Unter den Reden, die Papst Johannes Paul II. während seines Deutschlandbesuches gehalten hat, hat seine Ansprache an die Vertreter der Juden in den Medien leider nur eine geringe Resonanz gefunden. Zu Unrecht, wir mir scheint! Handelt es sich doch um eine wegweisende Rede, die sehr wohl einen Ehrenplatz innerhalb der Anstrengungen verdient, die unternommen wurden, die ökumenischen Begegnungen zu vertiefen. Freilich, ob eine ökumenische Begegnung mit den Juden möglich ist, ist von diesen selbst nicht selten bezweifelt worden. Dabei hat die Furcht eine Rolle gespielt, daß Ökumene nur ein Euphemismus sei für Mission, daß das Ziel doch die Vereinnahmung für den christlichen Glauben sein müsse. Dies ist zwar an sich ein Mißverständnis, denn Ökumene setzt Partnerschaft voraus, ein Gespräch zwischen Gleichberechtigten. Jeder Versuch, den anderen für sich einzuvernehmen, ist daher der Ökumene nicht nur fremd, sondern geradezu feindlich, schließt die ökumenische Begegnung aus.
Gleichwohl sind die Traumata auf jüdischer Seite nur zu gut zu verstehen. Eine lange Geschichte der Unterdrückung spielt hier eine Rolle. Wirkliche Glaubensgespräche, bei denen Juden und Christen gleichwertige Partner waren, hat es nur selten gegeben. Die meisten Religionsgespräche, vor allem die mittelalterlichen, waren tatsächlich nur Teil der Juden-mission. Sie wurden mit dem ausdrücklichen Zweck geführt, die Gesprächspartner ihres Irrtums zu überführen. Die Erinnerung an derartige Religionsgespräche ist so leidvoll, daß die ökumenische Begegnung vielen Juden bis heute als höchst problematisch erscheinen mußte. Dennoch hat es nicht an Versuchen dazu gefehlt; auch Juden haben insbesondere bei den nach dem Zweiten Weltkrieg zustande gekommenen Gesprächen — trotz aller Schwierigkeiten — einen nicht unwesentlichen Anteil an ihrem Gelingen gehabt.
Nun gibt es jedoch nicht nur psychologische Hindernisse für eine Begegnung, sondern auch theologische. Wenn Christen sich auch in verschiedenen Konfessionen bzw. Konfessionsgemeinschaften befinden, deren Glaubensverständnis oft weit auseinandergeht, so wissen sie sich dennoch im Bekenntnis zu Je.
sus dem Christus eins. Was allerdings das Christusbekenntnis genau beinhaltet, ist keineswegs unumstritten. Die Christologien können sehr verschieden aussehen. Aber daß Jesus der Christus ist, daran besteht kein Zweifel. Dieses Bekenntnis unterscheidet die Christen grundlegend von Juden und Moslems. In gewisser Weise scheinen sie den Moslems sogar näher zu stehen als den Juden; denn für den Islam steht fest, daß Jesus, auch wenn er nicht der Christus ist, dennoch zu den großen Propheten gerechnet werden muß. Die Worte, die ein Moslem finden kann, Jesus als Propheten zu ehren, sind tief und ergreifend. Hier wird bei aller Glaubensverschiedenheit doch ein Gemeinsames spürbar. Für einen Juden kann Jesus aber auch kein Prophet sein. Es geht also nicht nur darum, daß Jesus die Christuswürde bestritten wird, weil der Christus-
glaube im Widerspruch zur Unbedingtheit des Glaubens an den einen Gott zu stehen scheint, sondern in jüdischen Augen kann Jesus auch der Messias nicht sein, weil die messianische Person nicht von der messianischen Zeit zu trennen ist. Diese ist aber eine Zeit des sichtbaren Gottesfriedens. Jesus ist kein Prophet, weil die Zeit der Propheten längst abgeschlossen war.
Nach den Worten eines der jüdischen Schriftsteller, die sich um die Heimholung der Person Jesu bemühen, des aus München stammenden und in Jerusalem lebenden Schalom Ben Chorin, ist er einer der großen Gescheiterten der jüdischen Glaubensgeschichte. Doch auch diese sind notwendig. Schalom Ben Chorin stellt Jesus auf eine Linie mit Rabbi Akiba, der mit seinem Einsatz für Bar Kochba, den Führer des Aufstandes gegen Kaiser Hadrian, zwar scheitern sollte, gleichwohl aber zu den Großen des Judentums gerechnet wird — einer der bedeutensten Märtyrer der hadrianischen Verfolgung, einer der großen Lehrer des Judentums. Daß auf Jesus nicht verzichtet werden kann, ist heute Überzeugung vieler jüdischer Gelehrter und Dichter. Heimholung ins Judentum ist daher ein, Stichwort, das in manchen jüdischen Publikationen auftaucht. Martin Buber sah in Jesus seinen großen Bruder, ähnlich urteilt Schalom Ben Chorin. Die Erklärung der deutschen Bischöfe über das Verhältnis der Kirche zum Judentum vom 28. April 1980 fühlt sich durch die Aussage beider Autoren, die sich zum Judesein Jesu bekennen, zu der eigenen Aussage ermutigt:
Wer Jesus Christus begegnet, begegnet dem Judentum." Sie unterstreicht nicht nur, daß Jesus seiner Herkunft nach Jude war, sondern betont, daß . Jesus Christus von seiner jüdischen Herkunft her ein reiches geistliches Erbe aus den religiösen Überlieferungen seines Volkes in die christliche Völkerwelt mit eingebracht hat“, und folgert daraus, „daß der Christ dauernd ... aus diesem Erbe schöpft".
Papst Johannes Paul II. knüpft an diese Aussage der Bischöfe der Bundesrepublik Deutschland an, um zu betonen, daß „wenn sich die Christen als Brüder aller Menschen verstehen und sich auch danach verhalten sollen, um wieviel mehr gilt dann diese heilige Verpflichtung, wenn sie Angehörigen des jüdischen Volkes gegenüberstehen!" Trotz der so verschiedenen Deutung der Gestalt Jesu ist es also gerade diese, die Juden und Christen miteinander verbindet Man kann nicht Jesus kennenlernen wollen, ohne sich auf das Judentum einzulassen. Wer Jesus liebt, muß den Weg zum Juden finden. Diese Wahrheit war lange genug vergessen; sie muß heute noch neu entdeckt werden.
Daß Juden und Christen zusammengehören, war Überzeugung bereits der Apostel. Nach dem Verständnis insbesondere des Apostel Paulus kann Kirche niemals anders sein als aus Juden und Heiden. Freilich, im Laufe der Kirchengeschichte ist aus dem Miteinander von Menschen, die aus den Juden und den Heiden kommen, um das eine Gottesvolk zu bilden, ein Nacheinander der Berufenen aus dem Judentum und aus dem Heidentum geworden. Erst in unserer Zeit lernt man wieder wirklich begreifen, daß der Jude als Gesprächspartner auch für das Gespräch der Christen untereinander nicht fehlen darf, daß dieses auf einer zu schmalen Basis angelegt ist, wenn der Jude als Gesprächspartner ausgeschlossen bleibt. Das Plädoyer für die größere Ökumene hat für den Christen den Sinn, daß sein Selbstverständnis dadurch ganz anders akzentuiert wird. Das gleiche muß aber nicht unbedingt auch für den Juden gelten. Für ihn spielt eine entscheidende Rolle die schmerzliche Erfahrung, die das Leben in einer christlich bestimmten Umwelt bedeutete: die Geschichte der Verfolgungen, ökumenisches Gespräch ist für ihn nur möglich, wenn die Geschichte dieser Verfolgungen nicht vergessen wird, wenn sie mit bedacht wird, wenn sie Anlaß wird zur Umkehr. Diese kann aber nie statthaben ohne das Eingeständnis der Schuld der Christen.
Bereits die Fuldaer Bischofskonferenz erklärte bei ihrer ersten Zusammenkunft nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahre 1945: „Viele Deutsche, auch aus unseren Reihen, haben sich von den falschen Lehren des Nationalsozialismus betören lassen, sind bei den Verbrechen gegen menschliche Freiheit und menschliche Würde gleichgültig geblieben; viele leisteten durch ihre Haltung dem Verbrechen Vorschub, viele sind selber Verbrecher geworden. Schwere Verantwortung trifft jene, die auf Grund ihrer Stellung wissen konnten, was bei uns vorgeht, die durch ihren Einfluß solche Verbrechen hätten verhindern können und es nicht getan haben, ja diese Verbrechen ermöglicht und sich dadurch mit den Verbrechern solidarisch erklärt haben."
In ihrer Erklärung über das Verhältnis der Kirche zum Judentum vom 28. April 1980 erinnern die deutschen Bischöfe an dieses erste Schuldbekenntnis von 1945. Darüber hinausgehend gestehen sie ein, daß es auch unter Christen noch immer einen mehr oder weniger weiterlebenden Antisemitismus gibt. Ihn zu überwinden, ist eine wichtige Aufgabe. Die deutschen Bischöfe fordern das „immerwährende Gebet für die Millionen im Laufe der Geschichte ermordeten Juden und die ständige Bitte an Gott um Vergebung des vielfachen Versagens und der zahlreichen Versäumnisse, deren sich Christen in ihrem Verhalten den Juden gegenüber schuldig gemacht haben."
Das geht nun weit über das hinaus, was nach dem Zweiten Weltkrieg bekannt wurde. Das hat nicht zuletzt seinen Grund darin, daß man sich einerseits selbst vom nationalsozialistischen Regime verfolgt wußte, andererseits aber noch nicht genügend reflektiert hatte, daß die Verfolgung der Juden durch das Dritte Reich eine lange Vorgeschichte auch der christlichen Mitschuld hat. Kritische Stimmen erinnerten daran, welch verhängnisvolle Wirkung eine einseitige und falsche Verkündigung ausübt: Ein Judentum, das die dunkle Folie für die Herrlichkeit der Botschaft von Christi Tod und Auferstehung abgeben muß, erscheint unter so negativem Aspekt, daß die Gefahr der Diskriminierung und Verfolgung stets zumindest latent gegeben ist und oft genug zur Wirklichkeit wird. Schon die Seelisberger Thesen von 1947 haben den Anteil unterstrichen, den eine solche verhängnisvolle Verkündigung an den Judenverfolgungen hat. 1980 hatten die deutschen Bischöfe diese und ähnliche Erwägungen vor Augen, wenn sie so nachdrücklich auf das vielfache Versagen der Christen gegenüber den Juden aufmerksam machten. Sie bitten darum ausdrücklich „unsere jüdischen Brüder um Verzeihung". Sie nahmen damit auch Gedanken wieder auf, die sich ebenfalls in der Erklärung der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland vom 22. November 1975 finden, und zwar innerhalb des Textes „Unsere Hoffnung. Ein Bekenntnis zum Glauben dieser Zeit". Darin heißt es: „Wir sind das Land, dessen jüngste politische Geschichte von dem Versuch verfinstert ist, das jüdische Volk systematisch auszurotten. Und wir waren in dieser Zeit des Nationalsozialismus, trotz beispielhaften Verhaltens einzelner Personen und Gruppen, aufs Ganze gesehen doch eine kirchliche Gemeinschaft, die zu sehr mit dem Rücken zum Schicksal dieses verfolgten jüdischen Volkes weiterlebte, deren Blick sich zu stark von der Bedrohung ihrer eigenen Institutionen fixieren ließ und die zu den an Juden und Judentum verübten Verbrechen geschwiegen hat. Viele sind dabei aus nackter Lebensangst schuldig geworden. Daß Christen sogar bei dieser Verfolgung mitgewirkt haben, bedrückt uns besonders schwer. Die praktische Redlichkeit unseres Erneuerungswillens hängt auch an dem Eingeständnis dieser Schuld und an der Bereitschaft, aus dieser Schuldgeschichte unseres Landes und auch unserer Kirche schmerzlich zu lernen."
Nicht in allen Ländern ist dieses Schuldbewußtsein so stark ausgeprägt, kann es auch gar nicht sein; denn es gibt genügend Länder, in denen nur wenige Juden leben oder in denen Judenverfolgungen keine, jedenfalls keine unseren Erfahrungen vergleichbare Rolle gespielt haben. Daher mag es kommen, daß in der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen kein ausdrückliches Schuldbekenntnis zu finden ist. Wohl verwirft auch diese Erklärung ausdrücklich jede Diskriminierung eines Menschen um seiner Rasse, Farbe, seines Standes oder seiner Religion willen. Vielfach war bedauert worden, daß das Zweite Vatikanische Konzil keine deutlicheren Worte gefunden hatte. Die Vatikanischen Richtlinien und Hinweise für die Durchführung der Konzilserklärung vom Jahre 1974 hatten diesen Beschwerden schon in etwa Rechnung getragen.
Papst Johannes Paul II. weiß ebenfalls um die Schuld der Christen gegenüber den Juden. Er hat darauf mit deutlichen Worten aufmerksam gemacht. Dafür zeugt auch seine Ansprache in Mainz. In ihr heißt es: „Die konkreten brüderli. chen Beziehungen zwischen Juden und Katholiken in Deutschland bekommen einen ganz besonderen Wert vor dem dunklen Hintergrund der Verfolgung und versuchten Ausrottung des Judentums in diesem Lande." Der Papst erinnert freilich im gleichen Zusammenhang auch an die Zeugnisse der Solidarität.
Die Geschichte der jüdisch-christlichen Beziehung weist manches dunkle Kapitel auf. Eine nicht geringe Rolle bei den Konflikten spielten dabei die Konvertiten. Immer wieder gab es Konvertiten, die nach ihrem Glaubens-wechsel zu erbitterten Gegnern der Juden wurden. Gewiß gilt das nun keineswegs für alle; es gibt auch genügend Gegenbeispiele. Gleichwohl lassen sich die bösen Erinnerungen nicht so schnell bannen. Um so notwendiger ist es, auf die Zeichen der Solidarität hinzuweisen. Für die Nationalsozialisten war es übrigens gleichgültig, ob jemand gläubiger oder nichtgläubiger Jude war. Für sie zählte allein die rassische Herkunft. Eine Konversion zum christlichen Glauben rettete daher noch nicht vor der Verfolgung durch das Dritte Reich. Nur die Emigration aus Deutschland und sogar aus dem gesamten Machtbereich des Dritten Reiches während der Kriegsjahre konnte vor der todbringenden Verfolgung bewahren. Es gab Konvertiten, die sich darüber völlig klar waren und die bereit waren, das Schicksal derer voll und ganz zu teilen, von denen sie selbst herkamen.
So hat Edith Stein, mit ihrem Ordensnamen Theresia Benedikta a Cruce, sich stets zu ihrem Judesein bekannt. Die beste Antwort auf die antisemitischen Diffamierungen schien ihr das Lebenszeugnis zu sein. Sie hat ihre Jugenderinnerungen verfaßt in der Absicht, das Leben einer jüdischen Familie ganz schlicht zu schildern, um zu zeigen, worauf es eigentlich ankam. Sie hat ihr Leben Gott als Sühneopfer angeboten, um dadurch zur Versöhnung von Juden und Christen beizutragen. Papst Johannes Paul II. steht dieser großen Karmelitin nahe, die 1942 in den Gaskammern von Auschwitz ihr Leben verhaucht hat. Ihm, dem als Pole Auschwitz als Ort der Verfolgung stets vor Augen steht, war es immer wichtig, nicht nur der verfolgten Polen zu gedenken, sondern auch der Juden und unter ihnen ganz besonders Edith Steins. Auch in seiner Mainzer Rede hat Papst Johannes Paul II. auf die Zeichen der Solidarität hingewiesen und dabei ausdrücklich an Edith Stein erinnert: „In dieB sem Geist haben sich auch Christen während der Verfolgung oft unter Lebensgefahr eingesetzt, die Leiden ihrer jüdischen Brüder zu verhindern oder zu lindern, ihnen möchte ich in dieser Stunde Anerkennung und Dank aussprechen. Ebenso jenen, die als Christen in der Bejahung ihrer Zugehörigkeit zum Volk der Juden den Leidensweg ihrer Brüder und Schwestern bis zum Ende mitgegangen sind — wie die große Edith Stein.“
Voraussetzung für ein partnerschaftliches Gespräch zwischen Juden und Christen ist jedoch nicht nur das Bedenken der christlichen Schuld oder Mitschuld an der Verfolgung. Nicht weniger notwendig ist es, daß der Gesprächspartner in seiner jeweiligen Eigenart auch wirklich zu Wort kommt. Diese an sich so selbstverständliche Forderung ist im christlich-jüdischen Dialog, oder sagen wir besser in den Einladungen zu einem solchen Dialog, allzu lange vernachlässigt worden. Allzu lange glaubten Christen, Altes Testament und Judentum einfach gleichsetzen zu können, und ließen so die Glaubensgeschichte des Judentums außer acht Oder, wenn sie von Juden sprachen, dann konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es sich dabei nicht um reale Menschen, sondern um Konstrukte handelte. Zwar hatten auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil bereits einige Bischöfe den Dialog mit den heute lebenden Juden gefordert und dabei auf die Werte heutiger jüdischer Frömmigkeit aufmerksam gemacht. Zwar hatte gerade der Straßburger Erzbischof Arthur Leo Eichinger auf die beglückenden Begegnungen mit der jüdischen Gemeinde in Straßburg hingewiesen. Dennoch war die Überzeugung tief verwurzelt, daß man aus christlicher Sicht das rechte Verständnis des Judentums habe, so daß sich dies auch der Konzilserklärung „Nostra aetate" mitteilte. Während nämlich die übrigen nichtchristlichen Religionen in dieser Erklärung nach ihrem Selbstverständnis beschrieben werden, kommt dieses Prinzip bei der Schilderung des Judentums nicht zu Geltung. Hier argumentiert die Erklärung aus dem Vorverständnis, das die Konzilsväter vom Judentum hatten. Dies wurde jüdischerseits, aber nicht nur von Juden allein, als Mangel erkannt und beklagt Die Richtlinien von 1974 versuchten bereits eine erste Korrektur. Es kann allerdings nicht überraschen, daß hier immer noch ein Lernprozeß notwendig ist. Zu lange hatte sich die christliche Theologie an der jüdischen Glaubensgeschichte nach dem Untergang Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. uninteressiert gezeigt. Nur so konnte in der Neuzeit der Begriff „Spätjudentum" entwickelt und auf das Judentum nach dem Exil bis zur Zeit Jesu bezogen werden. Erst neuerdings beginnt sich die Sicht durchzusetzen, die diese Zeit als die des Früh-judentums begreift. Insbesondere hat sich hier der in Wien lebende und wirkende katholische Professor für Judaistik, Kurt Schubert, große Verdienste erworben. Immer wieder hat er darauf hingewiesen, daß die Bezeichnung „Spätjudentum" unangemessen ist, wenn sie für die Zeit nach dem Exil bis zur Zerstörung Jerusalems durch Titus und zur Zeit der Entstehung von Mischna und Talmud verwendet wird. In Wahrheit bildete sich damals erst das Judentum in seiner Eigenart heraus.
Daß diese Hinweise inzwischen auf fruchtbaren Boden gefallen sind, verraten die neueren kirchlichen Stellungnahmen. So ist es bemerkenswert, daß die Erklärung der deutschen Bischöfe vom 28. April 1980 wiederholt auf jüdische Quellen eingeht, dabei auch Texte des Talmud zitiert. Hier wird das Bewußtsein artikuliert, daß das jüdische Erbe sich nicht auf die Bibel beschränkt, sondern daß es auch lebendig ist in den späteren Zeugnissen. Das Hinhören auf jüdische Stimmen ist ein Zeichen einer Neubesinnung und eines Umdenkens. Auch Papst Johannes Paul II. läßt sich auf dieses Experiment ein. Er begrüßt nicht nur die Aktivitäten eines Gespräches, erinnert in seiner Ansprache in Mainz an die Tagung des Internationalen Verbindungskomitees zwischen der römisch-katholischen Kirche und dem Judentum 1979 in Regensburg, sondern zeigt sich auch persönlich aufgeschlossen für die Anregungen, die ihm aus der Begegnung mit Juden zuwachsen.
Das Internationale Verbindungskomitee ist übrigens entstanden im Zusammenhang mit der Herausgabe der Vatikanischen Richtlinien und Hinweise zur Erklärung „Nostra aetate". Juden, die für die großen Organisationen sprechen, sind darin eingeladen, mit Vertretern des Einheitssekretariates über alle Fragen zu verhandeln, die das Verhältnis der Kirche zum Judentum belasten. Erstmals 1979 fand eine solche Tagung auf deutschem Boden statt. Regensburg wurde als ihr Ort gewählt, weil der Regensburger Weihbischof Karl Flügel der Leiter der Arbeitsgruppe für Fragen des Judentums der Ökumene-Kommission der deutschen Bischofskonferenz ist. Das Regensburger Gespräch machte allen Teilnehmern spürbar, wie groß die Sorge jüdischerseits ist, ob der Antisemitismus in Deutschland wirklich überwunden ist Die Anzeichen für Neonazis-13 mus in der Bundesrepublik werden daher sehr sorgfältig registriert. Andererseits waren jedoch die jüdischen Teilnehmer an dem Regensburger Gespräch tief beeindruckt von der Vielfalt der Bemühungen um einen fruchtbaren Dialog von Juden und Christen.
Papst Johannes Paul II. hat mit seiner Erwähnung des Regensburger Treffens gerade dies registrieren wollen. Er sieht diese Bemühungen im Zusammenhang mit ähnlichem. So ist seiner Aufmerksamkeit nicht entgangen, daß dieses Thema auch auf dem Katholikentag 1980 eine nicht geringe Rolle gespielt hat. Wie sehr er sich selbst als ein vom Judentum Lernender weiß, verrät inzwischen seine Enzyklika „Dives in Misericordia" vom 30. November 1980. In ihr geht er auf die Bedeutung ein, die der Begriff des Erbarmens bereits im Alten Testament hat. Er fragt nach den Urworten, und stellt fest, daß es für den Begriff Erbarmen im Alten Testament zwei Worte gibt: „chesed", das eine tief verwurzelte Haltung von Güte beinhaltet, und „rächamim“, in dem das Erbarmen von der Mutterliebe her bestimmt wird. In einer langen Anmerkung geht der Papst auf den jeweiligen Wortsinn ein. Zu rachamim verweist er auf die Verbundenheit, ja Einheit der Mutter mit dem Kind, aus der eine ganz besondere Beziehung zu ihm entspringt, die sich ausdrückt in Güte und Zärtlichkeit, Geduld und Verständnis. So hat Erbarmen im Judentum einen zweifachen Aspekt, einen männlichen und einen weiblichen: chesed betont den mehr männlichen, die Treue zu sich selbst, rachamim den weiblichen, den „Zwang" des Herzens. Der Papst erinnert an das schöne Wort des Propheten Jesaia: „Kann denn eine Frau ihr Kind vergessen, eine Mutter ihren eigenen Sohn? Und selbst, wenn sie ihr Kind vergessen würde: Ich vergesse dich nicht!"
Mit der Betonung des Erbarmens, für das bereits das Alte Testament so beredte Worte findet, wirkt der Papst dem Vorurteil entgegen, daß das Judentum eine Religion des Gesetzes sei, daß im Alten Testament allein die Botschaft von der Gerechtigkeit verkündet werde, während das Neue Testament erst die Botschaft der Liebe gebracht hätte. Der Papst unterstreicht vielmehr, daß Gerechtigkeit und Liebe, Gerechtigkeit und Erbarmen schon im Alten Testament zusammengehören, daß Erbarmen noch größer ist als die Gerechtigkeit. Der Botschaft von dem Heil durch Jesus nimmt dabei der Papst nichts — im Gegenteil: Liebe und Erbarmen Jesu setzen fort und vertiefen, was schon in den Tagen des Alten Bundes den Menschen als Heil angeboten wird.
Daraus ergibt sich, daß der jüdisch-christliche Dialog für den Papst, wie er in seiner Mainzer Ansprache betont hat, „zugleich ein Dialog in. nerhalb unserer Kirche ist, gleichsam zwi.sehen dem ersten und dem zweiten Teil ihrer Bibel". Diese Dimension allein wäre ihm frei, lieh zu wenig. Die zweite Dimension ist für ihn die eigentliche, zentrale: „Die Begegnung zwisehen den heutigen christlichen Kirchen und dem heutigen Volk des mit Mose geschlossenen Bundes." In Erinnerung an die vorausgehenden Vatikanischen Erklärungen und die Worte der deutschen Bischöfe fordert der Papst in seiner Mainzer Ansprache zu einem taktvollen, behutsam geführten Dialog auf, der den Katholiken, und nicht nur ihnen, sondern allen Christen, die religiöse Tradition des Judentums erschließt. Eindringlich beschließt er diesen Absatz seiner Rede: „Es ist mein dringender Wunsch, daß diese Erklärung geistiges Gut aller Katholiken in Deutschland werde!“
Doch gibt es für ihn noch eine dritte Dimension des Dialogs: Juden und Christen sollen zusammenarbeiten zur Gewinnung des Friedens. Auch hier beruft sich der Papst auf die voraufgehende Erklärung der deutschen Bischöfe. In ihr heißt es: „Christen und Juden sollen und können gemeinsam eintreten für das, was in der hebräischen Sprache Schalom heißt. Dies ist ein umfassender Begriff, der Frieden, Freude, Freiheit, Versöhnung, Gemeinschaft, Harmonie, Gerechtigkeit, Wahrheit, Kommunikation, Menschlichkeit bedeutet. Schalom ist dann in der Welt Wirklichkeit, wenn alle Beziehungen untereinander endlich in Ordnung sind, die Beziehungen zwischen Gott und Mensch und von Mensch zu Mensch. Es darf kein völkisch beschränktes Friedens-ideal mehr geben. Gott will keine eisernen Vorhänge!" Diese Worte der deutschen Bischöfe waren dem Papst aus dem Herzen gesprochen, denn unermüdlich appelliert er an den Friedenswillen der Völker. Seine große Sorge ist es, daß erneut die großen Konflikte aufbrechen, daß abermals die Menschheit in einem völkervernichtenden Krieg sich zerfleischt. Darum appellierte er auch jetzt wieder an die Friedensbereitschaft.
Bemerkenswert ist im Schlußabschnitt seiner Mainzer Ansprache der Satz: „Gern bete ich mit Ihnen (den Vertretern der Juden in Deutschland) um die Fülle des Schalom für alle ihre Volks-und Glaubensbrüder und auch für das Land, auf das alle Juden mit Verehrung blicken." Die Konzilserklärung „Nostra aetate" hatte das Israelthema ganz ausgeklammert. Dabei hatte eine nicht geringe Rolle die Tatsa-che gespielt, daß die Christen in der arabischen Welt eine Minderheit darstellen, daß sie nicht zuletzt aus dem Bestreben, ihre nationale Identität zu wahren, vielfach arabisch-nationalistisch denken. Nicht zuletzt die Rücksichtnahme auf die Empfindlichkeit der arabischen Christen im Nahen Osten ließ die Konzilsväter Abstand nehmen von einem Hinweis auf die Beziehung der Juden zum Land ihrer Väter. Sachlich gerechtfertigt erschien dies insofern, als die Erklärung „Nostra aetate" rein religiös verstanden werden sollte, d. h. nicht politisch.
Nun sind allerdings Theologie und Politik nur schwer voneinander zu trennen. Theologische Thesen haben, ob man sich dies eingesteht oder nicht, auch ihre politischen Konsequenzen. Der Versuch der Unterscheidung kann daher niemals zu einem wirklich befriedigenden Ergebnis führen. Die Probe aufs Exempel konnte bereits 1967 gemacht werden, d. h. wenig später als das Zweite Vatikanische Konzil geendet hatte. Damals beschwor Ägyptens Staatspräsident Nasser eine Krise herauf, die den Sechstagekrieg 1967 verschuldete. Damals fühlten sich die Juden in aller Welt, also nicht nur in Israel, von den Christen alleingelassen. Sie konnten es nicht verstehen, daß schon sobald nach dem Konzil, das Hoffnungen auf einen fruchtbaren Dialog erweckt hatte, ein derartiger Rückschlag eintrat. Sie konnten es nicht verstehen, daß Christen, daß vor allem die Kirchenleitungen nicht einsehen wollten, wie eng die Verbundenheit der Juden auch der Diaspora mit dem Staat Israel ist. Das Ausbleiben offizieller Stellungnahmen wurde vonvielen Juden als ein Indiz dafür gewertet, daß sich das Schweigen, das einst gegenüber der Vernichtung herrschte, sich nun wiederholen sollte. Manche glaubten, das Gespräch risse nun endgültig ab. Bald trat freilich schon wieder eine gewisse Beruhigung ein; die Gespräche wurden doch fortgesetzt, dennoch blieb das Wissen um Gefährdung.
Vergeblich war der Wunsch des Dominikaners Piere de Contenson, des damaligen Leiters des Büros für katholisch-jüdische Beziehungen beim Vatikanischen Einheitssekretarfat, daß in den Richtlinien und Hinweisen zur Konzilserklärung Israel mitberücksichtigt würde. Nicht einmal in der Einleitung zu den Hinweisen und Richtlinien konnte ein Hinweis auf Israel stehenbleiben. Auf katholischer Seite hatte erst 1973 die Erklärung des Komitees der französischen Bischofskonferenz über die Haltung der Christen gegenüber dem Judentum die Bedeutung unterstrichen, die der Staat Israel für die Juden hat. Aber so vorsichtig auch der Hinweis war, so heftig waren die Reaktionen darauf. Vielleicht war es gerade diese Heftigkeit, die Papst Paul VI. dazu veranlaßte, auf die Streichung jeden Hinweises auf Israel in den Richtlinien und sogar in der Einleitung zu ihnen zu drängen. Auch in der Erklärung der deutschen Bischöfe vom 28. April 1980 kann man nur sehr versteckte Hinweise auf das Israelthema finden. Noch immer ist die Sorge vor Mißverständnissen groß. Auf evangelischer Seite tat man sich da leichter. Allerdings hat die wichtigste Aussage, nämlich der von der Evangelischen Kirche in Deutschland 1975 verabschiedete Text „Christen und Juden", lediglich den Charakter einer Studie, nicht den einer autoritativen Erklärung. In dieser Situation kommt dem Wort des Papstes in seiner Mainzer Rede eine besondere Bedeutung zu. In ihm artikuliert sich das Verständnis für die Empfindungen und Gefühle der Juden. Hier wird die Verbundenheit der Juden auch der Diaspora mit dem Land Israel ernst genommen. Das bedeutet keine Verkürzung der Rechte der arabischen Bevölkerung des gleichen Landes. Eben darum ist der Friedensap-• pell so eindringlich. Die Versöhnung von Juden und Arabern in Israel wäre ein Zeichen der Hoffnung für die Verwirklichung des Schalom auf der ganzen Erde. Gerade indem der Papst solche Hinweise gab, ermutigte er das christlich-jüdische Gespräch in der Bundesrepublik. Es hat in den letzten Jahrzehnten beachtliche Fortschritte gemacht. Gleichwohl bleibt genügend zu tun übrig. Vor allem ist der Weg noch immer weit, der von den Studienzentren und den engeren Gesprächskreisen in eine breitere Öffentlichkeit führt. Daß es hier aber nicht um die Laune oder Liebhaberei von einigen Enthusiasten geht, sondern um die Sache aller Christen — das war es, was die Ansprache des Papstes in Mainz unterstreichen wollte.