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Tradition als Last? Militär und Gesellschaft in Deutschland. Konsequenzen für ein zeitgemäßes Selbstverständnis des Soldaten | APuZ 17/1981 | bpb.de

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APuZ 17/1981 Tradition und Geschichtsbewußtsein im sozialen Wandel Das Verhältnis von Wehrmacht und NS-Staat und die Frage der Traditionsbildung Tradition als Last? Militär und Gesellschaft in Deutschland. Konsequenzen für ein zeitgemäßes Selbstverständnis des Soldaten Militärische Tradition im Spannungsfeld demokratischer Politischer Kultur

Tradition als Last? Militär und Gesellschaft in Deutschland. Konsequenzen für ein zeitgemäßes Selbstverständnis des Soldaten

Peter Balke

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Zusammenfassung

Deutschland hat innerhalb von dreißig Jahren zwei Weltkriege verursacht bzw. mitverursacht, sie geführt und unter schwerwiegenden, langzeitigen Folgen verloren. Die politischen und geistigen Konsequenzen fehlgelaufener Politik in Deutschland sind teilweise von traumatischer Art und Dimension. Sie stellen in mancher Beziehung eine existenzielle Gefährdung bzw. Verwundung des Gesamtbewußtseins der Deutschen dar. Unter diesen Umständen bedarf es nüchterner und kritischer Blicke auf die Fehlentwicklungen deutscher politischer Kultur und das damit zusammenhängende Verhältnis von Militär und Gesellschaft in der jüngeren deutschen Geschichte. Wenn es also gegenwärtig um die Frage nach der angemessenen Tradition der Bundeswehr geht, so kann nicht Erbauung, sondern nur mehr Erkenntnisgewinn das Ziel von Tradierungen und Vergangenheitsanalyse sein. Die Tradition der Bundeswehr wird also künftig Vorbildliches wie Fatales im Verhältnis von Militär und Gesellschaft, von Politik und Militär in Deutschland umfassen müssen. Sie wird folgenschwere historische Irrtümer, deren kritische Bewertung und die aus ihr abgeleiteten Orientierungen in das „gültige Erbe" deutscher republikanischer Streitkräfte einbeziehen müssen. In den zurückliegenden einhundertfünfzig Jahren preußisch-deutscher Geschichte gibt es zahlreiche Stationen, in denen sowohl wegweisend vorbildliche Handlungen als auch bemerkenswerte Irrwege erkannt werden können. Sie bestimmen gleichermaßen das Profil der ersten Wehrpflichtarmee in einer deutschen Demokratie — der Bundeswehr. Es gilt, sie zu kennen und zu berücksichtigen, wenn in der Wehrgesetzgebung und der Inneren Führung dieser Armee Weiterentwicklungen im Sinne des Rechtsstaates und seiner Verfassung vorgenommen werden sollen. Eine Tradition, die auch und gerade Irrwege miteinbegreift, ist nicht länger eine Last — muß nicht länger geistige „Sublimierungen" oder Verdrängungen vornehmen. Sie muß für die Bundeswehr — gerade auch wegen der ständigen technokratischen Selbstgefährdung moderner Armeen — die erforderliche und nicht endende Normen-und Wertediskussion unterstützen.

Vorbemerkung

Es kann mir, vom Thema her, nicht darum gehen, meine Leser mit dem neuesten geschichtswissenschaftlichen „state of the art" vertraut zu machen, sie historisch sachkundiger werden zu lassen. Vielmehr kann ich, wenn es um die Notwendigkeit bzw. die Über-flüssigkeit von Tradition geht, mit ihnen nur einige historische Stationen abschreiten, so wie ich es in der Vergangenheit gelegentlich mit nachdenklichen Portepeeunteroffizieren und interessierten Offizieren getan habe. Ein historischer Beitrag, der sich mit Fragen militärischer Tradition beschäftigt, könnte heute durchaus als undankbare Aufgabe empfunden werden. War doch Geschichte in Deutschland im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorwiegend heroisch bestimmt. Man denke etwa an Treitschkes öffentliches Wirken, an Dynastie-geschichte als „Hohenzollernsche Heldenbühne", an die Sedanfeiern und an „Kaisers Geburtstag". Die Mommsen, Delbrück und Droysen dagegen erwarben ihre Verdienste eher bei der Betrachtung der Antike oder des Mittelalters, nicht jedoch in der Zeitgeschichte.

Nach 1945 ist eine solche Geschichtsbetrachtung, in patriotischer Aufwallung sozusagen, nicht mehr möglich bzw. erlaubt. Erstmalig gibt es seit dieser Zeit, mit Meineckes schmalem Band über das Resümee des Zweiten Weltkriegs beginnend, eine kritische zeitgeschichtliche Forschung und Geschichtsdarbietung. Wir erkennen also ein kritisches Geschichtsbewußtsein zu einer weitgehend fehl-gelaufenen deutschen Historie zwischen 1900 und 1945. Eine solche Geschichtsbetrachtung ist aber nicht mehr populär-heroisch, erhebend oder gesinnungsträchtig und damit auch nicht mehr Sache breiter Schichten. Wenn man etwa um die „Deutsche Daseinsverfehlung" streitet, so ist dies nichts fürs erbauliche Lesebuch, wie wir es von früher kennen.

Statt dessen geht es heute um gegenwärtige und zukünftige Daseinsbewältigung. Eine der vornehmsten Disziplinen des 19. Jahrhunderts, die Geschichtswissenschaft, wurde folgerichtig durch Disziplinen wie Soziologie, Politologie und eine von den Naturwissenschaften herkommende Philosophie in der Rangliste abgelöst. Geschichte ist deshalb auch nicht mehr uneingeschränkt „magistra vitae"; sie lehrt andererseits aber auch nicht, daß man aus ihr „nichts lernt" — sie lehrt hingegen sehr wohl, woher wir kommen. Sie trägt sodann auch zur kritischen Standortbestimmung in der Gegenwart bei und liefert schließlich Erkenntnisanteile zu unserer eigenen politischen Futurologie. Das erkennt man etwa bei dem Prognostiker Alexis de Toqueville.

Die Wissenschaft, die man oft des Dienstes an der Kontinuität verdächtigt hat, vermag heute sogar Erkenntnis aus der politisch-historischen Diskontinuität der Deutschen zu gewinnen. So soll denn auch dieser Beitrag ständigen Gegenwartsbezug haben. Es handelt sich also im folgenden nicht um die Wiedergabe „geschichtlicher Geschichten", vielmehr sollen die Überlegungen erhellen, warum wir heute die Bundeswehr, die Streitkräfte, den Soldaten als Typus so haben, wie sie sind. Daher geht es hier u. a. um die Frage, wie es zur Reduzierung der Stellung und der glanzvollen Rolle des Soldaten, zu einem nicht länger gloriosen, hingegen vielfach angefeindeten bzw. skeptisch betrachteten Arbeitsberuf kam. Oder es geht um die Frage, warum wir in Preußen-Deutschland über weite Strecken eine hypertrophe militärische Kultur besaßen, ansonsten aber eine oft nur armselige, unterentwickelte politische Kultur vorweisen konnten.

Dies sind auch Fragen der militärischen Tradition in der Bundesrepublik Deutschland. Wie denn überhaupt — wenn ich meinen Traditionsbegriff an dieser Stelle beschreiben darf _ militärische Tradition wenig und nur unter anderem, sozusagen nur für Auge und Ohr, mit Uniformen, Waffen und Militärmusik zu tun hat. Sie stellt statt dessen die möglichst genau und gewissenhaft gezogene Summe aller unserer positiven und negativen Erfahrungen mit dem Militär in Deutschland dar. Das „gültige Erbe", von dem etwa der Traditionserlaß spricht, besteht demnach für mich sowohl in all dem Vorbildlichen wie auch dem Fatalen, ja Letalen in der Geschichte von Militär und Gesellschaft in Preußen und Deutschland.

Da ich weiterhin der Auffassung bin, daß der Beruf des Soldaten in seiner Bedeutung ein eminent politischer Beruf ist und Geschichte in meinem Verständnis nur untergesunkene Politik ist, meine ich, der moderne Soldat müßte sich, seines Berufsverständnisses wegen, intensiv und kritisch um geschichtliche Reflexion bemühen.

Militär und Gesellschaft in Preußen

Ich wende mich zunächst einigen Phasen der preußischen Geschichte zu, um in ihnen erste Ingredienzien für hilfreiche Tradierungen bzw. für abträgliche, im Interesse des demokratischen Rechtsstaats jedoch genau zu untersuchende historisch-politische Abläufe zu sammeln.

Der Große Kurfürst ist wohl der erste moderne Landesfürst im Geschlecht der Hohenzollern, eine der besonders begabten Persönlichkeiten dieses Hauses. Er verfügt zeitweise über stehende Truppen, er betont die Notwendigkeit einer effektiven Verwaltung, er arbeitet „konzeptionell" an der Mehrung und Arrondierung seines Territorialbesitzes. Friedrich Wilhelm I, der „Soldatenkönig", akzentuiert Preußen erstmaligund nachhaltig als Militärstaat. Friedrich II. setzt dies fort. Am Ende seines Lebens blickt er auf drei gewonnene Imperialkriege zurück, die er u. a. aus persönlichem Ehrgeiz, aber auch aus dem Großmacht-streben des aufgeklärten Monarchen geführt hat. Diese drei gewonnenen Kampagnen führen schon zu Lebzeiten des Königs, besonders aber im 19. Jahrhundert, zu einer Heroisierung und Betonung preußischer militärischer Geschichte.

Die Fridericus-Saga spielt dann erneut in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts — der Zeit der nationalen Frustrationen — eine bedeutende Rolle, um schließlich durch den Nationalsozialismus, hier besonders durch Hitler persönlich, intensiv genutzt und mißbraucht zu werden. — Eine, von heute her betrachtet, wenig gedeihliche und genuin „militaristische" Legendenbildung.

Hier sei eine — sich selbst beantwortende — Zwischenfrage gestellt: Warum wird eigentlich die preußische soldatische Tradition im deutschen Reich dominierend und nicht die ebenfalls so vielseitige wie anregende bayrische oder österreichische Überlieferung?

Friedrich Wilhelm I. und sein Sohn setzen in dem mittellosen, zerteilten, entvölkerten Kolonialstaat Preußen die Hauptmerkmale und das Fundament ihres Staates: Eine loyale, streng und sparsam arbeitende Beamtenschaft und ein wohlausgebildetes, gut organisiertes Militär als wesentliche Symbole der Obrigkeit. Beide Könige entpolitisieren den peußischen Adel, indem sie ihm den politischen Einfluß nehmen, ihn aber mit hohem sozialem Prestige, gelegentlich auch mit Wohlstand ausstatten und militarisieren. Seit Friedrich Wilhelm I. trägt kein preußischer König mehr Zivil; die Monarchen stellen sich ihrem Volk in Uniform: Ein deutlicher Akzent des Staatsverständnisses. Im hier Geschilderten sind die ersten Ansätze zur permanenten Militarisierung des preußischen Staates, zum Militärstaat neuer Art, zu erkennen. In diesem Staat wird Pflicht und Treue zum übermächtigen, d. h. absoluten Monarchen und zum hypertrophen Staat gefordert. Es entstehen preußische Disziplin, Rechtlichkeit und Moralität einerseits, aber auch preußische Illiberalität und Enge andererseits. Man kennt in diesem Preußen ehrliche Direktheit wie auch Autoritarismus und polizeistaatlichen „Metternichismus"; man erkennt die Humanität der Humboldt und Schleiermacher, aber auch die „gewollte Unmündigkeit der Vielen".

Als merkwürdige Erscheinung des militarisierten Staates in seinen hierarchischen Denkmustern kennen wir die Episode vom Hauptmann von Köpenick, wissen wir, daß Reichskanzler Bethmann Hollweg im Kreise der Obersten Heeresleitung nicht zuletzt und auch wegen seines bescheidenen militärischen Ranges als Generalmajor ohne rechtes Ansehen blieb; wissen wir, daß Minister Todt nicht zuletzt aufgrund dieses Dienstgrades bei Göring fortgesetzt Schwierigkeiten hatte, sich zu behaupten. Wenden wir uns dem Zeitalter der Reformen in Preußen zu: Diese Phase währte nur wenige Jahre, von 1806 bis 1819, und endete abrupt In diesem Zeitabschnitt rückt zum ersten Mal das liberale und auf Emanzipation bedachte Bürgertum ins Blickfeld. Erste demokratische Impulse werden erkennbar; ihr Auslöser ist ursprünglich die Französische Revolution: Es ist die Zeit des Frühliberalen Rotteck und Welcker. Demokratische Ansätze zeigen sich etwa in der Abschaffung der Leibeigenschaft, in der Herausbildung eines akademischen Elitebürgertums in Abhebung vom Adel: Studenten und Professoren engagieren sich gemeinsam in den Freiheitskriegen. Die Wehrpflicht aller Staatsbürger wird vorbereitet. Als typisches demokratisches Produkt entsteht die Landwehr, später deshalb besonderes Angriffsziel restaurativen Denkens und Handelns. Es kommt sogar zu einer kurzzeitigen Entprivilegisierung des Adels, d. h. zur verstärkten Einstellung bürgerlicher Offiziere. In dieser kurzen Epoche bürgerlicher Reformen, im Grunde einer Revolutionierung des Staates, erkenne ich ganz wesentliche Traditionselemente und Bezugspunkte der heutigen Bundeswehr, der Streitkräfte in einer Demokratie. Der nächste Zeitabschnitt, auf den wir einen Blick werfen, ist der der Restauration in Preußen. Er beginnt im Jahre 1819, nach nur 13jähriger reformatorischer Bemühungen, mit dem plötzlichen Abgang Boyens, des letzten Reformers. Mit seinem Fortgang endet die Episode „revolutionärer" Streitkräfte in Preußen, endet die Zeit umwälzender Eingriffe in Verwaltung und Verfassung des Landes. Der lästige, fortschrittliche und brisante Volksgeist des Blücherschen Hauptquartiers, der Einfluß der Stein, Hardenberg, Gneisenau, Scharnhorst, Boyen, Grolmann und Clausewitz ist geschwunden. Ihr innovatives, kreatives und liberales Denken, Schreiben und Handeln, ihre Bewährung der eigenen Obrigkeit gegenüber, ihre Erfolge im Kampf mit einem despotischen Besatzungskaiser weisen viele vorbildliche Züge auf. Nach meinem Eindruck gewinnen die restaurativen Bestrebungen, d. h. die Befestigung eines verspäteten und verwunderlichen Absolutismus, während des ganzen 19. Jahrhunderts an Gewicht. Sie erreichen schließlich unter Wilhelm II. — von Gottes Gnaden — ihren Höhepunkt.

In der kurzen bürgerlichen Revolution des Jahres 1848 haben wir die einzige Unterbrechung dieses fast ein Jahrhundert währenden Prozesses. Im Jahre der Revolution wird dem preußischen König eine Verfassung abgenötigt. Sie ist der letzte Sieg wirklicher demokratischer Initiative bis zum Untergang der Monarchie im Jahre 1918. Auch im politischen Denken und Handeln der Paulskirchenparlamentarier liegen bei aller rührenden Ungeübtheit, bei aller Konfusion und Aufwallung viele tradierenswerte Züge für die heutige Demokratie und deren Armee: Zivilcourage, Hochachtung vor Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, Liberalität und demokratischer Idealismus. Auch hier, im Jahre 1848, sind Bestandteile der Tradition der Bundeswehr zu finden. Diese Verfassung war schließlich den Hohenzollern so lästig, daß alle Nachfolger des 1848 genötigten Monarchen, Wilhelm II. eingeschlossen, in einem testamentarisch vermachten Brief gehalten waren, diese Konstitution sobald als möglich wieder abzuschaffen.

Zwischen 1862 und 1866, d. h. in der Zeit des Verfassungskonflikts, wird die Königsherrschaft in Preußen durch sehr massive Vorgehensweisen Bismarcks — man hat ihm u. a. Verfassungsbruch vorgeworfen — in einer unzeitgemäß absoluten, für die Spätzeit der Hohenzollern aber bezeichnenden Form durchgesetzt. Wenn man auf das Jahr 1848 zurückblickt, muß man hierin den Verlust der Demokratie in Preußen und damit in ganz Deutschland, muß man hier auch die Ursache für die sogenannte „verspätete deutsche Demokratie“ des Jahres 1918 sehen. Nach dem gewonnenen Imperialkrieg 1870/71 sieht diese Bilanz sogar noch düsterer aus. Es tritt nämlich in Preußen-Deutschland noch ein „verspäteter Imperialismus“ und ein in seiner Intensität und Verschrobenheit charakteristischer „verspäteter Nationalismus" zu Tage. Diese geistigen Verzögerungen, der merkwürdige und geradezu skurril anmutende Teutonismus der Zeit lassen auf erhebliche Frustrationen und Inferioritätsgefühle der Nation schließen. Es handelte sich um einen gravierenden „Denkverfall", der weite Teile der deutschen Intelligenz erfassen sollte, über viele Jahrzehnte anhielt und in der dumpfen Ausprägung nationalsozialistischer Ideologie seine letzte und verderblichste Phase erlebte.

Die drei gewonnenen Kriege der sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts kumulieren einmal mehr den Glanz, die Symbol-kraft und die erste Rolle des Militärs im Staate. Das liberale Bürgertum, das nach 1806 und im Jahre 1848 neue politische Akzente setzen wollte, wird in den Einigungskriegen und danach endgültig assimiliert und militarisiert. Die saturierten Führungsschichten von Adel und Bürgertum formieren sich in den „Gründerjahren" zu einer Art industrieller Feudal-und Militärgesellschaft. Sozialer Sprengstoff bürgerlicher Provenienz ist jetzt durch Adaption weitgehend aus der Gesellschaft entfernt. Dafür tritt zwischen 1850 und 1870 die Arbeiterklasse als bis dahin nicht saturierte soziale Schicht auf die politische Bühne.

Die Verspätung der Demokratie einerseits sowie die massive und unzeitgemäße Heraufkunft von Imperialismus und Nationalismus andererseits zählen meines Erachtens zu den verhängnisvollen Traditionselementen deutscher Staatlichkeit sowie deutscher Streitkräfte. Ein weiteres wichtiges Traditionsmerkmal und Lehrstück muß im wechselhaften Schicksal des „Primats der Politik" in Preußen-Deutschland gesehen werden. Die Armee liebt ihre Parlamentsunabhängigkeit, stellt sich gegen den jeweiligen Armeeminister — einen General — feindselig und insistiert nachhaltig auf Eigenständigkeit in Budget-und Personalfragen sowie in Fragen der Wehrdienstdauer. Wie hart wird der Primat der Politik in den Kriegen gegen Österreich und Frankreich durch Wilhelm L, Moltke den Älteren und einzelne Abteilungsleiter des Generalstabs in Frage gestellt, und welcher Beharrlichkeit Bismarcks bedarf es jedesmal, diesen Primat durch beide Kriege und beide Friedensschlüsse hindurchzuretten.

Daß dies schwächeren Politikern nach Bismarck in einer sich zusehends militarisierenden deutschen Gesellschaft nicht mehr gelingt, ist verständlich, aber von fataler Nachwirkung. Wilhelm II. entmachtet — vermutlich aus mancherlei eigenem Ungenügen — Spitzenpolitiker und sucht sich gefügige Kanzler. Er wendet sich fragwürdigen und problematischen Soldaten wie etwa dem General von Waldersee zu, der ihm u. a. einen Staatsstreich soufflierte. Er beschneidet den Einfluß seiner Diplomaten, so daß ihn schließlich aus London nicht der eigene Gesandte, sondern ein Marine-Attach von subalternem Rang politisch berät. Die Armee tendiert dazu, eine Art exklusiver und privilegierter Leibgarde des nach 1866 unzeitgemäß absoluten Preußenherrschers zu werden. Sie versteht sich später gemeinsam mit der Marine als Symbol imperialer Größe und Vollstrecker kaiserlichen Machtanspruchs.

Wenn es zu Beginn des 19. Jahrhunderts erste Anzeichen einer Mitbeteiligung des Volkes, des Bürgertums, gegeben hatte, so müssen wir Ende des 19. Jahrhunderts eine uneingeschränkte Dominanz des Militärs feststellen. Wir kennen die Geschichte des berühmten, zweiundsiebzigjährigen Professors, der sich um 1905 eine Gnade beim Kaiser für sein Lebenswerk ausbitten darf und darauf den Wunsch äußert, vom Leutnant der Reserve zum Oberleutnant befördert zu werden, oder von jenem Lehmann, der es inzwischen zum Fähnrich gebracht hat, während sein Vater noch als Landgerichtsdirektor herumläuft.

Zwischen 1862 und 1930 sehe ich bei umwälzendem ökonomischen und gesellschaftlichen Wandel eine Zeit hartnäckigsten Beharrungsvermögens der Armee in Preußen und im Deutschen Reich. Das Offizierkorps in den deutschen Streitkräften dieser Epoche denkt antiparlamentarisch, antidemokratisch und antipluralistisch, es ist nahezu ausnahmslos homogen und konservativ ausgerichtet.

Zur antiparlamentarischen und antidemokratischen Einstellung der Armee gibt es durch die Jahrzehnte bemerkenswert bornierte Zitate von Wilhelm II., dem Generalobersten von Seeckt oder dem Generalobersten von Fritsch. Seeckt etwa sprach von „Krebsschaden" und von „Schlamm", wenn er die Demokratie meinte. So lange die Monarchie besteht, fühlt sich das Militär eng an das Herrscher-haus gebunden. Der Zusammenbruch der Monarchie am Ende des Ersten Weltkrieges bewirkt nicht die überfällige Neuorientierung, sondern hinterläßt das Bedürfnis nach adäquatem Ersatz für die verlorene Identität und gesellschaftliche Stellung.

Die militarisierte Gesellschaft in unserem Jahrhundert

Kommen wir zum Ersten Weltkrieg: Moltke d. Jüngere und der Generalstab haben bei Kriegsbeginn nur eine Option vorbereitet: den modifizierten Schlieffenplan, der den Durchmarsch durch das neutrale Belgien — mit der Konsequenz des englischen Kriegseintritts gegen Deutschland — vorsah. Alle politischen Vorentscheidungen sind damit bereits durch das Militär getroffen. Bethmann und der Kaiser sind darüber fassungslos. Den Kaiser trifft eine Schicksalsironie: es rächt sich seine blinde Liebe zur Armee, seine Vorliebe für den militärischen Standpunkt. Sei jenen Tagen sind demokratische Politiker besonders auf-27 merksam, wenn Soldaten sogenannte Sachzwänge forcieren wollen.

Ludendorff leitet die Heimatkriegführung, sorgt für die politische Indoktrination der Truppen, versucht politisch-soziale Fragen wie den Munitionsarbeiterstreik im Sinne der Kriegführung zu lösen und bestimmt vor allem die illusionäre, maßlose „strategische" Kriegszielpolitik. Der Kaiser überläßt die Politik dem Ratschluß und dem innen-und außenpolitischen Erfahrungshorizont der beiden Berufs-soldaten Ludendorff und Hindenburg. Bei Kriegsende wird durch die Militarisierung der gesamten Politik durch die sogenannte 3. Oberste Heeresleitung der erste totale Krieg eingeleitet. Es stellt den Primat des Militärs in seiner paradigmatischen Form dar, als Ludendorff und Hindenburg den Kanzler Bethmann Hollweg und den Sekretär des Außenamtes, Jagow, entlassen.

Wie müssen wir das Verhältnis der Reichs-wehr zur Weimarer Republik und ihrer Gesellschaft veranschlagen? Das Groener-Ebert-Bündnis der ersten Stunde bestimmt das Verhältnis von Militär und Staat in der Weimarer Republik in unguter und unausgeglichener Weise. Es sollte in dieser Republik nicht gelingen, das Militär in die ihm allein angemessene, dienende, instrumentale Rolle zu verweisen, es demokratisch zu domestizieren. Die Reichs-wehr darf sich in den Folgejahren antiparlamentarisch und vor allem auch republikfeindlich rekrutieren und gerieren. Sie schlägt nach links und ist nach rechts parteiisch bzw. schweigend sympathisierend, insgesamt un-ausgewogen eingestellt.

Seeckt, der nur einmal zu einer Verfassungsfeier erschien, ist von da ab stets unabkömmlich. Er huldigt eher einer mystischen, übergeordneten Reichsidee als der tatsächlichen republikanischen Staatsform. Seiner jeweiligen Regierung dient er, jedoch mit Hochmut und Subcon. Dies alles führt zu einer erheblichen Präponderanz der an sich kleinen Armee im Weimarer Staat: So betreibt Seeckt etwa seine „Rußlandpolitik''einer geheimen Ausbildung an Panzern und Flugzeugen über seinen Minister Geßler hinweg und beteiligt den Finanzminister und den Wehrminister immer erst dann, wenn seine Projekte Geld zu kosten beginnen. Man muß leider auch vermuten, daß ihm Geßler darüber hinaus gesellschaftlich und nach Herkunft nicht ebenbürtig erschien. Seeckt erscheint insgesamt als eine der problematischen Zentralfiguren des Weimarer Staates, beteiligt am fatalen Schicksal dieser ersten Demokratie in Deutschland.

Ich hätte nichts einzuwenden gehabt, wenn ein Porträt dieses hochbefähigten Soldaten im Kasino meines Betailions gehangen hätte aber ich hätte mich mit den Offizieren um eine möglichst gewissenhafte Saldierung der hohen Verdienste wie der schuldhaften Verstrikkungen dieses Offiziers bemüht. Auch dieser Offizier und seine politische Wirkung gehört zum gültigen Erbe der Gegenwart.

Es kommt im Offizierkorps der Reichswehr schon recht früh zu einer „Teilidentität" mit der NSDAP, u. a. in folgenden Bereichen:

— völkisch-nationales Reichs-und Vaterlandsverständnis; — Einigkeitsideologie — vom „Volk in Waffen" zur „Volksgemeinschaft";

— Antiparlamentarismus und Republikfeindlichkeit; — Antisozialismus und Gegnerschaft zur SPD;

— Streben nach voller Wehrhoheit bis hin zu militärischen und revisionistischen Denkmustern. Die Auswirkungen dieser teilweisen Bewußtseinsidentität zeigen sich besonders deutlich im Ulmer Reichswehrprozeß. Hier liegt, wenn ich recht sehe, die Ursache, daß später ein erheblicher „Anti-Seeckt-Komplex" aller politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland die Struktur der Bundeswehr beeinflußt hat.

Die SPD zeigt zur Weimarer Zeit allerdings ein Versäumnis, das ähnlich schwerwiegt wie die Fehlentwicklungen in der Reichswehr: Ihre klassenkämpferische Befangenheit hindert sie, sich unbefangen zu den Streitkräften zu stellen und an deren republikanischem Profil mitzuwirken. Sie versäumt damit eine Verpflichtung, die ihr von ihrer tatsächlichen politischen Bedeutung her zukommt.

Die Wehrmacht als Nachfolgerin der Reichs-wehr, von ihrer zentralen Rolle und der Wiederentstehung des Reiches als Großmacht überzeugt, wächst in eine zum zweiten Male militarisierte und uniformierte Gesellschaft hinein und prägt sie entscheidend mit. Dem äußeren Anschein nach geht sie im aufrüstenden und aggressiven nationalsozialistischen Staat, der noch dazu an der Wiederherstellung der in Versailles „geschändeten Ehre der Nation" arbeitet, „einer großen Zeit entgegen", wie es der damalige Hauptmann Ramcke, der spätere Fallschirmjägergeneral, zu Beginn des Jahres 1933 vor seiner angetretenen Kompa-B nie ausdrückte. Es herrscht die Morgenröte einer neuen Zeit.

Nur hat zu diesem Zeitpunkt niemand in der Wehrmacht Erfahrung mit einem rechtstotalitären System und einem modernen Diktator. Die hohen Soldaten zeigen zum Teil sträfliche Naivität, soldatische Begehrlichkeit, Mangel an politischer Kenntnis und Urteilskraft, Mangel an Bildung (vgl. hierzu etwa das Urteil von percy E. Schramm). So kommt es ausgerechnet in diesem hochmilitaristischen System zur furchtbarsten Demütigung, die das Militär und die Generalität in Deutschland je hinnehmen mußten: Bredow und Schleicher werden ermordet, Fritsch und Blomberg geraten in Intrigen und Affären. Die Behandlung der Generäle durch Hitler nimmt später im Kriege einen unheimlichen und nie dagewesenen Charakter an; er korrumpiert manchen von ihnen, setzt sie ab und wieder ein, behandelt sie wie Bedienstete; diejenigen, die ihm Widerstand leisten, läßt er auf viehische Art hinrichten.

Die Entmündigung und Demütigung der Wehrmacht, ihr Mißbrauch im Zweiten Weltkrieg als Eroberungsarmee, als Sklavenhalter Europas, als unfreiwilliger und gelegentlich auch freiwilliger Schutzschild für nie zuvor gesehene Verbrechen führen zu einem tiefgreifenden, bis heute folgenschweren Trauma bei vielen ehemaligen und heute aktiven Soldaten sowie zu einem geschädigten Ansehen des Soldatenberufes in Teilen der Bevölkerung.

Alle hier angeführten, im Sinne Gerhard Ritters „militaristischen" Erscheinungen — sie konnten hier nur skizziert werden — gehören zum „gültigen Erbe'1 und haben zur neuen Verfassung der heutigen Bundeswehr geführt; sie haben den Beruf des Soldaten nach Selbstverständnis und politischer Bedeutung, nach Ansehen und Wert bestimmt und neu definiert.

Obwohl sich die Armee vor 1933 als unpolitisch und überparteilich bezeichnete, war sie vermutlich immer parteilich und ihre Spitze auf besondere Art immer politisch. Auch den „politischen General" gab es sehr wohl, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen und Qualitäten: Albedyll, Manteuffel, Waldersee, Ludendorff, Seeckt, Groener, Reinhard, Schleicher, Reichenau, Blomberg und auch — auf ihre Art — Jodl bzw. Keitel.

Abgesehen von den frühen „Demokraten“ Scharnhorst, Gneisenau, Boyen, Grolmann und ihren Parteigängern waren später eigentlich nur Groener und Reinhard als Süddeutsche in manchen Zügen Demokraten. Alle „politischen Generale", bis auf die preußischen Reformer, Groener und Reinhard, zeichneten sich, wenn ich recht sehe, durch ein zu kurz dimensioniertes Politikverständnis aus, das ganz wesentlich von Ehrgeiz, der Neigung zu Gewaltlösungen — etwa bei Waldersee und Ludendorff — und von kurzschlüssigen Formen des „Pferdehandels", eben einer Art „Westentaschenmachiavellismus", gekennzeichnet war (vgl. etwa den „Einsatz" Lenins durch die deutsche Armee oder die Verhandlungen von hohen Offizieren mit Radek im Berliner Gefängnis).

Historisch-politische Konsequenzen für die Streitkräfte der Gegenwart

Diese historische Belastung ist einer der Gründe dafür, daß man die neuen Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland von Anbeginn an in ein System demokratischer Kontrollen einband. Man duldet seitdem keine Einflußnahme von Militärs auf die Politik, die über deren fachlichen Rat hinausginge. Man läßt sich als Politiker dieses Staates seitdem nur ungern von Soldaten darüber belehren, was Demokratie ist und wie diszipliniert die Gesellschaft zu sein hat, wozu sich Ende der sechziger Jahre einige hohe Soldaten äußerten. Generäle wissen in der Regel bei ihren Äußerungen um diese Sensibilität. Ein Verstoß gegen die Regel der Zurückhaltung, etwa Polemik gegen die Innere Führung, löst — auch unter Soldaten — massive Reaktionen aus.

Die aufgezeigten Fehlentwicklungen im 19. Jahrhundert, in der Weimarer Republik und unter Hitler haben u. a. auch dazu geführt, daß keine politische Partei, die in der Bundesrepublik Verantwortung getragen hat oder trägt, in den wiederholten Diskussionen zur „Spitzengliederung" der Bundeswehr in einem bestimmten Punkt mit sich handeln ließ: der Generalinspekteur der Bundeswehr, ihr höchster Soldat, ist seit 25 Jahren unterhalb der Ebene der Staatssekretäre angesiedelt. Während also das Ressort von einem zivilen Minister und einer Riege ziviler Staatssekretäre geleitet wird, ist der Generalinspekteur der Bundeswehr für den verantwortlichen Minister und die Bundesregierung der oberste Berater mit besonderem militärischen Sachverständnis. Wenn es im Reichstag des späten 19. Jahrhunderts bzw. im Reichstag der Weimarer Republik unter den Fraktionen nie Einigkeit über Rolle und Ansehen der Armee bzw.der Reichswehr gab, so hatten paradoxerweise zu dieser Zeit die Streitkräfte eigentlich stets ein sehr hohes, wenn nicht überhöhtes Prestige. Heute ist das Bild insgesamt stimmiger: über die Sicherheitspolitik und die Bedeutung von Streitkräften herrscht im Bundestag recht weitgehende Übereinstimmung, und das der Bundeswehr zuerkannte Ansehen darf insgesamt als „normal" bezeichnet werden. Der in früheren deutschen Parlamenten vorherrschende Antagonismus ist gegenwärtig zumindest gemildert.

Wie sollten nun heute nach Ansicht der Deutschen und nach ihren historischen Erfahrungen Generäle geartet sein und handeln? Heute wäre ein „politischer General" im früheren Sinne, d. h. ein hoher Soldat, der sich mit mehr oder weniger Geschick an der politischen Macht beteiligt, unerwünscht. Es gibt ihn auch in der Bundesrepublik Deutschland nicht. Niemand wünscht sich heute noch einen machtvollen politischen General, wie es etwa Ludendorff war. Die Öffentlichkeit würde heute politische Generäle wie Schleicher ablehnen. Sie lehnt, soweit sie mit diesen historisch-politischen Zusammenhängen vertraut ist, mit Berechtigung Generäle ab, die in einer Diktatur beflissen geschwiegen oder begeistert kollaboriert haben. Die Jodl, Keitel, Blomberg oder Reichenau verkörpern Fehlentwicklungen eines soldatischen Typus, die vermutlich für ihre Zeit in bestimmter Beziehung als symptomatisch gelten müssen, und die es etwa in den Vereinigten Staaten oder in Großbritannien wegen deren glücklicher verlaufenen und demokratischer bestimmten Geschichte nicht gegeben hat.

Heute ist sich in der Bundesrepublik Deutschland jeder Spitzensoldat, jeder Angehörige der militärischen Führungselite der Tatsache bewußt, daß er zwar einen Beruf mit hoher politischer Bedeutung ausübt, daß von ihm jedoch zunächst verantwortungsbewußter militärischer Sachverstand und entsprechend sorgfältige Beratung erwartet werden, daß er soge-nannte Sachzwänge nicht forcieren darf, daß er zusätzlich ein kritischer, wacher und informierter Staatsbürger mit politischem Gespür sein sollte und daß er schließlich mit Zivilcourage die Konsequenzen zu tragen hat, wenn seine eventuell abweichenden Sachbeurtei. lungen von der politischen Spitze nicht geteilt werden.

Wenn wir diesen Abschnitt zusammenfassen so sollten wir zunächst sechs Überlegungen als Ergebnisse reflektierter und verarbeiteter historischer Ereignisse unterstreichen:

1. Das Konzept der Inneren Führung und der Primat der Politik sind weit über die Wehrgesetzgebung hinaus von der Truppe angenom. men.

2. Die Bundeswehr ist seit ihrer Gründung strikt gehalten, sich in Staat und Gesellschaft einzupassen. Sie kann nach Verfassung und Verfassungswirklichkeit nie wieder „Staat im Staate" werden. Der Soldatenberuf kann nicht mehr zum exklusiven Berufsstand werden Seine frühere Exklusivität ist Geschichte. Hierzu gehört allerdings auch, daß keine politische Gruppe die Armee aus ideologischen Vorbehalten in die soziale oder politische Isolation zwingen darf. Dies ergäbe bei den Soldaten eine Pariamentalität mit allen fatalen soziologischen Konsequenzen.

3. Die Bundeswehr ist der Kontrolle des demo. kratischen und gesellschaftlichen Systems unterworfen. Dies geschieht durch das Parlament, die zivile politische Leitung des Ressorts, den Wehrbeauftragten, den Verteidigungsausschuß und den Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages, aber auch durch die Öffentlichkeit und die Medien. Zudem ist der Soldat im Besitz aller staatsbürgerlichen Rechte wie jeder andere Bürger. Das heißt, die Bundeswehr wird nie mehr in eine antiparlamentarische Position gelangen können. Sie ist nachhaltig ins Verfassungsgeflecht eingebunden.

4. Es kann keine Budgeteigenmächtigkeiten der Streitkräfte mehr geben, die mit denen des 19. Jahrhunderts vergleichbar wären. Fälle von finanzieller Mißwirtschaft werden früher oder später offenbar und führen zu Änderungen.

5. Es gibt keine Möglichkeit einer über längere Zeit oder in Absprache bestehenden militärischen Fronde gegen den zivilen Minister. Dies verhindern neben parlamentarischen Instanzen auch die zivile Spitzenbesetzung, bei der die alleinige politische Handlungskompetenz liegt.

6. Die Pluralität der Gesinnungen ist in der Bundeswehr zugelassen und gegeben. Ein homogener Geist gegen Pluralität und Demokratie ist nirgendwo in den Streitkräften zu erkennen. Sind, wenn wir diese Feststellungen zugrunde legen, Militär und Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland inkompatible Größen? Gibt es Widersprüche zwischen den durch Befehl geführten, hierarchisch organisierten, ökonomisch unproduktiven Streitkräften einerseits und einer zunehmend demokratisierten, friedensorientierten Produktionsgesellschaft andererseits? Die Antwort lautet, wie ich meine: nein. Es gibt keine unvereinbaren Widersprüche zwischen Bundeswehr und Gesellschaft; es gibt hingegen auftragsbedingte Strukturunterschiede. Von diesen abgesehen, hat die Bundeswehr den Charakter eines dienenden Instruments der Gesellschaft bzw.der Nation, das sich — alles in allem — aus bewußten Staatsbürgern zusammensetzt.

Dieses Selbstverständnis der Streitkräfte bzw.des Soldaten gilt unter den Angehörigen dieses Berufs als akzeptiert. Es beruht weitgehend auf den Normen des Grundgesetzes und der Analyse von „überkommenem" und einer zeitgemäßen politischen Bildungsarbeit im Offizierkorps.

Tradition als kritische historisch-politische Bindung an die eigene Vergangenheit

Einige prinzipielle Überlegungen seien auf der Grundlage des oben dargestellten Traditionsverständnisses formuliert. Zunächst einige Fragen: Ist Tradition als Wesensbestandteil von Streitkräften nicht eigentlich veraltet oder überflüssig? Ist sie noch nötig? — Wenn ja, für wen? Und warum? Hat sie noch Bedeutung für technisierte Streitkräfte eines Industriestaates? Ich meine schon. Tradition kann insbesondere für Offiziere eine gewisse Bedeutung haben, d. h. für Soldaten, die den Militärberuf für Jahre oder gar für ein Berufsleben zu ihrem vorrangigen, bestimmenden Lebensinhalt gemacht haben. Dies deshalb, weil u. a. reflektierte Tradition anregende oder warnende historische Erfahrung einer modernen, stark technisierten, bürokratisierten, bienenfleißigen und perfektionistisch geführten Armee zum dringend erforderlichen Wert-und Normenbewußtsein verhelfen kann. Welchen Umfang und welcher Qualität diese Normendiskussionen sind, wird für den Rang von recht verstandener Tradition entscheidend sein.

Streitkräfte, die während einer langen Friedensperiode Dienst tun, tendieren bedauerlicherweise dazu, das Quantifizierbare, Meßbare und Planbare ins Zentrum ihres Interesses zu rücken, hingegen die Imponderabilien, die ungeschriebenen Regeln, das Tugend-und Talentprofil des Soldaten, die Normen der Menschenführung, den unverzichtbaren Nukleus gemeinsamer politischer und menschlicher Überzeugungen, die Bewährung im Gefecht bzw. das Gefecht selbst aus dem Auge zu verlieren. So kommt es zu einer insgesamt untragbaren Zunahme technokratischer Lösungsansätze bzw. mechanistischer oder organisationsorientierter Denkmuster in Friedens-und Ausbildungsarmeen.

Viele dieser technokratischen Irrwege sind 1979 in dem beeindruckenden und wohltuend selbstkritischen Bericht der de Maizire-Kommission beschrieben worden. Ich will hier nur stichwortartig einige Vorgehensweisen bzw. Denkgewohnheiten nennen, die zu technokratischen Fehlentwicklungen führen können bzw. geführt haben: — Curriculare Konzepte und die damit verbundenen Neigungen zum Kästchendenken bzw. zum Denken in Regel-und Kontrollkreisen. — Die Neigung zur Totalreglementierung bei aufrechterhaltener auftragstaktischer Fassade. — Die Versuche, geistige bzw. soziologisch-politische Probleme durch Organigramme vielfältiger Art zu bewältigen. — Die Neigung zur nahezu ununterbrochenen Strukturveränderung am Menschen vorbei. — Computergestützte Personalpolitik, die Anonymität und das Gefühl des Ausgeliefert-seins schafft. — Ingenieursdenken, Human Engineering und betriebswirtschaftliche Kategorien auch in Bereichen, in denen man diese kaum vermuten würde. So wurde etwa die Bildungsreform in den Streitkräften gern und zu nennenswerten Teilen über Netzpläne, Meilensteinpläne, komplizierte Verwendungskataloge und Curricula „abgewickelt". Dies geschah gelegentlich ohne sonderliche Rücksicht auf pädagogische, erzieherische, politi31 sehe, soziologische und pragmatisch-wirklichkeitsbezogene Gegebenheiten und Erfordernisse. — Das Messen, Vergleichen, Quantifizieren und Kontrollieren von Maschinen, Prozessen und Zielen, aber leider in zunehmendem Maße auch von Menschen.

— Die Hierarchisierung von Zielen, Lernzielen oder gedanklichen Teilschritten in der Illusion, dadurch komplexe und vielschichtige geistige Fragen „operationalisieren" oder „in den Griff nehmen" zu können.

— Die befremdliche Faszination durch wand-füllende sogenannte „Tapeten", auf denen Elemente, graphisch ansprechend, hierarchisiert werden; hier wird Reflexion durch Arbeit in kleinsten Denkschriften und kurze „Checks" ersetzt. Hier besteht stets die Gefahr der Scheintransparenz.

— Die Überbetonung und Häufung einer ständigen „Beurteilung" des Menschen unter ähnlichen Illusionen der Vermessung.

— Die Schaffung großer, zentraler Behörden, die an fernem Ort und aufgrund von Akten-kenntnis — wenn auch mit bestem Willen versehen — Personal und Material steuern und bis in die Bataillone hineinwirken, wo die an sich nicht unbewährte Kompetenz militärischer Führer dementsprechend eingeschränkt wird.

— Die Umprägung von Ausbildung zu einem beeindruckenden, in seiner nahtlosen Perfektion besorgniserregenden System von bunten Karten und Katalogkästen. Ausbildung soll ja an sich ein lebendiges, erzieherisches, phantasievolles, zwischen Menschen stattfindendes Geschehen sein. Ich befürchte, daß hier eine stechkartengemäße graue Routine des Abarbeitens total verplanter Dienstzeit von jeder schöpferischen Eigenbemühung fortführt, zumal, wenn noch schnellster Personalwechsel in den Kleingruppen und Teileinheiten hinzukommt. (Auch dieser schnelle Wechsel war übrigens eine organisatorische Kardinalsünde gegen militärsoziologische Grunderkenntnisse.)

— Ein Instandsetzungs-und Versorgungskonzept, das in seiner hochkomplizierten, bürokratisierten Restriktivität erdrosselnde Wirkung für die Truppe haben kann, wie es ein Sachkenner einmal ausgedrückt hat.

Wenn derartige technokratische Vorgehensweisen sich häufen — was in den letzten sechs bis sieben Jahren der Fall gewesen ist —, muß die Frage erlaubt sein, welches Menschenbild bei dem, der den Denkansätzen des Ingenieurs oder des Organisationswissenschaftlers den Vorzug gibt und ihnen unverhältnismäßig stark voranhilft, zugrunde liegt-, wie er sich etwa den künftigen Offizierstypus wünscht welche Erziehungsziele und Ausbildungs. grundsätze er postuliert.

Es muß die Frage erlaubt sein, warum man den — einer Armee ohnehin schon innewohnenden — Eigenschaften des Apparatehaften, der Großorganisation, des Anonymen, der Zentralisation, der „Entmündigung" von Führungspersonal, der Obensteuerung und Reglementierung, des Mechanistischen, der Justifizierung und Bürokratisierung zu so übertriebener Bedeutung verhilft.

Ich meine, daß den von mir aufgezählten Erscheinungen vom Curriculum über den Ablaufplan und den Regelkreis bis zur „verkarte. ten" Ausbildung ein Kern genuin totalitärer Substanz gemeinsam ist. Wenn nun Streitkräfte ohnehin schon vom Wesen her etwas Totales im Zugriff auf den Menschen und etwas Mechanistisches und Perfektionistisches als Charakteristikum besitzen, so Können bei den angedeuteten potenzierenden Entwicklungen die Menschen nur leiden. Die Kommunikationsebenen und -möglichkeiten veröden und vereisen. Dies wollen jedoch der Werte-katalog unseres Staates, die Wehrgesetzgebung und die Innere Führung gerade verhindern. Auch hier kann Reflexion über gültiges Erbe warnend wirken.

Ich will dies an einem Beispiel erläutern: Wenn wir der Haffnerschen These für einen Augenblick folgen wollen, nach der der Nationalsozialismus ursprünglich eine Bewegung entprivilegisierter und deprivatisierter Soldaten gewesen sei — einige Daten sprechen für eine solche These —, dann erklären sich die militärischen Grundstrukturen des späteren Führerstaates mit seinen Militärimitaten, den Organisationen der SA und der SS, recht plausibel. Wenn an dieser These etwas Zutreffendes ist, dann stimmt auch die Begriffsprägung, die man gelegentlich in den Medien findet, nach der der Nationalsozialismus, und hier besonders die SS, „die Perversion des Soldatischen", die Perversion der deutschen Form von Soldatentum war. Wenn diese Haffnersche These Geltung hätte, dann hätten die Soldaten unserer Demokratie, dann hätten wir einen „monströsen Verwandten in der Familie“. Ihn genau zu analysieren, ihn genau zu kennen, muß die Aufgabe des modernen Soldaten im Rechtsstaat sein. Auf diesem Kenntnishintergrund ist das Selbstverständnis des heutigen Soldaten zu definieren, u. a.seine politischen Primärtugenden: etwa staatsbürgerliches Empfinden, Rechtlichkeit des Denkens, nüchterner, kritischer Sinn, Zivilcourage, plurale demokratische Auffassungen, das besondere Treueverhältnis zur freiheitlichen und demokratischen Rechtsordnung. Schließlich auch ein im Grundgesetz näher umschriebenes Menschenbild.

Wenn wir, um unser Beispiel weiterzubegleiten, Fests These folgen, daß Hitler das Deutsche Reich unwiderruflich in die Moderne, in die Industriestaatlichkeit gezwungen hat, wenn wir berücksichtigen, daß Hitler bei all seinen atavistischen Vorstellungen und Gedankenwegen eine bemerkenswerte technokratische Begabung und Neigung besaß, sich außerdem mit — in dieser Hinsicht — sehr fähigen Mitarbeitern umgab (u. a. Todt und Speer), wenn wir dann sehen, daß der talentierte Heydrich im Reichssicherheitshauptamt gleichfalls eine intellektuelle Elite versammelt hatte — man sollte die Biographien dieser Hochbefähigten kennen, es sind deutsche Lebensläufe —, dann wird deutlich, daß solche Technokraten großen Zuschnitts, diese energischen Planer und Organisatoren mit dem schnellen Blick für Wesentliches, in jeder östlichen und westlichen Armee vermutlich ebenfalls hochwillkommen gewesen wären.

Es gilt also, sich in den Streitkräften einer Demokratie eindeutig von einer wertneutralen, werteunabhängigen Technokratie abzugrenzen. Die für die Bundeswehr verantwortlichen Politiker und die verantwortlichen militärischen Führer sollten überbordender Planungs-und Organisationsgläubigkeit voller Mißtrauen entgegentreten. Sie sollten in Kenntnis von deren totalitären, wenig menschenfreundlichen Komponenten und Konsequenzen den eindeutig dienenden und untergeordnet-instrumentalen Rang von Planung und Organisation bestimmen und durchsetzen. Sie müssen den historischen Vorwurf vermeiden, das freiheitliche, demokratisch-humanitäre, rechtsstaatlich-soziale Normengerüst moderner republikanischer Streitkräfte nicht gestaltet und gefördert, sondern — trotz aller exakten Detailarbeit — vernachlässigt zu haben.

Angesichts der geschilderten Entwicklungstendenzen, für die es manchen guten Grund geben mag — Rationalisierung und Mitteleinsparungen sind dringlich, wenn auch mit einigen der genannten Maßnahmen keineswegs gesichert —, können langdienende Zeitsoldaten und Berufssoldaten aus historischer Kenntnis und Betrachtung möglicherweise warnende Erkenntnisse bzw. eine Anzahl menschlicher, ethischer und soldatischer Normen für sich ableiten: gültige Tradition.

Was die staatsbürgerlich-demokratischen, rechtsstaatlichen Primärtugenden des modernen Soldaten anlangt — sie haben in der Tat ersten Rang —, so ist die Betrachtung etwa der preußischen Reformen ebenso ergiebig wie die Untersuchung der Ideengeschichte der Revolution von 1848 oder die kritische Auseinandersetzung mit Soldaten wie Ludendorff, Seeckt, Schleicher, Fritsch oder Dönitz — um nur einige Namen zu nennen. Was die ethischen Fundierungen des Soldaten, insbesondere des militärischen Führers, anlangt, so ist hier etwa die Kenntnis des Widerstandsgeschehens in der Wehrmacht zwischen 1938 und 1944 sicherlich hilfreich. Auch hier wird man sich mit einzelnen militärischen Führern wie Beck, Rommel, Stülpnagel, Hoepner, Witz-leben, Merz von Quirnheim, Oster oder Seydlitz auseinandersetzen müssen.

Wenn man die Schicksale dieser so unterschiedlichen Soldaten betrachtet, wird bewußt, in welcher dramatischen und quälenden Situation sie sich befanden, wie konsequent sie ihre unterschiedlichen Wege gingen, gefährliche Entschlüsse faßten und für ihre politisch-moralischen Wertentscheidungen hoch bezahlten. Jeder von ihnen zeigte auf seine Art vorbildliche Entscheidungskraft zugunsten von Werten und Normen, die heute in unserem Staat gelten. Wir sollten uns auch nicht beirren lassen, wenn Fest und andere diesen Widerstand als noch vordemokratisch analysiert haben.

Es lassen sich aber noch andere militärische „Tugenden" aus dem Geschehen der Kriege ableiten, etwa wenn man die im Ersten Weltkrieg gefundene soziale Angleichung der „Schützengrabengeneration''betrachtet. Sie hat seitdem und bis heute zu sozial ausgeglichenen Formen zeitgemäßer Menschenführung veranlaßt. Wir haben diese Formen der Führung vermutlich allen östlichen und westlichen Armeen voraus. Das gleiche gilt für die soziale Diffusität deutscher Streitkräfte im 19. und 20. Jahrhundert. Diese Durchlässigkeit dürfte in der Bundeswehr vorbildlich sein.

Gleiches gilt für die ungewöhnlichen Eigenschaften des deutschen Soldaten in beiden Kriegen, seine Hingabe an den guten militärischen Führer und an seine Kameraden, seine Hinnahmefähigkeit unter ganz ungewöhnlichen Belastungen, seine große Disziplin und menschliche Treue, wenn er gut geführt wurde. Man sollte diese und andere wesentliche Merkmale des deutschen Soldaten beider Kriege nicht gering einschätzen. Es mögen Sekundärtugenden sein, wenn man die demokratisch-rechtsstaatlichen Bindungen als Primär-tugenden bezeichnen will (so der Abgeordnete Hansen kürzlich im „Spiegel'1); sie erlangen jedoch neben unseren demokratischen Über-zeugungen erstrangige Bedeutung, wenn diese Bundesrepublik Deutschland je in eine Auseinandersetzung gezwungen werden sollte. Dies gilt auch für das menschliche und militärische Führungstalent, das Truppenführer aller Grade im Kriege gezeigt haben. Sie konnten an der Front die politische Situation wohl nur in Ausnahmefällen, etwa in Spitzenstellungen, beurteilen. Sie haben statt dessen vielfach vorbildlich geführt und standen für ihre Truppe ein. Deshalb sollten wir ihre hohe, bis heute zwingende Fürsorgeverpflichtung auch nicht als restfeudal, paternalistisch oder gönnerhaft denunzieren, da kein Soldat im Frieden, geschweige denn im Kriege, ohne diese Fürsorgepflicht seiner Führer auskommen könnte. Keine noch so perfekte Wehrgesetzgebung, Planung oder Organisation könnte den Soldaten hinlänglich sichern. Politische Kräfte müssen hier acht geben: Planungs-und Organisationsgläubigkeit könnten der schwächste Punkt in ihrer politischen Weit-sicht sein.

Schließlich wird man auch den politischen Parteien im Zusammenhang mit der Forderung nach der rechten Tradition einige Fragen stellen dürfen. Welchen Reim etwa soll man sich darauf machen, daß in den ersten acht oder neun Jahren sozial-liberaler Regierungsverantwortung die entscheidende, für eine Bundeswehr in der Demokratie unerläßliche Weiterentwicklung des „Konzepts Innere Führung" völlig unterblieb, daß, um ein Symptom zu nennen, die Schule für Innere Führung in das Abseits des Vergessens geriet? Es waren übrigens eben jene Jahre, in denen die Streitkräfte den von mir für fatal gehaltenen technokratischen Sprung getan haben. Im übrigen steht das „Konzept Innere Führung" für eine gute, inzwischen fünfundzwanzigjährige Tradition, von der wir nicht abrücken wollen.

Man kann weiterhin fragen, warum mit einem Gesetzentwurf zur Überprüfung von Wehrdienstverweigerern, dem sogenannten Postkartengesetz, das Prinzip der Wehrpflichtarmee in der Demokratie angetastet wurde. Auch die Tradition dieser ersten Wehrpflichtigenarmee in einer deutschen Demokratie ist inzwischen fünfundzwanzig Jahre alt. Sie ist von hohem Wert und bestimmt das Gesicht unseres Staates in einem wesentlichen Punkt Das Konzept einer Freiwilligenarmee hinge, gen hat in Deutschland keine gute Tradition schaffen können. Mancher Soldat würde es daher ablehnen, in einer Freiwilligenarmee zu dienen.

Die sozial-liberalen Parteien haben gelegent. lieh in den Bundesländern Schulreformen durchgeführt, die sich in starkem Maße gegen die Geschichtswissenschaften wandten und den Geschichtsunterricht häufig durch andersgeartete Fächerkombinationen ersetzten — So kann man verfahren, wenn man der Auffassung sein sollte, daß Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht in Deutschland versagt haben, indem sie Politik vordring, lieh aus konservativer Sicht betrachteten, vorwiegend heroisch akzentuierten und im wesentlichen der Kontinuität verhaftet waren. Dennoch läuft man auf diesem Wege Gefahr, geschichtsferne Reformen zu betreiben. Man sollte anerkennen, daß die Geschichtswissenschaft auf dem heutigen Stand der Forschung auch zu kritischen Ergebnissen gelangt und sicherlich u. a. eine normenreflektierende Disziplin ist. Sonst bleibt ein Widerspruch: Man kann nicht das Schulwesen kontrahistorisch oder ahistorisch reformieren, zugleich aber zeitgemäße Traditionen für die Streitkräfte postulieren bzw. mit Sachkenntnis diskutieren wollen.

Man wird die verantwortlichen Parteien — die Opposition eingeschlossen — schließlich fragen müssen, ob sie nicht als gestaltende und kontrollierende politische Kräfte allesamt Mitverantwortung am technokratischen Sprung der Streitkräfte tragen. Ob sie nicht die Mängelszene des de Maiziere-Berichts mitverantworten müssen.

Man wird die Parteien fragen müssen, warum sie in dem für die Streitkräfte entscheidenden Punkt der Offizierausbildung an den Bundeswehrhochschulen ein Konzept durchsetzten, in dem ein vereinsamter Fachbereich Pädagogik den sechs naturwissenschaftlich/ingenieurwissenschaftlichen Fachbereichen gegenübersteht. Es stellt sich die Frage, ob man tatsächlich ein Offizierskorps wünschen soll, das überwiegend aus Bauingenieuren, Maschinenbauern und Raumfahrttechnikern besteht So wichtig die natur-bzw. ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen in modernen Streitkräften sind, warum soviel Furcht vor der Politologie, der Soziologie oder der Zeitgeschichte? Dies wären Fachbereiche, die man trotz der vergangenen Dekade universitären Nieder-B pangs auch wissenschaftlich seriös betreiben kann und betreibt. Es sind Fachbereiche, in denen der junge Offizier, wie in der Pädagogik, Standortbestimmung und Selbstfindung für jen künftigen Beruf versuchen könnte. — Heute ist nicht einmal das für die Normendiskussion so wichtige gesellschafts-und erziehungswissenschaftliche Anleitstudium der Nachwuchsoffiziere angemessen instituionalisiert.

Folgerungen

Man muß, wenn es einem nicht um moralische Erbauung geht, eine zeitgemäße Tradition für Streitkräfte unserer Tage in Deutschland nicht als Last empfinden. Für Berufssoldaten kann sie eine Hilfe bei der stets notwendigen Normendiskussion sein. Für wehrpflichtige Soldaten hat sie wegen deren temporären Status und deren natürlicherweise starken Gegenwartsbezuges wenig Aussagevermögen. Traditionelle Ableitungen finden ihre wesentliche, i ja entscheidende Ergänzung in einer didaktisch überzeugenden, zeitgemäßen politischen Bildung und in einer genau bedachten, warmherzigen und fürsorglichen Menschenführung.

Je älter die Bundeswehr wird, je mehr sie eine Angelegenheit der jüngeren Generation wird, um so stärker tritt möglicherweise traditionelle, eben historische Rückbesinnung und Rechenschaftslegung in den Hintergrund. Hoffen 'wir, daß nicht ausschließlich Technokratie an ihre Stelle tritt!

Wenn man den bisher geltenden Traditionserlaß zurücknehmen sollte, so könnte ich mir statt seiner eine Publikation vorstellen, in der eine Anzahl paradigmatischer historischer Stationen der Deutschen bzw. ihrer jeweiligen Streitkräfte didaktisch so aufbereitet wird, daß man daraus das jeweils Nachdenkenswerte, in unsere Zeit Hineinwirkende, ableiten kann.

Dabei würde sich bestätigen, was schon der Traditionserlaß aussprach, daß man von einem vorbildhaften militärischen Führer der Vergangenheit nicht nur die hohe soldatische Leistung erwartet, sondern seine ethisch-politische wie menschlich-humanitäre Bewährung zugleich. Und da gilt die Äußerung des Generals Graf Kielmannsegg, nach der es in unserem Jahrhundert „unter den bekanntgewordenen Männern der deutschen Armee wohl nicht allzuviele Leitbilder (gegeben habe), deren Beispiel geeignet ist, nicht nur in dieser oder jener Tat, sondern in seinen grundlegenden Maximen nachgelebt zu werden".

Unter diesem Gesichtspunkt hat es vermutlich auch die eine oder andere nicht glückliche Namensgebung für Kasernen gegeben. Diesen Mangel kann man wohl bei geeignetem Anlaß und mit dem gebotenen Takt heilen.

Die oberste Wehrmachtsführung wird man nur in jenen Ausnahmefällen, in denen menschliche und sittliche Bewährung zur militärischen Leistung hinzutraten, für solche Namensgebungen heranziehen können. Von diesen — uns bekannten — Ausnahmen abgesehen, waren die hohen Offiziere der Wehrmacht in einer für sie selbst tragischen Situation: unter jeder anderen Regierung hätten sie ihren Dienst als ausgezeichnete Soldaten in Ehren tun können. Unter Hitlers Führerschaft gelang dies nicht: Die Generalobersten und Feldmarschälle lebten — wie auf jeder Seite — zu nahe dem Regime, dem sie dienten. Sie wurden daher, mit oder ohne eigenes Zutun, in das Handeln dieses Regimes involviert und, wie neuere Forschungen erweisen, belastet. Man kann die Generation der Dönitz und Manstein eine tragische Generation nennen, dies um so eher, als die Bewährung der eigenen, heute lebenden Generation in einer Diktatur wie der Hitlers keineswegs gesichert erscheint. Als Vorbilder für die Streitkräfte einer Demokratie sind diese Offiziere wegen ihrer Verstrikkung oft nicht geeignet.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Peter Balke, Dr. phil., geb. 1938, Oberstleutnant i. G. Veröffentlichungen u. a.: Politische Erziehung in der Bundeswehr. Anmaßung oder Chance, Boppard 1970; Überlegungen zur Motivation von Offiziernachwuchs in der Vergangenheit und heute, in: Politische Studien, Sonderheft 1/1973; Anmerkungen zur gegenwärtigen Situation der Inneren Führung in den Streitkräften, jn: Politische Bildung, H. 1/1974.