Israels Außenpolitik seit 1967 war — so kann man durchaus behaupten — unsystematisch, arm an Initiative und ganz überwiegend reaktiv. Das Jahrzehnt nach seinem überwältigenden militärischen Sieg im Sechs-Tage-Krieg zeichnet sich in erster Linie durch Zaudern und Immobilismus auf der Ebene der Diplomatie aus. Auf der Weltbühne ließ Israel sämtliche im Krieg von ihm bewiesenen Eigenschaften wie Unerschrockenheit, Initiative und Risikofreude vermissen. Seine Außenpolitik war im Gegenteil von übertriebener Vorsicht und verbissenem Festklammern am Status quo gekennzeichnet. Die beiläufigen Veränderungen seiner politischen Linie, die den-Die Fakten, die diese Beurteilung der israelischen Außenpolitik belegen, sprechen für sich. Kurz nach dem Waffenstillstand im Juni 1967 kündigte Ministerpräsident Eshkol an, Israel werde keines der besetzten arabischen Gebiete zurückgeben, bevor die Araber nicht in direkte Verhandlungen mit Israel über einen formellen Frieden einschließlich sicherer und anerkannter Grenzen einwilligten 2). Diese Formel, die die Grundlage der israelischen Diplomatie für die nächsten sechs Jahre bildete, war Israels Höchstforderung nach Frieden und Sicherheit ohne jeglichen Kompromiß. Schon bald mußte man einsehen, daß diese Strategie kaum geeignet sein dürfte, einen Dialog mit Israels Gegnern zustande kommen zu lassen oder seine territorialen Trümpfe in politische Münze umzuwandeln. Israel hatte praktisch auf seine eigene Manövrierfähigkeit in der diplomatischen Arena verzichtet. General Dayan gab dies bereits im Oktober 1967 freimütig zu. Seine Regierung, so erklärte er, sei deshalb nicht zu einer Stellungnahme zu Friedensvorschlägen zu bewegen, weil sie Bei diesem Beitrag handelt es sich um die überarbeitete Fassung eines Artikels, der im Aprilheft 1980 der Zeitschrift „International Affairs" erschienen ist. Der Artikel wurde übersetzt von Heide-marie Sehm-Ludwig, Kassel.
Das Problem
Diese Formel, die die Grundlage der israelischen Diplomatie für die nächsten sechs Jahre bildete, war Israels Höchstforderung nach Frieden und Sicherheit ohne jeglichen Kompromiß. Schon bald mußte man einsehen, daß diese Strategie kaum geeignet sein dürfte, einen Dialog mit Israels Gegnern zustande kommen zu lassen oder seine territorialen Trümpfe in politische Münze umzuwandeln. Israel hatte praktisch auf seine eigene Manövrierfähigkeit in der diplomatischen Arena verzichtet. General Dayan gab dies bereits im Oktober 1967 freimütig zu. Seine Regierung, so erklärte er, sei deshalb nicht zu einer Stellungnahme zu Friedensvorschlägen zu bewegen, weil sie Bei diesem Beitrag handelt es sich um die überarbeitete Fassung eines Artikels, der im Aprilheft 1980 der Zeitschrift „International Affairs" erschienen ist. Der Artikel wurde übersetzt von Heide-marie Sehm-Ludwig, Kassel.
Das Problem
noch zustande kamen, waren weniger bewußt geplant als vielmehr das Produkt schmerzhaften Nachgebens auf den von außen her einwirkenden Druck. Ohne der israelischen Außenpolitik Planlosigkeit oder das Ausbleiben größerer Initiativen in den Beziehungen zu seinen Nachbarn vorzuwerfen 1), muß man selbst unter Berücksichtigung dessen, was definitiv getan wurde, zugeben, daß die israelische Außenpolitik im allgemeinen ziemlich kurzsichtig und mit der Tendenz behaftet war, auf Ereignisse und insbesondere Krisen mit einer Mischung aus militärischem Aktivismus und diplomatischer Immobilität zu reagieren.
Zur Illustration: Der historische Hintergrund
diesbezüglich ganz einfach überhaupt keine Meinung habe
Diese unrealistische Haltung mußte Israel zwangsläufig in eine Sackgasse drängen, in der ihm nichts übrig blieb, als auf die diplomatischen Initiativen seiner arabischen Gegner und der internationalen Gemeinschaft zu reagieren. Und da man fast ausnahmslos die Ansicht vertrat, diese Initiativen liefen Israels Interessen zuwider, waren die Reaktionen kühl bis ausgesprochen feindselig. Die wichtigste Initiative, die den in dieser Hinsicht breitesten internationalen Konsens zum Ausdruck brachte, war die Resolution 242 des UN-Sicherheitsrates vom November 1967, die den Rückzug Israels „aus während des jüngsten Konfliktes besetzten Territorien" sowie die Anerkennung des Rechtes aller beteiligten Völkerschaften auf eine Existenz innerhalb sicherer und anerkannter Grenzen forderte. Israel, das diese Entschließung als internationale Übereinkunft über eine drastische Veränderung seiner territorialen Position interpretierte, war nun gezwungen, bewußt auszuweichen In diesem Licht ist auch seine zwar korrekte, jedoch wenig enthusiastische Haltung gegenüber UN-Mittler Jarring zu bewerten, da die Vermittlung durch eine dritte Partei nur ein dürftiger Ersatz für direkte Verhandlungen zwischen den Beteiligten war.
Als sich die Vier Mächte im Frühjahr 1969 anschickten, in inoffiziellen Verhandlungen Vorschläge für eine arabisch-israelische Einigung zu erarbeiten, bestritt die Regierung der verstorbenen Ministerpräsidentin Golda Meir ihnen vehement das Recht zu solchem Vorgehen und erklärte kategorisch, sie werde ihre Empfehlungen gar nicht erst in Betracht ziehen Der nach dem Scheitern der Gespräche im Dezember 1969 lancierte Rogers-Plan stieß augenblicklich auf Israels strikte Ablehnung. Der zweite Rogers-Plan vom Juni 1970, in dem von einer Einigung gar nicht erst die Rede war, sondern lediglich von einem Waffenstillstand und der Wiederaufnahme der Jarring-Mission, stürzte Israels Regierung dennoch in eine ihrer tiefsten Krisen, die erst beigelegt werden konnte, als der rechte Gahal-Block die Koalition aus Protest gegen die von der Regierungsmehrheit favorisierte, vorsichtig zustimmende Antwort verließ Als die Waffenstillstands-vereinbarung von den Ägyptern verletzt wurde, setzte Israel seine Teilnahme an den Gesprächen jedoch aus. In der Absicht, den toten Punkt zu überwinden, forderte Jarring Ägypten zu einer Erklärung seiner Bereitschaft zur Unterzeichnung einer Friedensvereinbarung mit Israel auf. Als Gegenleistung müsse Israel sich zum Rückzug von der Sinai-Halbinsel verpflichten. Die von Ägypten erklärte Zustimmung hätte den Durchbruch bringen können, wenn Israel nicht kategorisch entgegnet hätte, es „werde sich nicht hinter die Linie von vor dem 5. Juni 1967 zurückziehen' Angesichts dieser negativen Antwort war Jarring machtlos und seine Mission gescheitert.
1971/72 konzentrierten sich die Bemühungen um eine Beilegung des Konfliktes auf den Versuch, eine Interimsvereinbarung über einen teilweisen Rückzug Israels aus dem Sinai und die Wiedereröffnung des Suezkanals durch Ägypten zu erreichen. Dies war ursprünglich Dayans Idee gewesen, doch wie gewöhnlich blieb die Initiative anderen überlassen, weil die israelische Regierung sich nicht auf konkrete Vorschläge einigen konnte. Als Staats-präsident Sadat diesen Gedanken im Februar 1971 aufgriff, prangerte die Regierung Golda Meir seinen Vorschlag als ein Komplott an, Israels Rückzug ohne Friedensvertrag zu erschleichen, behielt sich die weitere Prüfung der Lage indessen vor und ermöglichte damit den Amerikanern, in die Vermittlerrolle zu schlüpfen. Doch die Gespräche scheiterten schließlich an der unnachgiebigen Haltung Israels und der Weigerung, sich weiter als 9 Kilometer hinter die Wasserlinie zurückzuziehen und die symbolische Präsenz ägyptischer Streitkräfte am Ostufer des Suez-Kanals zu akzeptieren. Als Israel einige Jahre später auf Sadats Friedensinitiative hin die in der Vergangenheit von Ägypten unternommenen Schritte erneut prüfte, gab Dayan zu, daß Israels Bedingungen unrealistisch gewesen waren und man es sich selbst zuzuschreiben hätte, daß diese Gelegenheit zu einer Entschärfung der Konflikte ungenutzt verstrichen sei An der jordanischen Front verhielt Israel sich auch nicht flexibler. Als König Hussein im März 1972 einen Plan für die Rückgabe des Westufers und die Schaffung einer jordanisch-palästinensischen Konföderation unterbreitete, die dann einen Friedensvertrag mit Israel abschließen sollte, erteilte Israel ihm eine abschlägige, defensive und wenig eindeutige Antwort Zweifellos war Israels Zurückscheuen vor politischen Risiken und ernsthaften diplomatischen Initiativen, sein Streben nach einer Konsolidierung des territorialen Status quo dafür verantwortlich, daß die gemäßigten arabischen Politiker wie Sadat und möglicherweise auch Hussein schließlich davon überzeugt waren, daß das Dilemma nur mit Gewalt zu lösen sei.
In den Nachwehen des Oktoberkrieges untermauerte Israel seinen Ruf der Unnachgiebigkeit weiter. Erst nach beispiellosen Bemühungen der USA und durch Kissingers hinhaltende Kleine-Schritte-Diplomatie gelang die Sicherstellung des israelisch-ägyptischen Truppenentflechtungsabkommens vom Dezember 1973 und des israelisch-syrischen Truppenentflechtungsabkommens vom April 1974 durch schonungslosen Druck auf Israel Kissinger, der die günstige Gelegenheit nutzen wollte, forderte Israel zur Preisgabe Jerichos als Gegenleistung für ein jordanisch-israelisches Truppenentflechtungsabkommen auf, doch Ministerpräsident Rabin, der Golda Meir im Juni 1974 ablöste, verwarf diese Idee -Rabins Politik, die oft ausschließlich auf Abwarten und Zeitgewinn hinzuzielen schien trug dann im März 1975 auch zum Scheitern der energischen Bemühungen Kissingers um ein ägyptisch-israelisches Interimsabkommen bei. Nach der Androhung durch die Regierung der USA, das besondere Verhältnis zu Israel zu „überdenken“, und weiterem intensiven Druck und Feilschen kam es schließlich doch noch im September 1975 zustande. Die Niederlage der israelischen Arbeitspartei bei den Wahlen im Mai 1977 beendete ihre neunundzwanzigjährige ununterbrochene Vorherrschaft und brachte die von Menachem Begin und seinem harten Kurs geführte Likud-Partei an die Macht. Begin und seine Partei proklamierten die politische Unteilbarkeit des Gebietes zwischen Mittelmeerküste und Jordan und betrieben eine Politik jüdischer Ansiedlung und jüdischer Hegemonie in Judäa und Samaria Begin leitete die neue Phase der israelischen Außenpolitik mit viel propagierten Erklärungen ein, die alle darauf hinausliefen, er werde Rabins Politik der schrittweisen Annäherung nicht akzeptieren. Ohnehin könne die Zukunft des Westufers nicht Verhandlungsgegenstand sein, da es einen integralen Bestandteil der historischen Heimstätte des jüdischen Volkes bilde. Gleichzeitig schickte Begin jedoch geheime Unterhändler zu Staatspräsident Sadat, die den Boden für Sadats historischen Besuch in Jerusalem bereiten halfen In völligem Gegensatz zur Politik seines Vorgängers willigte er ein, Ägypten als Gegenleistung für einen Frieden den gesamten Sinai zurückzugeben und sogar die israelischen Ansiedlungen in diesem Gebiet rückgängig zu machen. Doch als der Friedensprozeß in Gang kam, zeigte sich die israelische Regierung in der Frage der palästinensischen Autonomie und der jüdischen Ansiedlungen auf dem Westufer wiederum von ihrer unnachgiebigen Seite. Besonders strikt lehnte die Regierung den Gedanken der palästinensischen Autonomie für das Westufer und Gaza ab, für die Begin in seinem ursprünglichen Friedensplan selbst eingetreten war und die daraufhin in die Vereinbarungen von Camp David über den israelisch-ägyptischen Friedensvertrag einbezogen wurden. Durch Präsident Carters persönlichen Einsatz in den detaillierten und langwierigen Verhandlungen nach Camp David und den beharrlichen Druck, den er auf Israel ausübte, kam zwar der Friedensvertrag schließlich im März 1979 doch noch zustande, aber wiederum zeichneten der scharfe Ton der israelischen Unterhändler, ihre widersprüchlichen Äußerungen und ihre Hinhaltetaktik — möglicherweise zu Unrecht — das Bild einer starren und unnachgiebigen israelischen Regierung, deren Verdienst dieser Vertrag nicht war.
Unterschiedliche Erklärungsversuche
Die Literatur über den arabisch-israelischen Konflikt bietet für dieses außenpolitische Verhalten eine Reihe von Erklärungen an. Dabei sind verschiedene Auffassungen zu unterscheiden, die sich in mancher Hinsicht gegenseitig ergänzen:
Israel aus der „objektiven" Perspektive seiner internationalen Stellung. Aus dieser Sicht ist Israels Außenpolitik vor allem im globalen internationalen Rahmen zu beurteilen. Als kleiner Staat mit begrenzten Möglichkeiten in einer von mächtigen Staaten beherrschten Welt hat er zwangsläufig auch nur einen eingeengten außenpolitischen Handlungsspielraum Israel aus der „subjektiven" regionalen Perspektive ist ein kleines Land, das, umgeben von Nachbarn, die in unversöhnlicher Feindseligkeit seine Vernichtung betreiben, in seinem Überlebenskampf nicht anders kann, als nur auf deren Initiativen zu reagieren. Von diesem Standpunkt gehen vor allem diejenigen aus, die in Israel die Entscheidungen treffen, daneben aber auch wohlwollende Beobachter. Sie betonen die unausweichlichen Einschränkungen der außenpolitischen Handlungsfreiheit Israels, die sich auch aus der rauhen regionalen Umwelt und dem, wie sie meinen, einzigartigen Charakter des Konflikts ergeben, der einer der beteiligten Parteien schlicht die Existenz streitig macht
Die ideologische Perspektive liegt den meisten arabischen und einigen israelischen Kritikern der äußersten Linken zugrunde. Von diesem Standpunkt aus ist die offizielle zionistische Ideologie des jüdischen Staates die treibende Kraft seiner Außenpolitik und der Hauptgrund für seine diplomatische Kompromißfeindlichkeit. Im Gegensatz zur vorher genannten Auffassung, deren exakte Umkehrung sie darstellt, zeichnet diese Perspektive Israel nicht als das Opfer ungünstiger Umgebungsbedingungen, sondern als einen exklusiv jüdischen, inhärent aggressiven Staat, der jegliche Koexistenz verneint, sich dem Expansionismus verschrieben hat und von diesem zum Endziel jüdischer Souveränität über das gesamte Gebiet der biblischen Heimstätte Eretz Ysrael vorangetrieben wird
Als viertes ist die Eliteauffassung zu nennen. Sie folgt dem gegenwärtigen Trend der Sozial-wissenschaften und konzentriert sich bei der Erklärung des außenpolitischen Verhaltens Israels mehr auf die subjektiven Reaktionen, , die psychologische Umgebung'der politischen Führungselite als auf die . operationelle Umgebung'. Die tragische jüdische Vergangenheit, das Erleben der ständigen Bedrohung der Sicherheit Israels und das Bild der Araber als eines monolithischen und unversöhnlichen gegnerischen Blockes — dies alles habe in seiner Allgegenwärtigkeit die Fähigkeit, Gelegenheiten zu erkennen und Veränderungen und Neuerungen in der Außenpolitik vorzunehmen, ernsthaft herabgesetzt
Eine weitere Perspektive betrachtet das Zustandekommen der Außenpolitik im Kontext organisatorischer und institutioneller Mechanismen und Verfahrensweisen. Das Hauptgewicht liegt hierbei auf dem Einfluß, den die Entscheidungsmaschinerie auf Substanz und Inhalt außenpolitischer Konzepte ausübt Die Anhänger dieser Auffassung neigen dazu, die israelische Außenpolitik als einen hochgradig personalisierten, unsystematischen Prozeß mit vielen Ad-hoc-Handlungen zu betrachten. Vorausschauendes, konsequentes, kohärentes Handeln und die Fähigkeit zu zielstrebiger Initiative erfordern ein gewisses Maß an Planung. Der ausgeprägte Pragmatismus und das Fehlen einer ernsthaften Planungsmaschinerie im israelischen Entscheidungssystem wirken jedoch in die entgegengesetzte Richtung. Diese Eigenart des Systems gilt als allgemein anerkanntes Faktum. Bei einer Befragung hoher Regierungsbeamter und Politiker stellte sich heraus, daß alle Befragten mehr oder weniger darin übereinstimmten, die israelische Außenpolitik sei ihrer Natur nach fast ausschließlich reaktiv, kenne lang-, mittel-und selbst kurzfristige Planung so gut wie überhaupt nicht und sei völlig von ihren jeweiligen „Feuerwehraktionen" in Anspruch genommen
Schließlich gibt es die innenpolitische Perspektive. Sie unterstreicht die Rolle des israelischen politischen Systems — einer parlamentarischen Vielparteiendemokratie mit einer Koalitionsregierung und einer dominierenden Partei — als Determinante der Außenpolitik des Landes. Das Dilemma der israelischen Außenpolitik wird vorwiegend dem Zusammenbruch des nationalen Konsens nach dem Krieg von 1967 und dem Entstehen einer tiefen Kluft zwischen den Parteien in Hinblick auf die von diesem Krieg aufgeworfenen Probleme, insbesondere die Zukunft der besetzten Gebiete, angelastet. Die aufeinanderfolgenden Koalitionsregierungen seien jeglichen brauchbaren Konsenses beraubt und daher gezwungen gewesen, um der inneren Einigkeit willen Entscheidungen zu vermeiden, hätten dadurch jedoch gleichzeitig die Möglichkeit einer flexiblen, weitsichtigen und markanten Außenpolitk eingebüßt
Mit der Reihenfolge dieser Aufzählung ist keineswegs beabsichtigt, die Auffassungen über die israelische Außenpolitik ihrer Bedeutung nach hierarchisch zu gliedern, noch soll unterstellt werden, daß sie miteinander vereinbar wären oder sich gegenseitig ausschließen. Es soll lediglich klargestellt werden, daß trotz erheblicher Gemeinsamkeiten in den Auffassungen auch Meinungsverschiedenheiten bestehen und daher keine einzige dieser Theorien eine erschöpfende Erklärung für die israelische Außenpolitik geben kann. Darüber hinaus mag jede Auffassung für sich je nach den augenblicklichen Gegebenheiten heute mehr, morgen weniger einleuchtend sein. So könnte man beispielsweise argumentieren, die äußeren Zwänge seien vor 1967 wesentlich gravierender gewesen als späterhin, und daher treffe die internationale sowie die regionale Perspektive insbesondere für diese frühe Periode zu. Nach dem Sechs-Tage-Krieg war Israels Aktionsfreiheit aufgrund seiner unbestreitbaren regionalen Vormachtstellung und der relativ großen Geschlossenheit des Subsystems Mittlerer Osten, die die Interventionsmöglichkeiten für die Supermächte beschränkte, erheblich gewachsen Da die israelische Diplomatie gleichzeitig tiefer in die Abhängigkeit innerer Zwänge geriet, gewann der Faktor Innenpolitik bei der Erklärung des außenpolitischen Verhaltens an Bedeutung.
Sämtliche vorgenannten Analysen der israelischen Politik im allgemeinen und der Außenpolitik im besonderen betonen das Primat der Parteien und gehen von diesen als den letzten Grundeinheiten für eine Analyse der israelischen Außenpolitik aus. „Der Anfang aller Weisheit in der israelischen Politik", so bemerkte ein Autor, „liegt in der Anerkennung der Vorrangstellung der politischen Partei-en." Ein anderer sieht in einer Studie zur israelischen Außenpolitik im politischen Parteiensystem des Landes „den Hauptmechanismus der Meinungsbildung und der Artikulierung von Standpunkten, und zwar deshalb, weil Israel eine funktionierende Demokratie ist und dieses in einem außerordentlich klar abgegrenzten Parteiensystem seinen Ausdruck findet“ Wie derselbe Autor in einer späteren Arbeit zu beachten gibt, nahm jedoch die Klarheit, mit der die Parteien außenpolitische Standpunkte artikulierten, in der Periode nach 1967 deutlich ab, da sich innerhalb der Parteien Spaltungen bemerkbar machten Weiterhin gibt der Autor eine umfassende Beschreibung der Veränderungen des israelischen Parteiensystems und erläutert deren Auswirkungen auf die israelische Außenpoli-tik Da sich diese Analyse jedoch zu sehr auf das politische Parteiensystem und die Führungselite konzentriert und die in letzter Konsequenz für die Struktur und das Funktionieren des politischen Systems ausschlaggebende soziale Komponente vernachlässigt, wurden einige wichtige Ursachen des für die israelische Außenpolitik charakteristischen Mangels an Flexibilität übersehen. Diese und ihr Gewicht für die Außenpolitk stehen im Mittelpunkt der nun folgenden Betrachtung, die davon ausgeht, daß für das grundlegende Verständnis der israelischen Außenpolitik weniger die Anerkennung der Vorrangstellung der politischen Parteien als die der komplexen und veränderlichen Wechselwirkungen zwischen dem sozialen und dem politischen System Israels erforderlich ist.
Die Wurzeln des Problems
Dabei sollte zunächst geklärt werden, ob Israel in dieser Hinsicht einzigartig ist oder einem globalen bzw. zumindest westlichen Muster folgt Fest steht, daß die Anfänge der politischen und sozialen Struktur im entstehenden Israel von einzigartigem Charakter waren. Politische Spaltungen entwickeln sich im allgemeinen parallel zu den sich zur Verteidigung ihrer Interessen politisch formierenden gesellschaftlichen Gruppen aus bereits bestehenden sozialen Ausdifferenzierungen In der jüdischen Gemeinschaft in Palästina vor der Erlangung der Unabhängigkeit war das Gegenteil der Fall. Das Land war politisch bereits gespalten, ehe sich überhaupt eine Gesellschaft formieren konnte. Unter anderem bestanden ideologische Differenzen bei Komplexen wie Sozialismus kontra Kapitalismus, Religion kontra Staat und Aktivismus kontra Mäßigung gegenüber den Arabern und den britischen Mandatsbehörden. Diese miteinander im Widerstreit liegenden ideologischen Positionen hatten sich bereits früher, vor allem in der osteuropäischen Diaspora, herausgebildet, waren dann mit den Emigranten nach Palästina gelangt und hatten dort allmählich in der institutionellen Realität ihren Niederschlag gefunden. Diese Institutionen dienten in erster Linie dazu, die von den Agenten politischer Parteien (Shelichim) nach Palästina gebrachten Einwanderer aufzufangen. Als die britischen Mandatsbehörden sich später nur noch der Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung verpflichtet sahen, übernahmen diese politischen Parteien selbst die Versorgung der Neuankömmlinge mit Wohnung, Ausbildung, Gesundheitswesen und paramilitärischem Schutz. Somit wurden die Einwanderer von einer durch und durch politisierten Umgebung absorbiert, bevor noch ein unabhängiger Staat entstanden war
Der Errichtung des Staates im Mai 1948 folgten zwei entgegengesetzte Entwicklungen. Unter der Führung des ersten israelischen Ministerpräsidenten Ben Gurion, einem überaus kompromißlosen Zentralisator, setzten die Behörden des neu entstandenen Staates alles daran, die nicht politischen (jedoch hochgradig politisierten), bisher von den Parteien zur Verfügung gestellten Dienstleistungen weitest-möglich zu verstaatlichen. Nach einem harten Tauziehen, das das Land mitten in seinem Un-abhängigkeitskrieg an den Rand eines Bürgerkrieges brachte, wurde als erstes das Verteidigungswesen vom Staat übernommen. Bald darauf folgten weitere Bereiche wie das Bildungswesen und die Eingliederung der Einwanderer durch die Zentralregierung
Der zweite Trend, der nach der Errichtung des Staates zutage trat, lief auf die Konsolidierung von Verhältnissen unter einem lockeren nationalen Dach hinaus, wie sie sich vor der Erlangung der Unabhängigkeit ergeben hatten. Keiner Partei gelang es, die Mehrheit der 120 Sitze in der Knesset (Parlament) auf sich zu vereinigen. Das politische System war durch extreme Parteienvielfalt mit der Mapai als der dominierenden Partei gekennzeichnet. Koalitionsregierungen wurden unvermeidlich, und um möglichst viel für sich selbst herauszuholen, bildete die Mapaipartei immer wieder Koalitionen, die größer waren, als unbedingt erforderlich -Da die Mapaipartei fest entschlossen war, das Quasi-Monopol der Außen-und Verteidigungspolitik nicht aus der Hand zu geben, mußten die den Koalitionspartnern gewährten Konzessionen in der Innenpolitik gemacht werden. Die Zugeständnisse an die religiösen Parteien betrafen in erster Linie die Rolle der Religion innerhalb des Staatswesens; andere Koalitionspartner erhielten die Kontrolle über eine Reihe ziviler Ministerien. Das Resultat war ein quasi-theokratischer Status quo in einer vorwiegend säkularisierten Gesellschaft. Weiterhin ergab sich auf lange Sicht eine „Beschlagnahme" bestimmter Regierungsämter durch einzelne Parteien, die sie benutzten, um ihre traditionelle Wählerschaft bei der Stange zu halten, und mit ihrer Hilfe diese Wahlpfründe während der massiven Einwanderungsbewegung Anfang der fünfziger Jahre erweiterten.
Der heutige Stand
Derart waren in groben Zügen die gesellschaftlich-politischen Wechselbeziehungen im ersten Jahrzehnt des Bestehens des Staates Israel. Der heutige Stand der Dinge ist indessen ein völlig anderer. Die überwiegende Mehrheit der israelischen Bürger waren nun solche, die als Einwanderer in ein unabhängiges Land gekommen waren, und junge Sabras, die mit dem fanatischen ideologischen Ethos der Gründerväter kaum noch etwas anfangen konnten Ein Ergebnis dieses Prozesses war die Aufspaltung auf Landesebene der Partei-anhängerschaft in zunehmend einflußreiche und anmaßende lokale Zweige, Interessengruppen und andere sekundäre Einflußzentren, die die Vermittlerfunktion zwischen Basis und Parteispitze innehaben. Von dieser Gewichtsverschiebung vom Zentrum zur Peripherie waren alle politischen Parteien, in ganz besonderem Maße jedoch die Arbeiterpartei, betroffen. Nach dem Oktoberkrieg beschleunigte sich dieser Desintegrationsprozeß innerhalb der Partei, vor allem der Regierungsparteien, und erreicht seinen Höhepunkt in der Arbeiterpartei unter der Führung von Itzhak Rabin. Die Parteien waren kaum noch in der Lage, ihre Nebenzentren zu koordinieren, Mittel zuzuweisen und Forderungen und Standpunkte (weder in der Innen-noch in der Außenpolitik) zu formulieren. Gleichzeitig mit und infolge der Parteienschwächung ging es mit der Fähigkeit des gesamten politischen Systems, über die sekundären Einflußzentren hinweg die normalen Spielregeln des Verhandelns und Kompromisseschließens weiter einzuhalten, steil bergab
Die zunehmende Entmachtung der nationalen Parteizentren und das damit einhergehende Unvermögen der Regierung, sich innen-oder außenpolitisch zu artikulieren, wurde zweifellos durch das kaum zu verleugnende Verblassen des Ansehens und Einflusses der nationalen Führungsspitze weiter verstärkt War Ben Gurions Führungsstil einmal der eines Politikers gewesen, der sich in Fragen der Außenpolitik und der Landesverteidigung nicht hineinreden ließ, so erteilte selbst ihm seine Partei schließlich eine Abfuhr und zwang ihn 1963, sein Amt niederzulegen. Sein Nachfolger Levi Eshkol war ein hochbegabter Wirtschaftsmanager, ein populärer Parteiführer und der beste Kabinettsvorsitzende in der Geschichte Israels. Während der politischen Krise am Vorabend des Sechs-Tage-Krieges war er jedoch gezwungen, das Verteidigungsministerium Dayan zu überantworten. Es ist ihm anschließend nie wieder gelungen, seine Autorität zu reetablieren oder die Regierung in jene flexible und gemäßigte Richtung zu lenken, für die er allgemein bekannt war.
Golda Meir, die nach Eshkols Tod im Jahre 1969 von ihrer Partei aus dem Ruhestand zurückgeholt wurde, riß augenblicklich alle verfügbare Macht an sich. Ihre Stellung innerhalb der Partei war ungeheuer stark, und sie führte ihr Kabinett mit unbestrittener Autorität. Ihre höchste Priorität als Parteiführerin galt indessen der Aufrechterhaltung der Einheit der Partei selbst um den Preis des Vermeidens von Entscheidungen. Als Ministerpräsidentin war sie temperamentbedingt eher geneigt, dem Druck von außen standzuhalten als eine definitive langfristige Außenpolitik zu planen. Die Zeit ihrer Ministerpräsidentschaft war in den Worten ihres Außenminister „in erster Linie eine Übung in Krisenmanagement" Ihr stoisches Temperament schlug sich in sehr konkretem Sinne in einer nationalen Haltung nieder, die ihre Amtszeit zu einem der unfruchtbarsten und stagnierendsten Kapitel in den Annalen der israelischen Außenpolitik werden ließ.
Als Itzhak Rabin 1974 die Regierung übernahm, konzentrierten sich auf ihn alle Hoffnungen auf eine Reform und Neubelebung seiner Partei — darauf, daß er den längst überfälligen Wandel in der Außenpolitik seiner Vorgängerin einleiten, neue nationale Zielsetzungen im Einklang mit den veränderten Voraussetzungen nach dem Oktoberkrieg formulieren und aktiv auf ihre Durchsetzung hinwirken würde. Er entpuppte sich jedoch als schwacher und farbloser Regierungschef und Parteiführer, dem die reale Einflußbasis fehlte und der auch nicht in der Lage war, sie sich aufzubauen, als Vorsitzender einer zutiefst entzweiten Partei und Ministerpräsident einer labilen Koalitionsregierung. Angesichts unzähliger, miteinander nicht zu vereinbarender Forderungen und eines unverhüllten FrageZeichens hinter seiner eigenen Stellung zielte seine Strategie in erster Linie auf Zeitgewinn und auf das Vermeiden von Aktionen ab, die die Sicherheit seiner ohnehin wankenden Koalition weiter hätten gefährden können. Ohne allzu große Übertreibung kann man behaupten, daß die vorherige Regierung durch den Mangel an Bereitschaft, Entscheidungen um den Preis möglicher Spaltungen zu riskieren, gekennzeichnet war, die neue Regierung aufgrund der bestehenden Spaltungen in Land, Regierung und Partei jedoch den Stempel der Entscheidungsunfähigkeit trug
Als Rabin nach den Mai-Wahlen von 1977 durch Menachem Begin ersetzt wurde, erwartete man in dieser Hinsicht einschneidende Veränderungen. Denn Begin hatte sich viele Jahre hindurch als unbestrittener Führer seiner Partei erwiesen, manchmal sogar in einer Weise, die den Vorwurf des Personenkults provozierte. Er war ein einfallsreicher und rücksichtsloser Führer im Untergrund gewesen, ein anfeuernder Redner, der die innerparteilichen Vorgänge hervorragend im Griff hatte und der die Versuche von . Jungtürken“ wie Shmuel Tamir, Ezer Weizman und Ariel Sharon, ihn von der Parteispitze zu entfernen, immer wieder zu durchkreuzen vermochte. Daher schien es so gut wie sicher, daß seine Regierung geschlossen und klar handeln würde. Während der ersten beiden Jahre seiner Ministerpräsidentschaft vermittelte Begin in der Tat den Eindruck, als würde er diesen Hoffnungen gerecht werden. Er regierte sein Kabinett eigenmächtig — wozu er nach Meinung der Presse sogar nur eine Hand brauchte—, er reagierte souverän auf die Friedens-iniative von Sadat und zeigte auch Stärke genug, um seinen Finanzminister zu ermächtigen, einen tiefgreifenden Wandel in der Wirtschaft in die Wege zu leiten. Doch in den letzten zwei Jahren seiner Regierungszeit verlor Begin die Herrschaft über sein Kabinett so i deutlich, daß alle Fehlleistungen der Ära Rabin sich wiederholen konnten, manchmal sogar in noch schlimmerer Form. Die Kabinett-sitzungen sind zu einer Bühne für lächerliche Zänkereien geworden, Minister unternehmen 36 eigenmächtige Aktionen und beschimpfen einander in der Öffentlichkeit Wichtige politische Entscheidungen werden entweder endlos aufgeschoben oder ohne hinreichende Vorbereitung gefällt Kurz, ein Zustand, der der Herrschaft des Chaos ähnelt, ist eingetreten.
Einer der überraschendsten Aspekte dieser im übrigen äußerst wechselvollen Geschichte ist die relativ geringe Bewegung im Grundgefüge der großen politischen Lager. Die soziale Basis des politischen Systems hatte sich von einer hauptsächlich osteuropäischen, ideologisierten Gesellschaft zu einem buntgewürfelten heterogenen Gemisch aus Orientalen, Sabres und ideologisch indifferenten Neuankömmlingen aus Osteuropa gewandelt, das von der gemeinsamen Tradition (Judentum), einem gemeinsamen Feind (den Arabern) und dem ihnen allen gemeinsamen Ethos eines extremen Pragmatismus zusammengehalten wurde. Das Parteiensystem dieses brodelnden Schmelztiegels, dessen zahlreiche Ingredienzien seit jeher Parteienvielfalt hervorgebracht hatten, und zwar sowohl vorwiegend kleine als auch ideologisch weit auseinanderklaffende Parteien, war einer großen Zahl von Abspaltungen und Zusammenschlüssen unterworfen Die drei Hauptblöcke jedoch — Mitte-Links, Mitte-Rechts und religiöse Parteien — blieben im wesentlichen bestehen und verstärkten in einigen Fällen sogar noch ihre formelle Geschlossenheit. Bezeichnenderweise endeten auch die beiden wichtigsten Versuche einer Modernisierung der Parteilinie — also vor allem Ben Gurions Bruch mit Mapai 1965 und die vor den Wahlen von 1977 von Igal Yadin initiierte Bildung der Demokratischen Bewegung für die . Veränderung — mit katastrophalen Fehlschlägen. Ben Gurions Partei, die bei den Wahlen von 1965 nur zehn Sitze errang, kehrte schließlich innerhalb der 1968 gebildeten Labour-Gruppierung zu Mapai zurück, während sich die übrig gebliebene obskure Splittergruppe der Bewegung für ein größeres Israel und dem Likud anschloß. Die Demokratische Bewegung für die Veränderung war nach den Wahlen von 1977, nach kaum einem Jahr außerhalb der traditionellen Blöcke, bereits keine einige Partei mehr. „Morphologisch" gesehen hatte sich in der politischen Landschaft ein erheblicher Wechsel vollzogen; in sozusagen „geologischer" Hin-sicht allerdings waren die Formationen im wesentlichen intakt geblieben.
Einer grundlegenden Umgruppierung des Parteiensystems standen vor allem zwei Faktoren entgegen: wohlerworbene Rechte und die Begleiterscheinungen der Herausbildung einer sozio-politisch gespaltenen Grundstruktur. Die meisten großen Parteien besaßen fest etablierte organisatorische Infrastrukturen, eine Reihe von Rechten (und Pflichten) und gewährten ihrer Anhängerschaft Protektion sowie eine Reihe von Dienstleistungen. Die Kräfte der Trägheit und die Wahrung der wohlerworbenen Rechte hielten sie zusammen; und Meinugsverschiedenheiten wurden aus Angst vor materiellen Verlusten und unerwünschten wahlpolitischen Konsequenzen gewöhnlich nicht bis auf die Spitze getrieben. Das Experiment von Rafi diente allen Gruppen innerhalb der großen Parteien, die von der Bildung einer unabhängigen Partei träumten, als Warnung.
Außerdem wirkte die Parteienstruktur mit ihren vielen Kreuz-und Querspaltungen einer Umgliederung des Parteiensystems ohnehin entgegen. Wie bereits erwähnt, waren in den Tagen vor der Staatsgründung drei Hauptachsen zu erkennen: 1. die sozio-ökonomischen Orientierungen nach europäischem Links-Rechts-Schema; 2. die Spannung zwischen religiösen und weltlichen Positionen; 3. Mäßigung kontra Aktivismus in der Außenpolitik. Während der ersten beiden Jahrzehnte ging die Bedeutung der ersten Achse merklich zurück. Dafür entstand nach der . Einsammlung der Exilierten'eine neue, ethnische Kluft zwischen europäischen und orientalischen Juden. Die Aufspaltung in Nichtreligiöse und Religiöse innerhalb der Parteienstruktur spiegelte sich weiterhin ziemlich präzise im Fortbestehen der religiösen Parteien — der Nationalreligiösen Partei (NRP), der Agudath Ysrael und der Poalei Agudath Israel — wider. Auch kamen die Interessen der religiösen Minderheit trotz wiederholter Kontroversen und Krisen nach wie vor durch die im Rahmen des soge-nannten . religiösen Status quo'geschlossenen Kompromisse wirksam zur Geltung Der Einfluß der Kluft zwischen den europäischen und den orientalischen Juden auf das bestehende Parteiensystem blieb minimal aufgrund der erfolgreichen Politik der Einbeziehung einiger orientalischer Notablen in die von den „Europäern" kontrollierten Parteien. Den „Orientalen“ wurde damit das Image potentieller Führungspersönlichkeiten verliehen und, wie es schien, die Möglichkeit eröffnet, sich in unabhängigen ethnischen Parteien erfolgreich zu organisieren
Das außenpolitische Schisma innerhalb der Mapaipartei, wo auf der einen Seite die Aktivisten unter der Führung Ben Gurions und auf der anderen die von Moshe Sharett angeführten Gemäßigten standen, verschwand zusehends, nachdem letztere 1955 das Außenministerium aus der Hand geben mußten. Trotz latenter Meinungsverschiedenheiten entstand in dem Jahrzehnt relativer Sicherheit und Ruhe nach dem Suezkrieg von 1956 ein brauchbarer Konsens hinsichtlich der Ziele und Methoden der israelischen Außenpolitik. Der gleiche Trend in Richtung auf einen Konsens und zur politischen Mitte hin war in dem sich wandelnden außenpolitischen Programm der rechten Opposition der traditionellen Falken zu erkennen. Selbst nach den Waffenstill. Standsvereinbarungen von 1949 hatte Begins Herutpartei noch ihr traditionelles Motto „Is. rael auf beiden Seiten des Jordans" aufrechterhalten und damit die historischen Grenzen des alten Israel beansprucht. Diese Forderung wurde nach dem Zusammenschluß von Herut und den Allgemeinen Zionisten (General Zio. nists), der 1965 zur Bildung des Gahal-Blockes führte, jedoch fallengelassen. In der Wahl-plattform des Gahal-Blockes zu den Wahlen 1965, in der er sich „beharrliches Streben nach Frieden mit den arabischen Völkern" aufs Banner schrieb, ist von den historischen Grenzen von Eretz Israel nicht mehr die Rede Somit kristallisierte sich im zweiten Jahrzehnt der Unabhängigkeit ein nationaler Konsens zugunsten einer pragmatischen Außenpolitik und der Anerkennung der Waffenstillstandslinien von 1949 als den bleibenden Staatsgrenzen heraus.
Die Zukunft der besetzten Gebiete: Unterschiedliche Standpunkte
Dieser Konsens wurde durch den Sechs-Tage-Krieg, in dessen Verlauf Israel die Golanhöhen, den gesamten Sinai und — bezeichnenderweise — das Westufer des Jordans besetzte, mit dem als Teil der historischen Heimstätte starke ideologische und emotionale Assoziationen verbunden sind, zunichte. In dieser neuen Situation kamen die latenten Meinungsverschiedenheiten über die Außenpolitik machtvoller denn je zum Tragen, während gleichzeitig eine hitzige Debatte über die territorialen und demographischen Ansprüche des Zionismus entbrannte. Diese ungewöhnlich scharfe Kontroverse hatte bald alle politischen Kräfte des Landes in ihren Bann gezogen. Im wesentlichen ging es dabei um die Frage, ob die 1967 besetzten Gebiete ganz oder teilweise und für welche Gegenleistungen zurückgegeben werden sollten. Zu dieser komplexen Frage kristallisierten sich sechs Grundantworten heraus: 1. Das „aktivistische" Extrem der Bewegung für ein größeres Israel wird durch die kompromißlosen Falken verkörpert, die die Rückgabe jeglicher Territorien und die Anerkennung der Rechte der Palästinenser selbst im Austausch für Frieden mit den Arabern ablehnen. 2. Ihnen stehen die militanten Falken am nächsten, die zwar zu Kon
Zessionen im Hinlick auf den Sinai und die Golanhöhen bereit sind, jedoch am Jordan als Israels politischer Grenze an der Ostfront festhalten, wodurch ipso facto jegliche Anerkennung von Rechten für die Palästinenser ausgeschlossen wird, es sei denn auf Kosten Jordaniens. 3. Nach ihnen kommen die gemäßigten Falken. Sie vertreten denselben Standpunkt wie die vorher genannte Gruppe, mit dem einzigen Unterschied, daß sie für den Jordan als Israels strategische, nicht politische Grenze eintreten. Dieser Unterschied impliziert die Bereitschaft zu einem funkionell geteilten Status, unter dem die Bevölkerung des Westufers wieder der jordanischen Verwaltung unterstellt wird, während Israel die militärische Aufsicht über das Gebiet behält. 4. Die nächste Gruppe sind die gemäßigten Tauben. Sie sind zu einem weitreichenden territorialen Kompromiß im Hinblick auf das Westufer bereit und möchten die frühere Grenze zu Jordanien nur insoweit verändert sehen, als es die Aufrechterhaltung der Sicherheit des Staates erfordert. 5. Neben ihnen stehen die militanten Tauben, die als Gegenleistung für einen . realen’ Frieden alle Territorien an die Araber zurückgeben und selbst die Errichtung eines palästinensischen Staates in Israels Rücken (möglicherweise innerhalb einer Konföderation mit Jordanien) zulassen würden. 6. Den Abschluß bildet das extreme Lager am anderen Ende der Skala, die kompromißlosen Tauben. Unter ihnen findet man hauptsächlich Mitglieder der kommunistischen Partei, die den unilateralen Rückzug Israels aus allen besetzten Gebieten fordern und für die Schaffung eines unabhängigen Palästinenserstaates unter der Führung der PLO eintreten.
Vier dieser Gruppierungen — vom extremen Pol der Falken bis zur Mitte hin — sind innerhalb des Likud-Blockes vertreten, fünf von ihnen innerhalb der Labour-Opposition. Es gibt also Überschneidungen. Der regierende Likud-Block umfaßt kompromißlose Falken wie Geula Cohen und Moshe Shamir, militante Falken wie Begin selbst, Igal Horowitz, Itzhak Shamir und Moshe Arens, gemäßigte Falken wie Ezer Weizman und Simha Ehrlich, und gemäßigte Tauben wie S. Z. Abramov. Innerhalb der NRP sind militante Falken wie Itzhak Ben Meir und Zebulun Hammer, gemäßigten Falken wie Joseph Burg und gemäßigte Tauben wie David Glass anzutreffen. Zur Labour-MA-PAM-Opposition gehören beispielsweise die militanten Falken Amos Hadar und Shoshana Arbeli-Almuznino, die gemäßigten Falken Gad Yaakobi und Shimon Peres, die gemäßigten Tauben Haim Zadok und Haim Barlev, und die militanten Tauben Abba Eban, Yosi Sarid und Naftali Feder. Sehr bezeichnend für die Lage ist der Ausgang des Versuches der Demokratischen Bewegung für den Wandel, mit ihrer Plattform für soziale und wirtschaftliche Reformen das Zentrum der Wählerschaft um sich zu scharen, ohne zuvor eine eindeutige außenpolitische Stellung zu beziehen. Daraufhin brach die Partei bereits im ersten Jahr nach den Wahlen in Falken und Tauben auseinander. Man kann daher mit vollem Recht behaupten, daß in Israel gegenwärtig keine Regierungskoalition denkbar ist, die nicht mindestens vier der sechs möglichen Positionen in sich vereinigt.
Diese Gruppen sind jedoch außerdem noch mehrmals sozusagen . horizontal'gespalten, und zwar vor allem in religiöse und nichtreligiöse sowie in die Ashkenazim und Sephardim. Infolgedessen dürfte — selbst unter der Voraussetzung, daß eine tiefgreifende Umgruppierung des Parteiensystems technisch durchführbar wäre — das Resultat, gemessen an einer stabilen und damit effektiven Machtkonzentration, gleich Null sein. Selbst wenn die neuen Parteien sich beiderseits der außenpolitischen Trennlinie „Falken-Tauben" formieren würden, wären sie durch die beiden übrigen Spaltungen noch immer hoffnungslos zersplittert. Dies gilt ebenso für den umgekehrten Fall.
Unter diesen Umständen basieren Koalitionsregierungen auf einem sehr vage umrissenen Programm und sind dem Druck wechselnder Kombinationen parlamentarischer und außer-parlamentarischer Kräfte wie zum Beispiel dem des Gush Emunim (Block der Getreuen) ausgesetzt, die sich praktisch von keiner formellen Parteilinie eingrenzen lassen. Dies gilt sowohl für die regierende Koalition als auch für das oppositionelle Lager. Infolgedessen ist sowohl im Hinblick auf die Außenpolitik als auch auf eine Reihe innenpolitischer Themen eine merkwürdige Situation entstanden. Obschon alle Regierungen — mit einer kurzen Ausnahme im Jahr 1974 — über eine hinreichende parlamentarische Mehrheit verfügen, gelingt es ihnen durchweg nur unter größten Schwierigkeiten, für eindeutige außenpolitische Aktionen die Zustimmung ihrer eigenen Mitglieder zu erlangen. Wird eine Position bezogen, die mehr aus dem Lager der Tauben kommt, enthalten sich die Falken in der Regierung, oder sie stimmen ganz und gar dagegen. Auf entsprechende Schwierigkeiten stoßen die Vorhaben der Falken.
Darüber hinaus werden die Anhänger bestimmter Standpunkte (aus dem Lager der Tauben oder auch dem der Falken) gelegentlich durch Äußerungen oder Vorschläge von Politikern, die denselben Standpunkt vertreten, jedoch einer anderen Partei angehören, zu wortreichem Aktivismus veranlaßt, da ihr Einfluß in erheblichem Maße auf ihrer eindeutigen Identifikation mit diesen Ansichten beruht Auf diese Weise üben die extremen Lager des Spektrums oder zumindest die kompromißlosen Falken auf der einen und die militanten Tauben auf der anderen Seite einen Einfluß ganz besonderer Art auf die Mitte aus, das heißt, diejenigen Mitglieder der Knesset, die den Tauben angehören, und andererseits diejenigen, die den Falken zuzurechnen sind, agieren im Grunde als Sprachrohr der „reinen" Extreme, wenn natürlich auch in gemäßigten Versionen. Hinzu kommt folgendes: Das Zentrum des Spektrums besteht aus Pragmatikern, die es, bedingt durch ihren Pragmatismus, verhältnismäßig leicht haben, die Minister auf ihre Seite zu ziehen. In anderen Worten könnte man sagen, daß die Minister, die ja von ihren Parteifreunden und nicht vom Ministerpräsidenten gewählt werden, diese An-sichten dann selber auf die Kabinettsebene tragen. Daher sind Kabinettsdebatten über außenpolitische Themen modifizierte Ausgaben der parlamentarischen und sogar der öffentlichen Debatten über denselben Fragenkomplex. Dies ist der Grund dafür, daß sie häufig so langatmig, polarisiert und unentschlossen geführt werden; der Grund auch dafür, daß es die meisten Ministerpräsidenten vorgezogen haben, Grundsatzentscheidungen entweder allein oder gemeinsam mit einem kleinen, inoffiziellen „Küchenkabinett''zu treffen und schließlich auch der Grund dafür, daß die israelische Außenpolitik seit 1967 derart kurzsichtig, reaktionsträge, arm an Initiative und unflexibel ist.
Schlußbemerkung
Ziel des vorstehenden Beitrages war weder eine Kritik noch eine Verteidigung der Außenpolitik Israels seit 1967. Es handelt sich vielmehr um den Versuch, jene Faktoren ausfindig zu machen und zu erklären, die für die Formulierung dieser Politik entscheidend waren. Hierbei wird die innere politische Struktur — die ihrerseits die sozialen Verhältnisse Israels widerspiegelt — als wichtigster Faktor für die Periode von 1967 bis 1980 ermittelt. Anders ausgedrückt: Die für Israels Außenpolitik Verantwortlichen mögen ihre persönlichen Neigungen, Hoffnungen und Befürchtungen haben, und das System der Entscheidungsfindung in der israelischen Außenpolitik mag unzureichend ausgebildet sein: Was aber letztlich den Gang der israelischen Außenpolitik bestimmt, sind nicht diese Faktoren, sondern ein kompliziertes Ringen zwischen viel gewichtigeren politischen Größen innerhalb Israels. Es ist wohl so, daß die mangelnde Flexibilität Israels gegenüber dem Ausland ein Preis dafür ist, daß im Lande selbst ein freies und demokratisches System aufrechterhalten werden kann. Dies wurde schon sehr deutlich während der Regierungszeit Rabins, schien weniger ins Auge zu springen während der ersten beiden Jahre der Amtszeit Begins, wurde aber als entscheidender Faktor aufs neue während der letzten beiden Jahre seiner Minister-präsidentschaft sichtbar. Wenn wir eine Prophezeiung wagen wollen: Es scheint fast sicher, daß sich insoweit auch nach den Wahlen vom 30. Juni 1981 nichts ändern wird, unabhängig davon, ob Begins Likud-Block oder die Vereinigte Arbeiterpartei von Peres gewinnen wird