstellungen ausdrücken. Jedes Politische System weist ein solches Orientierungsmuster für politisches Verhalten auf: seine Politische Kultur.
Eine Untersuchung über Politische Kultur beschäftigt sich also nicht mit dem Politischen System selbst, seinen Funktionen und Strukturen, seinen Institutionen und Prozessen. Sie richtet sich vielmehr auf die Widerspiegelung dieser realen politischen Erscheinungsformen im Bewußtsein, in den Werthaltungen und Einstellungen der Einzelpersonen, wie sie durch soziale Gruppenbildung vermittelt werden. Dies ist jedoch wiederum die Voraussetzung für tatsächliches politisches Handeln.
Dazu gehört allerdings ein zweiter, für unsere Fragestellung wichtiger Gesichtspunkt: Wie stellt sich das Politische System dar, wie „manifestiert" es sich im Stil seiner politischen Leistung, wie übt es die Regierungsfunktionen aus? Demnach ist also auch die Repräsenta-tion der Streitkräfte als Teil der Exekutive in der Öffentlichkeit ein beachtenswerter Aus druck Politischer Kultur.
Die Analyse politischer Wirklichkeit erstreck sich auf zwei Ebenen. Zum einen geht es um gesamtgesellschaftliche Bezüge, das Funktionieren des Politischen Systems, seine Institutionen, den Einfluß gesellschaftlicher Groß, gruppen, auf der „Makroebene“. Aber diese gesamtgesellschaftlichen Prozesse werdet durch die individuellen Verhaltensweisen der einzelnen Bürger und die sozialen Kleingrup. pen, in denen sie sich zusammenfinden, real vollzogen. Auf dieser, der Mikroebene wird wieder der Mensch sichtbar, der in der Anony. mität abstrakter Systemfunktionen vergessen scheint. Ein systematisch aufgebautes Konzept der Politischen Kultur versucht, auf beiden Ebenen Person und Politisches System miteinander zu verbinden Dazu ist es erforderlich, Politische Kultur nicht nur als Charakterisierung eines Politischen Systems generell zu bestimmen. Hier müssen vielmehr Fragen behandelt werden, wie der Anspruch eines Politischen Systems, sich in einer Politischen Kultur darzustellen, sich mit den Bedürfnissen und Ausdrucksformen sozialer Gruppen oder eigentümlicher sozialer Rollen vermitteln läßt Diese Fragestellung bestimmt auch die vorliegende Studie.
Ein weiterer Schritt, die Verbindung von Person, sozialer Gruppe und Politischem System zu klären, ergibt sich aus der Frage nach der Art und Weise der Vermittlung der das politische Verhalten orientierenden Werte unc Normen, nach politischer Sozialisation.
II. Tradierung von Werten — Politische Sozialisation
Jede Gesellschaft ist darauf angewiesen, ihren Mitgliedern die Wissensinhalte, Werte und Normen zu vermitteln, an denen sich soziales Verhalten orientiert. Die diesen Eingewöhnungsvorgang bewirkenden Lernprozesse werden als Sozialisation bezeichnet. In der herkömmlichen Auffassung dieses Vorgangs erfolgt eine bloße Übertragung von Sozialisationsinhalten auf einen passiven „Adressaten". In neueren Theorieansätzen zur Sozialisationsforschung wird der , zu sozialisierenden
Person eine aktivere Rolle zuerkannt. Sie is nicht bloß „Objekt" der Sozialisation, sondert wird mit ihren Lebensumständen als „Subjekt wahrgenommen Das kann jedoch nur bedeu ten, daß jede der Sozialisation unterworfen» Gruppe, in der Regel die junge nachrückendt Generation, sich kritisch mit den überliefertet Werten auseinandersetzt. Verzichten kann sie darauf nicht. Überlieferung und Innovation stehen in einem dialektischen Zusammenhang, um sozialen Wandel zu bewirken. Ohne ein Mindestmaß an Kontinuität, ohne Anknüpfen an bewährte Traditionselemente lassen sich Neuerungen nicht voll nutzen, Reformen nicht verwirklichen. Selbst in revolutionären Entwicklungsprozessen, die unter dem programmatischen Anspruch stehen, radikal mit der Überlieferung zu brechen, muß auf Traditionselemente zurückgegriffen werden, um den Bestand der Gesellschaft zu sichern.
Wertschätzung der Tradition bedeutet nicht starres Festhalten an überlebten, ihres Sinns entleerten Formen — als Traditionalismus ohne Perspektive. Es geht vielmehr um das Bewußtsein des dynamischen Zusammenhangs von Erfahrungswerten der Vergangenheit mit den auf die Zukunft gerichteten Gegenwartsaufgaben. Dafür ist die Ausbildung eines Geschichtsbewußtseins, das die sinnvolle Zuordnung von Traditionsmomenten in ihrem Vergangenheits-und Gegenwartsbezug ermöglicht, unerläßlich. Diese Vorbedingung gilt auch für die Probleme militärischer Tradition.
Daraus ergeben sich bestimmte kritische Fragestellungen: Inwieweit begründen eigentümliche historische Konstellationen für eine Gesellschaft insgesamt, für einzelne Institutionen oder soziale Rollen in einem Politischen System besonders starke Bindungen an traditionalistische Wertmuster? Fördern sie damit antidemokratische Einstellungen?
Zuvor sind jedoch für die Funktion der politischen Sozialisation noch einige Fragen zu klären: Gibt es eine spezifische politische Sozialisation oder ist nicht alle Sozialisation politisch? Es empfiehlt sich, hier zwischen Sozialisationsprozessen, die ausschließlich der Orientierung politischen Handelns dienen, und solchen, die vornehmlich auf andere — soziale, ökonomische, religiöse und kulturelle — Sinnzusammenhänge zielen, aber eben auch für das politische Verhalten relevant sind, zu unterscheiden Eine eindeutige Abgrenzung der politischen von der bloß politisch relevanten Sozialisationsmotivation ist weder möglich noch erforderlich. Auch der Komplex der militärischen Sozialisation, mit seiner technisch-praktischen, zu militärischem Handeln befähigenden Ausbildungskomponente wie mit seiner dieses Handeln leitenden Bildungs-und Erziehungskomponente, umfaßt beide Sozialisationsformen. Hieraus ergibt sich auch das Spannungsverhältnis zwischen einer demokratisch intendierten politischen und einer zweckorientierten militärischen Sozialisation, das unser Thema bestimmt
Damit ist auch auf die Unterscheidung von latenterund manifesterpolitischer Sozialisation einzugehen 10). Latente politische Sozialisation vollzieht sich unbeabsichtigt, nicht zuletzt durch eine selbstverständliche, unreflektierte Traditionspflege. Manifeste, beabsichtigte politische Sozialisation wird durch zielgerichtete politische Bildung veranstaltet, die mit einer bewußten Traditionspflege verknüpft sein kann.
Damit ist auch auf die Träger der Vermittlungsfunktion in den Sozialisationsprozessen einzugehen. Personen und Institutionen werden als „Sozialisationsagenten" wirksam: Familie, Schule, Jugendaltersgruppen, spezielle Bildungseinrichtungen und auch solche der organisierten gesellschaftspolitischen Kräfte — Parteien und Verbände, auch der Kirchen — Massenmedien, Betriebseinrichtungen. Auch die Institution Bundeswehr ist in verschiedener Hinsicht als ein „Sozialisationsträger" anzusehen, auch wenn sie nicht, wie längst klargestellt, die „Schule der Nation" ist Sie übt ihre Sozialisationsfunktion nicht nur in speziellen Einrichtungen und Veranstaltungen aus. Die Gestaltung von Autoritätsbeziehungen am Arbeitsplatz in den Betrieben wird allgemein als ein wichtiger Sozialisationsfaktor angesehen. Für den Arbeitsplatz „Bund" mit seinen besonderen Bedingungen ist eine gesteigerte Wirkung dieses Faktors anzunehmen.
Der Wirkzusammenhang der verschiedenen . Sozialisationsagenten'ist auch ein Ausdruck der Politischen Kultur. Ihr eigentümlicher Charakter ergibt sich aus dem Verhältnis der beteiligten Sozialisationsträger, von Unterstützung oder Ergänzung bis zur Konkurrenz im harten Gegeneinander. In entwickelten demokratischen Politischen Systemen prägen konkurrierende Sozialisationsträger mit unterschiedlichen Wertvorstellungen das Erscheinungsbild. Dagegen ist insofern nichts einzuwenden, als dem einzelnen als mündigem Staatsbürger grundsätzlich das Recht und die Möglichkeit gegeben sein soll, selbst zu be-* stimmen, welchen Sozialisationseinflüssen er sich öffnet, was er von tradierten Werten übernimmt, welche Elemente eines alternativen Bildungsangebots er auswählt. Dieses Prinzip muß in angemessener Weise auch für die politische Sozialisation der Bundeswehr, für politische Bildung und Traditionspflege gelten. Die legitimierten Entscheidungsinstanzen eines demokratischen Politischen Systems haben je. doch darüber zu wachen, daß sich die von ei. ner gemeinsamen, anerkannten Wertbasis ge. prägten bestimmenden Sozialisationsfaktoren für die Gesellschaft als Ganzes durchsetzen Nur so kann auch eine für alle Staatsbürger gemeinsame Politische Kultur erhalten werden.
III. Demokratische Prinzipien und Politische Kultur
Almond hat seine Vorstellung von Politischer Kultur am Muster der anglo-amerikanischen Demokratie gebildet, wie es sein Konzept der „Civic Culture", am treffendsten wohl mit „Staatsbürgerkultur'1 übersetzt, erkennen läßt Grundlage ist eine „Teilnehmer-Kultur“: Der Bürger wird grundsätzlich als Teilnehmer („participant") am politischen Geschehen gesehen. Er orientiert sein politisches Verhalten an einer Werthaltung, in der traditionelle und auf aktuelle Probleme bezogene, rational begründete Einstellungen sich verbinden. Sie gibt Verhaltenssicherheit und ermutigt zu aktivem Handeln. In einer solchen Staatsbürgerkultur steht grundsätzlich jedem Mitglied der Gesellschaft die Möglichkeit zur Partizipation offen. Demokratische Prinzipien sind nicht nur bewußt angenommen, sondern auch als selbstverständlich verinnerlicht.
Damit ist von vornherein eine Ausrichtung der Politischen Kultur auf Demokratie festgelegt, allerdings im Demokratieverständnis westlich-repräsentativer politischer Systeme. Insoweit wären die Intentionen Politischer Kultur und Demokratie in Einklang. Nun besteht aber in der aktuellen Diskussion um das Demokratieverständnis keine umfassende Übereinstimmung. Gegen das Almond'sche Modell wird etwa eingewendet, daß es zu stark auf die Funktionsbedürfnisse des Politischen Systems abgestellt ist, daß es auch in der politischen Beteiligung mehr der Stabilisierung von Herrschaft als der Emanzipation selbstbewußter Bürger dient Diese ständig weitergeführte Demokratie-Diskussion kann hier nur soweit angemerkt werden, als sie ihre Bedeutung für einige Punkte unseres Themas hat.
Das betrifft vor allem auch das Verhältnis von Demokratie und Tradition. Es kann von einer bestimmten historischen Konstellation ausgegangen werden, in der die alten, traditionalistischen Mächte — Monarchie, Adel, Kirche, wohl auch Militär — den fortschrittlichen Kräften des Bürgertums, einer liberalen Verfassungsbewegung, der Demokratie gegenüberstehen. Diese Konstellation des ausgehenden Absolutismus im 18. und 19. Jahrhundert besteht so nicht mehr. In der modernen Massendemokratie haben sich bestimmte Demokratieelemente selbst traditionell verfestigt. Sie stützen die demokratische Ordnung, können aber auch weitergehenden Bestrebungen, demokratische Prinzipien in allen Bereichen der Gesellschaft fDemokratisierung) durchzusetzen, entgegenstehen. Jedenfalls läßt sich in dieser Problematik ein absoluter Gegensatz Demokratie = Fortschritt contra Tradition nicht aufrechterhalten.
Ein anderes Problem ist jedoch die Auseinandersetzung demokratischer Auffassungen mit traditionalistischen vordemokratischen Denkweisen. Hier kann mit Almond auf einen anderen Typus Politischer Kultur zurückgegriffen werden, den einer „Untertanen\sdh\ec\}Kultur“ Dem Untertan ist die Existenz einer staatlichen Zentralgewalt bewußt, er erfüllt auch die ihm auferlegten staatsbürgerlichen Pflichten, versucht aber nicht — wie der teilnehmende Bürger — das politische Geschehen aktiv zu beeinflussen. Untersuchungen im Gefolge der Almond schen Fragestellung stellen für die Bürger der Bundesrepublik Deutschland eher eine passive Untertanen-Orientierung als eine aktive Teilnehmer-Einstellung fest Diese Einschätzung entspricht der bekannten Argumentation von der man-finden Ausbildung demokratischer Traditionen in Deutschland. Die Behinderungen für eine demokratische Politische Kultur sind im Verweis auf die deutsche Sonderentwicklung einer „verspäteten Nation" (Plessner), mit den anhaltenden Nachwirkungen obrigkeitsstaatI licher Traditionslinien dargestellt worden Bild Politischer Kultur ist gewiß weithin zutreffend, bedarf aber sicherlich auch, beI sonders hinsichtlich der Einstellungen der Generation, einer Korrektur. Für unser Thema ist es insofern wichtig, als das Demokratieverständnis der Deutschen in der Bundesrepublik als konkreter Maßstab für das Traditionsverständnis der Bundeswehr ange(egt werden soll. Kritische Reflexion ist offen-sichtlich nach verschiedenen Richtungen hin geboten. Das gilt auch für die Frage, ob sich für gesellschaftliche Bereiche oder für besondere Rollenbedürfnisse eine stärkere Tradierung von Untertanen-Mentalität feststellen läßt als für die westdeutsche Gesellschaft allgemein. Ergeben sich damit Brüche in unserer Politischen Kultur, ist sie eine „fragmentierte" Kultur? Diesem Problem ist gleich noch nachzugehen.
Dafür sollen jedoch zuvor zwei demokratische Grundprinzipien herausgestellt werden, die als Unterscheidungskriterium gegenüber den Bedürfnissen militärischer Funktion dienen. Diese elementaren Prinzipien werden unbeschadet der Kontroversen über unterschiedliche Demokratie-Konzepte allgemeine Zustimmung erwarten dürfen:
1. Demokratie ist die politische Ordnungsform des Friedens. Das ihrem Wesen gemäße Instrument der Konfliktregelung ist der der politischen Willensbildung dienende Diskurs mit dem Ziel einer gewaltfreien Lösung.
2. Demokratie zielt in ihren Entscheidungsmechanismen auf das Strukturprinzip der gleichberechtigten Teilnahme (Partizipation).
IV. „Fragmentierung" Politischer Kultur: Militärische Funktion und demokratische Prinzipien
Trotz dieser idealtypischen Verankerung der Demokratie in den Prinzipien friedlicher Konfliktregelung und Gleichheit in der politischen Willensbildung kann bis hinein in die Bedingungen der gegenwärtigen weltpolitischen Entwicklungsphase kein Politisches System, das demokratisch zu sein beansprucht, ohne militärische Machtinstitutionen, ihrer Funktion entsprechend hierarchisch strukturiert, auskommen. Welche Auswirkungen ergeben sich aus diesem Sachverhalt für die Politische Kultur?
Im Zusammenhang mit den Erfordernissen politischer Sozialisation ist darauf hingewiesen worden, daß die zentralen politischen Entscheidungsinstanzen Einflußnahme auf Sozialisationsvorgänge beanspruchen, um eine gemeinsame Politische Kultur zu gewährleisten. Dennoch sind Unterschiede in den verhaltens-orientierenden Werthaltungen bei sozialen Gruppen und spezifischen Rollen innerhalb einer Gesellschaft durchaus nicht ungewöhnlich. Die Herausbildung politischer Sub-Kulturen, die zu Brüchen, zur „Fragmentierung" einer Politischen Kultur führen, kann solange toleriert werden, als sie nicht zum Zerbrechen des Zusammenhalts einer Politischen Kultur führt. Solche dramatischen Entwicklungen sind aber wohl ohnehin nicht im Bereich der Politischen Kultur aufzufangen. Sie sind Widerspiegelungen soziostruktureller Konflikte und müssen als solche ausgehalten oder ausgetragen werden.
Hier stellt sich auch die Frage nach den Ursachen der Fragmentierung. Dieses vielfältige Problem können wir hier nur beschränken auf spezielle Funktionsbedürfnisse. Für unser Thema geht es dabei um das Verhältnis des Geltungsanspruchs demokratischer Prinzipien für die Politische Kultur einer Gesellschaft insgesamt zu den speziellen Bedürfnissen einer Institution, der Militärorganisation.
Funktional ist zu unterscheiden zwischen der allgemeinen politischen Ordnungsfunktion zur grundlegenden Gestaltung der Macht-und Entscheidungsstruktur eines sozialen Systems und der subsidiären Wehrfunktion. Beide Funktionen stehen, obwohl direkt aufeinander bezogen, sofern die politische Ordnung von demokratischen Prinzipien bestimmt wird, in einem grundsätzlich unaufhebbaren Spannungsverhältnis. Die Wehrfunktion hat die Aufgabe, das Politische System zu sichern. Das heißt, die diese Funktion ausübende Institution muß in der Lage sein, nach Aufhebung des Friedenszustands einen bewaffneten Gegner auszuschalten. Diese, ihre militärische Handlungsfähigkeit beruht auf den beiden Voraussetzungen der Fähigkeit und Bereitschaft zum Kämpfen.
Diese Voraussetzungen sind an die Vermittlung durch militärische Sozialisation und demgemäß auch an Traditionsmomente gebunden. Soweit es die technische Seite, das „Waffenhandwerk“, anbelangt, läßt sich wohl feststellen, daß der Wert der Überlieferung anders als in früheren Zeiten stark an Bedeutung verloren hat und angesichts sich ständig wandelnder technischer und taktischer Gegebenheiten weiter verliert.
Hinsichtlich der psychischen Komponente der Kampfbereitschaft sieht das anders aus. Hier ist von der Ausnahmesituation des Soldaten auszugehen, in Ausübung seiner Funktion nicht nur sein eigenes Leben zu riskieren, sondern auch andere Menschen töten zu müssen. Das ist in der Tat etwas grundsätzlich anderes als die Aufgabenstellung eines Postbeamten, etwas anderes auch als das Risiko eines Autofahrers im Straßenverkehr, bei einem Unfall zufällig den Tod eines Menschen zu verursachen. Denn hier müssen in Erfüllung eines Auftrags Menschenleben eventuell bewußt, systematisch und geplant geopfert werden.
Allerdings gibt es hier Begrenzungen, die dazu beitragen, daß in der Ausübung legitimierter Gewaltanwendung nicht der Versuchung maßlosen, weil ungestraften Tötens nachgegeben wird. Diese Grenzen lassen sich unter zwei Aspekten bestimmen: — funktional: das militärische Ziel ist Ausschaltung des Gegners, Brechung seines Widerstands, also nicht unbedingt physische Vernichtung, nicht Töten um jeden Preis. Dieses Ziel läßt sich auch anders erreichen, durch Kampfunfähigmachen, Entwaffnung, Gefangennahme, auch wenn dies schwieriger zu bewerkstelligen sein mag und erhöhte Risiken und Belastungen mit sich bringt.
— moralisch: durch Verzicht auf bestimmte Mittel im Kampf, hinterlistige und unfaire Methoden, auch extreme Formen psychologischer Kriegführung, etwa emotionales Aufputschen der Kampfbereitschaft bis zur Ausbildung eines Feindbildes. Diese Begrenzungen gab es schon seit der Fixierung gesellschaftlicher Konventionen, der Tugend der Ritterlichkeit, sowie juristischer Sanktionen im Kriegs, recht (Behandlung von Kriegsgefangenen etc Sie werden allerdings unter den Bedingungen der Anonymität eines modernen Krieges im. mer „altmodischer" und weniger praktikabel Wirksamere Begrenzungen sind durch andere Mechanismen zu erreichen. Das betrifft vor al. lern das politische Primat. Es kann einmal die Wehrpraxis durch Verzicht auf Angriffskriege und Beschränkung auf die Verteidigung mini. mieren. Die ultima ratio ist hier eine konse. quente Friedenspolitik. Die Erhaltung des Friedens als Verteidigungsauftrag auch der bewaffneten Streitkräfte, wie er für die Bundeswehr gilt, ist das optimale Mittel, um den Grundkonflikt zwischen demokratischen Prin. zipien und militärischen Funktionserfordernissen zwar nicht aufzuheben, aber doch zu entschärfen. Denn auch in Erfüllung dieses Auftrags bleibt die Erhaltung der technischen und psychischen Kampfbereitschaft unabdingbar.
Das Bewußtmachen und die Befähigung zum Aushalten dieser besonderen Situation des Soldaten ist eine der bedeutendsten Bildungs. und Erziehungsaufgaben im Bereich militärischer Sozialisation. Sie ist ohne Vermittlung von Traditionselementen, im Verweis auf historische Beispiele nicht zu leisten. Denn gerade hier läßt sich an extremen Grenzsituationen menschlichen Verhaltens die Chance zur Bewährung des Grundwertes der Humanität veranschaulichen.
Ein zweiter Problemkreis betrifft die hierarchischeStruktur, das Befehls-Gehorsams-Prinzip, die Autorität des Vorgesetzen im militärischen Bereich. Die Gefahr, daß hier ein besonders günstiges psychologisches Klima für die Förderung bestimmter Persönlichkeitsstrukturen — die „autoritäre Persönlichkeit', wie Adorno sie in seiner bekannten F-Skala gekennzeichnet hat — entstehen könnte, darf nicht übersehen werden. Eine wirksame Gegensteuerung zur Ausbildung eines derartigen antidemokratischen Potentials bedarf umfassender Maßnahmen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Dazu mag der Hinweis genügen, daß die Militärinstitution nicht nur von den Erfordernissen einer effektiven Wahrnehmung ihrer Kampffunktion bestimmt wird, wenn dies auch ihre zentrale Aufgabe ist. Sie ist auch ein sozialer Verband, der eine Fülle weiterer Aufgaben außerhalb der unmittelbaren Kampfsituation hat. Sie sind nicht durch das absolute Befehls-Gehorsams-Prinzip bedingt. Sie lassen durchaus demokratische Formen der Mitbestimmung oder sogar der Selbstbestimmung zu. Mit der Institution der Vertrauensleute verfügt die Bundeswehr hier über ein wirksames Instrument, vor allem in der Erfüllung sozialer, aber auch allgemein dienstlicher Aufgaben.
Daß das Befehls-Gehorsams-Prinzip selbst im militaristischen“ Preußen nicht unbedingt im militärischen Bereich gegolten hat, mag jene Anekdote vom Ungehorsam des Reitergene-rals von Seydlitz gegenüber einem Befehl Friedrichs II., „des Großen", illustrieren: Auf Grand besserer strategischer Einsicht weigerte er sich anzugreifen, um so den Sieg in der Schlacht bei Zorndorf (1758) zu retten: . Nach der Schlacht gehört mein Kopf dem König. Aber jetzt brauche ich ihn noch, um meinem König zu dienen“ Die Frage, ob „Kadavergehorsam" ein Charakteristikum preußischen militärischen Verhaltens gewesen ist oder nicht, kann in der Problematisierung durchaus ein überlieferungswürdiges Moment sein. Wichtiger sind jedoch jene Situationen, Indenen Befehl und Gewissen in Konflikt mit allgemeinen menschlichen Werten geraten, bis hin zur Konsequenz des Widerstands.
Damit ist auch die Frage der soldatischen Tugenden angesprochen. Betrachtet man den Katalog angeführter Tugenden — Disziplin, Tapferkeit, Entschlußkraft, Zuverlässigkeit, Bescheidenheit, Kameradschaft, Fürsorge, Pflichterfüllung, Ritterlichkeit etc. —, so sind das Verhaltensweisen, die in allen Lebenslagen, auch und gerade in zivilen, als vorbildlich erscheinen. Deshalb muß die vorgebrachte Kritik präzisiert werden. Was heißt das, daß diese Tugenden „keine von Inhalten gelöste“ sein dürfen? Das Problem besteht darin, daß diese Tugenden, ob als „soldatische“ geübt oder wo immer sonst, einem Regulativ unterworfen werden müssen: dem Verantwortungsbewußtsein. Hier sei an Max Webers Interpretation einer „Verantwortungsethik" erinnert. Das heißt, es müssen immer auch die Folgewirkungen eines Handelns bedacht werden.
Eine äußerste Grenzsituation tugendhafter Bewährung ist das Opfer des eigenen Lebens. Geschieht es, wie im Fall des Luftwaffenoberleutnants Hölker, um das Leben anderer zu retten, ist es eine vorbildliche Tat, die unumstritten als traditionswürdig anzuerkennen ist. Andere Situationen sind schwieriger zu bewerten. Wann erscheint es gerechtfertigt, aus militärischen Zweckgründen das eigene Leben oder gar das anderer zu opfern? Hier hat der soziale Kontrollmechanismus gesellschaftlicher Verantwortung einzusetzen. Das Primat der Politik hat die militärischen Erfordernisse einzugrenzen. Eine verantwortliche politische Führung wird sich nicht in die unselige Alternative „Sieg oder Untergang“ drängen lassen, die sinnlose Opfer verlangt. Sie wird immer auch die Alternativen Niederlage oder Rückzug unter Erhaltung der Verteidigungsfähigkeit als Basis für spätere Erfolge einkalkulieren. Unter diesem Aspekt läßt sich der „Opfertod" des Admiral Lütjens, der ja zugleich die Opferung seiner fast 2 000 Mann einschloß, ebenso wenig rechtfertigen, wie seine Bindung an ein verbrecherisches Regime ausgeblendet werden kann. Er ist deshalb kein überlieferungswürdiges Ereignis.
V. Zum Verhältnis militärische und demokratisch-politische Sozialisation
Die bisherigen Überlegungen sollen die Ausgangsthese vom unaufhebbaren Spannungsverhältnis zwischen demokratischen Prinzipien und militärischen Funktionsbedürfnissen, die „zivilmilitärische Konfrontationsthese stützen. Zunächst ist nochmals festzuhalten, daß das Dilemma militärischer Zielsetzung, in Erfüllung des Kampfauftrags gegebenenfalls töten zu müssen, nicht durch ideologische Überhöhung, Vernichtung eines gehaßten Feindes in der Argumentation eines ausgebildeten Feindbildes, gelöst werden darf. Auch die Problematik der besonderen deutschen Situation, in der im militärischen Konfliktfall Deutsche auf Deutsche schießen müssen, sollte in diesem Zusammenhang nicht überbetont werden. Denn auch ein Deutscher ist nur ein Mensch. Töten bleibt töten.
Generell würde sich eine völlige Identitätsherstellung politischer und militärischer Intentionen nur durch ideologische Manipulation herstellen lassen, die in eine Militarisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens mündet. Sie würde ihren Ausdruck in Sprache und äußeren Erscheinungsformen, aber auch in den zugrunde liegenden Strukturelementen finden. Für allgemeine gesellschaftliche und ökonomische Aufgaben wäre die Bevölkerung in „Kampagnen“ zu „mobilisieren", in „Brigaden" würden Projekte verfolgt, die der Steigerung der Arbeitsproduktivität und der permanenten ideologischen Durchdringung zu dienen hätten. Diese militante politische Ausrichtung würde sich mit einem aggressiven Sendungsbewußtsein verbinden, das als Grundlage militärischer Expansion in der ideologischen Verbrämung eines „Befreiungskrieges" erscheint. Das Ergebnis wäre eine pseudo-demokratische totalitäre Herrschaftsstruktur. Man kann unterstellen, daß diese für den Weltfrieden gefährliche Tendenz in den Staaten des „realen Sozialismus" durch ein rationales politisches Kalkül im Zaum gehalten wird. Man kann sogar zugestehen, daß der ideologisch aufgeladene Kämpfertyp, „der seine heilige Pflicht als revolutionärer Soldat" erfüllt in bestimmten historisch-gesellschaftlichen Situationen, in sozialrevolutionären Auseinandersetzungen, unvermeidlich ist.
Schließlich ist eine integrative Funktion des Militärs auch für den Modernisierungsprozeß in Entwicklungsländern anzuerkennen. In einer Übergangssituation kann das Militär, vornehmlich durch jüngere Offiziere mit intellektuellem Habitus repräsentiert, gestützt auf eine Armeeorganisation, die modernste Technologie und industriegesellschaftlichen Orga-nisationsstrukturen entsprechende Verha tensweisen (Disziplin, Zeitbewußtsein etc.) m traditionellen rituellen Verhaltensmuster verbindet, als Motor sozialen Fortschritts wii ken und so eine zumindest vorübergehend Identität von Gesellschaft und Militär herste] len Im Demokratie-und Gesellschaftsver ständnis der Bundesrepublik Deutschlan können aber alle diese Identifikationsmodell kein Vorbild für die Integration der Bundes wehr in die Gesellschaft sein. Andererseits muß wohl auch angenommer werden, daß eine Identität auf dem Wege ei ner radikalen „Demokratisierung“ der Streit kräfte nicht herzustellen ist. Die Abschwä chung der hierarchischen Entscheidungs. Struktur des Befehls-Gehorsams-Prinzips durch demokratische Verfahrensweisen in all den militärischen Bereichen, die diese funktional zulassen, sollte optimal zum Tragen kommen. Das wurde bereits im Hinblick auf das Fragmentierungs-Problem betont. Aber die Übertragung demokratischer Entscheidungsmechanismen, etwa die ständig geführte Diskussion des Sinns und Zwecks einer aktuell gebotenen Operation, wie auch ziviler Praktiken im Dienst finden ihre funktionalen Grenzen. Das zeigt auch das demokratische Musterbeispiel der Schweiz, auf das noch in anderem Zusammenhang einzugehen sein wird. Eine Aufhebung des Strukturprinzips Befehl-Gehorsam in der Zuordnung Vorgesetzter-Untergebener und Ersetzung durch Abstimmungsverfahren, wie es demokratischen Prinzipien entspricht, für die eigentliche militärische Funktion — Bereithalten für den Kampfauftrag — würde deren Erfüllung in Frage stellen.
Auch militärische und demokratisch-politische Sozialisation sind demnach in ihren Intentionen unterschiedlich. Das heißt jedoch nicht, daß nicht beide Sozialisationskomponenten für den Ausbildungs-, Bildungs-und Erziehungsauftrag der Bundeswehr fruchtbar gemacht werden können. In diesen Auftrag werden Traditionsverständnis und Traditionspflege als Bestandteil latenter und manifester Sozialisation einzubeziehen sein. Das bedeutet, daß militärische Traditionsbestände als Ausdruck einer auf spezifische Rollenerfordernisse gegründeten fragmentierten Politischen Kultur durchaus einen angemessenen Raum haben können. Er wird solange toleriert werden müssen, als er die bestimmenden Prinzipien demokratisch-politischer Gesamt-verantwortung nicht in Frage stellt. Praktisch heißt das, daß nicht jedes Detail traditionsbestimmter Inhalte und Formen sich als demokratisch legitimiert erweisen muß. Das gilt vor allem für Sachverhalte, die sich aus vordemokratischen oder besser gesagt vormodernen Geschichtsbezügen ableiten. Hingegen muß eine wirksame soziale Kontrolle aus demokratisch-politischer Sicht durch eine kritische Offentlichkeit und eine verantwortungsbewußte legitimierte politische Führung wahrgenommen werden. Auf diese Weise kann ein Konzept praktiziert werden, das die Traditionsbedürfnisse des militärischen Bereichs sicherstellt und ihnen ermöglicht, einen wichtigen Beitrag für die Sozialisationsfunktion zu leisten. Unverzichtbares Korrektiv ist allerdings nicht nur die wirksame soziale Kontrolle demokratischer Politik, sondern auch das Einbringen demokratischer Traditionsmomente selbst. Ergänzend wäre hier noch zu sagen, daß die Klärung des Traditionsverständnisses der Streitkräfte im Politischen System der Bundesrepublik Deutschland wohl am wirksamsten erfolgen kann, wenn es mit der Problematik einer recht verstandenen „Deutschen Frage" verknüpft wird Deutsche Frage umschließt in dieser Sicht nicht nur das Ringen um staatliche Einheit als „nationale Frage", sondern auch um individuelle Freiheitsrechte und soziale Gerechtigkeit in Richtung auf einen demokratischen sozialen Rechtsstaat.
VI. Positionen zur Traditionsfrage der Bundeswehr
Bevor auf die Frage der Traditionslinien und •Inhalte eingegangen wird, erscheint es sinnvoll, zunächst die Positionen zu klären, die in der Diskussion vertreten werden. Sie sind evident geworden in den Stellungnahmen zum aktuellen Reizfall „öffentliches Gelöbnis", lassen sich aber auch auf das generelle Traditionsverständnis beziehen. Folgende acht Positionen wären zu unterscheiden:
/. Reaktionär Diese Position ist eigentlich in der aktuellen Diskussion nicht mehr argumentativ vertreten worden. Es sei denn, man subsumiert darunter eine angebliche Forderung, öffentliche Gelöbnisfeiern „martialischer" auszugestalten, durch militärische Feldparaden, mit Panzern, Artillerie und Kampfflugzeugen, wie der „Spiegel" in seinem Bericht über die Bremer Vorgänge anmerkt Sie ist jedoch in der Auseinandersetzung um das Reformkonzept des . Staatsbürgers in Uniform" in der Gegenposition von Studnitz deutlich geworden. Seine Kritik gipfelte in der Forderung, die Traditionsverbände der Reichswehr und der Armee des kaiserlichen Deutschlands an die Bundeswehr heranzuführen
2. Konservativ Hier wird am Status quo der Traditionspraxis festgehalten und Reformbestrebungen werden abgelehnt. Vertreter sind vornehmlich die Wehrexperten der Opposition, aber wohl auch das Gros der höheren Offiziere in der Bundeswehr. 3. Moderiert konservativ Dieser Standpunkt bewertet die praktizierten Traditionsformen grundsätzlich als legitim und bewährt Es besteht jedoch die Bereitschaft, „nachzudenken" und für Diskussion offen zu sein. Exponenten sind etwa die Spitzen des Bundesverteidigungsministeriums 26a).
4. Reformistisch Bei prinzipieller Bejahung der Grundmuster der Traditionspflege ist doch die Erwartung erkennbar, daß bestimmte Erscheinungsformen (etwa Verbindung von Gelöbnis und Zapfenstreich bzw. Teile des Zapfenstreichs selbst) geändert werden. Vertreter sind in der Mitte bzw. linken Mitte der SPD zu finden, so* wie in Teilen der FDP und bei jüngeren Offizieren.
5. Revisionistisch
Bei grundsätzlicher Bejahung des Verteidigungsauftrags der Bundeswehr wird Verzicht auf gewisse, als „überlebt" empfundene Formen (z. B. „öffentliche" Gelöbnisse, nicht jedoch Verpflichtung der Rekruten überhaupt) gefordert. Diese Auffassung findet sich beim linken Flügel der SPD 26b) sowie bei Jungdemokraten, Teilen der evangelischen Jugend, jüngeren Pfarrern etc.
6. Pseudo-antitraditionell
Die Argumentation deckt sich weitgehend mit Position 5, ist jedoch in ihrer Kritik an Traditionsformen nur Vorwand. Tatsächlich verbirgt sich dahinter eine grundsätzliche Ablehnung der Bundeswehr und ihres Verteidigungsauftrags aus politisch-ideologischen Gründen. Diese Position wird von der DKP und den von ihr gesteuerten Organisationen, z. B.dem ADS, verfochten. Als „pseudo-antitraditionell" wird sie auch deshalb bezeichnet, weil aus dieser Sicht die militärische Tradition der NVA nicht kritisiert wird.
7. Antitraditionell
Auch hier wird die Bundeswehr aus grundsätzlicher politisch-ideologischer Einstellung abgelehnt. Allerdings wird das auch offen ausgesprochen und eine eigene militante Konzeption — bewaffnete Volksmacht, Stadtguerilla mit Ansätzen eines eigenen Traditionsverständnisses und entsprechenden Vorbildern als Ausdruck einer politischen Subkultur — dagegen gesetzt. Dieses Konzept wird von verschiedenen K-Gruppen, vor allem vom KBW, vertreten und reicht bis in das Vorfeld der RAF („Rote Armee Fraktion").
VII. Konzepte zum Traditionsverständnis der Bundeswehr
Als Grundmuster militärischen Traditionsverständnisses lassen sich theoretisch vier Alternativen aufzeigen: 1. Eine „naive“ historisch ungebrochene Militärtradition,die nicht in Frage gestellt ist und die sich wie selbstverständlich in den Kontext eines demokratischen Gesellschafts-und Poli-vor. 8. Antimilitärisch In die generelle Ablehnung der Wehrfunktion überhaupt wird auch die Bundeswehr mit ih. rer Traditionsproblematik eingeschlossen Vertreter sind organisierte Wehrdienstgegner und -Verweigerer, aber auch pazifistisch einge. stellte kirchliche Kreise.
Die Diskussion um das Traditionsverständnis und die Traditionspflege der Bundeswehr kann sinnvollerweise nur zwischen den Posi. tionen 2— 5 geführt werden. Die Position 1: fällt aus, weil sie sich nicht mehr artikuliert wohl auch argumentative Schwächen hat. Die Positionen 7— 8 liegen auf einer anderen Argumentationsebene. Das gilt vor allem für die Position 8, deren entschiedene pazifistische Grundhaltung zu respektieren ist. Hingegen muß der Position 6 entgegengehalten werden, daß sie unredlich argumentiert. Es fällt an dieser Übersicht auf, daß von Seiten der Bundeswehr selbst nur die politische Führungsspitze und Teile des Offizierskorps in Erscheinung treten. Das könnte anscheinend die These stützen, daß die Traditionsfrage „nicht in der Bundeswehr entstanden, sondern von außen eingeleitet worden" ist 26c). Aber darauf kommt es hier nicht an. Es sollen nur die Intentionen der jeweiligen Position verdeutlicht werden Deshalb werden nur die „opinion leader“ beispielhaft genannt. Diese Darteilung erhebt deshalb keinen Anspruch auf repräsentativen Charakter oder Vollständigkeit.
Die Position 4 erscheint für ein Traditionskonzept einleuchtend. Sie ist auch bisher am gründlichsten durchdacht und formuliert worden, wie sie sich etwa im Ergebnis der Lohma rer Arbeitstagung niederschlägt Auch der Verfasser dieser Studie teilt weitgehend diesen Standpunkt, behält sich aber Variationen in vertiefter Begründung und Folgerungen tikverständnisses einfügt Diese Versior wird für Länder mit fester bürgerlich-demo kratischer Tradition angenommen, etw Frankreich, Großbritannien, USA, die Schweiz Die Schweiz wird als besonderer Idealfall angesehen, in dem Freiheitswille und Wehrhaftigkeit zusammenfinden, Bürger und Soldat identisch sind, wie es sich praktisch im Miliz-system ausdrückt Hierzu muß angemerkt werden, daß zwei Voraussetzungen diese glückliche Konstellation unübertragbar begründen. Das eidgenössische Gemeinwesen ist nicht nur aus einem „Freiheitskampf gegen Fremdherrschaft" (Krockow) entstanden, der, wie bei den anderen erwähnten Ländern auch, Nationenbildung mit militärischen Erfolgen verbindet. Es ist auch dank seiner im 16. Jahrhundert begründeten Neutralitätspolitik in den folgenden Jahrhunderten nur gelegentlich, seit 1814/15 überhaupt nicht mehr gezwungen gewesen, sich unmittelbar in kriegerischen Aktionen zu behaupten. Identität von Bürger und Soldat kann sich nur im ungebrochenen Selbstverständnis des Individuums ausdrücken, heißt aber nicht, daß das öffentliche Leben militärisch geprägt wäre, oder umgekehrt, der Militärbetrieb durch zivile Praktiken funktionsunfähig gemacht würde. Auch die Schweizer Militärorganisation kennt das Befehlsprinzip, hat aber auch Autoritätsprobleme. Die Briten haben anscheinend seit den Revolutionskriegen des 17. Jahrhunderts ihr militärisches Traditionsverständnis im wesentlichen unbehelligt, auch durch die Herausforderung der amerikanischen Unabhängigkeitsbestrebungen und der Französischen Revolution, abgesehen von vereinzelten Marinemeutereien, weitergetragen. Auch die Franzosen haben die Spannungen zwischen jeweiliger Militärorganisation und Demokratiebestrebungen des Bürgertums und der Arbeiterschaft während ihrer Revolutionen in ihrem militärischen Traditionsbewußtsein anscheinend verkraftet. Es bleibt allerdings zu prüfen, ob nicht von Ereignissen wie der Unterdrükkung der Pariser Kommune 1871 und der Affäre Dreifus desintegrierende Wirkungen ausgegangen sind. Sicherlich gilt das aber für die Vorgänge des Zweiten Weltkrieges. Zumindest ist mit der Figur des Marschall Petain eine ähnliche Problemlage gegeben, wie für uns mit dem Großadmiral Dönitz.
Auch die Amerikaner haben in ihrer neueren Geschichte einige Probleme, die militärische Tradition nicht ungefragt belassen können. Das gilt nicht erst seit dem Vietnamkrieg etwa My Lai 1968), sondern auch schon für die Tötung japanischer Kriegsgefangener im Zweiten Weltkrieg. Der Roman Norman Mailers „Die Nackten und die Toten" ist ein bekannter literarischer Ausdruck dafür.
Die Behandlung von Kriegsgefangenen scheint überhaupt ein neuralgischer Punkt für die Prüfung militärischer Tradition an über-zeitlich geltenden Werten der Menschlichkeit zu sein, wie später noch an einem deutschen Beispiel zu zeigen ist.
Auch die Sowjetunion hat nach ihrem ideologisch begründeten Bruch mit der russischen Vergangenheit im Zuge der Entwicklung eines Sowjetpatriotismus, gesteigert zum „Großen Vaterländischen Krieg“, wieder an alte zaristische Traditionsmomente angeknüpft. Das betrifft nicht nur das äußere Erscheinungsbild in Uniform und Rangabzeichen, sondern auch die Inanspruchnahme von Heerführern wie Kutusow und Suwarow.
Für andere Länder ist also dieses ungebrochene Traditionsverständnis annehmbar, wenn auch nicht unproblematisch. Für die Bundesrepublik Deutschland ist es nicht denkbar. Die militärische Traditionslinie ist durch die Epoche des Dritten Reiches unwiderruflich unterbrochen. Die Wehrmacht scheidet als Quelle der Traditionsbildung aus. Aber auch Versuche, an eine Traditionskette unter Ausklammerung des nationalsozialistischen Glieds anzuknüpfen, sind nicht zu akzeptieren. Auch die Reichswehr in der Weimarer Republik ist kein Modellfall für gelungene Integration von Militär und Gesamtgesellschaft, überhaupt taugt die deutsche, durch die preußische Armee geprägte Militärtradition nicht dazu, „ein zeitgemäßes, politisch tragfähiges Verhältnis von Armee, Staat und Gesellschaft zu begründen" (Krockow).
2. Die Beschränkung auf die seit einem Vierteljahrhundert entwickelte eigene Tradition der Bundeswehr würde allen Schwierigkeiten der Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte vor 1945 ausweichen. Aber auch das ist kein gangbarer Weg. Nicht, weil die „Bewährung“ im Kampf fehlt, ein Mangel, dessen Beseitigung Gott verhüten möge. Denn die Bewahrung des Friedens ist die größte Bewährungsprobe der Bundeswehr. Vielmehr geht dies nicht, weil Geschichtsbewußtsein nicht beliebig aus-und eingeblendet werden kann. Die Setzung eines institutioneilen „Nullpunkts" ist nicht möglich damit würde ein völlig unhistorisches Traditionsverständnis zugrunde gelegt. Die Auseinandersetzung mit der militärischen Vergangenheit Deutschlands muß geführt werden.
3. Nach dem Muster der DDR könnte ein „fortschrittlicher" Typ militärischer Tradition 30) aufgebaut werden. Die in das vorgegebene Schema passenden Momente aus der deutschen Geschichte würden willkürlich ausgewählt und in eine kontinuierliche Linie eingebracht. Auch dies wäre eine unhistorische Art der Vergangenheitsbewältigung. Ein solcher Versuch müßte nicht unbedingt daran scheitern, daß uns zu wenig Material zur Verfügung steht. Immerhin hätten wir mehr Schwierigkeiten als die DDR in ihrer Geschichtsklitterung, da sie auf „revolutionäre" und internationale Momente zurückgreift, die für unser Demokratieverständnis nicht annehmbar sind. Eine exklusive Traditionslinie wäre auch kaum zu entwickeln, da sie nicht durch eine eingleisige ideologische Meßlatte wie den Marxismus-Leninismus fixiert werden kann, sondern den Kriterien pluralistischer Interpretation standhalten müßte.
4. Es bleibt also nur das Konzept, in der Ausbildung eines differenzierten Geschichtsbewußtseins sich mit den Grundzügen der deutschen Geschichte auseinanderzusetzen. Das Problembewußtsein wird durch die oben gekennzeichnete recht verstandene „Deutsche Frage“ bestimmt. Auf dieser Grundlage könnten dann jeweils Beispiele soldatischer Traditionswerte, wie sie sich in Persönlichkeiten, Ereignissen und Situationen ausdrücken, aufgebaut werden. Die Bewährung demokratischer und humaner Werthaltung gerade unter den extremen Bedingungen militärischer Entscheidungssituationen kann exemplarisch und damit traditionsbildend wirken. Dieses Verfahren entspricht auch den Vorschlägen des Lohmarer Arbeitspapiers für die Zusammenstellung einer „Fallsammlung".
Es wäre ein Raster zu entwickeln, mit dem militärische Traditionsinhalte nach dem Kriterium zugeordnet werden, inwieweit sie sich gegenüber demokratischen Prinzipien und zeitlos gültigen menschlichen Werten indifferent, positiv oder negativ verhalten. Die negativ bewerteten Beispiele sind auszuscheiden.
Ein demokratisch indifferentes militärisches! Traditionspotential wäre zu tolerieren, soweit! es nicht gegen elementare humane Prinzipien verstößt. Es betrifft vor allem den vormoder. I nen Zeitraum, der im damaligen traditionellen Gesellschaftsverständnis noch wenig Konfliktsituationen zwischen Militär und demo. kratischen Bestrebungen kennt. Hierzu ein Beispiel: Blücher, als „Marschall Vorwärts'Volkstümlichkeit besitzender und militärisch tüchtiger Feldherr, wäre nach diesen Kriterien akzeptabel. Dazu kommt noch sein zeitgenössischer Bezug zu den unbestritten positiv zu bewertenden preußischen Reformern, vor allem seinem Stabschef Gneisenau, auch wenn er von dessen Geist nicht bewegt ist. So hat sich denn die DDR in ihrer Traditionspflege auch nicht gescheut, Blücher in „einen nationalen Katalog der Freiheitshelden deutscher Geschichte" aufzunehmen -Nun wird Blücher in einem zu Beginn dieses Jahres auch im Fernsehen gezeigten Film „Waterloo" anläßlich der Verfolgung der geschlagenen Franzosen der Befehl in den Mund gelegt: „Gefangene werden nicht gemacht". Hier muß anhand historischer Quellen einwandfrei geklärt werden, ob dieses Zitat authentisch ist. Blücher würde sich damit zwar in Einklang mit einer preußischen Disposition aus dem Jahre 1744 befinden, nach der bei einer „Attaque" der „Feind nicht zu schonen, sondern so viel todt und nieder zu machen wie nur möglich ist“ nicht aber mit den hier dargelegten Bewertungsmaßstäben. Er hätte keinen Platz in der Fallsammlung.
Wie weit soll überhaupt der Traditionsbogen in die Vergangenheit zurückgespannt werden? Dafür gibt es kein verbindliches Rezept. Bestimmte militärische Bräuche wie der Zapfenstreich reichen mit ihren Ursprüngen bis ins 16. /17. Jahrhundert zurück; wahrscheinlich wäre hier weiter zu greifen als im Hinblick auf Personen und Ereignisse. Für das 18. Jahrhundert könnte eine Gestalt wie der schon wegen seiner Zivilcourage im militärischen Bereich erwähnte General von Seydlitz Beispiel sein. Er war nicht nur ein durch bewiesene Tapferkeit, außerordentliches taktisches und strategisches Geschick hervorragender Heerführer, sondern auch ein Vorgesetzter, der sich um das Wohl seiner Soldaten mehr kümmerte, als damals üblich. ei Frontstellung gegen demokratische Betrebungen und Institutionen müssen Persön-ichkeiten auch bei militärischer Tüchtigkeit Ils traditionsbildendes Moment ausscheiden. Das gilt sowohl für die seinerzeit populäre Fiur des „Papa" Wrangel 1848 wie für Generalberst Seeckt 1920. Hingegen wird sich wohl äUch ein konservativ eingestellter Marineoffiier bequemen müssen, sich sachlich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die beiden 1917 erschossenen Matrosen Köbis und Reichpietsch „Meuterer" waren oder loyale „Staatsbürger in Uniform", die die offizielle Linie der Reichstagsmehrheit vertraten. In dieser Wertung wären sie wieder in „die große Familie jener aufzunehmen, die das blaue Tuch tragen", nie es schon 1958 der sozialdemokratische Wehrexperte Beermann bei einer Diskussion in der Evangelischen Akademie in Glückstadt gefordert hatte, was damals zu einem Eklat führte 32a).
Für das besonders schwierige Kapitel der Wehrmacht in der NS-Zeit kann wohl nur die Regel gelten: Es sind nur jene Personen und Geschehnisse anzuerkennen, die eine klare Widerstandshaltung gegenüber dem Un-rechtsstaat bewiesen haben. Wer nur versucht hat, tapfer zu kämpfen, menschlich anständig zubleiben, wer an Verbrechen nicht direkt beteiligt war (was manchmal nur ein Glücksumstand, manchmal aber auch Resultat einer entschlossenen Verweigerung war), der hat eine zu dürftige Legitimation, um als Vorbild dienen zu können. Dabei wird es auch einige schmerzliche Entscheidungen geben müssen. Wer den Großadmiral und das letzte Staatsoberhaupt des Dritten Reiches, Dönitz, als traditionswürdiges Beispiel ablehnt, und dies ist bei allem Verständnis für die menschliche Tragik des Falles die einzig richtige Entscheidung, der muß auch konsequent sein und eine Persönlichkeit wie Rommel unberücksichtigt lassen, dessen Widerstandshaltung wohl doch zu fragwürdig ist. Die Männer des 20. Juli, vor allem Stauffenberg und Beck, gehören aber wegen ihrer bewiesenen sittlichen Grundhaltung dazu, auch wenn sie nicht als Vorkämpfer der Demokratie angesehen werden können.
Dies sind nur beispielhafte Anmerkungen eines historisch interessierten Politologen, die nicht unbedingt Gültigkeit verlangen. Klärung über das Reservoir für die Fallsammlung muß die historische, insbesondere die zeitgeschichtliche Forschung erbringen. Aber auch ihre Wirksamkeit hat Grenzen. Entscheidend für das lebendige Traditionsverständnis ist die „tradierte“ Form von Personen und Ereignissen im Geschichtsbewußtsein breiter Bevölkerungskreise. Sie muß nicht immer mit dem historischen Wahrheitskern — was ist das eigentlich? — übereinstimmen. Der „alte Fritz“ volkstümlicher Überlieferung ist eben nicht die historische komplexe Persönlichkeit Friedrichs II., der bei seiner anerkannten „Größe" auch sehr fragwürdige Züge im Hinblick auf humane, ganz zu schweigen von demokratischen Werten aufweist. Wissenschaft, Sozialisationsagenturen und politische Entscheidungsinstanzen haben gemeinsam den Auftrag, daran mitzuwirken, daß ein Traditionsbewußtsein entsteht, das einer demokratischen Politischen Kultur optimal entspricht.
VIII. Manifestation der Traditionspflege in der Bundeswehr
Wenn militärisches Traditionsbewußtsein nicht als selbstverständlich gilt, wenn es nicht latent vermittelt wird, muß es als Teil manifester Sozialisation bewußt geweckt und gefördert, „gepflegt" werden. Dazu sind institutionelle Vorkehrungen und methodische Überlejungen notwendig. Eine entsprechende politisch-historische Bildung ist das wichtigste Mittel. Sie ist auch die Voraussetzung für das Entstehen der Freiräume, in denen Tradition wachsen kann, ohne daß „Wildwuchs" auf-schießt. Die Vielzahl der Möglichkeiten, militärische Tradition sichtbar zu machen, kann hier nicht erörtert werden. Es sollen nur einige Problembereiche exemplarisch angesprochen werden, die ein Traditionsbedürfnis erklären und die die Umsetzung eines konzeptuellen Traditionsverständnisses in ausdrucksstarke Formen der Traditionspflege erkennen lassen.
Zunächst wäre das einer systematisch aufgebauten Fallsammlung zugrunde liegende Raster zu erläutern. Eine Klassifizierung der zuzuordnenden Traditionsinhalte — die ja zugleich in der praktizierten Traditionspflege mit der Namensgebung von Einrichtungen der Bundeswehr sichtbar werden — könnte nach folgendem Muster erfolgen: Beziehung militärischer Traditionswert (M) — demokratischer Prinzipienwert (D)
(+ positiv, — negativ, 0 indifferent)
Personenbeispiele 1. -M : +D Ossietzky 2. OM : +D Heinemann 3. + M : +D Scharnhorst 4. + M : OD Seydlitz 5. + M : —D Dönitz.
Für den vorgesehenen Zweck sind nur die Muster 3 und 4 ergiebig, 3 ist der Idealfall, der aber relativ selten sein dürfte, während 4 vornehmlich den zu tolerierenden vormodernen Bereich umgreift. Der Name des entschiedenen Pazifisten Ossietzky schmückt eine Universität besser als eine Kaserne. Die Motivationswirkung des vorbildlichen Demokraten Heinemann für militärische Tradition ist nicht recht einzusehen
Das Traditionsbedürfnis wird von dem Identitätsstreben in einer sozialen Gruppe und der Absicht, den GruppenzusammenhaJt nach innen zu festigen und nach außen sichtbar zu machen, bestimmt. Je problematischer das Verhältnis einer Gruppe zur Gesamtgesellschaft ist, je schwieriger und anspruchsvoller die Erfüllung ihrer Funktion, desto größer ist das Bedürfnis, für die eigene Situation als bedeutsam erachtete Werte und Normen zu tradieren, auch das soziale Prestige darauf zu gründen. Darin liegen Gruppenansprüche zur Ausbildung einer fragmentierten politischen Kultur unter Gewährung eines Toleranzrahmens durch die Gesellschaft begründet. Damit ist aber auch die Gefahr sozialer Isolierung, Ausbildung eines Elitedenkens gegeben, wenn nicht von der gesamtgesellschaftlichen Wertbasis soziale Kontrolle ausgeübt und gegengesteuert wird. Diese Gefahr besteht nicht nur für die Bundeswehr mit ihrem Sonderproblem gebrochener militärischer Tradition. Sie ist auch in Ländern mit vorgeblich gefestigten militärischen und politisch-demokratischen Traditionsstrukturen möglich. So hat sich im Fall des Armee-Sergeanten Hathaway, der 1972 einen Doppelmord an zwei Iren beging, ein unheiliger Korpsgeist gezeigt, indem der Mörder von seinen Kameraden gedeckt wurde. Hathaway diente im traditionsbewußten „Argyll and Sutherland Highlander-Regiment", dessen Angehörige nach außen wie Pech und Schwefel zusammenhalten, so daß die Angelegenheit „im Interesse der Armee und des Regiments" von den zuständigen Offizieren lange vertuscht wurde
Traditionsbedürfnis ist auch eine Frage per. sönlicher Betroffenheit. Sie ergibt sich aus ob. jektiven Funktionsvoraussetzungen, etwa der Anciennität, aber auch aus subjektiven Fakto. ren wie Informationsgrad, Interesse und Arti. kulationsfähigkeit. Das heißt jedoch nicht, daß einfach nur quantitativ nach dem Intensitätsgrad eines Traditionsbedürfnisses gefragt wird. Vielmehr gibt es hier auch qualitative Unterschiede. Ein hoher Offizier, der sein Leben praktisch mit der Berufskarriere im militärischen Bereich zubringt, hat ein anderes Traditionsverständnis und hegt andere Erwartungen gegenüber der Traditionspflege als ein gezogener Rekrut, der seine 15 Monate nur eben abdienen muß und seine zivilen Bindungen aufrechterhalten will. Sein Traditionsbedürfnis ist nicht geringer als das des Berufsoffi. ziers, es ist aber anders strukturiert. Gerade er braucht Hilfen, um die nicht freiwillig gewählte Tätigkeit beim „Bund“ als sinnvoll zu begreifen Er braucht Orientierungsmuster, um die Spannung der beiden Bereiche, des militärischen und zivilen, die ja in dieser dramatischen Form existentieller Betroffenheit für den Berufssoldaten nicht gegeben ist, auszuhalten. Gerade hierfür sind prägnante Ausdrucksformen militärischer Tradition — Symbole und Brauchtum, das aktuelle Miteinanderumgehen, der „Geist“ einer Truppe, wenn auch nicht in der exzessiven Form eines elitären Korps-geistes zu tolerieren — als Orientierungs-und Identifikationshilfen wichtig. Sie sind kein unwesentlicher äußerer Kram, wenn auch mancher Kritiker meint, es würde des Guten zuviel getan. Gemessen an dem, was andere Armeen an traditionellen Paradeuniformen zu bieten haben, ist unsere Bundeswehr noch schlicht zu nennen. Unter französischen Patrioten droht am 14. Juli, dem Nationalfeiertag, Unruhe auszubrechen, weil die Soldaten neue Stahlhelme bekommen. Sie befürchten, daß damit die „nationale Identität“ preisgegeben würde Als sinnfälligster Ausdruck militärischer Traditionspflege mit der größten Öffentlichkeitsresonanz sind die „öffentlichen Gelöbnisse“ an-zusehen. Um das Problem nicht unnötig zu komplizieren, wird hier auf eine Unterscheidung von Eid für Berufssoldaten und Länger-dienende und Gelöbnis für Wehrpflichtige verzichtet. Die Bedeutung der öffentlichen Gelöbnisse liegt darin, daß sich in ihnen ein Moment Politischer Kultur manifestiert, in dem fragmentierte Tradition und demokratische Prinzipien symbolisch integriert werden. Ausdruck dafür ist der soldatische Auftrag, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und Recht und Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen". Dieser Inhalt muß sich auch in der Form niederschlagen. Um diese Form geht die Diskussion. Die Spannweite der Auffassungen reicht vom Beibehalten der derzeitigen Praxis über teilweise Änderungen der Zeremonie bis zum Verzicht auf ein feierliches Gelöbnis.
Nicht umstritten ist die Notwendigkeit einer Inpflichtnahme der Rekruten überhaupt. Die betroffenen jungen Menschen brauchen für die Übernahme der Soldatenrolle mit ihren äußersten sittlichen Konsequenzen, aber auch nur in den täglichen Anforderungen militärischen Lebens, Hilfestellung. Sie müssen die physischen und psychischen Belastungen in ihrem Sinn begreifen und in kritischer Reflexion bewältigen lernen. Gewiß ist dafür „eine förmliche Belehrung über Rechte und Pflichten“ unerläßlich Sozialisationserfordernisse weisen jedoch darauf hin, daß sich in politischen Lernprozessen, die Engagement bewirken sollen, notwendig kognitive, wissensmäßige und affektive, gefühlsmäßige Elemente verbinden, um eine Werthaltung zu begründen. Demnach sollte die Verpflichtung ein längerwährender, vom Vorrang rationaler Argumentation bestimmter, aber auch von Gemeinschaftserlebnissen geprägter Prozeß sein. Das feierliche Gelöbnis wäre nur der Höhepunkt in diesem Sozialisationsvorgang, der durch Veranstaltungen politischer Bildung, eindringliche Darlegung der soldatischen Pflichten und Rechte im Kontext gesellschaftspolitischer Zielsetzungen, vorbereitet und nachbereitet wird.
Inwieweit eine emotionale Stimulierung durch „Fackeln, Trommeln und Trompeten" dabei hilfreich ist, sollte nicht durch Bedürfnisse „konservativer Militärs" entschieden werden, wie die Jungsozialisten argwöhnen sondern von den betroffenen jungen Menschen selbst. Inzwischen vorliegende Umfrageergebnisse geben hier keine eindeutige Entscheidungshilfe Zwar ist eine Tendenz erkennbar, daß die Gesamtbevölkerung eine positive Meinung über öffentliche Gelöbnisse und auch den Zapfenstreich hat. Diese Tendenz schwächt sich jedoch bei den betroffenen jüngeren Jahrgängen (16— 29 Jahre) deutlich ab oder verkehrt sich sogar ins Gegenteil. Andererseits ist das Ergebnis einer Befragung von Rekruten selbst bei der 89, 9 v. H. sich für ein gelegentlich bzw. aus besonderem Anlaß in der Öffentlichkeit durchgeführtes feierliches Gelöbnis und 89, 1 v. H. für Beibehaltung des Großen Zapfenstreiches aussprachen, sowie 64, 3 v. H. sich positiv angesprochen bzw. berührt fühlten mit seiner schmalen Basis von 238 Befragten nicht repräsentativ genug, um daraus Schlüsse ziehen zu können.
Demnach empfiehlt sich für die „Öffentlichkeit" des feierlichen Gelöbnisses wohl ein Mittelweg. Das öffentliche Gelöbnis sollte nicht die Regel sein. Seine gelegentliche, aus besonderem Anlaß begründete Verwendung unterstreicht den Charakter einer hervorgehobenen Sonderform mit starker symbolischer Bedeutung. So entgeht es auch der Gefahr, sich routinemäßig abzunutzen. In jedem Fall muß aber sichergestellt werden, daß die sozialintegrative Funktion des Gelöbnisses deutlich wird. Ein Repräsentant der demokratischen Öffentlichkeit, ein Bürgermeister, Abgeordneter, auch ein Gewerkschafter, sollte die Wehrpflichtigen ansprechen.
Ein viel genannter Kritikpunkt betrifft die Verbindung von Gelöbnis und Großem Zapfenstreich. Hier könnte eine „Entflechtung" der beiden inhaltlich nicht notwendig zusammengehörenden Zeremonien hilfreich sein. Das ergäbe die Möglichkeit, die betroffenen Wehrpflichtigen selbst mitentscheiden zu lassen, ob und in welcher Form der Zapfenstreich in die Feier einbezogen wird. Die Autorität des zuständigen Vorgesetzten wird dadurch gewiß nicht in Frage gestellt. Auch eine Änderung besonders umstrittener Partien des Zapfenstreichs ist erwägenswert, gerade um die Ernsthaftigkeit der sittlichen Entscheidung des Gelöbnisses nicht zu überschatten. Die Philippika des wortgewaltigen Heinrich Albertz, der von „gotteslästerlicher Verwendung des Namen Jesu Christi“ gesprochen hat muß hier nicht Richtschnur der Entscheidung sein. Andere ihren Glauben ernstnehmende Menschen haben ihr Bedenken geäußert, ob der Choral „Ich bete an die Macht der Liebe“ und der Befehl „Helm ab zum Gebet" noch zeitgemäßes Empfinden ausdrückt und dem Gebot der Toleranz entspricht. Diesen Bedenken sollte Rechnung getragen werden. Eine Neu-fassung des Zapfenstreichs, die junge Menschen anspricht, muß nicht ideologisch verbrämt werden, wie es jetzt in der DDR praktiziert wird. Die Vermittlung eines „sympathischen sounds“, wie sie der Generaldekan der evangelischen Militärseelsorge, Gramm, empfiehlt muß aber auch nicht unbedingt in die Trivialität moderner Popmusik abgleiten.
In angemessener Form ist das feierliche Gelöbnis keine säbelrasselnde Demonstration von Wehrbereitschaft. Es kann vielmehr dazu beitragen, die „Einbindung der Bundeswehr in die Gesellschaft“ zu fördern (Apel). Die Kommunikation zwischen Bundeswehr und Gesellschaft soll mit der gebotenen Nüchternheit betrachtet werden. Wie könnte denn die Forderung des Generalmajors Komossa verwirklicht werden, daß die Gesellschaft sich zur Bundeswehr bekennt und die Soldaten in ihre Fürsorge nimmt?
Es mag eine schöne Utopie sein, sich das Bild auszumalen, wie die schweigende Mehrheit sich als ein schützender Wall von Leibern vor das Häuflein gelobender Rekruten stellt, um es von störenden Protestlern abzuschirmen. Wahrscheinlich ist es nicht einmal eine erstrebenswerte Utopie. Denn eine Identität, die „Gleichsetzung von Bundeswehr mit Staat und Gesellschaft“, wie sie der Abgeordnete Hansen dem Generalinspekteur Brandt unterstellt kann und darf es in der Demokratie nicht geben.
Allerdings kann der völlige Rückzug aus der Öffentlichkeit, die Beschränkung auf die Kaserne, in eine verhängnisvolle gesellschaftliehe Isolation führen. Wenn Gelöbnisgegner betonen, daß es „dieses Zeremoniell“ in der „Weimarer Zeit" nicht gab so argumentieren sie mit verkehrter Frontenstellung. Zunächst ist dies sachlich nicht zutreffend. Denn die Rekruten der Reichswehr haben sehr wohl bei ihrer Einstellung öffentlich „Treue der Verfassung des Deutschen Reiches" geschworen 46). Dies änderte jedoch nichts an der Absicht der Reichswehrführung, einen „Staat im Staate" zu errichten, um eine Machtbasis für antidemokratische Politik bereit zu halten. Deshalb hat sie sich auch in ihrer Traditionspflege bewußt von den demokratischen Repräsentanten der Republik und ihren demokratischen Prinzipien zu distanzieren versucht. Davon kann heute im Verhältnis der Bundeswehr zur demokratischen Öffentlichkeit wohl nicht die Rede sein.
Auch die institutioneile Zuordnung der Traditionspflege in der Bundeswehr muß eine zweckmäßige Regelung finden. Die Bundeswehrführung wird sich in ihrer Funktion als Leitung eines Sozialisationsträgers auf Rahmenrichtlinien beschränken müssen. Diese Bescheidung läßt der Traditionserlaß von 1965 durchaus erkennen. Bei solcher zurückhaltenden Praktik, die der Ausführung hinreichend Spielraum läßt, brauchen Richtlinien auch nur in größeren Zeitabständen revidiert oder ergänzt zu werden.
Die eigentliche latente und die veranstaltete manifeste Traditionspflege erfolgt im überschaubaren Bereich des Truppenteils. Das Bataillon ist die geeignete Grundeinheit, um ein traditionell gestütztes Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen zu lassen und die konkrete Sozialisationsfunktion zu erfüllen Da-mitkönnte auch dem zweckmäßig erscheinenden Vorschlag entsprochen werden, eine iggionaJisierungder Traditionsbildung zu fördern. Die Überlegung, an „regionale und lokale Besonderheiten" anzuknüpfen, würde sowohl Integrationsbestrebungen zwischen Streitgälten und Gesellschaft an der Basis dienen, als auch eine weitere tolerable Fragmentie-
rung politischer Kultur ausdrücken. Offen färe noch die organisatorische Form, solche Iraditionsaufgaben zu erfüllen, Standortgeschichte zu schreiben, traditionswürdige An-
ässe aus der Regional-und Ortsgeschichte aufzugreifen etc. Als Adressat solcher Bemühungen ist vor allem auf „die bodenständigen Unteroffizierkorps" hingewiesen worden Ob es zweckmäßig und wünschenswert ist, die Träger dieser Aufgabe in „Traditionszirkeln''
uusammenzufassen, wie es in den Einheiten ; nd Truppenteilen der NVA praktiziert vird sollte sachlich geprüft werden. Sicher-ich gibt es dabei atmosphärische Schwierig-leiten in der Öffentlichkeit, wie die Kritik an Bundeswehr-Fanklubs" schon deutlich nacht.
Eine bewußt intendierte Traditionspflege ist schon deshalb erforderlich, um nicht spontane 'ruditionsbemühungen, die an sich begrüdenswert sind, in unter demokratischen Aspekten zweifelhaften „Wildwuchs" entarten n lassen. Auf dem Flur des Bildungsstütz-punktes einer Division hängen drei Bilder: Ein Reiter der prächtig gekleideten Grand-Mousquetaires um 1700, Marschall Blücher und ein deutscher Serenissimus des 19. Jahrhunderts. Elieser fast rührende Versuch, Tradition zu eranschaulichen, erscheint in seiner Konzeptionslosigkeit bezeichnend. Traditionspflege in der Basis braucht Orientierungshilfen. Solche Hilfen sind auch nötig im Hinblick auf das Verhalten gegenüber Angeboten einer Sraditionspflege“ aus dem Bereich außerhalb der Bundeswehr, meist mit kommerzieller Motivation verbunden. Hierfür sollen zwei besonders krasse Beispiele genannt werden.
Vor zwei Jahren hat das Bayerische Armeevuseum in Ingolstadt, das sich selbst als „das älteste und bedeutendste Militärmuseum der Jundesrepublik Deutschland“ rühmt, sein 100jähriges Bestehen gefeiert. Aus diesem Anlaß wurde ein kommerzielles Unternehmen beauftragt, eine Sammlung von Zinnfiguren „Die großen Traditionsregimenter der deutschen Geschichte" herauszugeben. Die sachliche Verantwortung für diese Edition liegt jedoch beim Museum. Es ist bereits festgestellt worden, daß ein unmittelbares Anknüpfen an die Truppenteile des alten kaiserlichen Heeres und an die Traditionstruppenteile in der Reichswehr und in der Wehrmacht für militärische Traditionspflege in der Bundesrepublik ausgeschlossen ist. Dennoch könnte eine sachliche Darstellung militärischer Entwicklungen und Zusammenhänge an einer solchen Sammlung veranschaulicht, dem militärkundlich Interessierten im Begleittext nützliche Information vermittelt werden. Hier wird es bereits fatal. Obwohl das Ingolstädter Museum die „Authentizität und die detailgetreue Darstellung der Figuren“ hervorhebt 50), gehen seine „Experten", in der Durchführung ihres Traditionsschemas recht großzügig mit den historischen Fakten um, so daß der Käufer der Serie falsch informiert wird. Es wird z. B. in der Ausgabe 007 ein „Kürassier, Leibkürassier-Regiment Großer Kurfürst (Schlesisches) Nr. 1 (1700)“ angeboten. Tatsächlich handelt es sich um einen Dragoner vom Leib-Dragoner-Regiment (Grumbkow-Dragoner), der Ursprungs-einheit des betr. Kürassierregiments, wie jeder interessierte Laie an Hand der allgemein zugänglichen Fachliteratur nachweisen kann Diese organisationsgeschichtlichen Zusammenhänge werden aber nicht erläutert. Statt dessen entwerfen die Ingolstädter „Fachleute" in der sogenannten „Begleitliteratur" ein Heldenepos, dessen schwülstiger Stil in nichts hinter den lobhudelnden Werken von Regiments-und Waffengattungsgeschichten der preußisch-wilhelminischen Ära des 19. Jahrhunderts zurücksteht. So darf man sich an Mitteilungen wie dieser erbauen, daß es den Leib-Kürassieren zu Beginn des Ersten Weltkriegs „vergönnt“ war, sich „im Reiterkampf zu messen". Die abschließende Textpassage, daß sich das Regiment „in den letzten Kämpfen vor Kriegsende ...seiner Tradition angemessen“ als „ungebrochener Fels im Flutenstrom der Zeiten" verhalten habe, ist angesichts zweier Weltkriege und der Dimensionen eines drohenden Ätomkrieges in ihrer emphatischen Verstiegenheit geradezu grotesk. Ein Beitrag zu einer angemessenen militärischen Traditionspflege in einem demokratischen Staat wird mit solchen Texten jedenfalls nicht geliefert. Statt dessen wird mit dieser wohl auch international vertriebenen Serie im Ausland das Vorurteil erhärtet, die Deutschen seien immer noch die alten „Kommißköppe", die sich an solchen martialischen Schilderungen militärischer Vergangenheit erbauen.
Solche Wirkungen müssen auch hinsichtlich einer „Großadmiral Karl Dönitz Gedächtnis-medaille" befürchtet werden, die ebenfalls von einer im Freistaat Bayern ansässigen Firma angeboten wird. In einem großformatigen Werbetext in einem Boulevardblatt mit bundesweiter millionenstarker Auflage heißt es dazu: „Mit Karl Dönitz verstarb eine historische Persönlichkeit der deutschen Geschichte. Er war ein vorbildlicher Soldat, ein genialer Befehlshaber und er war es, der Hunderttausenden von deutschen Mitbürgern die Flucht aus dem Osten ermöglichte“ der aber dennoch, so möchten wir hinzufügen, nicht der Traditionspflege in einem demokratischen Gemeinwesen dienen kann.
Die hier vorgetragenenen Überlegungen sollen dazu beitragen, daß eine sachliche Diskussion zur Klärung des für unser politisches Selbstverständnis wichtigen Themas militär sehe Tradition in einem demokratischen Staa geführt wird. Das Ergebnis dieser Diskussior sollte von Toleranz gegenüber besondere: Funktionsbedürfnissen eines staatlichen Teil bereichs, aber auch von Festigkeit in der Ver tretung unerläßlicher demokratischer Prinzi, pien im Interesse gesamtgesellschaftliche: Ordnung bestimmt sein. Demokratisches Beckmessertum ist dabei sicher nicht ange. bracht. Die Streitkräfte können gerade untei den erschwerenden Bedingungen ihrer Funk, tionserfüllung nicht mehr demokratische Substanz widerspiegeln als die Gesellschaft insgesamt. Sie müssen sich aber gerade wegen des Gewichts und den Besonderheiten ihrer mili. tärischen Funktion dem Anspruch sozialer Kontrolle einer demokratischen Öffentlichkeit stellen.
Die Bundeswehr scheint sich dieser Verantwortung bewußt zu sein. Sie hat nicht die Intention, in der Manifestation ihrer Tradition die Gesellschaft militarisieren zu wollen. Die Öffentlichkeit wiederum sollte der Bundeswehr — ohne sie gängeln zu wollen — dabei helfen, daß das unaufhebbare Spannungsver. hältnis zwischen militärischer Funktion und demokratischen Prinzipien in einer für die Politische Kultur unseres demokratischen Gemeinwesens fruchtbaren Weise vermittelt] wird.