Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Das Verhältnis von Wehrmacht und NS-Staat und die Frage der Traditionsbildung | APuZ 17/1981 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 17/1981 Tradition und Geschichtsbewußtsein im sozialen Wandel Das Verhältnis von Wehrmacht und NS-Staat und die Frage der Traditionsbildung Tradition als Last? Militär und Gesellschaft in Deutschland. Konsequenzen für ein zeitgemäßes Selbstverständnis des Soldaten Militärische Tradition im Spannungsfeld demokratischer Politischer Kultur

Das Verhältnis von Wehrmacht und NS-Staat und die Frage der Traditionsbildung

Manfred Messerschmidt

/ 33 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Traditionspflege der Bundeswehr hat die kritischen Seiten der Wehrmachtgeschichte stark vernachlässigt. Ganz überwiegend blickt sie auf die soldatischen Leistungen der bewaffneten Macht des NS-Staates, während die Rolle der Wehrmacht als Instrument der Kriegs-und Vernichtungspolitik Hitlers weithin unterbelichtet geblieben ist. Obwohl wichtige Literatur seit Jahren zur Verfügung steht, bestätigen junge Offiziere, daß sie wenig darüber wissen. Dies gilt wohl auch für die Frage der Kontinuitäten in der deutschen Geschichte. Dieser Befund hängt mit der personellen Kontinuität in der Bundeswehr als der zeitlichen Nachfolgerin der Wehrmacht zusammen. Ehemalige Wehrmachtsoldaten vermittelten — in ihrer Situation vor allem in der Anfangsphase der Bundeswehr verständlich — das Bild der kämpfenden Wehrmacht. Von welcher Art der Krieg war, den sie führte, blieb meist unerörtert. So bildete sich die Überzeugung heraus, der Krieg sei „für das Vaterland“ geführt worden, das jedoch Mitte 1939 praktisch keine Revisionsforderungen zu stellen hatte und das auch nicht bedroht war. Kaum jemand wußte dies besser als die führenden Soldaten. Daß die Wehrmacht sowohl in der Kapitulation vor Hitlers Forderungen als auch aufgrund eines nahezu kongruenten Feindbildes im Krieg gegen die Sowjetunion die größten Vernichtungsaktionen abschirmte, z. T. mitvollzog, ist ein so säkularer Vorgang in der deutschen Militärgeschichte, daß er nicht verdrängt werden darf, soll eine dauerhafte Tradition wachsen können. Zu wissen, was war in dieser Zeit, muß zum Bestand des politisch-historischen Horizonts militärischer Erzieher heute gehören. Damit würden sich die Probleme der Namensgebung für Schiffe und Kasernen und die Fragen militärischer Vorbilder ganz allgemein im wesentlichen nicht nur lösen, sondern künftig kaum mehr auftauchen. In der Bundeswehr existiert eine auf der eigenen 25jährigen Geschichte aufbauende Tradition, die sich an den Wertmaßstäben des Grundgesetzes und an der Aufgabe der Friedens-wahrung orientiert. Ihr wird mit dem Sui-generis-Denken, das gelegentlich Befürworter gefunden hat, nicht gedient. Es ist eben dieses Denken, das zur Verabsolutierung des soldatischen Metiers und „soldatischer“ Tugenden neigt. Es ist dieses Denken, dem es leicht fällt, die „bloß" soldatische Substanz der Wehrmacht abstrakt herauszuheben. Soldaten heute sollten diese Zusammenhänge erkennen. Das aber wird nur möglich sein nach kritischer Aufarbeitung und Annahme der ganzen Geschichte der Wehrmacht. Erst dann kann sichtbar werden, was in ihr traditionswürdig ist. Kann es mehr sein als Widerstand, Opposition, humanitäres und echtes kameradschaftliches Handeln? Schnelle Antworten sollten vermieden werden. Die Pflege ihrer „Schokoladenseite“ dagegen ist und bleibt bedenklich. Dem Traditionserlaß von 1965 war die gründliche wissenschaftliche Aufarbeitung der Wehrmachtgeschichte nicht vorausgegangen. Manche seiner Passagen sind daher überholt. Sie sollten überdacht werden.

Abschied von der Republik

Der „Traditionserlaß" des Bundesministers der Verteidigung vom Juli 1965 definiert Tradition als „Überlieferung des gültigen Erbes der Vergangenheit" 1). Zu den besten dieser Über-lieferungen rechnet er „die gewissenhafte Pflichterfüllung um des sachlichen Auftrages willen" und spricht in diesem Zusammenhang davon, daß Gehorsam und Pflichterfüllung „stets in der Treue des Soldaten zu seinem Dienstherrn" gründeten, „der für ihn Recht, Volk und Staat verkörperte".

Wem diese Sätze zutreffend erscheinen, der mag sich einen Soldatentyp vorstellen, dem der Zusammenbruch der Monarchie keine Probleme bereitet hat, weil er seine Loyalität sogleich aus innerer Überzeugung der Republik zuwenden konnte. Unter den Offizieren war dieser Typus aber nur sehr vereinzelt anzutreffen. Die überwiegende, ja absolut dominierende Richtung betrachtete die Republik als Durchgangsstadium. Der Reichswehr wurde vom Reichswehrministerium selbst in der Endphase der Republik eine über die Republik hinausweisende Rolle zugeschrieben. So hieß es in den „Richtlinien für die Ausbildung im Heere" von 1931 unter der Überschrift „Leitgedanken — Staat und Wehrmacht" „Um sich aus innerer Not und äußerer Bedrükkung durch harte, opfervolle Arbeit wieder aufrichten zu können, braucht Deutschland eine starke, vom Willen des Volkes getragene Staatsgewalt. Ihr vornehmstes und unentbehrlichstes Machtmittel nach innen und nach außen ist die Reichswehr. Sie hat die hohe Aufgabe, dem deutschen Volk in seiner wirt-schaftlichen und geistigen Not und seiner tiefen politischen Zerissenheit zu zeigen, daß es möglich ist, über aller Zwietracht und allem Interessenkampf Tätigkeit und Leben allein einer Idee, der Idee des deutschen Staates zu weihen und ihr in Opferbereitschaft, Pflichterfüllung und Selbstzucht zu dienen.“

Diese Formulierung drückt jene in vielen anderen offiziellen Verlautbarungen und in persönlichen Bekenntnissen greifbare Reichswehrideologie des Dienstes für einen abstrakten deutschen Machtstaat aus, der hoch über den Parteien, über dem beklagten Pluralismus der Weimarer Republik schwebend gedacht wurde.

Zwar stand die Reichswehr mit solchen Vorstellungen nicht allein da. Im nationalkonservativen Bürgertum — also in der Wirtschaft, an den Universitäten, in Justiz und Beamtentum, bei den Agrariern, in den nationalen Verbänden — existierte ein ähnliches Zukunftsbild: Ein starker Staat, beruhend auf einer schlagkräftigen Armee und einer möglichst geschlossenen Gesellschaft, konnte in ihrer Sicht allein der „Idee des deutschen Staates" und den Ansprüchen des deutschen Volkes gerecht werden.

Mit dieser politisch-gesellschaftlichen Disposition deutscher Eliten hängt der schmerzlose Abschied von der Republik unmittelbar zusammen. Führt man sich die schier endlose Kette von Stellungnahmen und Bekenntnissen der militärischen Führung und militärischer Führer nach 1933 vor Augen, so wird deutlich, daß in ihrer Sicht der NS-Staat eine Organisationsform der Nation darstellte, in die hinein der Transport der wertvollsten staatlichen und militärischen Traditionen gelungen war mit dem Ergebnis einer einzigartigen Synthese von historischer, staatlicher, militärischer und völkischer Erbmasse.

.Stunde Null"?

Durch die Zäsuren von 1918 und 1933 hindurch gehen die Traditionslinien machtstaatlicher, ideologischer und gesellschaftlicher Kontinuität Wie stellen sich die Zäsur von 1945 und der militärische Neubeginn nach der deutschen Katastrophe in diesem Licht dar? In der Planungsphase und beim Neubeginn 1955 ist von den Möglichkeiten der „Stunde Null" gesprochen worden. Aber am Anfang der Bundeswehr stand doch die personelle Kontinuität. Wehrmachtoffiziere und -Unteroffiziere füllten die Positionen, Ränge, Kasernen, Schulen, Stäbe und Ministerialinstanzen der sich neu aufbauenden Streitkräfte. Nur wenige von ihnen kamen aus dem Umkreis des Widerstandes. Als im Oktober 1950 auf Veranlassung von Konrad Adenauer im Eifelkloster Himmerod ein militärischer Expertenkreis zusammen-trat, um Vorschläge für die Aufstellung eines deutschen Kontingents im Rahmen einer übernationalen Streitmacht zur Verteidigung Westeuropas zu erarbeiten, befand sich unter ihnen auch der General d. I. a. D. Hermann Foertsch, und zwar als Vorsitzender des „Allgemeinen Ausschusses", der die ethischen Grundsätze für den neuen deutschen Soldaten und die Leitprinzipien für das künftige „Innere Gefüge" der Streitkräfte entwickeln sollte Im Jahre 1934 war Foertsch unter Reichenau Chef der Abteilung Inland im Wehrmachtamt gewesen und hatte maßgeblich an der ideologischen Anpassung der Reichswehr an die Weltanschauung und die Bedürfnisse des Führerstaates mitgearbeitet Er veröffentlichte mehrere einschlägige Bücher und Schriften, in denen die geistige Verwandtschaft von Nationalsozialismus und Soldatentum thematisiert wurde

Der erste Generalinspekteur der Bundeswehr war Chef der Operationsabteilung im Generalstab des Heeres gewesen. Die meisten „Himmeroder" gelangten in hohe Ränge und Dienststellungen der Bundeswehr. Diese Soldaten glaubten, die Entwicklung eines „euro-päischen Geschichtsbildes" empfehlen zu müssen, womit auch die innere Festigkeit gegen eine Zersetzung durch undemokratische Tendenzen (Bolschewismus und Totalitarismus) erreicht werde Auch in anderen Vorschlägen, etwa für die staatsbürgerlichen Rechte der künftigen Soldaten, zeigte sich, daß das Verhältnis von Gesellschaft und Militär noch überwiegend von den Bedürfnissen der zu schaffenden bewaffneten Macht gesehen wurde und noch mitbestimmt war von dem Feindbild der Wehrmacht und des NS-Staates: Gefordert wurde die planmäßige Erziehung des Volkes zur Wehrbereitschaft und eine Einschränkung des Wahlrechts der Soldaten, die noch hinter die Regelung selbst der preußischen Verfassungen von 1848 und 1850 zurückgegangen wäre. Mit dem Vorschlag zur planmäßigen Herstellung der „Wehrbereitschaft" des Volkes knüpften diese Vordenker unmittelbar an Rezepte der Endphase der Weimarer Republik und an die NS-Zeit an. Noch immer wurde eine Sonderposition des Militärs im Staate für unabdingbar gehalten — die ja auch Hitler der Wehrmacht wenigstens theoretisch mit seinem „Zweisäulenprinzip“ konzediert hatte.

Als dann nach 1955 die Bundeswehr aufgebaut wurde, strömten in ihre Kader überwiegend Soldaten, die mit ihrem bis zum bitteren Ende währenden zwangsläufigen Einstehen für Hitlers Staat und damit — gewollt oder ungewollt — für die Herrschaft des Nationalsozialismus selbst ein Stück der Realität des Verhältnisses von Wehrmacht und NS-Staat repräsentierten. Wer dies voraussetzt — und der Historiker kommt wohl nicht daran vorbei —, räumt zugleich ein, daß die Frage nach möglicher wehrmachtbezogener Traditionsbildung der Bundeswehr jedenfalls nicht aus der Luft gegriffen ist, und wer die Traditionszimmer mancher Bundeswehreinheiten kritisch betrachtet hat, weiß, wovon hier die Rede ist. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf die Namensgebung für Kasernen und Schiffe (v. Leeb, v. Fritsch, Rommel, Mölders, Lütjens). In diesen Versuchen, Tradition zu vermitteln, geht es meist um Leistungen im Kriege, um Soldatentum an sich, um Bewährung in militärisch kritischen Situationen, die anscheinend ohne einen Bezug auf ihren historischen Ort verständlich sind und daher sozusagen aus sich heraus wirken. Dem entspricht die von hohen Militärs der Bundeswehr nicht selten benützte Vokabel vom Sui-generis-Charakter der militärischen Existenz und des militäri-sehen Dienstes oder von der, wie General Schnez 1969 formulierte, Armee „als Kampf-, Schicksals-und Notgemeinschaft".

Im „Führerstaat"

Innerhalb politischer Kulturen, die sich bei allen sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen, ja auch bei allem Verlust machtpolitischen Ranges doch einen Grundbestand historisch legitimierter Wertvorstellungen und Überzeugungen bewahrt haben, sind auch die Traditionen herausgehobener Institutionen der Gesellschaft und des Staates — etwa die Traditionen der bewaffneten Macht, der Justiz oder des Parlaments — Reflex eines noch heute gegebenen Gesamtzusammenhanges historischer Entwicklung. Ein Beispiel dafür ist Großbritannien.

Die Bundesrepublik und ihre Institutionen verfügen nicht über eine derartige historisch legitimierte Kohärenz von politischen Vorstellungen, Wertungen und vorgegebenen Zusammenhängen für Entscheidungsbegründungen. Unsere Verfassungsordnung hängt mit der Weimarer Ordnung zusammen und mit den Intentionen jener Gruppierungen, die das Kaiserreich zum parlamentarischen System fortentwickeln wollten. Nicht aber hängt das Wertsystem unseres Verfassungslebens mit dem des NS-Führerstaates zusammen. Auf letzteren hin argumentierte und handelte indessen die militärische Führung in den Jahren der NS-Herrschaft. Sie befand sich dabei in Übereinstimmung mit den das Feld beherrschenden Teilen der alten Eliten in Justiz, Verwaltung und Wirtschaft — oder, um das Problem soziologisch zu wenden, mit dem Bürgertum, Teilen des Kleinbürgertums, den Großagrariern, weiten Teilen der bäuerlichen Bevölkerung, dem Beamtentum und mit dem organisierten Adel.

Fritz Fischer hat diesen faktischen, soziologischen und tendenziellen Zusammenhang als „Bündnis der Eliten" charakterisiert 7) und dabei speziell für die Armee das Bündnis definiert als Fortwirkung der Machtstaatstradition. Dieser Zusammenhang ist, zugleich im Blick auf die innenpolitische Einpassung der Wehrmacht in den Führerstaat, auch als Teil-identität der Zielvorstellungen in Armee und NS-Führung bezeichnet worden Mit hinein in den Komplex von Ursachen und Intentionen gehörte auch ein Bedürfnis einzelner Eliten, den angestammten Platz zu halten oder wiederzuerringen. Für den Adel ist der Zusammenhang an Hand der Politik der „Deutschen Adelsgenossenschaft" untersucht worden Der „organisierte“ Adel stand in schroffem Gegensatz zur Republik. Die Genossenschaft mußte auf Verlangen Außenminister Stresemanns als „politisch im Sinne des § 36 des Wehrgesetzes" erklärt werden, womit die Mitgliedschaft von Soldaten verboten war. Dem Adelsblatt war vorgeworfen worden, es führe einen „vernichtenden Kampf gegen den bestehenden Staat"

Blomberg hob den Erlaß im November 1933 wieder auf. Die radikal völkische Linie der Genossenschaft, die über die Harzburger Front zum NS-Staat hinführte, formulierte ihre gruppenegoistischen Ziele schon 1931 so: „Der Liberalismus stirbt, konservative Gedanken von organischem Staatsaufbau, von aristokratischer Staatsführung, von der Ungleichheit der Menschen, von der Bedeutung der Erbmasse brechen sich Bahn ... man kann geradezu eine Gnade Gottes darin sehen, daß dem Adel noch einmal die Möglichkeit gegeben wird, verlorene Geltung wiederzugewinnen" und im Juli 1932 erklärte der Adelsmarschall,. Fürst Adolf zu Bentheim-Tecklenburg-Rheda: „Wir stehen an einer Schicksalswende. Mit elementarer Gewalt ringt die nordische Seele in unserem Volke mit den artfremden Mächten, die westierische, undeutsche Demokratie uns beschert hat."

In der Staatsrechtslehre war um diese Zeit der Prozeß der theoretischen Unterminierung der Weimarer Verfassung in vollem Gange in adäquater Entsprechung zur faktischen Aushöhlung durch das Präsidialsystem. Einer der führenden Verfassungstheoretiker, Carl Schmitt, beklagte 1932, daß es keine „Herrschaft" und „Macht" mehr gebe, daß lediglich Gesetze herrschten Nach ihm sollte eine politische Gemeinschaft, ein Staatswesen, vor allem in der Lage sein, den Freund-Feind-Gegensatz herauszuarbeiten; der Begriff des Feindes bildete für Schmitt geradezu die Grundkategorie des Politischen Im Jahre 1934 begrüßte er, daß sich im neuen Staats-und Verwaltungsrecht der Führergrundsatz durchgesetzt habe. Die Begriffe Treue, Gefolgschaft, Disziplin und Ehre könnten nur aus einer „konkreten Ordnung und Gemeinschaft" heraus verstanden werden

Diese Ordnung war 1934 die des NS-Führer-staates, in den, nach Schmitt, die „lebensvollen Gebilde" wie die Reichswehr und die staatliche Verwaltungsorganisation, die ihr „inneres Eigenrecht" vom normativen oder positiven Gesetzesdenken nicht hatten „denaturieren" lassen, sozusagen unbefleckt hinübergingen. Ähnlich wie diese „Eliten" verhielt sich auch die Wehrmacht. Auch sie versuchte, ihren Einfluß durch Anpassung abzusichern.

Wir können eine ungehemmte Artikulation antidemokratischer, antiparlamentarischer und antiliberaler Kräfte und Strömungen vor und nach 1933 konstatieren. Die Reichswehr gehörte ebenfalls zu diesen Kräften. Sie ließen ohne Bedauern die Demontage des parlamentarischen Rechtsstaates zu, die Auflösung von Verbänden, Vereinen, Parteien und Organisationen, die das Spektrum des Weimarer Pluralismus ausgemacht hatten. Eine Stimme wie die des deutschen Botschafters in Washington, von Prittwitz und Gaffron, der 1933 seinen Abschied nahm und seinem Chef, Außenminister v. Neurath, im März 1933 mitteilte, seine politische Einstellung wurzele in einer freiheitlichen Staatsauffassung und in den „Grundprinzipien des republikanischen Deutschlands" — mithin in Voraussetzungen, die von führenden Mitgliedern der neuen Reichs-regierung verurteilt wurden —, eine solche Stimme ließ sich aus Reichswehrkreisen nicht vernehmen. Was dominierte, war eine „gefühlsgeborene Republikfeindschaft" die auf elitärem Bewußtsein beruhte. Sie wird besonders faßbar in einem Brief, den der abgehalfterte Oberfehlshaber des Heeres, Generaloberst v. Fritsch, im Dezember 1938 geschrieben hat. Fritsch führte hier aus, nach dem Ersten Weltkrieg sei er zu der Ansicht gekommen, „daß drei Schlachten siegreich zu schlagen seien, wenn Deutschland wieder mächtig werden sollte. 1. die Schlacht gegen die Arbeiterschaft, sie hat Hitler siegreich geschlagen, 2. gegen die katholische Kirche, besser gesagt gegen den Ultramontanismus, und 3. gegen die Juden. In diesen Kämpfen stehen wir noch mitten drin. Und der Kampf gegen die Juden ist der schwerste. Hoffentlich ist man sich über die Schwere dieses Kampfes überall klar."

Der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine erklärte am 1. Februar 1943 in seiner Abschieds-ansprache an die engeren Mitarbeiter: „Ich glaube, Sie werden mir darin zustimmen, daß es mir gelungen ist, im Jahre 1933 die Marine geschlossen und reibungslos dem Führer in das Dritte Reich zuzuführen. Das war zwanglos dadurch gegeben daß die gesamte Erziehung der Marine in der Systemzeit trotz aller Einflüsse von außen her auf eine innere Haltung hinzielte, die von selbst eine wahrhaft nationalsozialistische Einstellung ergab. Aus diesem Grunde hatten wir uns nicht zu ändern, sondern konnten von vornherein wahre Anhänger des Führers werden." So völlig reibungslos, wie Raeder es hier feststellte, hat sich die Reichswehr zwar insgesamt nicht im NS-Staat etabliert, weil sie stets fürchten mußte, das Waffenträgermonopol mit Parteiorganisationen in immer stärkerem Maße teilen zu müssen, aber die Anpassung beruhte doch auf einem hohen Grad innerer Übereinstimmung. Blomberg und Reichenau haben in ihrer innenpolitischen Strategie diese Gemeinsamkeiten immer wieder zum Ausdruck gebracht und schließlich zum Kernbestand ihrer erziehungspolitischen Arbeit gemacht Dazu gehörten folgende Aussagen: _ Zurückführung des Nationalsozialismus auf das Frontkämpfererlebnis im Ersten Weltkrieg, daher:

_ soldatischer Ursprung des Nationalsozialismus;

_ Diskriminierung der Weimarer Republik als einer „kranken Zeit", in der die Reichswehr bewußt ihre „Überparteilichkeit''gewahrt habe

_ Anerkennung der nationalsozialistischen Weltanschauung mit ihren Grundsätzen der Volksgemeinschaft, des Führerprinzips, des Rassegedankens;

_ Grundsatz des Zweisäulenprinzips, also der Arbeitsteilung zwischen Partei und Wehrmacht auf der Grundlage der Weltanschauung und des Führerstaates.

Vor allem in einem traditionsspezifischen Punkt stimmten Hitler und die Wehrmacht-führung überein, daß nämlich die Armee die Voraussetzungen für den Machtantritt des Nationalsozialismus erst geschaffen habe. Hitler sah diese Frage noch in größerem historischen Zusammenhang. In „Mein Kampf" formulierte er diese „Erkenntnis“ so: „Zehn deutsche Generationen ohne korrigierende und erziehende militärische Ausbildung, den üblen Wirkungen ihrer blutsmäßigen und dadurch weltanschaulichen Zerrissenheit überlassen — und unser Volk hätte wirklich den letzten Rest einer selbständigen Existenz auf diesem Planeten verloren." Nationalsozialismus und Reichswehr, vereint in der Forderung und dem Willen, daß militärische Erziehung dem deutschen Volk nottue, übersprangen die kurze Phase der parlamentarisch-pluralistischen, machtpolitisch aber so unergiebigen Weimarer Republik und erblickten in einer militärisch, autoritär, völkisch und kämpferisch orientierten Organisation und Erziehung des deutschen Volkes die Gewähr für die dauernde Behauptung einer Groß-, ja Weltmachtposition

Hitler konnte schon am 3. Februar 1933 vor den Oberbefehlshabern ein derartiges Programm entwickeln Die Absage an die historische Breite unerwünschter Traditionen, nämlich den demokratischen, parlamentarischen, liberalen und sozialistischen, mit einem Wort: die Absage an die Selbstverständlichkeit der pluralistischen Normalverfassung einer Gesellschaft des Industriezeitalters konnte radikaler nicht ausfallen. Hitler sprach vieles von dem aus, was die Armee schon seit hundert Jahren als notwendig angesehen hatte Zusammenhänge wie Entdemokratisierung und Machtentwicklung nach außen gehörten seit Jahrzehnten zu den schon gar nicht mehr der Überprüfung bedürftig erscheinenden Topoi. Ablehnung von Pluralismus und Aufbau eines nationalen Machtstaats — das war der Kernbestand der inneren Gemeinsamkeit von Wehrmacht und Nationalsozialismus, auf dem die Erziehungspolitik, die entschlossene Aufrüstung einer zum Angriffskrieg befähigten Streitmacht und das Zusammengehen bis zur Katastrophe beruhten.

Wegen dieser Identität der Ziele konnte die Wehrmacht zwischen sich und dem Nationalsozialismus keine Grenze ziehen — sehen wir einmal ab von den überwiegend individuelle, moralische oder politische Maßstäbe reflektierenden Positionen der Angehörigen des Widerstandes. Das eigene innenpolitische Ziel insbesondere der Heeresführung setzte ebenfalls nur alte Strategien fort: Es ging ihr um die Bewahrung oder Wiedererlangung einer relativen Selbständigkeit im Staate, um ihr Mitspracherecht in militär-und außenpolitischen Fragen, um Machtteilhabe, während sie von (nach Veranlassung durch den Reichspräsidenten) ihrer Rolle als Hüterin der inneren Sicherheit, als Inhaberin der militärischen Ausnahmegewalt des Art. 48. 2 der Weimarer Verfassung gleich zu Anfang durch die Partei entbunden wurde, dankbar, dieser in der Weima-rer Zeit unpopulär gewordenen Aufgabe enthoben zu sein

Teilidentität der Ziele und der Wunsch nach institutioneller Absicherung ihrer Position im Führerstaat gehörten in der Strategie der Wehrmachtführung zusammen. In dieses Konzept waren, seine Stringenz selbst für Beck noch unterstreichend, auch Überlegungen über die Notwendigkeiten des modernen „industrialisierten" Krieges eingeflossen die die Struktur eines „dualistischen" Staates zu erfordern schienen. Das „Zweisäulenprinzip" verlangte in dieser Sicht die Berücksichtigung der verantwortlichen militärischen Führung in entscheidenden militärpolitischen und strategischen Fragen: einen Moltke, Schlieffen oder Ludendorff neben Hitler. Solche Ziele ließen sich überhaupt nur auf dem Plafond des gegebenen Staates verfolgen und damit blieb nichts übrig, als Ansprüche und Faktizitäten des Systems weitgehend anzuerkennen. Diese Anerkennung erfolgte aus innerer Zustimmung, nicht aus taktischer Distanz. Blomberg erblickte im Nationalsozialismus den Ausdruck einer fundamentalen sozialen und geistig-politischen Umwälzung des deutschen Volkes. Für ihn bedeutete dies, daß der Soldat seinen Dienst künftig der „Idee der Blut-und Schicksalsgemeinschaft aller deutschen Menschen" zu widmen habe. Auch Beck hat ja noch im Juni 1938 geglaubt, mit einem gesunden Nationalsozialismus zusammenarbeiten zu können.

Daß es diesen „gesunden" Nationalsozialismus nicht gab, hat erst zu den verschiedenen Widerstandsaktivitäten geführt, die moralisch-politisch zwar nicht hoch genug eingeschätzt werden können, quantitativ aber auf eine kleine Gruppe beschränkt bleiben, während das Gesamtverhältnis der Wehrmacht zum NS-Staat gerade dadurch gekennzeichnet wird, daß die Wehrmacht das System mittrug und dann im Kriege seine fatalsten Konsequenzen ermöglichte. Brauchitsch, der Ober-befehlshaber des Heeres, skizzierte dieses Verhältnis kurz vor Kriegsbeginn in seinen Stichworten für die Appelle der Oberbefehlshaber zum 25. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges so (Auszug) — Der Zusammenbruch 1918 Widerstreit zwischen kraftvoller militärischer und schwächlicher politischer Führung. Erfolge feindlicher Propaganda. Verderbliche Folgen der Pressefreiheit.

— Die Systemzeit Versailles, Verelendung überall in Deutschland, Judenherrschaft. Glaube des Frontsoldatentums an eine Wiederauferstehung Deutschlands.

— Das Dritte Reich Im Sieg der Bewegung — Sieg des Frontsoldaten, der damit das Vermächtnis seiner 2 Millionen gefallenen Kameraden erfüllt. Wieder-aufstieg Deutschlands zu Ehre und Freiheit. Erstmals in der Geschichte Deutschlands eine starke einheitliche Führung. Politische und militärische Führung sind von einer gemeinsamen Weltanschauung getragen.

— Die gegenwärtige Lage Wieder richten sich gegen Deutschland Neid, Mißgunst und Haß. Wieder sind Einkreisungsmächte am Werk ... Vertrauen zur Führung überall im Volk.

Nach dem Frankreichfeldzug ließ Brauchitsch am 7. Oktober 1940 seinen vielleicht wichtigsten Erlaß auf dem Gebiet der weltanschaulichen Erziehung folgen. Man muß sich vergegenwärtigen, daß um diese Zeit bereits die Erfahrungen mit dem Vorgehen von Polizei und SS in Polen vorlagen. Zahlreiche Proteste waren bekanntgeworden General Ulex, der Oberbefehlshaber in Krakau, hatte sogar von einem „die Ehre des ganzen deutschen Volkes befleckenden Zustand" gesprochen Aber die Heeresführung beruhigte sich damit, daß Hitler ihr die direkte Verantwortung abnahm, als er die vollziehende Gewalt Ende Oktober 1939 auf Zivil-und Parteiorgane übertrug. Generaloberst v. Küchler, der im Polenfeldzug die SS noch scharf kritisiert hatte, ging im Jahr 1940 so weit, die Vernichtungsmaßnahmen im Osten als notwendig hinzustellen: „Ich bitte ferner dahin zu wirken, daß sich jeder Soldat, besonders der Offizier, der Kritik an dem im Generalgouvernement durchgeführten Volkstumskampf, z. B. Behandlung der polnischen Minderheiten (I), der Juden und kirchlichen Dingen, enthält. Der an der Ostgrenze seit Jahrhunderten tobende Volkstumskampf bedarf zur endgültigen völkischen Lösung einmaliger, scharf durchgreifender Maßnahmen. Bestimmte Verbände der Partei und des Staates sind mit der Durchführung dieses Volkstumskampfes im Osten beauftragt worden. Der Soldat hat sich daher aus diesen Aufgaben anderer Verbände herauszuhalten. Er darf sich auch nicht durch Kritik in diese Aufgaben einmischen." Küchler artikulierte damit wohl die Stimmung nach dem Sieg über Frankreich, die bekanntlich auch Oppositionsneigungen im OKH stark dämpfte.

Brauchitschs „Richtlinien für die weltanschauliche Erziehung", konzipiert nach all diesen Erfahrungen, faßte die wesentlichen Komplexe der Gemeinsamkeit von Wehrmacht und Nationalsozialismus zusammen Wenn auch nicht volle Übereinstimmung im Offizierkorps über die Methoden der Positionsabsicherung der Wehrmacht im NS-Staat bestanden, so muß doch festgestellt werden, daß der Weg zum „system-destabilisierenden" Widerstand über so weite Strecken der Kooperation geführt hat, daß unterwegs die Stoßkraft möglichen Widerstandes verlorenging und schon quantitativ der Mißerfolg vorausentschieden war.

Brauchitsch zog nach der Selbstauflösung der sich im Vorfeld des Frankreichfeldzuges konstituierenden Opposition in der Heeresführung die Schlußfolgerung. Der Auftrag zur Vorbereitung des Krieges gegen die Sowjetunion war um diese Zeit bereits erteilt. Die . Richtlinien'vom Oktober 1940 formulierten ein Wehrmacht-Erziehungsprogramm, das ihre Rolle im Krieg auch als ideologisches Vollzugsinstrument der Politik Hitlers festlegte. Brauchitsch setzte folgende Schwerpunkte:

— Saubere Rasse — Führerstaat; Partei und Wehrmacht als Säulen des Staates — Ausnutzung der Wehrkraft — Sicherung des Lebensraumes — Autarkie — Nationalsozialismus als Fundament des gesunden und geschlossenen Volkes — Deutscher Sozialismus und Frontkameradschaft als Ergebnis nationalsozialistischer Erziehung — Starkes Reich, starke Führung.

Für das Verhältnis zum NS-Staat dokumentieren diese Erziehungserlasse ein programmiertes Zusammengehen auf weithin gemeinsamer Zielgrundlage. Die noch in den dreißiger Jahren erkennbaren akzentuellen Unterschiede dieses Programms bei Blomberg/Reichenau und Fritsch verblaßten seit Brauchitschs Amtsantritt. Der für Beck belegte Entwicklungsprozeß blieb bis zum Wiederaufleben der Opposition 1942/43 zunächst individuelles Ereignis — vom lediglich systemimmanenten Ansatz bis hin zur grundsätzlichen Opposition

Konsequenzen des „Weltanschauungskrieges"

Seit Beginn der Planung des Rußlandkrieges und während seines Ablaufs ist ein noch engeres Zusammenwirken von Wehrmacht, Hitler und SS feststellbar 35). Es kulminierte in der Beteiligung der Wehrmacht an verbrecherischen Planungen und Aktionen. Proteste einzelner Offiziere, und mancher Generale können an dem Gesamteindruck nur wenig ändern, zumal derartige Proteste bestenfalls vor Brauchitsch artikuliert wurden, nicht gegenüber Hitler. Der Komplex der verbrecherischen Befehle, der die Wehrmacht endgültig aus der ) Zuschauerrolle in die aktive Teilhabe an der ideologisch geforderten Vernichtungspraxis hineinmanövrierte, wirft die Frage auf, wo die Heeres-und Wehrmachtführung überhaupt noch eine Grenze zwischen ihren Maßstäben für die Kriegführung und den Zumutungen Hitlers sowie den Praktiken der SS zu ziehen gedachte.

Auf dem Gebiet des Kriegsvölkerrechts, einer der wichtigsten Errungenschaften zwischenstaatlicher Kulturleistungen, bietet sich das Bild eines absoluten Versagens der militärischen Führung. Hitlers rasseideologischen, sozialdarwinistischen Forderungen wurde keine moralische Potenz entgegengesetzt, die in der Lage gewesen wäre, Gegenkräfte zu mobilisieren. So muß der Krieg gegen die Sowjetunion, ein Angriffskrieg wie alle anderen deutschen kriegerischen Unternehmungen seit 1939, über den allgemeinen Unrechtsgehalt des Angriffskrieges hinaus als ein von der Wehrmacht-, Heeres-, Luftwaffen-und Marineführung mitgeplantes kriminelles Ereignis gewertet werden, das den absoluten Tiefpunkt der deutschen Militärgeschichte darstellt. In ihm wurde die geforderte Einheit von Soldatentum und Nationalsozialismus in hohem Maße Wirklichkeit. Das lange genährte Feindbild des Bolschewismus lieferte sowohl den Militärs wie den hohen Juristen in den Rechtsabteilungen der Oberkommandos die innere Plausibilität für den Abschied von Recht und Humanität und für eine Belastung des deutschen Namens, an der noch Generationen zu tragen haben werden. Der im Kommissar-, Barbarossa-und Kommandobefehl deutlich werdende planvolle Abschied der militärischen Führung vom Völkerrecht blieb keine bloße Angelegenheit der Planung. Es ist wohl mit Recht festgestellt worden, daß der „qualitative Sprung" von der „Mitwisserschaft" im Falle Polens zur „Mittäterschaft" im Falle der Sowjetunion darauf beruhte, daß Hitlers Feindbild vom „jüdischen Bolschewismus" die in Deutschland seit 1918, ja schon vorher, zum inneren Feind erklärten Sozialisten, Kommunisten und Juden zu einem Gegner zusammengefaßt hatte

Hitlers Märzansprache im Jahre 1941 vor ca. 250 hohen Offizieren stellte endgültig klar, welchen Krieg er gegen die Sowjetunion zu führen gedachte. Im „Kampf zweier Weltanschauungen gegeneinander" sollte der Bolschewismus, der als asoziales Verbrechertum definiert wurde, vernichtet werden, um eine „ungeheure Gefahr für die Zukunft" abzuwenden. Diese Version stieß auf Parallelvorstellungen in der Wehrmacht. Bereits am 28. April 1941 sah ein Entwurf des Chefs der Rechtsabteilung des OKW, Dr. Lehmann, die „unmittelbare Einbeziehung der Wehrmacht in den Ausrottungskrieg" vor Halder schlug vor, kollektive Gewaltmaßnahmen gegen Ortschaften durchzuführen, falls eine rasche Feststellung einzelner Täter nicht möglich sei OKH und OKW ergänzten gegenseitig ihre Vorschläge für die ideologische Kriegführung. In wechselseitiger Bemühung kamen die Mordbefehle zustande. Lehmann schlug die Ausschaltung der Kriegsgerichtsbarkeit gegen Zivilisten in allen Fällen vor: „Wenn wir nun schon einmal diesen Schritt tun, dann muß er auch ganz getan werden. Es besteht sonst die Gefahr, daß die Truppe die Sachen, die ihr unbequem sind, an die Gerichte abschiebt und daß so ... das Gegenteil von dem eintritt, was erreicht werden soll." Was erreicht werden sollte, stellte der General zbV beim ObdH, Generalleutnant Müller, nach der Ausformulierung des Kommissar-und Barbarossa-Befehls im Juni 1941 vor Offizieren und Heeresrichtern fest: Einer der beiden Feinde müsse auf der Strecke bleiben. „Träger der feindlichen Einstellung nicht konservieren, sondern vernichten."

Überzeugungskraft des Feindbildes

Daß nach diesen Befehlen auch gehandelt wurde, ist inzwischen vielfach erhärtet worden. Selbst Offiziere, die zeitweise zum Widerstand zählten, gehörten zu den Vollzugsorganen der Vernichtungspolitik, wie etwa General Karl-Heinrich v. Stülpnagel, der 1939/40 der Opposition angehörte und am 20. Juli 1944 in Paris energische Maßnahmen gegen die SS einleitete. Die SS-Einsatzkommandos meldeten häufig Beispiele hervorragender Unterstützung durch Heeresbefehlshaber. Erwähnt seien Namen wie General d. I. Karl-Heinrich von Stülpnagel (AOK 17), Generaloberst Erich Hoepner (OB PzGr. 4), Generalfeldmarschall v. Rundstedt (OB Heeresgruppe Süd), General-feldmarschall v. Reichenau (AOK 6) Im Bereich des AOK 6 fand nach der Einnahme der Stadt Kiew mit Billigung Reichenaus eine der größten Mordaktionen statt. Der Stab der Einsatzgruppe C meldete am 28. September 1941 dazu: „Exekutionen von mindestens 50 000 Juden vorgesehen. Wehrmacht begrüßt Maßnahmen und erbittet radikales Vorgehen. Stadtkommandant öffentliche Hinrichtung von 20 Juden befürwortet." Dennoch ist es auf unterer Ebene im Bereich des AOK 6 zu Reibungen mit SS-und Polizeikommandos gekommen. Um diese Erscheinungen abzustellen, erließ Reichenau am 10. Oktober 1941 den später von Hitler für „a 000 Juden vorgesehen. Wehrmacht begrüßt Maßnahmen und erbittet radikales Vorgehen. Stadtkommandant öffentliche Hinrichtung von 20 Juden befürwortet." 45) Dennoch ist es auf unterer Ebene im Bereich des AOK 6 zu Reibungen mit SS-und Polizeikommandos gekommen. Um diese Erscheinungen abzustellen, erließ Reichenau am 10. Oktober 1941 den später von Hitler für „ausgezeichnet" befundenen Befehl, den Rundstedt an die ihm unterstellten Verbände weitergab. Der ObdH ließ den Befehl an alle Verbände im Osten gehen mit der Aufforderung, „im gleichen Sinne entsprechende Anordnungen zu erlassen" 46). Dieser Aufforderung folgten mit besonderen Akzenten u. a. Manstein als OB der 11. Armee, Generaloberst Hoth als OB der 17. Armee.

Alle diese Befehle stehen in untrennbarem Zusammenhang mit der Vernichtung des osteuropäischen Judentums. Sie forcierten das Zusammenwirken von Heereseinheiten mit Einsatzkommandos. Der Wortlaut dieser Befehle zeigt, daß das alte Feindbild national-konservativer Prägung . Juden und Kommunisten" nunmehr mit der typischen Sehweise Hitlers verbunden war, die den Bolschewis-mus als Erscheinungsform des Weltherrschaftsstrebens der jüdischen Rasse definierte. Reichenau formulierte: „Das wesentlichste Ziel des Feldzuges gegen das jüdisch-bolschewistische System ist die völlige Zerschlagung der Machtmittel und die Ausrottung des asiatischen Einflusses im europäischen Kulturkreis. Hierdurch entstehen auch für die Truppe Aufgaben, die über das hergebrachte einseitige Soldatentum hinausgehen. Der Soldat ist im Ostraum nicht nur ein Kämpfer nach den Regeln der Kriegskunst, sondern auch Träger einer unerbittlichen völkischen Idee und der Rächer für alle Bestialitäten, die deutschem und artverwandtem Volkstum zugefügt wurden. Deshalb muß der Soldat für die Notwendigkeit der harten, aber gerechten Sühne am jüdischen Untermenschen volles Verständnis haben ... Nur so werden wir unserer geschichtlichen Aufgabe gerecht, das deutsche Volk von der asiatisch-jüdischen Gefahr ein für allemal zu befreien." 47)

Mansteins Befehl vom 20. November 1941 entsprach diesem Vorbild: Er verlangte vom Soldaten Verständnis für die „Notwendigkeit der harten Sühne am Judentum, dem geistigen Träger des bolschewistischen Terrors" 48). Und der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine sprach in seiner Rundfunkansprache zum Heldengedenktag 1944 vom „auflösenden Gift des Judentums" 49).

Im Kontext der Frage nach dem Traditionszusammenhang zwischen Wehrmacht und Bundeswehr kommt diesen Befehlen und Bekenntnissen führender Soldaten, die leicht um zahlreiche weitere Beispiele vermehrt werden könnten, zentrale Bedeutung zu: Sie reflektieren den Zenit einer Entwicklung, die der deutsche Nationalstaat im Zeichen nationalkonservativer, militärstaatlicher Traditionen in Verbindung mit völkischen und rasseideologischen Komponenten genommen hat. Admiral von Trotha meinte bereits im März 1919, der neue ideelle Mittelpunkt für den Soldaten liege „im völkischen Staat, im Vaterland selbst" 50). Die von der deutschen Staatsrechts-lehre vor 1933 schon vorbereitete und dann von Autoren wie Koellreutter, Höhn, Huber und Schmitt u. a. durchgeführte Auflösung der inneren Beziehung von Staat, Verfassung und Gesetz zu den materiellen Inhalten von Freiheit und Sicherheit wurde in der Wehrmacht nachvollzogen, mit äußersten Konsequenzen im Strafrecht und im Völkerrecht. Die Erziehungspolitik der Wehrmacht bemühte sich um den politischen Soldaten, im Kriege dann um den fanatischen Kämpfer, der seinem Führer auf dem rasseideologischen Vernichtungsfeldzug zu folgen bereit war. Der Oberbefehlshaber des Heeres stellte der Armee den Nationalsozialismus als „Fundament für ein gesundes und geschlossenes Volk“ dar und der Wehrmachtführungsstab suchte dem Offizierkorps klarzumachen, daß die „Gerechtigkeit" des Vernichtungskrieges im Osten „in der Zielsetzung“ liege und in„der großen Linie", die Hitler befehle

Systemzwang nach innen

Der Führerstaat, das NS-System, steuerten die «Zuordnung aller Kräfte und Werte auf den Führerwillen an, der sie im rassisch-biologisch verstandenen „Existenzkampf" einsetzte und verbrauchte. In diesem politischen System sollte es keine vom Systemzweck abhebbare Gesellschaft mehr geben, nur noch eine dem Führer zur Verfügung stehende Volksgemeinschaft. Wer abseits stand, war nicht etwa nur eine private Existenz, sondern ein Schädling. Auch diese letzte Konsequenz hat die Wehrmacht mitvollzogen. Heinrich Dietz, der Senior der deutschen Militärrichter, stellte schon 1933 fest, daß NS-Staat und Wehrmacht sich in ihren „Triebkräften und Wesenszügen" glichen. Er verlangte, zur Sicherstellung der „Blut-, Opfer-und Schicksalsgemeinschaft" die Heeresgerichtsbarkeit so zu gestalten, „daß sie im Ernstfall die geistig schlagkräftigste Waffe des Staates ist“ Und diese Waffe ist sie dann auch geworden. Schon bis Ende 1944 wurden fast 10 000 Todesurteile gegen Soldaten vollstreckt Viele von ihnen sind als , Volks-'bzw. . Wehrmachtschädlinge'schon wegen geringfügiger Taten umgebracht worden. Selbst alte Militärjuristen sprachen davon, daß der Militärrichter gegenüber dem Angeklagten „in einem Reinigungsverfahren die Grundsätze der Gemeinschaft zur Anwendung" bringe

Ein neuer Schuldbegriff wurde gesucht, der von der Volksgemeinschaft her zu konzipieren sei. Er müsse in Übereinstimmung stehen mit dem „neuen Ethos unseres Volkes" Konsequent auf dieser Linie erklärte im Februar 1942 Vizeadmiral Warzecha, Chef des Allgemeinen Marineamtes im OKM — in allen Gerichtssachen rechte Hand des ObdM —, in einer richtungweisenden Ansprache vor den leitenden Marineoberkriegsgerichtsräten (sie wurde gedruckt und als vorbildlich verteilt und angefordert): „Die Gesetzgebung hat durch die praktisch unbegrenzte Zulassung der Todesstrafe und durch die Errichtung der Straflager Möglichkeiten geschaffen, auch da noch wirksam einzugreifen, wo die Freiheitsstrafe keine Wirksamkeit mehr ausübt." Er forderte eine Rechtsprechung, „die der Person und den Motiven des Täters nur begrenzte Rücksicht schenkt". Die Kriegsgerichte sollten nicht einer abstrakten Gerechtigkeit dienen, sondern einem konkreten Zweck, nämlich „dem Nutzen für das Volk" Ein Oberstkriegsgerichtsrat des Heeres forderte im September 1943 die ihm unterstellten Richter auf, ihm Todesurteile zur Auswertung zu übersen-* den für einen Bericht, der ergeben solle, „daß es sich bei den Todesurteilen aus dem Bereich der Heeresgerichtsbarkeit um eine mit großem Verantwortungsbewußtsein geführte Reinigungsarbeit" handle

Es muß betont werden, daß derartige Beispiele nicht für sich dastehen. Sie bezeichnen die in vielen Fällen praktizierte innere Gesetzmäßigkeit der NS-Volksgemeinschaft. Hieran läßt sich zeigen, in welch erschreckendem Maße in Deutschland in diesen Jahren Errungenschaften gesamteuropäischer Tradition und Geschichte verbraucht, denaturiert, verschüttet und verleumdet worden sind. Die Wehrmacht hat das alles nicht nur erlitten, sie hat daran mitgewirkt. Sie war tatsächlich neben der SS der stählerne Garant des Systems. Eine davon abhebbare Tradition ist sehr schnell eingeschmolzen oder verdrängt worden, sehr leicht deshalb, weil sie, wie das Offizierkorps der alten Armee und die Reichs-wehr, nicht gesellschaftlich verankert war. Der Ehrenkomplex etwa beruhte 1933 auf den Gedanken der Einleitungsordre zu den Ehrenvorschriften vom 2. Mai 1874. Im Neudruck der Vorschrift . Wahrung der, Ehre'von 1938 hieß es dann: „Mit der neuen Wehrmacht ist wieder ein deutsches Volksheer entstanden, das, in deutschem Volkstum wurzelnd, deutsches Wesen und deutsche Art dem ganzen im Nationalsozialismus geeinten Volk vorlebt."

Die Wehrmacht hat ihr Recht, ihre Aufbau-und Rüstungsanstrengungen, ihren Eid, ihre politische Erziehungsarbeit in den Dienst des Nationalsozialismus und Hitlers gestellt. Sie ließ in der Endphase ihre nebenamtlichen Standortpfarrer durch die Gestapo überprüfen, und der katholische Feldbischof verkündete, Hitler habe dem deutschen Volk „die große Wende, in der Werte wie Heimat und Volk, nationale Ehre und nationale Geschichte neue Wertschätzung erfahren, durch seinen Einsatz geschenkt". Hitler hatte nach ihm „das Lebensgesetz des deutschen Volkes gefunden"

Die Wehrmacht hat keine Distanz zu einer politischen Ideologie und Wirklichkeit gefunden, die sich mit Gewalt und Unrecht über Wertmaßstäbe, Lebensgewohnheiten, historische Ordnungen, über Europa, ja selbst über die Interessen der eigenen Nation hinwegsetzte. Sie hat bis zum Zusammenbruch in einer Katastrophe gekämpft, die in der Geschichte Deutschlands und Europas beispiellos war. Es gab nichts Schlimmeres mehr, das hätte verhütet werden können.

Was kann traditionswürdig sein?

Möglichkeiten zur Anknüpfung an ihre Haltung, ihre Existenz und ihre Kriegführung sollten vom Standpunkt der Bundeswehr nicht vorstellbar sein. Der Primat der Politik in einem parlamentarisch-demokratischen Staatswesen läßt sich nicht mit der Einbettung der Wehrmacht in die „Volksgemeinschaft" vergleichen. Die Anknüpfung an soldatische Tugenden der Wehrmacht oder einzelner Soldaten kann nicht absehen von der Frage, ob diese Tugenden bewußt oder blind dem Nationalsozialismus und Hitler gewidmet waren.

Namengebungen wie Rommel, Lütjens und Fritsch sind unter solcher Fragestellung fragwürdig. Ebenso die Übernahme der von Hitler verliehenen Auszeichnungen. Offen und zugänglich für Anknüpfungen sind die Entscheidungen im Widerstand und vielleicht die privateren Gesinnungen und Taten, die als Nonkonformismus zu qualifizieren sind. Häufig sind auch Angehörige des Widerstandes nicht Opponenten aus einem Guß gewesen. Die zwölf Jahre zwischen 1933 und 1945 waren wohl für die meisten von ihnen ein Lernprozeß. Die Gestalt des Generalobersten Beck kann hierfür als exemplarisch gelten, ferner Offiziere wie Stülpnagel und Hoepner.

Ist die Formulierung der Ziffer 5 des Traditionserlasses von 1965 eine Hilfe bei der Suche nach Vorbildern, nach Gestalten, die „gültiges Erbe" vermitteln können? Es heißt dort: „Traditionspflege ... erlaubt kein Ausweichen vor selbstkritischen Erkenntnissen". Jedenfalls hat der Erlaß diesem kritischen Anspruch selbst nicht genügt. Dem Erlaß ist die kritische Aufarbeitung der Rolle der Wehrmacht im NS-Staat nicht vorausgegangen. Und im Geschichtsbild der Bundeswehr, falls es vom Traditionserlaß gespiegelt wird, läßt sich dieses Manko erkennen. Es trifft einfach nicht zu, was in Ziffer 14 gesagt wird, daß nämlich nach deutscher militärischer Tradition „Leistung und Würde des Soldaten in besonderem Maße auf seiner Freiheit in Gehorsam" beruht hätten. Das war auch nach den Reformen zu Anfang des 19. Jahrhunderts nicht der Fall, schon gar nicht in der Wehrmacht, und es gehörten auch nicht, was in Ziffer 17 behauptet wird, „politisches Mitdenken und Mitverantwortung seit den preußischen Reformen zur guten Tradition deutschen Soldatentums”.

Die Rolle der Wehrmacht im NS-Staat kann m. E. traditionsbildende Kraft für die Bundeswehr nur gewinnen durch schonungslose historische Kritik, die ihr systemkonformes Funktionieren deutlich macht und dabei jene Grenzsituationen aufhellt, in denen sich menschliches Verantwortungsbewußtsein im Versuch, sich gegen den Apparat zu behaupten, bewährt hat. Derartiges gab es auch in der Militärgerichtsbarkeit, auch gegenüber der Bevölkerung der besetzten Länder und im kameradschaftlichen Handeln.

In dieser Perspektive scheint die Formulierung der Ziffer 16 des Erlasses meilenweit von der hier skizzierten Aufgabe entfernt zu sein. In dieser Ziffer wird gesagt, soldatische Tradition könne sich „nicht nur an Gestalten halten, denen Sieg vergönnt war”. Derartige Formulierungen sind für die Geschichte der Wehrmacht unbrauchbar. In dem Prozeß des Abbaus der Inhalte und Strukturen des demokratisch-parlamentarischen Rechtsstaats ist offensichtlich auch das semantische Feld unserer politischen Begriffswelt mitbetroffen worden. Daher kann, wie im Traditionserlaß, nicht einfach mehr davon gesprochen werden, daß „gewissenhafte Pflichterfüllung um des sachlichen Auftrags willen" zu den besten soldatischen Traditionen zählt, oder daß Gehorsam und Pflichterfüllung" stets in der Treue des Soldaten zu seinem Dienstherrn" gründeten, „der für ihn Recht, Volk und Staat verkörperte“. Gerade weil das auch zwischen 1933 und 1945 der Fall war, hat die Bundeswehr ja mit ihren Traditionsproblemen zu tun. Wo aber Begriffe erst des Kommentars bedürfen, komplizieren sie den Prozeß der „Überlieferung des gültigen Erbes der Vergangenheit".

Im Blick auf die Wehrmacht bleibt nur die Möglichkeit der Sichtung und Erfassung menschlicher Einzelleistungen, die aus dem Zusammenhang Soldat — Dienstherr, aus den Normalbedeutungen von Pflichterfüllung und Treue herausfallen. Was als Anknüpfungsmöglichkeit übrigbleibt, sind die systemtranszendierende Pflichterfüllung, Nonkonformismus und Widerstand.

Nachwort

Eine Kurzfassung dieses Artikels, veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung am 21. /22. Februar 1981, hat zahlreiche kritische, ablehnende und zustimmende Reaktionen provoziert, neben den veröffentlichten auch an den Verfasser unmittelbar gerichtete. Die kritisch-ablehnenden beruhen meist auf dem Vorwurf, der Beitrag sei zu einseitig, er gehe nicht genügend auf die soldatischen Leistungen der Wehrmacht ein und berücksichtige nicht, daß die meisten Soldaten im Grunde nur „unpolitisch" das Vaterland verteidigt hätten. Einige Zuschriften beklagen gar, der Aufsatz wolle die soldatischen Tugenden abgeschafft wissen.

Diese Mißverständnisse beruhen darin, daß diese Leser wohl eine Darstellung der Geschichte der Wehrmacht in Kurzform erwarteten. Das Anliegen des Beitrags war und ist aber, im Blick auf die Traditionsprobleme jene dunkle Seite der Wehrmacht anzuleuchten, die auf keinen Fall in Vergessenheit geraten darf, weil sie exemplarisch belegt, wie leicht Sekundärtugenden ideologisch vereinnahmt werden können, und weil sie ferner zeigt, wie leicht sie anpaßbar sind, wenn die militärische Führung eine solche Anpassung für historisch-politisch opportun hält. Dies geschah nach 1933. Im Kriege lief dieser Prozeß mit hohem Tempo weiter, weil es eben kein Krieg „zur Verteidigung des Vaterlandes" war. Erst als die großen Rückschläge kamen, glaubten viele Soldaten an diesen Satz, wohl auch deshalb, weil der militärische Widerstand in der höchsten Generalität so wenig Rückhalt fand und deshalb kein Ende des Kampfes für Hitler herbeigeführt werden konnte. Die Fortsetzung des Krieges hat objektiv dem Vaterland nicht genützt, sondern geschadet. Sie hat der Heimat, unseren Städten und Dörfern, Frauen, Kindern und auch den Soldaten geschadet; sie war sinnlos.

Wer diese Sinnlosigkeit beenden wollte, der mußte unter den damaligen Verhältnissen wesentlich höhere moralische Potentiale mobilisieren als jener, der einfach weitermachte. Da-B her gebührt dem Widerstand ein wesentlicher platz in der Tradition der Bundeswehr, ebenso dem Nonkonformismus und den Handlungen aus humaner Gesinnung.

Das große Fragezeichen ist aber zu setzen bei der „bloß" soldatischen Leistung. Sie muß auf ihre Intentionen hin befragt werden. Wo sie sich blind für Hitler oder für deutsche Hegemonialansprüche zur Geltung brachte, wo sie allein Schlachten gewann, ist sie der genauen Prüfung und Würdigung bedürftig. Ist das bisher geschehen? Hat die Bundeswehr sich dieser Mühe unterzogen? Erst wenn das geschieht, kann, wie Heinz Karst es gern hätte, eine „Beheimatung" des Soldaten geleistet werden. Eine solche Beheimatung muß nicht zuerst „seelisch" sein, sondern auf politisch-moralisch sauberer, historisch verläßlicher Grundlage ruhen. Die ist aber nur zu haben, wenn hinter der Schokoladenseite der bloßen soldatischen Leistung, die heute im wesentlichen das Bild der Wehrmacht in der Bundeswehr ausmacht, das Fazit ihres Versagens erkennbar wird. Solange davon gesprochen wird, daß den verbrecherischen Befehlen nicht Folge geleistet wurde, daß alles nur Propaganda war oder wegen der bösen Partisanen geschah, stimmt das Bild nicht. Befehle wie die Mansteins und Reichenaus, wie der im OKW und OKH formulierte Kommissar-, Barbarossa-und Kommandobefehl, oder die politisch-geistige Vergiftung durch Produktionen der Wehrmachtpropaganda und den NS-Schulungseifer — alles dies hat seinen Einfluß auf viele Soldaten gehabt, nicht zuletzt, weil es von Soldaten gemacht worden war. Hier ist unvorstellbar Unvernünftiges getan worden: den meisten Bundeswehrangehörigen unbekannt, ungelesen, ungehört.

Eine Wehrmacht, die den größten Teil Europas mit ihrer Kriegführung überzog, die fern der eigenen Grenzen als starker Sieger auftrat, läßt sich im nachhinein nicht auf die Summe vieler gutgläubiger einzelner Vaterlandsverteidiger reduzieren, wie es in manchen Zuschriften für richtig gehalten worden ist.

Es ist verständlich, daß die schon 1957 in der Bundeswehr stehenden 44 Wehrmachtgenerale und -admirale, die mehr als 10 000 ehemaligen Wehrmachtoffiziere und die vielen Unteroffiziere, die wohl ganz überwiegend wie die meisten Deutschen jener Jahre eine neue politische Einstellung gefunden hatten, daß sie weniger von den Schattenseiten ihres Dienstes zwischen 1933 und 1945 gesprochen haben als von den Leistungen der Wehrmacht.

Hier soll gar nicht von Schuld und Versagen gesprochen werden, sondern davon, daß die Bundeswehrtradition von ihnen geprägt wurde, und zwar, soweit die Wehrmacht in Betracht kommt, in einer vom Funktionieren für Hitler mehr oder weniger absehenden Weise. Das Fragwürdige ist dabei weitgehend verdrängt worden. Und so ist es zu dem Bild gekommen, daß die Wehrmacht in überwiegender Mehrheit aus „Staatsbürgern" bestand, „die der Überzeugung waren, ihrer staatsbürgerlichen Pflicht folgen zu müssen, die also nicht mehr taten, als was gerade Demokratien immer wieder von ihren Staatsbürgern erwarten" (Wagemann). Für den Schützen A. mag das zutreffend sein, wenn auch längst nicht für jeden. Aber über ihnen standen doch wohl viele, die nicht nur taten, „was gerade Demokratien immer wieder von ihren Staatsbürgern erwarten". Wäre das nicht so gewesen, dann wäre die Haltung der deutschen Gesellschaft in der Frage der Wiederbewaffnung nach 1950 absolut unbegreiflich.

Das 1956 entstandene „Handbuch Innere Führung" läßt in seinem Bemühen um die staatsbürgerliche Erziehung noch vieles vom Nach-hall der Zeit von 1933— 1945 spüren und von den Diskussionen und Stellungnahmen der Jahre nach dem Krieg. Aber es zeigt auch die Schwierigkeit, mit der Vergangenheit fertigzuwerden. Es ist hier vom „Urbild des abendländischen Soldaten: dem , Miles Christianus, dem Ritter" die Rede und auf der gleichen Seite wird das Feindbild beschworen, das auch das Feindbild des Nationalsozialismus war: . Abendländische Tradition jedoch, das kann nichts anderes sein als christlich bestimmte Tradition. Dies leugnen zu wollen hieße — im Angesicht der Bedrohung durch den materialistischen Bolschewismus — Europa selbst zu leugnen."

Der Rückzug auf den , Miles Christianus signalisierte, wie mir scheint, das Unvermögen, mit der Rolle der Wehrmacht wirklich fertigzuwerden. Inzwischen gibt es sehr viele weitere Hinweise auf ihr mitwirkendes Funktionieren im NS-Staat. Daß viele Soldaten diesen Weg nicht wünschten, verurteilten oder sogar zu verhindern suchten, ändert diese Tatsache leider nicht. Die Bundeswehrtradition muß mit den „soldatischen Leistungen" im Zweiten Weltkrieg kritisch umgehen. Das ist schon deshalb unumgänglich, weil diese Tradition in die Wert-und Gesellschaftsordnung des Grundgesetzes eingebettet sein muß.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Erlaß FB I 4 „Bundeswehr und Tradition".

  2. Leitfaden für Erziehung und Unterricht, hrsg. v. Reichswehrministerium — Heeresleitung, Berlin 1931, in: M. Messerschmidt und U. v. Gersdorff, Offiziere im Bild von Dokumenten aus drei Jahrhunderten, Stuttgart 1964, Dok. 95, S. 251 ff.

  3. H. -J. Rautenberg und N. Wiggershaus, Die Himmeroder Denkschrift vom Oktober 1950, Karlsruhe 1977, S. 20, S. 56.

  4. Vgl. M. Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der Indoktrination, Hamburg 1969, S. 18 f.

  5. Etwa: Die Wehrmacht im nationalsozialistischen Staat, Hamburg 1935; Der Führer und seine Wehrmacht, in: Jahrbuch des deutschen Heeres, 1938; Der Offizier der deutschen Wehrmacht. Eine Pflichtenlehre, 19404.

  6. Himmeroder Denkschrift, S. 54 f.

  7. F. Fischer, Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871— 1945, Düsseldorf 1979.

  8. M. Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS-Staat. 9) G. H. Kleine, Adelsgenossenschaft und Nationalsozialismus, in: VjHZg 1978, S. 100-141.

  9. Ebd. S. 112.

  10. Deutsches Adelsblatt 49 v. 5. 12. 1931, S. 780, zitiert nach Kleine, S. 114 f.

  11. Kleine, S. 116.

  12. C. Schmitt, Legalität und Legitimität, in: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 bis 1954, Berlin 1958, S. 264.

  13. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, 1931.

  14. C. Schmitt, über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens. Schriften der Akademie für Deutsches Recht, 1, Hamburg 1934, S. 63.

  15. Schreiben v. 11. 3. 1933, ADAP, B, Bd. II, Nr. 75, S. 145 f.

  16. So eine Formulierung, die für den Adel gefunden worden ist; s. J. v. Dissow (= J. A. v. Rantzau), Adel im Übergang, Stuttgart 19622, S. 221.

  17. Text des Briefes in der Dokumentation von Nicholas Reynolds: Der Fritsch-Brief vom 11. Dezember 1938, in: VjHZg, 1980, S. 358 ff. (370).

  18. Zit. nach Messerschmidt, Wehrmacht, S. 19; zu Raeder vgl. W. Baum, Marine, Nationalsozialismus und Widerstand, in: VjHZg 1963, S. 16 ff., M. Salewski. Die deutsche Seekriegsleitung, Bd. 1, 1935— 1941, Frankfurt a. M. 1970; E. Raeder, Mein Leben, 2 Bde., Tübingen 1956 u. 1957.

  19. M. Messerschmidt, Politische Erziehung der Wehrmacht. Scheitern einer Strategie, in: Erziehung und Schulung im Dritten Reich, Teil 2: Hochschule, Erwachsenenbildung hrsg. v. M. Heinemann, Stuttgart 1980, S. 261— 284.

  20. Vgl. dazu im einzelnen den Artikel Blombergs im Völkischen Beobachter v. 29. 6. 1934; ferner Erlaß Blombergs an das Offizierkorps v. 24. Mai 1934, in: Offiziere im Bild von Dokumenten, Dok. 97, S. 255 f.; vgl. auch Erlaß des ObdH, Generaloberst v. Brauchitsch, vom 18. Dezember 1938, in: Offiziere im Bild von Dokumenten, Dok. 107, S. 274 ff„ s. ferner H. Foertsch, Der Offizier der deutschen Wehrmacht, Eine Pflichtenlehre, 19404.

  21. A. Hitler, Mein Kampf, Jubiläumsausgabe 1939, S. 644.

  22. Schleicher plante gegen Ende der Weimarer Republik ein umfassendes Militarisierungsprogramm. Die Reichsregierung sollte endlich bereit sein, „die Wehrkraft unseres Volkes für die Zukunft vorzubereiten". Wehrmacht und Wehrhaftigkeit sollten ge

  23. Ansprache Hitlers vor den Befehlshabern im Hause des Chefs der Heeresleitung am 3. Februar 1933, Vogelsang, Neue Dokumente, Dok. 8, S. 434 f.

  24. Dazu M. Messerschmidt, Preußens Militär in sei. nem gesellschaftlichen Umfeld, in: Preußen im Rückblick, Göttingen 1980 (= Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 6).

  25. Messerschmidt, Wehrmacht im NS-Staat, S. 11 f.; Protokoll der letzten Sitzung des Kabinetts Hitler, IMT, 351-PS.

  26. Hierzu ausführlich K. -J. Müller, Armee, Politik und Gesellschaft in Deutschland 1933— 1945, Paderborn 1979, S. 66 ff., ferner ders., Das Heer und Hitler, Stuttgart 1969, Kap. V und VI.

  27. Teilzit. nach Messerschmidt, Wehrmacht im NS-Staat, S. 237.

  28. H. Groscurth, Tagebücher eines Abwehroffiziers 1938— 1940, Hrsg. H. Krausnick und H. C. Deutsch, Stuttgart 1970.

  29. Messerschmidt, Wehrmacht im NS-Staat, S. 392.

  30. Schreiben OB XVIII. Armee v. 22. Juli 1940, zit. bei H. Krausnick u. H. H. Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatztruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938— 1942, Stuttgart 1981 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 22), S. 112; Messerschmidt, Wehrmacht im NS-Staat, S. 392 f. Zum Einschwenken auf Hitlers Kurs nach dem Sieg über Frankreich vgl. auch M. Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik 1939— 1945, Frankfurt 1965, S. 186.

  31. Dok. NOKW — 1271, BA-MA III H 358/3, Anlagenband Bl. 371, Teilabdruck in: Offiziere im Bild von Dokumenten, Dok. 111, S. 281 f., u. Messer-schmidt, Wehrmacht im NS-Staat, S. 252 f.

  32. So ein von Müller, Armee, Politik und Gesellschaft, S. 116, gewählter begrifflicher Zugang.

  33. Müller, Armee, Politik und Gesellschaft, S. 116 ff. Zum Widerstand und seinen Zielen und Plänen vgl. P. Hoffmann, Widerstand, Staatsstreich, Attentat, Frankfurt 1980 (= Ullstein-Buch Nr. 3077), u.ders., Widerstand gegen Hitler, München 1979.

  34. Zur Schwäche dieses Protests, der sich weniger gegen den Kommissarbefehl als gegen den Gerichtsbarkeitserlaß richtete, vgl. Krausnick, Kommissarbefehl, S. 712 ff.

  35. Dazu Chr. Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941— 1945, Stuttgart 1978, S. 56 ff.

  36. Niederschrift KTB Halder, 2. Bd„ S. 335— 337: Tgb. GFM v. Bock, 30. 3. 1941, BA-MA, N 22/8.

  37. So eine Formulierung von Streit, Keine Kameraden, S. 37.

  38. Dazu Krausnick, S. 708, und Streit, S. 39.

  39. Streit, S. 40, Begleitschreiben Lehmanns zu seinem Entwurf vom 9. Mai 1941, BA-MA, RW 4/v. 577, Bl. 38— 40.

  40. Tätigkeitsbericht der Panzergruppe 3, Januar-Juli 1941, v. 11. Juni 1941, in: H. Uhlig, Der verbrecherische Befehl, in: Vollmacht des Gewissens, Bd. 2, Dok. 26.

  41. Streit, S. 110 ff. Zum gesamten Komplex wichtig: J. Förster, Zur Rolle der Wehrmacht im Krieg gegen die Sowjetunion, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 45/80 v. 8. Nov. 1980, S. 3— 14.

  42. Ereignismeldungen UdSSR 97 v. 28. 9. 41, zit. nach Streit, S. 114.

  43. Denkschrift v. 12. 3. 1919, dazu O. E. Schüddekopf, Das Heer und die Republik 1918— 1933, Hannover 1955, S. 54 L; M. Messerschmidt, Preußens Militär in seinem gesellschaftlichen Umfeld'S. 78.

  44. Vgl. O. Koellreutter, Grundriß der Allgemeinen Staatslehre, Tübingen 1933; ders., Der deutsche Führerstaat, Tübingen 1934; ders., Grundfragen des völkischen und staatlichen Lebens im deutschen Volksstaat, Berlin 1935; R. Höhn, Die Wandlung im staatsrechtlichen Denken, Hamburg 1934; ders., Rechtsgemeinschaft und Volksgemeinschaft, Hamburg 1935; E. R. Huber, Der Führer als Gesetzgeber, in: DR 1939, S. 275— 278; Die Einheit der Staatsgewalt, in: DJZ 1934, S. 950 ff.; Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 19392; C. Schmitt, über die drei Arten des Rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934; ders., Die Rechtswissenschaft im Führerstaat, Ak. d. R. Z. 1935, S. 435 ff.

  45. Vgl. M. Messerschmidt, Politische Erziehung der Wehrmacht.

  46. Mitteilungen für das Offizierkorps, Mai 1942, Nr. 5.

  47. H. Dietz, Das Strafrecht der Wehrmacht im neuen Reich. Zur Neuordnung der Militärgerichtsbarkeit, in: DR 1933, S. 163— 172.

  48. Nach O. Hennicke, Auszüge aus der Wehrmachtkriminalstatistik in: ZfM 1966, S. 444. Insgesamt zur Wehrmachtgerichtsbarkeit vgl. M. Messerschmidt, Deutsche Militärgerichtsbarkeit im Zweiten Weltkrieg, in: Festschrift für Martin Hirsch,

  49. W. Hülle, Die Stellung des Militärrichters und seine Aufgaben im künftigen Verfahrensrecht, in: ZWR 1937/38, Bd. 2, S. 3— 17.

  50. Schwinge, Der Schuldbegriff des Militärstrafrechts, in ZWR 1937/38, S. 442— 448.

  51. BA-ZNS, Vorschriften o. Nr., teilweise zitiert bei L. Gruchmann, Ausgewählte Dokumente zur deutschen Marinejustiz im Zweiten Weltkrieg, in: VjHZ 1978, S. 449— 456.

  52. Schreiben v. 28. September 1943, BA-ZNS, Sammlung Todesurteile in der Wehrmacht.

  53. Dazu Messerschmidt, Wehrmacht im NS-Staat, S. 87.

  54. G. Lewy, Die katholische Kirche und das Dritte Reich, München 1965, S. 266.

Weitere Inhalte

Manfred Messerschmidt, geb. 1926; Studium der Geschichte und der Rechtswissenschaft; Tätigkeit in der Wirtschaft; seit 1970 Leitender Historiker im Militärgeschichtlichen Forschungsamt Freiburg; Lehrauftrag Universität Freiburg. Veröffentlichungen zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts u. a.: Die Wehrmacht im NS-Staat, 1969; Militär und Politik in der Bismarckzeit und im Wilhelminischen Deutschland, 1975; Die politische Geschichte der preußisch-deutschen Armee, 1975; Außenpolitik und Kriegsvorbereitung, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, 1979; zahlreiche Aufsätze und Beiträge in Sammelwerken.