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Islamische Renaissance Islamische Revolution Islamische Theokratie Anmerkungen zu den Umwälzungen im Iran | APuZ 51-52/1980 | bpb.de

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APuZ 51-52/1980 Islamische Renaissance Islamische Revolution Islamische Theokratie Anmerkungen zu den Umwälzungen im Iran Artikel 1

Islamische Renaissance Islamische Revolution Islamische Theokratie Anmerkungen zu den Umwälzungen im Iran

Reinhard Kapferer

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Zusammenfassung

Die „Renaissance des Islam" — ein säkulares Phänomen der Anpassung respektive des Widerstandes gegenüber der Kulturüberlagerung durch den Westen — reiht sich gegenwärtig ein in den weltweiten und leidenschaftlichen Kampf um Wiederfindung und Wiedergewinnung der nationalen und kulturellen Identität im Prozeß der inneren und äußeren Dekolonisation. In der „Islamischen Revolution" und der „Islamischen Republik" des Iran trägt sie die Züge des kompromißlosen und rigiden Integralismus, der zwar im Prinzip im religiös-politischen Identitätsdenken des Islam angelegt ist, sich indessen niemals in der historischen Realität hat durchsetzen können. Hier sollte die islamische Theokratie wörtlich genommen und in politische Praxis umgesetzt werden — mit der unvermeidlichen Folge ihrer Denaturierung zur ordinären Mullah-Diktatur. Aus dem Chaos der zwei Jahre islamischer Revolution beginnen sich politische Gestaltungskräfte zu formieren, die das Ende des schiitischen Gottesstaates absehbar werden lassen.

I. Einleitung

Die „Renaissance des Islam" ist nach Sache und Begriff keine Novität der letzten Jahre oder Jahrzehnte. Ihre Proklamation ist mehr als einhundert Jahre alt, nur hat ihre Stimme — gewaltig verstärkt durch Dekolonisation, Olmonopole und geostrategische Weltbedeutung ihrer zentralen Regionen — sich mittlerweile globales Gehör verschafft.

„Renaissance des Islam“ meinte ursprünglich Reformation des Islam im Sinne der Rückkehr zu seinen unverfälschten Quellen und — in den historischen Anfängen wenigstens — gleichzeitig sein „Aggiornamento“, den Versuch der Anpassung an die von der westlichen Zivilisation geprägte moderne Welt. Sie trat auf in den unterschiedlichsten Gewandungen und mit den widersprüchlichsten Strategien: als gemäßigte, religiös-kulturelle Erneuerungsbewegung in der Absicht, die materiellen und geistig-moralischen Errungenschaften des Okzidents als eigentlich islamisches Erbe wiederzuentdecken und so für den Orient akzeptabel und nutzbar zu machen — z. B.der so-genannte islamische . Modernismus'gegen Ende des vorigen Jahrhunderts —, oder als radikale, religiös-politische Anti-und Umkehr-bewegung mit der Absicht, das zersetzende Gift der fremden Kultur-und Zivilisationseinflüsse kompromißlos auszuscheiden aus dem Körper des Dar al-Islam — z. B. die Moslem-bruderschaft des Hassan al-Banna in den dreißiger bis fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts, oder auch gegenwärtig in der Islamischen Republik Iran, wo die „vollständige Beseitigung fremder Einflüsse" sogar zum ausdrücklichen Verfassungsgebot erhoben wurde (Grundsatz 3 Ziff. 5 der Verfassung).

Immer waren die zahlreichen islamischen Renaissancen der Moderne Reaktionsbewegungen auf den übermächtigen Westen. Ihre Botschaft war entweder Anpassungs-oder Widerstandsideologie; ihr letztes Ziel immer die Wiederherstellung SEINER, durch den Einbruch des Westens gefährdeten Lebens-, Glaubens-und Sittenordnung; ihr Programm die Wiederherstellung der Einheit von politisch-religiöser und sozio-kultureller islamischer Totalität; ihre Verheißung die Wiederaufrichtung der auf Offenbarung gegründeten, für das Heil der Welt unerläßlichen islamischen Theokratie und Ausbreitung derselben über den Erdkreis gemäß SEINEM Gebot.

Bis zu den weltpolitischen Verwicklungen, in die der islamische Orient während der vergangenen zwei, drei Jahrzehnte geriet, blieb die Botschaft von dem sich revitalisierenden Islam ungehört im Westen oder erreichte dort allenfalls das Fachinteresse der Orientalisten/Islamisten oder war bizarrer Gegenstand einer auf Exotismen angelegten Trivialliteratur. Um so heftiger war der Schock für eine zumindest über das 01 sensibilisierte westliche Öffentlichkeit angesichts einer sich häufenden Zahl unbegreiflicher, erschreckender und absurd erscheinender Vorgänge unter dem Zeichen des Islam:

— Da vollzieht ein Volk, das persische — das für Jahrzehnte als das fortgeschrittenste auf dem Königsweg der westlichen Zivilisation im Orient galt —, eine Revolution, die es zurückzureißen scheint in die Finsternis barbarischer Zustände. Unter der Führung düsterer Priester-Propheten wird dort gewaltsam ein Lebensstil restauriert, den eine aufgeklärte Menschheit nur als archaisch und unmenschlich begreifen kann: es wird gesteinigt, verstümmelt, es wird Auge um Auge gerichtet, es wird der Ultra-Puritanismus und Rigorismus urtümlicher Stammesverhältnisse zum Staats-und Gesellschaftsprinzip erhoben — im Namen des Islam.

— Da revolutioniert ein junger libyscher Offizier, Musammar al-Kadhafi, sein Land in Richtung einer Art von populistischem Ultra-Kommunismus (demnächst sollen Handel, Geld und menschliche Entfremdung abgeschafft und die spontane Massendemokratie eingeführt werden). Er ruft auf zur Zwangskonversion der arabischen Christen und führt einen kaum verdeckten mörderischen Kleinkrieg an allen terroristischen Fronten in persönlicher heilsgeschichtlicher Mission („Ich bin ein Vorbote des Friedens für die ganze Menschheit!") — im Namen des Islam.

— Da proklamiert ein ultrakonservativer Prinz den . Heiligen Krieg'gegen Israel und dessen Verbündete.

— Da fordert im relativ liberalen Ägypten Sadats die Studentenschaft „die Wiedergewinnung der islamischen Republiken in der Sowjetunion und derjenigen in Andalusien".

— Pakistan baut eine . islamische Atombombe'; in der Türkei sammelt eine protofaschistische Bewegung fanatisierte Massen unter der Fahne des Islam — zunehmend auch in der Bundesrepublik. Der Ayatollah Khomeini ruft auf zum Sturz aller , nicht-islamischen Regierungen'und läßt die islamische Weltrevolution in die Verfassung seiner Islamischen Republik Iran aufnehmen. — Die Beispiele bedrohlicher, gefährlicher oder auch nur bizarrer Schilderhebungen im Namen des Islam zwischen Marokko und Indonesien, zwischen Afghanistan und Sansibar ließen sich mühelos vermehren.

Und nicht genug damit, auch außerhalb des historischen Dar al-Islam sammelt sich aggressive Militanz unter seinem Zeichen oder bedient sich doch seiner Signets: die . Black Muslims'in den USA zuzeiten eine äußerst beunruhigende . Gemeinde Gottes in der Wildnis Amerikas'mit scharfer Wendung gegen die Weiße Zivilisation, oder die zahlreichen Gruppen intellektueller, antiimperialistischer . Fedayin'von eigentlich marxistisch-atheistischer Konfession — auch hier der Islam als Feldzeichen der Militanz, des Widerstandes, der aggressiven Selbstdarstellung und Selbstbehauptung.

II. Renaissance des Islam — ein Teil der »Kulturrevolution in der Dritten Welt

Die unmittelbaren Anlässe, Motive und Absichten der aufgeführten Beispiele sind grundverschieden und oft genug höchst widersprüchlich. Sagt ein Azhar-Sheik islamische Wiedergeburt, dann meint er etwas anderes als die marxistischen Fedayin in Teheran; beschwört Kadhafi die islamische Nation, dann hat er politisch so ziemlich das Gegenteil dessen im Sinn, was der Ayathollah Khomeini darunter versteht; selbst wenn der iranische Staatspräsident Bani Sadr die . Kulturrevolution'proklamiert, dann hat deren Intention kaum etwas zu tun mit dem rabiaten Obskurantismus des Ayatollah Chalchali.

In einer — der wesentlichen — Funktion ist die Proklamation der islamischen Wiedergeburt indessen bei allen identisch: islamische Wiedergeburt nämlich als historischer, soziokultureller und emotionaler Gegenbegriff zum Westen, zur europäisch geprägten Weltzivilisation und deren aggressiven Mitteln, die da heißen Imperialismus, Kolonialismus, Rassismus, Zionismus, Kommunismus oder auch allgemeiner Materialismus, Hedonismus, dekadenter Nihilismus.

Wie immer auch die Etiketts heißen mögen — sie bezeichnen das Erlebnis der gewaltsamen Unterwerfung unter die Diktate des fremden, des seit tausend Jahren als feindlich erlebten Prinzips. Gefühl des Verlustes der Selbstbestimmung, ja der Selbstachtung, Gefühl des Verlustes der eigenen historischen und kulturellen Identität.

In diesem Punkt trifft sich die Proklamation des wiedererstehenden Islam mit einer Vielfalt von universellen Erscheinungen gleicher oder ähnlicher Art: . Nögritude'in Afrika, die Herausbildung prä-kolumbianischer Indio-Identität in Mittel-und Südamerika; ganz allgemein heftiger, aggressiver Anti-Occidentalismus so gut wie überall in der Dritten Welt. Widerstand und Protest, die weit hinausreichen über die Klagen über historische Unterdrückung und aktuelle Ungerechtigkeiten. Be-B lege dafür finden sich auf jeder Weltwirtschaftskonferenz, bei jeder Sitzung der UNO-Vollversammlung — überall, wo die Dritte und Vierte Welt der Ersten rhetorisch-politisch begegnet, um ihr den moralischen Prozeß zu machen.

Den Tenor hat vor einem Menschenalter bereits Aim Csaire in seinem berühmten , Discours sur le Colonialisme'angeschlagen, im Tonfall eher noch der historisch-moralischen Richtigstellung: „Man erzählt mir von Fortschritt, von Leistungen, von geheilten Krankheiten, von weit über das ursprüngliche Niveau gehobenem Lebensstandard. Ich aber spreche von Gesellschaften, die um sich selbst gebracht wurden, von zertretenen Kulturen, von ausgehöhlten Institutionen, von ermordeten Religionen, von vernichteter Kunst... Ich spreche von Millionen Menschen, die man ihren Göttern, ihrer Erde, ihren Sitten, ihrem Leben entriß."

Zehn Jahre später, jetzt schon mit kulturrevolutionärer Militanz, in der Abschlußerklärung einer . Solidaritätskonferenz der drei Kontinente" zu Havanna: „Der Imperialismus versucht das nationale Gewissen der Völker durch seine dekadente Kultur abzustumpfen ..., während er gleichzeitig das kulturelle Erbe der Völker, die er ausbeutet, zerstört... Die Menschheit sagt . genug!" und ist zum Marsch aufgebrochen. Dieser Marsch, der Marsch der Riesen, wird nicht aufhören, bis die wahre Unabhängigkeit erkämpft ist..

Und endlich die heilsgeschichtliche Therapie aus unseren Tagen: „Der Westen ist nichts als eine Gesamtheit von Diktaturen voller Unrecht; die ganze Menschheit muß mit eiserner Energie diese Unruhestifter schlagen, wenn sie ihre Ruhe wiederfinden will. Wenn die islamische Zivilisation den Westen geleitet hätte, wäre man nicht gezwungen, Zeuge dieses wilden Treibens zu sein, das selbst für Raub-tiere unwürdig wäre.“

Es ist kaum nötig anzumerken, daß diese Äußerungen auch einen kompensatorischen Zweck erfüllen. Die Zuweisung aller Übel der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft an den universalen historischen Sündenbock — den . Westen", den . Imperialismus" — entlastet von eigener Verantwortung, erklärt Scheitern, macht Unfähigkeit plausibel. Die Formel: „Der Satan unserer Zeit, der Westen, hat alle unsere

Probleme geschaffen" (Khomeini), gehört längst zur Standardapologetik der Dritten Welt. Dies gilt auch für jeweils mißliche Details. Der Imam zum Thema Massenarbeitslosigkeit im revolutionären Iran: „Schuldig sind die Ungläubigen, ... diese Teufel müssen erschlagen werden"; oder der Chef-Henker der Islamischen Republik Iran, Chalchali: „Die Rauschgiftseuche ist das Ergebnis einer zionistisch-imperialistischen Verschwörung gegen die islamische Jugend des Iran."

Antiwestliche Haltung als aggressives Kernstück einer solidarischen Dritten-Welt-Ideologie, auch als Mittel kompensatorischer Selbst-rechtfertigung — aber doch auch ein drittes: antiwestliche Haltung als Element der Findung oder Wiederfindung der eigenen kulturellen Identität. Heftiger Protest gegen ein Zivilisationsmodell, das den Rest der Menschheit gewaltsam nach seinem Ebenbild zu formen unternahm. Es wurde zum Trauma für den farbigen Teil der Welt: Universal gedacht wird seit zwei Jahrhunderten nach der wissenschaftlichen Methode und der philosophischen Logik des Westens. Geglaubt wird, was die europäische Aufklärung und der Triumphzug der europäischen Naturwissenschaften vom Glauben noch übriggelassen haben. Was für gut und böse, für human und inhuman zu gelten hat, das definiert die jeweilige Moral westlicher Konventionen. Für Recht und Gesittung, für Wirtschaft und Erziehung gelten westliche Maßstäbe — unwiderstehliche Zwangsimporte für eine in die Passivität gezwungene Restmenschheit. Das Schönheitsideal liefert Hollywood, feine Lebensart vermittelt Paris, während Kunst, Literatur, Musik sowieso exklusive Reservate westlichen Geschmacks sind — abgesehen von ein wenig kunstgewerblicher Dritter-Welt-Folklore. Sogar persische Miniaturen, afrikanische Bronzen oder aztekische Skulpturen kommen erst über die Vermittlung von Londoner oder Pariser Galerien und über die Interpretation westlicher Spezialisten zurück ins Bewußtsein ihrer Herkunftsländer, ganz zu schweigen von der Überflutung durch die Erzeugnisse der westlichen Technologie.

Die Alltagserfahrung von mehr als der Hälfte der Menschheit wird geprägt/durchdrungen von einer Maschinen-und Warenwelt, an deren Entstehung sie keinen Anteil hatte. Die psychische Erlebnis-Gefühls-Phantasiewelt wird überwältigt von einer Bilderflut, die keiB nerlei eigene Realität widerspiegelt: Was hat ein ägyptischer Bauer zu schaffen mit einer Hollywoodschnulze der vierziger oder fünfziger Jahre? Aber genau dies ist die normale tägliche Ration des . Kulturhaushaltes'in den Dörfern des Deltas. Da er unfähig ist, den kulturellen Zusammenhang abzuschätzen, aus dem dergleichen entstand, entgeht ihm dessen Rang und tatsächlicher Realitätsgehalt. Was bleibt, sind Bilder, aufreizende Bilder, verführerische oder empörende Bilder. Zumeist beides zugleich: da das Aufreizend-Verführerische — Reichtum/Freiheit/Frauen — unerreichbar bleibt, ist es empörend; doppelt empörend, da es der überkommenden Wert-und Sittenordnung ins Gesicht schlägt.

Die Erbitterung und Wut in den spontanen Revolten islamischer Unterschichten geben einen Begriff von den psychischen Verwüstungen westlicher Kulturüberlagerung. „Die Bourgeoisie reißt auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation ..., sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde", hieß es einst prophetisch im Kommunistischen Manifest. Heute, wo sich der Vorgang tausendfach potenziert hat, protestiert diese Welt, reagiert mit wildem Irrationalismus, zieht sich mit Getöse in ihr eigenes Mittelalter zurück und fordert die Bannerträger des Fortschritts mit Verhöhnungen und Demütigungen heraus, wie zuletzt üblich zu Zeiten der Tartaren-Khane.

„Seit tausend Jahren hat der Orient kein Buch geschrieben, keine Erfindung gemacht, ja nicht einmal einen originellen Gedanken gehegt, die vor der Überfülle des Westens bestehen könnten", schrieb vor einem halben Jahrhundert der ägyptische Gelehrte Salama Musa. „... wie ist es da möglich, die Selbstachtung zu bewahren?" Gegenwärtig erscheint dies nur möglich in einer radikalen und aggressiven Ablehnung des Westens, der durch die Wucht seiner unwiderstehlichen Weltzivilisation die Selbstachtung der restlichen Menschheit gedemütigt und beschädigt hat. Antiwestliche Haltung als Mittel zur Wieder-findung der Identität.

Negation allein schafft neues Aber kein Selbstverständnis; also bedarf es der positiven Gegenbilder. Drei Wege sind denkbar: 1. Rückkehr zur eigenen geistig-historischen Tradition, wie sie vor dem Einbruch des Westens bestand; Adoption westlicher Kultur-elemente durch den ideologisch geführten Nachweis, daß diese eigentlich eigenes Erbe sind; 3.der Anspruch, die ganz neue Menschheits-Zukunftszivilisation zu schaffen. Alle drei Möglichkeiten wurden und werden exerziert in der nachkolonialen Dritten Welt; gewöhnlich in einer bunten Mischung der Motive und unbekümmert ob ihrer logischen Stimmigkeit.

Überall im Prozeß der Dekolonisation und danach wurde die vorkoloniale Identität reaktiviert oder doch das, was man dafür hielt. Das reicht vom Rückzug in den religiösen Integralismus bis zu harmlosen Retuschen an der Oberfläche vermittels alter Kostüme und folkloristischer Traditionen. Frantz Fanon, einer der ersten politischen Theoretiker der Dekolonisation, hat es schon vor zwanzig Jahren so beschrieben: „Diese leidenschaftliche Suche nach einer nationalen Kultur vor der kolonialen Ära ist durch das Bestreben der kolonisierten Intellektuellen legitimiert, gegenüber der westlichen Kultur, in der sie zu versinken drohen, Abstand zu gewinnen. Weil sie sich bewußt werden, daß sie im Begriff sind, sich zu verlieren, machen sich diese Menschen verbissen und besessen daran, wieder Kontakt zu finden zur ältesten, extrem vorkolonialen Quelle ihres Volkes. Vielleicht, daß diese Leidenschaft und diese Besessenheit von der geheimen Hoffnung genährt und geleitet werden, jenseits der gegenwärtigen Misere, dieser Selbstverachtung, dieser Abdankung und Selbstverleugnung, eine schöne und leuchtende Ära zu finden, die uns sowohl vor uns selbst als auch vor den anderen rehabilitiert." 2) Rehabilitation durch Rückkehr zur Herkunft — „einen Akt der Wiedergeburt" nannte der Staatsmann und Dichter Leopold Sedhar Senghör diesen Vorgang.

Die zweite Möglichkeit, die Adoption westlicher Kultur-und Zivilisationsmomente, ist ebenso üblich, aber weit älter als der Rückzug in die Vergangenheit: Niemand kann auf die moderne Technologie, niemand will auf die modernen ideologischen Zauberformeln wie . Nation’, . Demokratie’, . Sozialismus’ und dergleichen verzichten, niemand auf Entwicklung, Fortschritt, Wachstum. Dies alles aber sind in ihrem modernen Sinn historische Hervorbringungen der westlichen Zivilisation. Die Aneignung wird ermöglicht durch einen klassischen Kunstgriff. Die ideellen und materiellen Unverzichtbarkeiten westlicher Herkunft werden zu Produkten des nur zweitweise verschütteten eigenen Kulturerbes erklärt. Islamische Historiker bemühen sich seit vielen Jahrzehnten um den Nachweis, daß die abendländische Renaissance, also die Geburt des modernen Europa, nur über die Befruchtung durch den Islam zustande kam. Die positiven Ergebnisse dieses modernen Europa — Wissenschaft und Technik — erweisen sich danach als eigentlich islamisches Legat, das nur wieder in rechtmäßigen Besitz zu nehmen ist — was zu beweisen war.

Einer der bedeutendsten islamischen Modernisten gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts, Al-Afghani, lehrte, daß es nachgerade einer Perversion von Christentum und Islam bedeute, daß ersteres fortschrittlich und letzterer rückständig geworden sei, da doch das Christentum die Weltflucht, der Islam aber die Meisterung der Welt predige: „Wer immer die beiden Religionen vergleicht, fragt sich mit Erstaunen, wieso die Krupp-Kanone, das Maschinengewehr und andere Waffen von den Christen und nicht den Moslems erfunden worden sind.. schrieb der Sheik anno 1894 Zahllos sind die Beweisführungen islamischer Apologeten, daß die Gemeinde Gottes schon immer eine Demokratie, daß Sozialismus ein koranisches Gebot und Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit die politische Devise des Propheten gewesen seien. Anfang der sechziger Jahre bewies der ägyptische Staats-präsident Nasser sogar, daß die erste islamische Gemeinde nichts geringeres als einen veritablen Arbeiter-und Bauernstaat'verkörpert habe — 1200 Jahre vor Karl Marx!

Wie tief das eingedrungen ist in das heutige muslimische Bewußtsein, wie stark das vermittelt wird in der islamischen Erziehung, zeigt die selbstgewisse Antwort einer 15jährigen Teheraner Schülerin auf die Frage, was sie von der Fortschrittlichkeit des Westens halte: „Die Geschichte der Entwicklung und des Fortschritts des Westens ist eigentlich unsere islamische Entwicklungsgeschichte, die sie uns gestohlen haben und auf ihren Namen deklarierten ... Zum Beispiel ist der Vater der Chemiewissenschaft, Hayan, ein Schüler einer unserer Heiligen gewesen." — Aneignung unverzichtbarer Kultur-/Zivilisationsgüter über deren apologetische Adoption in die eigene Tradition! Oder gar in das eigene kulturelle Erbgut: Im afrikanischen Bemühen um kulturelle Rehabilitation, das es schwerer hat als das islamische, mit historischen Beweisen aufzuwarten, wird einfach der afrikanische Mensch für naturwüchsig, demokratisch und sozialistisch erklärt und ist mithin dem Europäer, der sich Sozialismus und Demokratie unendlich mühsam theoretisch aneignen mußte, wenigstens human überlegen.

Kwame NKrumah, der Präsident des ersten in die Unabhängigkeit entlassenen afrikanischen Staates, Ghana, entwarf in den frühen sechziger Jahren seine eigene . afrikanische Philosophie', den Consciensismus, die aufbaute auf dieser . sozialistischen Natur'des afrikanischen Menschen: „Die traditionelle Anschauung Afrikas schließt eine Haltung gegenüber dem Menschen ein, die in ihren gesellschaftlichen Manifestationen nur als sozialistisch beschrieben werden kann. Dies resultiert aus der Tatsache, daß der Mensch in Afrika primär als ein geistiges Wesen angesehen wird, als ein Wesen, das vom Ursprung her innere Würde, Integrität und Wert besitzt. Solche Auffassung steht im erfreulichen Gegensatz zur christlichen Auffassung der Erbsünde und Verderbtheit der Menschen." — Ein klassisches Beispiel für die Anverwandlung einer historischen Kulturerrungenschaft des Westens — hier des Sozialismus — über die Reklamation derselben für die eigene Art. Was der Westen nach einem Meer von Blut und Tränen mühsam theoretisch entwickelte, ist entweder eigenes historisches Erbe — Nassers mohammedanischer Arbeiter-und Bauernstaat — oder es ist sowieso angelegt in der eigenen Art — N'Krumahs naturwüchsig afrikanischer Sozialismus. In den sechziger/siebziger Jahren hatte ein afrikanischer Gelehrter unter schwarzen Intellektuellen großen Erfolg mit seiner These, in Wirklichkeit stünden die Neger am Anfang moderner Kulturentwicklung. Denn Untersuchungen der Kopfform und der Gesichtszüge der Pharaonen hätten bewiesen, daß diese Neger gewesen seien; von Ägypten sei die Zivilisation auf die Griechen gekommen — und so weiter. In der arabisch-islamischen historischen Literatur erfreuen sich seit langem Abhandlungen größter Beliebtheit, die bewei-sen, daß der erste Flugapparat im 9. Jahrundert in Bagdad konstruiert wurde, daß Amerika von arabischen Seefahrern entdeckt wurde usw. Dazu Imam Khomeini: „Unglück über uns Mohammedaner, weil wir so vom Westen eingeschüchtert sind, daß wir unser eigenes Wissen für so leichtgewichtig halten, welches den Menschen im Westen erst in tausend Jahren zugänglich sein wird."

Die letzte Variante in der ideologischen Konstruktion eines positiven zivilisatorischen Gegenbildes zum Westen, der Anspruch, eine ganz neue Menschheitszivilisation aus dem Geist der Dekolonisation und antiimperialistischen Revolution zu schaffen, ist in der Regel versetzt mit marxistischen oder ähnlichen Motiven. Der Westen, das ist die bürgerliche Welt; Ausbeutung, Unterdrückung, Kultureinebnung — das ist der Kapitalismus. Ihre Über-windung, Beseitigung, dialektische Aufhebung ist Menschheitsinteresse und historische Notwendigkeit, wie seit Marx bewiesen. Da aber der Westen selbst sich aus dem Kapitalismus nicht zu emanzipieren vermag — etwa weil seine Proletariermassen selber am Ausbeutersystem gegenüber der Dritten Welt interessiert sind —, muß die befreiende Tat von der Dritten Welt kommen. Die Revolution der Dritten Welt als erlösende Menschheitsrevolution! Dies ist eine Vorstellung, die sich schon sehr früh in den außereuropäischen marxistischen Parteien findet, z. B. besonders eindringlich in der chinesischen kommunistischen Partei. Eine ganze Weile hat diese , Das-Heil-kommt-aus-der-Dritten Welt -Ideologie auch unter europäischen Intellektuellen ihre Enthusiasten gefunden, besonders im Anschluß an Herbert Marcuse, der gegen Ende der sechziger Jahre in den Befreiungskämpfen der Dritten Welt bereits den nachbürgerlichen, sozialistischen Menschen im Entstehen begriffen sah. Anno 1968 schrieb Rudi Dutschke seinen denkwürdigen Traktat über die „Widersprüche des Spätkapitalismus", wo eine rebellische Studentengeneration sich als historisches Subjekt über Ch Guevara und den Neuen Menschen auf Kuba vermittelt wußte.

III. Din wa Daula — Theorie und historische Realität der islamischen Theokratie

Der Islam beansprucht, die vollkommene Lebensordnung zu sein; seine Gebote seien die endgültige und erschöpfende Anleitung zu ihrer Erfüllung. Islam ist nicht nur Glaube, Gottesverehrung, Kultus und allgemeine sittliche Norm, sondern allumfassende Lebensordnung. Staat und Gesellschaft, private Lebensführung und politisches Bekenntnis — alles ist Islam und steht unter SEINEM direkten Gebot, offenbart in den ewig gültigen, umfassenden, keiner Änderung zugänglichen oder bedürftigen Regeln des Koran und der Sunna seines Propheten. Der Islam ist Gesetzesreligion. Der Imam der Islamischen Republik Iran, Ayatollah Khomeini: „Der Islam hat für alles, was den Menschen und die Gesellschaft betrifft, Lehren. Diese kommen vom Allmächtigen und sind den Menschen durch seinen Propheten und Boten überliefert, die alle Aspekte des Lebens abdecken, von der Empfängnis bis zur Bestattung. Es gibt nichts, worüber der Islam nicht sein Urteil gefällt hat."

Der Islam ist Theokratie — direkte und im Prinzip unvermittelte Gottesherrschaft. Gott regiert die Gemeinde durch sein Wort, das nicht gleichnishafte Ethik ist, sondern unmittelbar geltendes Recht. Er lenkt sie — im Prinzip — ohne die Mittlerschaft besonders geheiligter oder geweihter Instanzen; der Islam kennt keine Priesterschaft/Kirche. Die Ulama, die islamische Geistlichkeit, ist nicht Heilsvermittlerin, sondern Stand der Schriftgelehrten, der Gesetzesausleger.

Die irdische Gemeinschaft der Gläubigen, der islamische Staat, bezieht seine Legitimation ausschließlich aus dem Anspruch, Ort der Verwirklichung der von Gott durch seinen letzten Propheten Mohammed geoffenbarten Gebote zu sein. Glaube und Staat bedingen einander — ohne den Glauben hat der islamische Staat keinen Daseinszweck, ohne die staatliche Organisation kann die Gemeinde ihre Glaubens-verpflichtungen — Verwirklichung SEINER Ordnung und Ausbreitung des Glaubens (. Djihad) — nicht erfüllen. Die Trennung von Glaube und Staat ist undenkbar; der laizistiB sehe Staat ist mit Notwendigkeit ein anti-islamischer Staat, . Satanswerk': „Die Errichtung einer weltlichen politischen Ordnung heißt, den Fortschritt der islamischen Ordnung zu verhindern. Jede weltliche Macht, in welcher Form sie sich auch zeigt, ist unvermeidlich eine atheistische Macht, ist Satanswerk; es ist unsere Pflicht, ihr Einhalt zu gebieten ... Es ist nicht nur unsere Pflicht im Iran, sondern auch die Pflicht aller Mohammedaner auf Erden, in allen mohammedanischen Ländern die politische islamische Revolution zum Endsieg zu führen."

Politische Herrschaft im islamischen Staat ist irdische Garantie des fortschreitenden Heilsgeschehens, ist Hilfsorgan seiner theokratischen Identität. Ihre Legitimation besteht darin, dem göttlichen Gesetz weltlichen Nachdruck zu verleihen, über den Bestand der Gemeinde zu wachen und die Glaubensausbreitung zu betreiben. Weicht sie ab von diesem, ihrem einzigen Daseinszweck, so ist sie illegitim: „Die islamische Regierung ist den Gesetzen des Islam unterworfen, die weder vom Volk noch von seinen Vertretern kommen, sondern direkt von Gott und seinem göttlichen Willen... Im Islam bedeutet Regieren einzig und allein, die Gesetze des Koran, das heißt die göttlichen Gesetze, wirksam werden zu lassen... Der Glaube und das islamische Recht fordern... die Regierungen, die sich nicht völlig nach dem islamischen Gesetz richten .... nicht überleben zu lassen."

Aufsicht über die fromme Konformität übt die Ulama, der Gelehrtenstand der Gemeinde. Stellen ihre anerkannten Autoritäten eine Abweichung vom . rechten Weg'fest, dann ist die Gemeinde in Sünde gefallen und ihre Regierung illegitim. Sie sind die berufenen Hüter und Wächter der islamischen Theokratie. Der islamische Staat „erfordert zwingend eine sorgfältige und bedächtige Überwachung durch gerechte, fromme und verantwortungsbewußte islamische Rechtsgelehrte"

Zwar ist die göttliche Ordnung allumfassend und prinzipiell der Ergänzung unbedürftig, doch erstehen aus dem Wandel der Zeiten neue Ordnungs-, Definitions-und Auslegungsbedürfnisse. Ihnen auf der Basis der Offenbarung gerecht zu werden, ist vorrangig das Amt der Ulama. Die Dynamik der islamischen Gesellschaft ist gewährleistet durch „ständige Neugewinnung der islamischen Vorschriften durch anerkannte islamische Rechts-gelehrte auf der Grundlage des Koran und der Tradition der Reinen"

Din wa Daula — Glaube und Staat, so lautet in knappen Umrissen die klassische politische Theorie des islamischen Gottesstaates und ihres Interpreten, des Ayatollah Khomeini. In der historischen Wirklichkeit blieb sie freilich immer kaum mehr als eine fromme Fiktion. Vielleicht mit Ausnahme der legendären Frühzeit, als die politische Gemeinschaft im großen und ganzen noch zusammenfiel mit der religiösen Gemeinde und die politischen Führer sich vornehmlich dem religiösen Auftrag verpflichtet wußten, gab es nie einen islamischen Staat, eine islamische Gesellschaft, die der Theorie tatsächlich entsprochen hätte. Erstmals in der Islamischen Republik Iran ist die Theokratie zum konstitutionellen politischen Gestaltungsprinzip eines Staates, die klassische Theorie zum kodifizierten Staats-grundgesetz erhoben worden.

Die islamische Theokratie in der Geschichte — eine fromme Fiktion „Man behauptet oft, Religion und Politik müßten getrennt werden... Man sagt, die hohen mohammedanischen Autoritäten dürfen sich nicht in die sozialen undpolitischen Entscheidungen der Regierungen einmischen ... War die Politik zur Zeit des Propheten von der Religion getrennt? Cab es damals einen Unterschied zwischen den Frommen und den Staatsdienern? War die religiöse und die weltliche Macht zur Zeit der Kalifen getrennt? Das sind von den Imperialisten erfundene Verirrungen." (Khomeini)

Wenn es überhaupt erlaubt ist, ein geistiges Prinzip an den Versuchen zu seiner Realisierung, an seinen historischen Gestaltungen also, zu messen, dann fällt das Urteil über die islamische Theokratie in der Geschichte ziemlich eindeutig aus. Der innere Zerfall des Dar al-Islam in eine Vielzahl sich widerstreitender politischer Einheiten bereits nach der Ermordung des dritten Kalifen Othman (656 n. Ch.), sodann die Errichtung einer sehr viel mehr po-litisch denn religiös orientierten Herrscherdynastie durch die Omayaden und schließlich das Auseinanderbrechen der islamischen Welt in miteinander rivalisierenden Kalifate bereiteten der politisch-religiösen Identitätstheorie ein frühes Ende. Mit dem Fall von Bagdad im Jahre 1258 und damit dem Ende des abhasidischen Kalifates war der letzte Anschein allgemeinverbindlicher islamischer Loyalität erloschen. Die regionalen Machthaber, die schon lange vor dieser letzten Katastrophe die Herrschaft in ihren Gebieten unter der Scheinautorität des Kalifen ausgeübt hatten, traten nun offen als De-facto-Herrscher auf, die ihre Legitimität auf den Machtbesitz und nichts weiter sonst begründeten.

Islamische Herrschaft — zumeist absolute Autokratie — unterschied sich, vom frommen Anspruch abgesehen, in nichts von nicht-islamischer Herrschaft gleicher oder ähnlicher sozio-politischer Prägung. Sie war immer „weltliche" Herrschaft in Machterwerb und Machterhaltung, sie verfolgte immer primär politische Ziele, dekretierte nach durchaus unfrommen Gesichtspunkten ihre Gesetze und Befehle; sie hielt freilich immer auf die Fiktion frommer Konformität — allerdings auch dies nur in den äußersten Umrissen. Je weiter die Diskrepanz zwischen religiösem Postulat und politischer Realität auseinander-klaffte, desto mehr wich selbst die orthodoxe Lehre der „normativen Kraft des Faktischen". Die . weltliche Herrschaft islamischer Emire, Fürsten, Sultane und Könige erhielt schließlich die . geistliche'Sanktion aus Gründen der von ihr ausgeübten Ordnungsfunktion. Nicht weil die Herrschaft sich in Übereinstimmung mit dem göttlichen Gebot befand, wurde sie von der Ulama der Verfallszeit sanktioniert, sondern weil die Alternative zu ihr die Anarchie bedeutet haben würde. Rechtfertigungen wie „Sechzig Jahre der Tyrannei sind besser als eine Stunde des Bürgerkrieges" kennzeichnen den Geist praktischer Notwendigkeit jenseits aller religiösen oder theologischen Setzungen. „Herrschaft ist in diesen Tagen ausschließlich die Folge militärischer Macht, und wer auch immer derjenige sein mag, dem der Inhaber militärischer Macht huldigt, der ist Kalif”, schrieb gegen Ende des 11. Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung der große Theologe al-Ghazali.

Dennoch ließ der Bedeutungswandel von Herrschaft in der politischen Theorie das volkstümliche muslimische Verständnis vom Sinn und Zweck politischer Gewalt vergleich-weise unberührt. Nach wie vor galt der Herrscher als Hüter der Sharia und als Verteidiger und Mehrer des Dar al-Islam. Die Anerkennung realer Machtverhätnisse durch deren fiktive Unterstellung unter das Ideal der Offenbarung rettete wenigstens äußerlich die politische Einheit des Islam. Trotz der Aufsplitterung in politisch miteinander rivalisierende Machträume verkörperte die „Umma’ zu allen Zeiten eine zumindest geistig nach außen scharf abgegrenzte Einheit für die Muslime. Theoretisch blieb der islamische Fürst den Beschränkungen durch das kanonische Recht unterworfen; als Hüter der Sharia hatte er im unwandelbaren und prinzipiell auch nicht ergänzungsbedürftigen göttlichen Gebot die Grenzen seiner Macht zu respektieren, was ihn, beim universalen Charakter der kanonischen Rechtsordnung, grundsätzlich von der Gesetzgebung ausschloß — theoretisch, denn die Ulama, berufener Pfleger und Bewahrer der theokratischen Ordnung, trat als politische Opposition dem Autokraten in aller Regel erst dann entgegen, wenn dieser bereits durch stärkere politische Kräfte gestürzt oder im Fallen begriffen war.

Selbst im Osmanenreich, wo die Ulama dank ihrer Integration in die Staatsverwaltung und dank des besonderen Glaubenseifers der Sultane als Korporation eine Stellung einnahm, die den annähernden Vergleich mit dem christlich-mittelalterlichen Klerus zuläßt, blieb sie immer von der Gnade des Autokraten abhängig. Ihr Anteil an den inneren Machtkämpfen und den zahlreichen Palastrevolutionen der Spätzeit war bedingt durch den Machtverfall an der Spitze der Dynastie; und wann immer ein erfolgreicher Herrscher die Szene betrat, beeilte sie sich, zu devoter Loyalität zurückzukehren Politischer Quietismus wurde vor diesem Hintergrund zur Tugend, wenn nicht zur Überlebensnotwendigkeit. Die Ulama, seit unvordenklichen Zeiten gewöhnt an die undisputierbare herrscherliche Autorität, fügte sich den Wechselfällen der Politik selbst dann, als diese die Herrschaft der . Ungläubigen'über die Länder des Islam brachten. Solange auch nur ein vager Schein islamischer Legitimität die politische Herrschaft umgab, wurde sie von der Ulama nicht in Frage gestellt. So wurde beispielsweise die englische Kolonialherrschaft über Ägypten unter der Schein-Souveränität des türkischen Sultan-Kalifen von dieser Seite nie ernstlich angegriffen. Die britische Kolonialverwaltung wußte den Apolitismus der islamischen Autoritäten so hoch einzuschätzen, daß sie ausdrücklich Sorge trug, das Ansehen der Ulama unter allen Umständen zu wahren. Selbst als der Kalif in Konstantinopel im Jahre 1914 zum . Heiligen Krieg'gegen die Alliierten aufrief, gab es im englisch besetzten Ägypten nicht den geringsten Respons aus den Reihen der Ulama.

Die islamische . Gesetzesreligion’ in der Geschichte — eine fromme Fiktion „Im Islam (ist) die einzige maßgebende Autorität der Allmächtige und sein göttlicher Wille. Die Legislative ist ausschließlich dem Heiligen Propheten des Islam vorbehalten, undniemand außer ihm kann ein Gesetz beschließen; jedes Gesetz, das nicht auf ihn zurückgeht, muß abgelehnt werden." (Khomeini)

Schon zu Lebzeiten des Propheten hatte es sich gezeigt, daß die äußerst vagen Normen der Offenbarung, soweit sie sozialen Bezug haben, für den praktischen Bedarf der Gemeinde unzureichend waren. Dies blieb so lange unproblematisch, wie der von Gott Gesandte durch autoritative Fallentscheidungen die Konflikte lösen konnte. Diese authentischen Entscheidungen des Propheten (Sunna) traten als erste ergänzende Rechtsquelle neben den Koran. In den ersten Jahrhunderten nach dem Tode Mohammeds entstand durch die sich weiter differenzierenden Bedürfnisse der expandierenden Gemeinde ein kompliziertes Rechtssystem, als dessen wichtigstes Element der Fortentwicklung neben die göttliche Offenbarung und die Sunna des Propheten der Consensus Doctorum (Idjma) trat. Legitimiert durch ein Wort Mohammeds, wonach die Gemeinde in der Auslegung der Religion nicht irren könne, war es seit dem zweiten Jahrhundert nach der Hidschra üblich geworden, neu auftretende, in den heiligen Quellen nicht entschiedene Tatbestände durch die Sanktion der gelehrten Autoritäten in den sakralisierten Gesetzesbestand zu übernehmen. Eine gewisse Rolle spielte daneben die Erlaubnis der individuellen freien Forschung und Meinungsbildung aus und nach den heiligen Quellen (Ihtihad).

Idjma und Ihtihad, die beiden potentiell dynamischen Faktoren innerhalb des theokratischen Legalismus, behielten indessen nur für eine historisch begrenzte Zeit ihre Wirksamkeit als Medien der Anpassung an die gesellschaftliche Fortentwicklung. Dem vorgegebenen theokratischen Gesetzescharakter der zugrunde liegenden heiligen Quellen entsprechend, wurde auch die sekundäre Rechts-quelle des Idjma quasi sakralisiert. Der Consensus Doctorum erhielt in der Praxis den gleichen, für alle Zeiten rechtsverbindlichen Rang wie Koran und Sunna selbst. Der Idjma wurde damit, je weiter ins Detail seine Anwendung sich erstreckte, zum Haupthindernis für eine freie und zweckmäßige Beurteilung neuer Sachverhalte. Die Übernahme zahlloser Fallentscheidungen in den Bestand der unwandelbaren und geheiligten Ordnung versteinerte das soziale Leben der Gemeinde auf einen bestimmten historischen Zustand, in dem es nach Meinung der Autoritäten keine ungelöste Frage mehr gab. Dieser nach geistlich-juristischer Ansicht ideale Zustand trat um die Wende zum 10. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung ein. Alle künftigen Zeitalter hatten sich an diesem Ideal zu orientieren, alle denkbaren Probleme waren vorweg gelöst, die fernere Geschichte mochte sich wiederholen, wahrhaft fortschreiten konnte sie nicht. Das andere Bewegungselement, der Ihtihad, die freie Forschung in den Quellen, gilt seit jener Zeit der Orthodoxie für überflüssig und eigentlich illegitim. , Die Tore des Ihtihad sind seitdem geschlossen.

Der starre Anspruch auf endzeitliche Perfektion blieb in der Praxis jedoch wenig mehr als eine fromme Fiktion. Alle islamischen Herrscher — insbesondere die erfolgreichsten unter ihnen, die Osmanen — konnten nicht umhin, der sozialen Dynamik ihrer Zeit durch eine mehr oder weniger kaschierte . säkulare'Gesetzgebung Rechnung zu tragen. Die Fiktion wurde dadurch gewahrt, daß die zum Teil außerordentlich umfangreiche und systematische Legislation als Auslegung und Ergänzung der Sharia deklariert und von den geistlichen Autoritäten sanktioniert wurde. Unter dem Zwang der politischen Notwendigkeit verstand sich die Ulama aller islamischen Gesellschaften zur Sanktion herrscherlicher Gesetzgebung, wenn diese nur in den äußersten Grenzen vereinbar blieb — und sei es auch nur formal — mit den Grundsätzen der Sharia. Zieht man die schier grenzenlose Großzügigkeit in Betracht, mit der die Doktoren des kanonischen Rechts auch dem allerbedenklichsten Herrschaftsgebaren Sharia-Konformität bescheinigten, so wird deutlich, daß nicht die Islam-Gemäßheit ihrer Gesetzgebung den Ausschlag gab für die religiöse Sanktion, sondern daß das herrscherliche Bekenntnis zur Sharia vollauf genügte. Die theokratische Legitimität einer islamischen Gemeinde bemaß sich in Wirklichkeit nicht nach der Sharia-Konformität ihrer realen Existenz, sondern nach dem Frömmigkeitsbekenntnis ihrer Herrscher.

IV. Die «Islamische Revolution, die Mullah-Diktatur und der kodifizierte Gottesstaat

„Das grundlegend Neue dieser Revolution... (ist die) ... Führerschaft der kämpfenden Geistlichkeit..."

(Präambel zur Verfassung der Islamischen Republik Iran)

Der Umsturz im Iran war gewiß nicht nur das Werk der Mullahs und des islamischen Fanatismus, wie es dem bestürzten Westen erscheinen mochte. Die Revolution war der Aufstand einer breiten Volksallianz gegen die ebenso gewalttätige wie letztlich sozial uneffektive Despotie des Reza Pahlewi. In diesem Aufstand traf sich die Verzweiflung eines städtischen Lumpenproletariats mit der Misere einer gescheiterten Landreform, mit der Enttäuschung eines vom großen Geschäft ausgeschlossenen Bazar-Händlertums, mit der Empörung einer am westlichen und östlichen Ideologien geschulten jungen Intelligenz — Aufstand gegen die schmale Schicht von einheimischen Nutznießern und Aufstand gegen den Schöpfer, Erhalter, Herren und universalen fremden Profiteur des Regimes, die Vereinigten Staaten von Amerika. Dennoch waren es die Mullahs, welche die Revolution anführten, die den empörten Volksmassen die Stichworte gaben und die die aus der Revolution geborene Republik definierten. Sie waren es, die den vielfältigen Anti-Schah-Widerstand auf den islamischen Begriff brachten.

Entgegen den im Westen verbreiteten Bildern von höfischer Idylle und jubelnder Volksakklamation zum gestrengen, aber gerechten Herrscher war das Schah-Regime niemals populär. Und es wurde um so unpopulärer, je mehr es sich dem abrupten . Fortschritt’, dem ungehemmten ökonomischen Wachstum und der totalen Rezeption westlicher Zivilisationsund Kulturgüter verschrieb. Der Schah, das bedeutete Überschwemmung mit westlicher Technologie, westlichem Luxus für die Privilegierten; das bedeutete westlich-inspirierte Gesetze, Bürokratien, Gewohnheiten, Lebens-und Vergnügungsformen — alles Importe, die das traditionelle Gefüge des individuellen und gesellschaftlichen Lebens der großen Mehrheit des Volkes erschütterte, verunsicherte und mit Angst besetzte. Nachtbars, Kinos, . entblößte Frauen und eine . heidnische’ Oberschicht. die dies alles in vollen Zügen genoß, das war anstößig, unmoralisch, anti-islamisch — ein Skandal für die Frommen und ein unerschöpfliches Thema für die politisch-religiöse Agitation: „Worin besteht das soziale Leben? Sind das diese Brutstätten der Unmoral, die Theater, Filmtheater, Tanz, Musik? Ist es die unbekümmerte Anwesenheit der lüsternen jungen Männer und der Frauen mit entblößten Armen, Brüsten und Schenkeln auf den Straßen? Ist es das lächerliche Tragen des europäischen Hutes oder das Nachmachen ihrer Gewohnheit, Wein zu trinken? Wir sind überzeugt, daß man euch die Fähigkeit genommen hat, zwiB sehen dem Guten und Bösen zu unterscheiden, im Austausch für einige Radioapparate und lächerliche westliche Hüte. Man hat eure Aufmerksamkeit auf die entblößten Frauen gelenkt, die man auf den Straßen und in den Schwimmbädern trifft. Mögen diese schändlichen Bräuche endlich ein Ende haben, damit die Morgenröte eines neuen Lebens anbricht." So kam der Kulturschock auf den islamischen Begriff!

Ein anderes trat hinzu: Zwar erwies der Schah äußerlich der Religion seine Reverenz, aber es war nur allzu offenkundig, daß er den Islam aus dem politischen und öffentlichen Leben zu verdrängen suchte. Seine Dynastie ließ er feiern in der Nachfolge der vorislamischen persischen Großkönige. Im März 1976 ersetzte er die islamische Zeitrechnung durch einen . königlichen Kalender', der mit Kyros dem Großen anno 559 vor Christus begann. Den Kronprinz ließ er auf den Namen Cyrus taufen-, bereits 1967 hatte er sich den Titel . Aryamehr', . Licht der Arier', zugelegt — alles unerhörte Provokationen für das fromme Bewußtsein und offenkundige Beweisstücke für den . heidnischen'Charakter des Regimes, überdies nichts Neues. Schon der Gründer der Dynastie, der vom militärischen Subalternrang zum Schah-in Schah aufgestiegene Reza-Khan, hatte die Richtung angegeben, als er den Namen Pahlewi — d. i. die vorislamische persische Sprache — annahm, den Schleier verbot und, ganz wie sein Berufs-und Zeitgenosse Mustafa Kemal Pascha in der Türkei, es unternahm, den Iran mit rauhen Soldatenmethoden aus seinen Traditionen zu reißen.

Gewaltsame Verwestlichung — für den weit überwiegenden Teil der Bevölkerung verbunden mit allen Schrecken des abrupten Bruches mit dem Altvertrauen, Bergenden, Gewohnten und ohne deren versprochene Segnungen; denn die Massen bleiben ausgeschlossen vom verheißenen sozialen Wunder. Die berühmte . Weiße Revolution, auf die sich das Regime propagandistisch so unendlich viel zugute hielt, wurde zum Fiasko: Die von der Leibeigenschaft . befreiten'Bauern verkamen im Elend der Vorstädte, der parzellierte Groß-grundbesitz erbrachte nicht einmal mehr den Eigenbedarf ihrer neuen Herren. Im Westen über alle Maßen hochgerühmt, wurde die Weiße Revolution im Lande selbst zum Symbol des sozialen Scheiterns des Regimes und zum ersten Hauptagitationspunkt der Mullah-Opposition: „Die vernichtende Kritik und der Widerstand des Imam Khomeini gegen die durch amerikanische Intrigen angezettelte Weiße Revolution, die einer Aufrechterhaltung des bestehenden despotischen Regimes und einer Fortsetzung der politischen, kulturellen und ökonomischen Abhängigkeit des Iran von den imperialen Weltmächten diente, wurde zum Anlaß einer einheitlichen Volksbewegung, und der darauf erfolgte große, opferbereite Aufstand der islamischen Gemeinschaft im Juni des Jahres 1963, der eigentlich den Beginn der Entfaltung der glorreichen und das ganze Land erfassenden islamischen Revolution bedeutete, bestätigte den Imam als oberste Autorität der islamischen Führung", heißt es in der Präambel zur Verfassung der Islamischen Republik Iran.

Der Riesenboom zwischen 1973 und 1978, eine Folge der ersten Öl-Preis-Explosion, brachte zwar atemberaubende Wachstumsraten — 42% im Jahr 1975 —, aber er überforderte das Land hoffnungslos. Riesige Importe, Inflation, Bodenspekulation, gewaltig steigende Lebenshaltungskosten — alles zu Lasten der kleinen Leute. Gigantische Kapitalflucht ins Ausland, gigantische Verschwendung, gigantische Profite. Die sozialen und psychologischen Konsequenzen waren katastrophal.

Und so wurde der Islam zum Feldzeichen der Revolution, die Mullahs ihre Anführer und der alte Erzfeind der Pahlewis, Khomeini, zu ihrem Propheten. Geboren 1902 in einer alten Gelehrtenfamilie, wurde er mit 30 Jahren bereits Lehrer an der theologischen Hochschule zu Ghom. Schon in seinen früheren Schriften hatte er sich als unerbitterlicher Widersacher der Schah-Dynastie ausgewiesen. Ihrem Begründer, Reza Schah, bestätigte er schon im Jahre 1941 „Tyrannei und Schreckensregiment"; die Gesetze des Regimes müßten „verbrannt und vernichtet" werden. Auch fehlte schon zu dieser frühen Zeit nicht der Hinweis auf das zukünftige revolutionäre Subjekt: „Die Mullahs, heißt es in den . Entschleierten Geheimnissen', haben von Anfang an die Herrschaft des Reza Khan als gegen das Wohl des Landes erkannt und, soviel sie konnten, öffentlich, im anderen Fall im Untergrund, Aufklärung über seine Verbrechen betrieben." Einer breiten Öffentlichkeit wurde Khomeini freilich erst durch seine Agitation gegen die . Weiße Revolution'bekannt. Die daraus resultierende erste Verhaftung am 5. Juni 1963 wurde zu einem ersten Menetekel für das Schah-Regime: Den Massendemonstrationen gegen die Festsetzung des Ayatollah begegnete der Schah mit Waffengewalt: am 6. Juni soll es zwischen zehn-bis fünfzehntausend Opfer gegeben haben Bei anhaltendem politischem Druck wurde Khomeini am 2. August 1963 entlassen; dieser nahm unverzüglich seine Agitation wieder auf. Nächster Höhepunkt: seine Kampagne gegen das sogenannte Kapitulationsgesetz. Der Schah hatte im Frühjahr 1964 eine Verordnung erlassen, wonach die im Lande anwesenden Amerikaner — etwa 20 000 — eine Art von exterritorialem Status erhielten. Sie unterstanden nicht mehr der iranischen Gerichtsbarkeit, persische Gesetze galten nicht mehr für sie. Eine Maßnahme, die ungeheure Erbitterung im Lande auslöste und für den Kampf der Mullahs wie geschaffen war.

Am 28. Mai 1964 rief der Ayatollah zum Sturz des Schah-Regimes auf — ein Ereignis das in den Revolutionsannalen als historisch gefeiert wird und ebenfalls in den Text der Verfassung der Islamischen Republik Iran eingegangen ist:

„Weiß das iranische Volk, was in diesen Tagen im Parlament vor sich ging? Weiß das iranische Volk, was für ein Verbrechen ohne sein Wissen verübt wurde? Weiß es, daß das Parlament auf Vorschlag der Regierung das Gesetz zur Versklavung des Volkes billigte? Das Parlament hat damit den Iran zum Kolonialstaat erklärt. Es bestätigte den Vereinigten Staaten von Amerika schriftlich, daß das islamische Volk ein Volk von Wilden ist... Die Welt soll es wissen, daß alle Probleme des iranischen Volkes und aller moslemischen Völker durch Fremde, durch die Amerikaner, verursacht worden sind. Die islamischen Völker hassen all diese Fremden und Amerika ganz besonders. Das Elend der islamischen Völker beruht auf der Einmischung von Fremden in ihre Angelegenheiten. Es sind Fremde, die unsere wertvollen Bodenschätze ausgeplündert haben und immer noch ausplündern... Es ist Amerika, das uns unsere Abgeordneten direkt oder indirekt aufzwingt. Es ist Amerika, das den Islam und den Koran als für seine Interessen schädlich betrachtet und zu beseitigen versucht. Es ist Amerika, das unser Parlament unter Druck setzt, solche verwerflichen Gesetze zu verabschieden, durch die alle unsere islamischen Errungenschaften mit Füßen getreten werden. Es ist Amerika, das unser islamisches Volk wie Untermenschen und schlimmer behandelt. Das iranische Volk ist verpflichtet, diese Ketten zu sprengen ... Die Führungskräfte der islamischen Staaten werden aufgefordert, unseren Hilfeschrei in allen Ländern zu verbreiten und über alle freien Sender der Welt das Aufstöhnen unseres elenden Volkes zu Gehör zu bringen. Die Gelehrten und Redner aller islamischen Länder sollten durch eine Protestflut diese Schande vom iranischen Volk — euren islamischen Brüdern — abwenden. Alle Schichten der Bevölkerung werden aufgefordert, ihre kleinen Querelen untereinander zu überwinden und sich auf dem heiligen Weg zur nationalen Souveränität und Beseitigung aller Unterdrückung zu mobilisieren ... Das Ziel aller geistlichen Führer und islamischen Gelehrten ist eins: Und das ist absolute Bejahung der heiligen Gesetze des Islam und Korans sowie uneingeschränktes Engagement für die Sache aller Moslems."

Soweit der Text vom Mai 1964. — Es war alles schon da, was anderthalb Jahrzehnte später die Welt scheinbar so unvermittelt überraschen sollte: der ungeheure Haß auf die USA, die Klage über die durch die . Fremden'zertretene nationale und religiöse Identität, der Aufruf zur islamischen Revolution.

Wieder wird der Ayatollah verhaftet und im Herbst 1964 in den Irak ausgewiesen. In Nadschaf, einer der heiligen Stätten der Schia, wurde Khomeini während der folgenden 14 Jahre seines Exils zum Ziel regelrechter oppositioneller Wallfahrten, während sich sein Bild im Iran allmählich mythisch verklärte und zusammenfloß mit der schiitischen Heilserwartung in Gestalt des . verborgenen 12. Imam'. Auf Druck des Schah wurde Khomeini im Oktober auch aus dem Irak verbannt; er bezog sein letztes Exil in Neufle-le Chateau, einem Vorort von Paris. Auch hier sogleich das nämliche Bild: Pilgerzüge zum greisen Imam, jetzt vornehmlich bestehend aus der Schah-Opposition in den europäischen Metropolen. Am 1. Februar 1979 landete der Ayatollah auf dem Teheraner Flugplatz, empfangen von geschätzten drei bis vier Millionen Menschen, eine der größten Demonstrationen, die die Welt wohl je gesehen hat. „Islamische Revolution"

Als im Spätherbst 1978 das Schah-Regime in sich zusammenfiel, erhob sich kein Arm zu seiner Verteidigung. Weder die eigenen gesellschaftlichen noch die fremden weltpolitischen Profiteure, noch vor allem das Zieh-und Hätschelkind des Regimes, die Armee — ausgenommen ein zaghafter Versuch der Offiziersschüler —, wagten sich zu rühren vor der Sturmflut des allgemeinen Volkszornes. Mit der Flucht seines obersten Repräsentanten schien ein immerhin mehr als ein halbes Jahrhundert existent gewesenes Staats-und Gesellschaftssystem spurlos verschwunden. Verschwunden freilich auch jeder Ansatz für einen konstruktiven politischen Neubeginn.

Legale politische Parteien hatte es im Schah-Reich seit 1963 — dem Startjahr der . Weißen Revolution'— nicht mehr gegeben. Was es gab, das waren wechselnde, staatliche organisierte Massenbewegungen — wie üblich in totalitären Systemen bestellt und bestimmt zu öffentlicher Akklamation. Zuletzt gab es seit 1975 die sogenannte Wiederaufbau-Partei (Rastakhiz) mit nicht weniger als fünf Millionen Mitgliedern. Von ihr aber war nichts zu sehen oder zu hören in den Wochen der Agonie des Regimes; sie war völlig verschwunden, noch bevor der Schah das Land verlassen hatte. Aber auch die alten Parteien, die vordem als politische Zentren der Opposition gegen die Pahlewi-Autokratie fungiert hatten — die kommunistische , Tudeh'und vor allem die . Nationale Front', an deren Spitze einstmals Mossadegh gestanden hatte —, spielten kaum eine Rolle bei der endgültigen Liquidierung des alten und noch weniger bei der Gestaltung des neuen Regimentes. Als allerletzten Versuch hatte der Schah sich widerstrebend bereit gefunden, Schapur Bakthiar, einen alten Aktivisten der Nationalen Front, als Ministerpräsidenten zu bestellen (am 1. Januar 1979); aber dieser gewiß aufrechte Mann war durch den Schah-Auftrag so diskreditiert, daß er in den fünf Wochen nomineller Amtszeit nicht den Schatten politischer Autorität zu gewinnen vermochte und schließlich, aus der Nationalen Front ausgeschlossen, mit knapper Not ins Ausland entkam.

Am Tage des Zusammenbruchs waren keine politisch ausgewiesenen Kräfte zur Stelle, die Macht zu übernehmen und der Revolution ihre Ziele zu zeigen — nichts jedenfalls, was nach den Mustern von rechts oder links, von konservativ, liberal oder progressistisch die eroberte Republik hätte definieren können. Zu Wort, besser: zur spontanen Aktion, hatten sich ganz andere Kräfte gemeldet: Volksmassen, unübersehbare, immer stärker anschwellende Volksmassen — und als deren Stichwortgeber die Mullahs, die schiitische Geistlichkeit, und als deren Symbol und mystischer Heilsbringer zugleich der noch in der Ferne . verborgene'Imam, der Ayatollah Khomeini.

Gewiß, es gab Gruppen mit eindeutiger politisch-ideologischer Zielsetzung: die marxistischen . Volks-Fedayin'etwa, junge Intellektuelle, die unverzüglich die Revolution in eine iranische . Volksdemokratie sozialistischen Zuschnitts münden zu lassen versuchten. Indessen, sobald sich ihr antiimperialistischer Eifer als marxistisch inspiriert entpuppte, war es vorbei mit der Massensolidarität, und sie selbst sahen sich unversehens an die Seite jener . satanischen Mächte gerückt, die sie vermeinten mitüberwunden zu haben. „Sie haben keinen Beitrag geleistet und der Revolution in keiner Weise gedient. Einige von ihnen haben gekämpft, aber sie taten es für ihre Ideen, für ihre Interessen, für ihre Zwecke. Sie haben keinen gewichtigen Beitrag für den Sieg geleistet. Sie haben keinerlei Beziehung zu unserer Bewegung, auf die sie auch keinerlei Einfluß hatten. Nein, die Linken haben nie mit uns gearbeitet ... Meine Ansicht ist, daß es sich gar nicht einmal um eine echte, sondern um eine künstliche, von den Amerikanern gewollte Linke handelt", stellt der Imam alsbald richtig. Sie gelten ihm ebenso als . Kinder des Satans'wie jene, die, heimgekehrt von westlichen Hochschulen, eine Republik nach liberalen Vorbildern im Sinn hatten.

Die . revolutionären Massen waren allein mit den Mullahs. Der erste von Khomeini eingesetzte Ministerpräsident der provisorischen Regierung, Mehdi Bazargan, wird später sagen: „Die Mullahs ergriffen ganz einfach die ihnen von der Geschichte gebotene Gelegenheit, das politische Vakuum zu füllen." Die Geistlichkeit erwies sich vom ersten Tage als die stärkste Kraft des Neuen. Bei aller Kenntnis und allem Verständnis für ihre soziale Funktion und ihre Macht über die Gemüter der Massen dennoch das erstaunlichste Phänomen der iranischen Revolution. Jedermann wußte, daß die Geistlichkeit ein wichtiges Oppositionszentrum gegen die Pahlewis darstellte; niemandem war ihr Einfluß auf die Massen verborgen und daß der Ayatollah Khomeini in seinem Exil zur Symbolfigur des sich sammelnden Sturmes geworden war. Aber daß eine islamische Geistlichkeit gegen Ende des 20. Jahrhunderts die politische Macht in einem trotz allem doch modern organisiserten Staatswesen nicht nur erobern, sondern auch behalten und schrittweise weiter auszubauen vermochte, das hätte niemand vermuten können. Dieses Faktum ist so unerhört, daß bis zu dieser Stunde westliche und östliche Kommentatoren und Analytiker immer wieder angestrengt Ausschau halten nach den eigentlichen Kräften hinter den Turbanen der Mullahs — und bald ein teuflich-gerissenes Spiel Moskaus am Werke vermuten oder umgekehrt die Reaktion im Solde antisozialistischer Weltstrategien zu erkennen vermeinen.

Die Mullah-Diktatur Am 16. Januar 1979 verließ der Schah das Land; in Neufle-le-Chateau erklärte Ayatollah Khomeini die Interimsregierung Bakhtiar für gottlos und abgesetzt. Die Bitte Bakthiars, ihn in Paris zu empfangen, lehnte er ab; schon handelte der Imam als oberste politische Autorität. Am 6. Februar 1979 ernannte er Mehdi Bazargan zum Chef der provisorischen Regierung. Die Revolution begann ihre neuen politischen Formen zu finden, republikanische Formen, so schien es. Es zeigte sich indessen sofort, daß diese Regierungsbestellung keineswegs die Einsetzung einer obersten politischen Autorität im traditionellen Sinne bedeutete. Was der Ayatollah unverzüglich ins Werk setzte, war das Ideal der klassischen islamischen Theorie in der „Regieren einzig und allein (bedeutet), die Gesetze des Koran ... wirksam werden zu lassen": Exekutive SEINES Willens unter permanenter Aufsicht der Berufenen, der Mullahs, — keinesfalls Regierung mit eigenem Ermessens-, Entscheidungs-und Handlungsspielraum. Und so erlebte Mehdi Bazargan in neun pein-vollen Monaten wohl als erster Regierungschef einer Republik die in Praxis umgesetzte islamische Theokratie: prinzipielle Verhinderung jeder politischen Autorität durch die unberechenbare, unverantwortliche, durch nichts zu zügelnde Herrschaft der Mullahs, zuvorderst natürlich des Imam. Beschlüsse der Regierung wurden nicht befolgt, kaum zur Kenntnis genommen. Was soeben im Einvernehmen mit dem Ayatollah verkündet wurde, stieß dieser im nächsten Augenblick wieder um. Etwa 15000 Revolutionskomitees schalteten im Lande nach Belieben — unter Berufung auf den Imam. Ein oberster, geheimer Revolutionsrat bestimmte die Richtlinien der Politik — besetzt mit Mullahs. Etwa 100 Revolutionstribunale sprachen mörderisches . revolutionäres, islamisches" Recht ohne die mindeste rechtsstaatliche Kontrolle — alles unter Berufung auf den Imam.

Der schiitische Gottesstaat im Jahre Eins der Republik: das organisierte Chaos, die institutionalisierte Desorganisation. Ministerpräsident Bazargan sagte noch während seiner Amtszeit: „Meine Rolle ist schwach, zum Teil, weil hier eine Revolution, eine echte Revolution stattgefunden hat, zum anderen Teil, weil die Macht Khomeinis über das Volk ohne Beispiel ist in der persischen Geschichte. Sagen wir also: Offiziell gesehen herrscht die Regierung, ideologisch gesehen jedoch hat Khomeini das Kommando mit seinen Revolutionsräten, seinen Revolutionskomitees, seinen Revolutionsgarden und einer Verbindung zu den Massen. Hinzu kommen die Revolutionsgerichte und die religiösen Instanzen, die unter dem Vorwand, die Revolution fortzuführen, viele Städte regieren. Nein, die Situation ist nicht leicht... Die Schwierigkeit aber besteht darin, daß nach der Revolution etwas Unvorgesehenes und Unvorsehbares geschah, daß nämlich der Klerus uns verdrängte und es ihm gelang, das Land an sich zu reißen.“

Im März 1979 wurde durch Plebiszit der Iran zur „Islamischen Republik"; im Dezember 1979, wiederum durch Plebiszit, die Verfassung der Islamischen Republik Iran angenommen. Im Januar 1980 wurde Bani Sadr durch Volkswahl zum Staatspräsidenten bestellt und im Mai 1980 das erste Parlament gewählt. Ende August 1980 trat der erste nach der Verfassung bestellte Ministerpräsident, Mehmed Ali Radjai, sein Amt an. Stationen der Konstitutionalisierung, Rationalisierung, Normalisierung? Die politische Landschaft im Jahre Zwei der Republik ist jedenfalls differenzierter gewor-den. Einerseits nach wie vor Mullah-Herrschaft, ja fortschreitend akzentuierte Mullah-Herrschaft mit Kompetenzchaos und unberechenbaren Orakeln des Imam, Revolutionstribunalen, Milizen und selbsternannten Komitees; andererseits aber doch auch Ansätze, Ordnung wiederherzustellen, Staatsautorität zu bilden, ein Minimum an Rechtsstaatlichkeit zu ermöglichen. Eher . weltlich’ orientierte und auf das Ende des revolutionären Chaos bedachte Kräfte haben sich seither energisch zu Wort gemeldet.

Der Kampf der beiden Tendenzen wird seit Monaten ausgetragen zwischen zwei demokratisch legitimierten Instanzen: dem vom Volk direkt mit überwältigender Mehrheit gewählten Staatspräsidenten einerseits und dem ebenfalls vom Volk direkt gewählten islamischen Parlament, zu mehr als zwei Dritteln besetzt von der Mullah-Partei, der Partei der Islamischen Republik. Darüber der heilige Mann zu Ghom — nach der Verfassung „Islamischer Führer" und Statthalter des . entrückten 12. Imam’—, ausgestattet mit Allzuständigkeit und quasiautokratischer Machtfülle.

Kampfszenen der beiden Tendenzen im Jahre Zwei der Republik: Bani Sadr bezeichnet im Juli 1980 öffentlich das Geiseldrama als . äußerst schädlich für den Iran’, er spricht in einem Interview mit Le Monde davon, daß die meisten der von den Revolutionstribunalen verhängten Todesurteile illegal und ungerecht gewesen seien. Daraufhin vehementer Protest des Parlamentspräsidenten, des Ayatollah Rafsanjani, über ein „gewisses Pro-Westlertum an der Staatsspitze", das sich nur islamisch maskiere. Dazu umgehend das Donnerwort aus Ghom, die ganze politische Führung tauge nichts, nebst ausdrücklicher Billigung und Bestätigung aller Revolutionsinstanzen, also des ganzen Schreckensszenariums von Tribunalen, Milizen Komitees. Der Staatspräsident bietet seinen Rücktritt an.

Im August 1980 will Bani Sadr gemäß Verfassungskompetenz (Grundsatz 124) den ersten Ministerpräsidenten bestellen — einen Mann, wie sich versteht, seiner eher liberalen Observanz. Das Parlament sperrt sich und zwingt ihm einen Mann der Mullah-Partei auf, Mohammed Ali Radjai. Kommentar aus Ghom: „Das Volk hat nicht sein Blut vergossen, um jetzt den Querelen zwischen Staatspräsident und Parlament beizuwohnen. Das Parlament muß mit aller Kraft eine einhundertprozentige islamische Regierung bilden." Daraufhin Bani Sadr öffentlich: „Kompetente Männer müssen regieren, nicht die Schmeichler, die Lügner, die Barbaren, die Scharlatane ... Wenn täglich Häuser besetzt, Leute verhaftet und gefoltert werden, dann entsteht eine Regierung in der Regierung, ... dies ist Anarchie, dies ist eine klerikale Dikatur." Es folgt über Rundfunk und Fernsehen eine . letzte Warnung'an Bani Sadr: Ayatollah Montazeri fordert den Staats-präsidenten auf, „öffentlich Buße zu tun für seine Verleumdungen des Islam". Der Weise zu Ghom blieb für dieses Mal stumm.

Vorläufig letzter Akt im Kampf um Geist und Gestalt des neuen Iran: die Verhaftung des ersten Außenministers der Republik, Ghotbzadeh, im November 1980. Ghotbzadeh, während seiner Amtszeit nicht eben sehr zaghaft in der Amtsführung, hatte sich zur Linie Bani Sadrs geschlagen und u. a. öffentlich die Inbesitznahme der Massenmedien durch die Mullahs kritisiert — eine Kühnheit, die ihm umgehend die Verhaftung wegen „Beleidigung des Imam und der islamischen Revolution“ eintrug und der Mullah-Partei Gelegenheit gab, eine Kampagne gegen „die fünfte Kolonne des Kolonialismus im Lande" zu eröffnen. Der ehemalige Außenminister wurde zwar nach drei Tagen auf Intervention des Imam freigelassen; Bani Sadr blieb indessen in dieser Sache nichts anders übrig, als in der einzigen Zeitung, die ihn noch druckt, seine totale Isolation vom Volk zu beklagen (vgl. Le Monde vom 11. November 1980). öffentlich ausgetragene Machtkämpfe im Jahre Zwei der Republik: zwei Konzeptionen von der Ausgestaltung des Gottesstaates; Ansätze immerhin in Richtung politischer Konstitutionalität; Kritik an der . klerikalen Diktatur'wagt sich öffentlich zu artikulieren.

Der kodfizierte schiitische Gottesstaat Seit November 1979 besitzt die islamische Revolution ihre geschriebene Verfassung, die Verfassung der Islamischen Republik Iran, angenommen durch Plebiszit von 98, 2% des persischen Volkes und sanktioniert durch zwei Drittel des islamischen Parlamentes. Sie ist eines der merkwürdigsten Stücke geschriebenen Staatsgrundgesetzes, das die Verfassungsgeschichte wohl kennt. Es ist eine Mischung aus Glaubensbekenntnis, Parteiprogramm und Verfassung im herkömmlichen Sinn. Es enthält ein Konzentrat islamischer Glaubenslehren einschließlich ihrer schiitischen Varianten, umfassende politische und moralische Willensbekundungen selbst zu entlegenen und unkonventionellen Materien und schließlich auch die Kodifikation der Institutionen der theokratischen Republik.

Im . Grundsatz'Nr. 2 werden einleitend die drei zentralen islamischen Glaubenswahrheiten angerufen:

„Die islamische Republik ist eine Ordnung, die auf folgenden Grundsätzen beruht:

1. die Einzigkeit Gottes (es gibt keinen Gott außer Gott), seine alleinige Entscheidungsbefugnis und Gesetzgebung sowie die Notwendigkeit der Hingabe an seinen Willen;

2. die göttliche Offenbarung und ihre grundlegende Bedeutung für das Formulieren der Gesetze;

3. Wiederauferstehung und ihre maßgebende Rolle beim Entwicklungsprozeß des Menschen hin zu Gott..

Monotheismus, Offenbarung, Wiederauferstehung — die religiösen Kernsätze des Islam, gewissermaßen das kanonische Glaubensbekenntnis. Dann im gleichen Grundsatz Nr. 2 das theokratische Prinzip, die politische Gottesordnung und die institutionelle Gottesherrschaft: „Die islamische Republik beruht auf dem Glaubenssatz an 4. die Gerechtigkeit Gottes in Schöpfung und Gesetzgebung, 5. das Imamat und seine ständige, grundlegende und immerwährende Führungsrolle im Fortbestand der Islamischen Revolution .. "

Die integrale muslimische Lebensordnung: Gott in der Gesetzgebung; die Einheit von religiös-politischer Gestaltungskompetenz; die „grundlegende und immerwährende Führungsrolle des Imamates". Klassische islamische Theokratie, wie seit dem Propheten wenigstens in der Theorie immer beansprucht, als göttliche Legitimation der rechtgläubigen muslimischen Gemeinde. Din wa Daula, Einheit von Glaube und Staat, Einheit von religiöser und politischer Führung; in der Verfassung der Islamischen Republik Iran erstmals in konkrete Normen gebracht. Die islamische Theokratie fixiert in einem geschriebenen Staats-grundgesetz! Das politische Kernstück der Verfassung, die Definition des Imamates, findet sich im Grundsatz Nr. 5: „In der Islamischen Republik Iran steht während der Abwesenheit des entrückten 12. Imam — möge Gott, daß er baldigst kommt — der Führungsauftrag (Imamat)... in den Angelegenheiten der islamischen Gemeinschaft dem gerechten, gottesfürchtigen, über die Erfordernisse der Zeit informierten, tapferen, zur Führung befähigten Rechtsgelehrten zu, der von der Mehrheit der Bevölkerung als islamischer Führer anerkannt und bestätigt wurde ... Die erste Bestimmung ist theologischer Art: Das Imamat ist eine provisorische Statthalterschaft. Es vertritt den in die Verborgenheit entrückten 12. Imam „während dessen Abwesenheit" und in Erwartung seiner Wiederkehr.

Dies entspricht der theologischen Besonderheit der schiitischen . Konfession’. Die Schia, eigentlich Partei/Fraktion, anerkennt als legitimen Führer der islamischen Gemeinde nur den aus dem Geschlecht des Propheten stammenden Imam. Da Mohammed ohne männliche Nachkommen blieb, läuft die Sukzession über Ali, den Mann der Prophetentochter Fatima, den vierten Kalifen. Aus Alis Deszendenz erstanden die zwölf sogenannten . Reinen Imame', deren letzter, eben der Zwölfte, im achten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung verschwand — nach dem Glauben der Schiiten in die Verborgenheit entrückt wurde und wiederkehren wird am Vorabend des jüngsten Gerichtes, um das Gottesreich auf Erden zu errichten. Der „verborgene 12. Imam", der eigent-. liehe „Fürst der Gläubigen", und das Imamat als seine provisorische Statthalterschaft bis zu seiner allzeit erwarteten Wiederkehr — so steht es nun auch im Staatsgrundgesetz der Republik Iran.

Die zweite Bestimmung des Imams lautet: Er soll sein ein „gerechter, gottesfürchtiger, über die Erfordernisse der Zeit informierter, tapferer, zur Führung befähigter Rechtsgelehrter", ein Mullah also, der „von der Mehrheit der Bevölkerung als islamischer Führer anerkannt und bestätigt wird", nicht etwa gewählt wird. Das ist alte islamische, genauer sunnitische Herrschaftstheorie. Da der Prophet keine Nachfolgeregelung getroffen hatte, galt derjenige als legitimer „Fürst der Gläubigen", der sich als charismatischer Führer der Gemeinde bewies. In der Praxis, wie oben ausführt, nichts anderes als die fromme Einsegnung des starken Mannes. Denn . Anerkennung'und . Bestätigung'durch das Volk bedeutet selbstverständlich niemals so etwas wie Wahl oder Kontrolle, sondern immer nur vorausgesetzte Loyalität und nachvollzogene Akklamation. Die Souveränität in der islamischen Theokratie liegt eben bei Gott und nicht beim Volk: „Die islamische Regierung ist dem Gesetz des Islam unterworfen, das weder vom Volk noch von seinen Vertretern kommt, sondern direkt von Gott und seinem göttlichen Willen", heißt es bei Ayatollah Khomeini.

Historisch hat das immer die unbeschränkte Autokratie desjenigen bedeutet, der die tatsächliche Macht besaß, sich als „Fürst der Gläubigen" durchzusetzen, sei er der charismatische Führer oder schlicht der Gewaltherrscher. Dem scheint nun freilich die islamische Verfassung des Iran vorzubeugen. Über den allgemeinen Grundsatz 5 hinaus, der die prinzipielle Führungskompetenz des Imam statuiert, gibt es ein eigenes Kapitel, das achte, in welchem das oberste politische Amt der Republik in gewisse Regeln gefaßt wird: Bestellungsregeln, Kompetenzregeln und auch Abberufungsregeln.

Für den Augenblick freilich ist dafür noch kein Bedarf; der Ayatollah Khomeini ist der unbestrittene Imam und namentlich als solcher in der Verfassung hervorgehoben: „Erfüllt einer der Rechtsgelehrten die in Grundsatz 5 dieses Gesetzes erwähnten Voraussetzungen und wird von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung als islamische Autorität und Führer gesehen und anerkannt, wie es bei dem geistlichen Oberhaupt und Führer der Revolution, dem großen Ayatollah Khomeini, der Fall ist, so übernimmt dieser Führer die Führungsbefugnis und alle damit verbundenen Verantwortungen" (Grundsatz 107). Für die Nachfolge Khomeinis soll dann gelten: „andernfalls beraten sich die vom Volk gewählten Experten und prüfen die islamische Autorität und die Führungseigenschaft der in Frage kommenden Personen. Sollten sie eine islamische Autorität zur Führung als besonders geeignet erachten, so empfehlen sie diese Person dem Volk als islamischen Führer; andernfalls bestimmen sie 3 oder 5 islamische Autoritäten mit den erforderlichen Führungseigenschaften als Mitglieder des Führungsrates und empfehlen sie dem Volk." Individuelle oder kollektive Führung also, je nach Personallage. Deren Bestellung ist Sache der vom Volk gewählten Experten. Wie vom Volk gewählt wird, bleibt vorerst noch dunkel, da der Modus dieser Wahl erst noch zu erarbeiten ist, und zwar von einer dritten Instanz, dem sogenannten . Wächterrat'(Grundsatz 108).

Dieser „Wächterrat’ indessen wird wiederum maßbeglich vom Imam bestellt (Grundsatz 91), was der ganzen umständlichen Konstruktion ihren eigentlichen Sinn gibt: Das Imamat setzt sich über einige formalistische Umwege über seine eigene Designation fort — allerbeste Voraussetzungen für die Monopolisierung des obersten politischen Amtes durch eine Gruppe, einen Clan oder gar durch eine Familie.

Die wichtigsten Kompetenzen des Imamates: Bestellung des . Wächterrates', militärischer Oberbefehl, Absetzung des Staatspräsidenten. Politisch sicherlich am bedeutsamsten ist die maßgebliche Rolle bei der Bestellung des . Wächterrates', denn dieses Gremium entscheidet über die islamische Konformität aller Akte des Parlaments (Grundsatz 94); das Parlament darf ohne seine Zustimmung nicht einmal zusammentreten (Grundsatz 93); er entscheidet in Fragen der Verfassungsauslegung (Grundsatz 98), präsidiert bei der Wahl des Staatspräsidenten, des Parlamentes, den Volksbefragungen. Ja, es gibt in Grundsatz 4 eine Generalklausel, die dem . Wächterrat'faktisch die universelle Entscheidungskompetenz zuerkennt: . Alle zivilen, strafrechtlichen, finanziellen, ökonomischen, administrativen, kulturellen, militärischen und politischen sowie alle übrigen Gesetze und Vorschriften müssen in Einklang mit den islamischen Maßstäben stehen. Dieser Grundsatz bestimmt den Inhalt und den Umfang aller Grundsätze der Verfassung und anderer Gesetze und Vorschriften; hierüber wachen die islamischen Rechtsgelehrten des „Wächterrates. Das Geschöpf des Imam, der . Wächterrat', ist die verfassungsmäßig stärkste Instanz neben dem Imam selbst. Die absolute Mullah-Herrschaft wurde also in Verfassungsnormen gebracht.

Der . weltliche'Teil der islamischen Verfassungskonstruktion nimmt sich daneben ziemlich karg aus. Da gibt es zunächst den vom Volk direkt gewählten Staatspräsidenten (Grundsatz 114). Sein Rang wird ihm im Text wie folgt zugewiesen: „Nach der islamischen Führung nimmt der Präsident der Republik das höchste öffentliche Amt des Landes ein. Er ist verantwortlich für die Durchführung der Verfassung und die Regelung der Beziehungen zwischen den drei Gewalten. Mit Ausnahme der Angelegenheiten, die unmittelbar die Islamische Führung betreffen, leitet er die Exekutive" (Grundsatz 113). Zuständig ist er nur dort, wo die . islamische Führung'nicht betroffen ist. Da diese aber über den Grundsatz 4 nach Belieben allzuständig ist, sogar in Steitfragen über die Zuständigkeit — Kompetenzkompetenz, Grundsatz 98 —, besitzt der Staatspräsident eigentlich gar keine feste Kompetenz. Nach den Normen der Verfassung kann er nur dort tätig werden, wo ihm dies ausdrücklich von Fall zu Fall erlaubt wird. Das Amt des Staatspräsidenten ist also de facto kein selbständiges Verfassungsorgan aus eigenem Recht, sein Inhaber nur oberster und sozusagen weisungsgebundener Verwaltungsbeamter. Das Drama Bani Sadr illustriert den Befund.

Das andere demokratisch legitimierte Organ, das vom Volk gewählte Parlament, die soge-nannte . Versammlung des Nationalrates', übt die legislative Gewalt aus, wie es in Grundsatz 58 heißt. Wie es mit diesem parlamentarischen Königsrecht bestellt ist, erhellt wiederum aus dem geistlichen Vorbehalt des Grundsatzes 4. Nicht einmal versammeln kann sich diese Volksvertretung ohne die Billigung des Imam und seiner Aufsichtsinstanz, des . Wächterrates'(Grundsatz 93).

In summa: Mullah-Herrschaft unter dem Oberbefehl des Imam, versehen mit politisch bedeutungslosen demokratischen Retuschen und Ornamenten

Die Verfassung der Islamischen Republik Iran kennt auch einen Katalog der Menschen-und Bürgerrechte. Sie sind zusammengefaßt unter dem Titel „Rechte des Volkes". Sie enthalten 23 „Grundsätze" und verbürgen u. a. das Gleichheitsprinzip (19) und eine allgemeine Rechtsschutzgarantie (20). Grundsatz 22 erhebt die „Würde, das Leben, das Eigentum, die Wohnung und den Beruf" zu „unantastbaren" Gütern. Ein Grundsatz verbietet ausdrücklich die „Inquisition der Gedanken" (23); Meinungs-und Pressefreiheit werden gewährleistet (24), auch die Koalitions-, Versammlungs-und Demonstrationsfreiheit finden sich im Grundrechtskatalog. Aber mehr noch: Die Verfassung der Islamischen Republik kennt auch soziale Grundrechte, wie sie sonst nur in den Verfassungen sozialistischer Staaten vorkommen: „Alle haben das Recht auf soziale Sicherheit“, heißt es in Grundsatz 29; das Recht auf kostenlose Erziehung wird garantiert, ebenso das Recht auf Wohnung (31). Ein spezieller, umfangreicher Grundsatz handelt von den Rechten der Frau.

Freilich, auch dies hat der Grundrechtskatalog der islamischen Verfassung gemeinsam mit solchen sozialistischer Staaten: er steht unter dem Generalvorbehalt der herrschenden ideologischen Maxime. Gleichheit und Freiheiten werden gewährleistet „unter Berücksichtigung islamischer Prinzipien". Grundsatz 20: . Jedes Mitglied des Volkes, ungeachtet ob Mann oder Frau, genießt gleichermaßen den Schutz des Gesetzes und unter Berücksichtigung islamischer Prinzipien alle menschlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte." Im konkreten Fall, z. B.der Gleichheitsgarantie des Grundsatzes 19, sieht das so aus: Diskriminierungsverbot gegenüber ethnischer Herkunft, rassischer oder kultureller Zugehörigkeit — nicht aber gegenüber der Geschlechtszugehörigkeit. Denn Grundsatz 21 stellt fest: „Der Staat ist verpflichtet, die Rechte der Frauen auf allen Ebenen unter Berücksichtigung islamischer Prinzipien zu gewährleisten." Da dieser islamische Vorbehalt in Sachen Rechte der Frau eindeutig ist (z. B. Koran 4/38), ist für die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der islamischen Verfassung selbstverständlich kein Raum.

Weit über das hinaus, was in einer herkömmlichen Staatsverfassung niedergelegt ist, gibt es im Staatsgrundgesetz der Islamischen Republik Iran zahlreiche Bekundungen, Absichtserklärungen und politische Proklamationen, wie sie sonst am ehesten noch in den Programmen politischer Parteien zu finden sind. Da wird, ähnlich den Programmen kommunistischer Parteien, in der Präambel die „führende Rolle der kämpfenden Geistlichkeit" hervorgehoben, sozusagen im Sinne einer besonders legitimierten revolutionären Klasse. Da wird von der Zukunftsverpflichtung der islamischen Weltrevolution gesprochen („eröffnet ein neues Kapitel für breite Revolutionen der Völker in der Welt"), oder noch deutlicher: „Da der islamische Gehalt der Revolution des Iran einen Beginn der Befreiung aller Unterdrückten von ihren Unterdrückern darstellt, schafft die Verfassung die Grundlagen für die Fortset-B zung dieser Revolution im In-und Ausland; insbesondere gibt die Verfassung den Auftrag, bei der Erweiterung der internationalen Beziehungen mit anderen islamischen Volksbewegungen den Weg zur Schaffung einer einzigen Weltglaubensgemeinschaft zu bahnen" (Präambel). Da werden die Streitkräfte als weltanschaulich-militärische Speerspitze definiert: „Sie werden nicht nur die Grenzen schützen und verteidigen, sondern darüber hinaus die Bürde der weltanschaulichen Botschaft, nämlich die Anstrengung auf dem Weg Gottes und den Kampf zur Vorbereitung der Herrschaft des Gottesgesetzes auf der Welt übernehmen" (Präambel). Da werden präzise außenpolitische Zielsetzungen zum Verfassungsauftrag erhoben, z. B. die Einheit der islamischen Welt (Grundsatz 11) oder die Unterstützung von Befreiungsbewegungen in aller Welt (Grundsatz 154); oder es wird die Gründung ausländischer Firmen untersagt, die Einstellung ausländischer Experten verboten (81/82) usw. — ein politisches Programm, inkorporiert in das Staatsgrundgesetz.

Wie ungewöhnlich auch immer, im Ton und in der Formulierung nimmt sich die islamische Verfassung noch vergleichsweise moderat aus. Da sie indessen ganz und gar Geist vom Geiste des Ayatollah Khomeini ist, darf wohl ihre Präzisierung und Kommentierung aus den Schriften des Imam für erlaubt gelten. Da, wo im Verfassungstext hier und da noch demokratische oder gar liberale Formulierungen zu finden sind, da redet der rauhe Ayatollah in der Sache Fraktur. Beispielsweise zum Imamat, der obersten islamischen Führungsinstanz, zur Diktatur der Mullahs also: „Man gehorcht den islamischen Führern, weil Gott es so gewollt hat ... Es gibt kein anderes Recht, keine andere Pflicht als den Gehorsam." Oder: „Wenn ein berufener Mann, der die obersten Tugenden in sich vereint, sich offenbart, um eine wahre islamische Regierung zu bilden, so ist sie vom Allmächtigen mit dem gleichen Auftrag wie der Heilige Prophet ausgestattet, das Volk zu führen; dann ist es die absolute Pflicht des Volkes, ihm zu gehorschen." Das Imamat von Gottesgnaden und absoluter Untertanengehorsam — das ist die klassische Theokratie, die faktische Priester-herrschaft!

Was er von der Demokratie im allgemeinen und den demokratischen Institutionen im besonderen hält, wird nicht verborgen: Sie sind politisch bedeutungslose Versatzstücke einer modischen Phraseologie, derer sich der Ayatollah wohl wegen der progressiven Intonation nicht entziehen mag. „Die islamische Regierung kann weder totalitär noch despotisch sein, sondern nur konstitutionell und demokratisch", schreibt er. Doch im nächsten Satz folgt die inhaltliche Bestimmung: „Jedoch kommen in dieser Demokratie die Gesetze nicht aus dem Willen des Volkes, sondern einzig und allein aus dem Koran und der Überlieferung." . Volk'und . Demokratie’ stehen eben hoch im rhetorischen Kurs, wie in allen Diktaturen, und also schmückt man sich mit diesen Formalien, bei völliger Abwesenheit ihrer inhaltlichen Bedeutung. Der Imam spricht nur ungeniert und direkt aus, was im Verfassungstext unter einigem Ornament verdeckt ist: der demokratische Gottesstaat ist ein Unding, der parlamentarische Islam eine Absurdität; Theokratie ist begrifflich und historisch immer Autokratie.

Die gleiche unverblümte Deutlichkeit findet sich in der Schriften des Imam auch in bezug auf andere dunkle oder vieldeutige Verfassungsnormen. In der Präambel steht der zitierte Satz, die Verfassung schaffe „die Grundlagen für die Fortsetzung der Revolution im In-und Ausland". Was das konkret bedeuten mag, bleibt im Verfassungstext ungewiß. Nicht so in den Schriften des Imam. Da nämlich wird nach koranischem Gebot (Kor. 8/40) dem wahren islamischen Gottesstaat die Pflicht verordnet, alle . gottlosen Regime in den islamischen Ländern zu stürzen und auf lange Sicht den Heiligen Krieg zur Missionierung der Welt zu führen: „Der Heilige Krieg bedeutet die Eroberung der nicht-mohammedanischen Territorien. Es ist möglich, daß er nach der Bildung einer islamischen Regierung erklärt wird ... unter der Leitung des Imam oder auf seinen Befehl. Dann wird es die Pflicht jedes volljährigen und waffenfähigen Mannes sein, freiwillig in diesen Eroberungskrieg zu ziehen, dessen Endziel es ist, das Gesetz des Koran von einem Ende der Welt bis zum anderen regieren zu lassen." Jslamische Kulturrevolution'

Eine der ersten und am eifrigsten wiederholten Parolen in der jungen Republik heißt «Islamische Kulturrevolution'. Sie meint radikale Re-Islamisierung aller Lebensbereiche. Re-Islamisierung mit besonders aggressiver Wendung gegen den Westen, seinen . Kulturimperialismus', seine Dekadenz/Unmoral, seinen atheistischen Hedonismus. Es wurde in den einleitenden Betrachtungen dargelegt, wie gerade hier auf dem Feld von Kultur, Zivilisation, Lebensart und Lebenseinstellung die antiwestliche Haltung besonders reizbar reagiert und im . Kulturimperialismus'ein fast noch größeres Verbrechen zu sehen geneigt ist als in der militärisch-ökonomischen Kolonisation.

Ein ganz besonders fruchtbares Feld für Moralismus und puritanisches Eiferertum, und nun gar für die islamische Geistlichkeit, für die jede Veränderung im Moral-und Sittengefüge Gottesfrevel und satanischer Abfall bedeutet. Kernsätze des Ayatollah Khomeini dazu, auch sie niedergelegt, lange bevor an eine islamische Revolution im Iran zu denken war: „Die Imperialisten haben seit drei oder mehr Jahrhunderten die Kultur der mohammedanischen Länder verwüstet, um dadurch den Islam zu vernichten, weil sie seit den Kreuzzügen wissen, daß nur der Islam mit seinen Gesetzen und seinem Glauben ihnen die Straße versperren kann." Und im Detail: „Wir (die Geistlichkeit) bestätigen mit Nachdruck, daß das schändliche Benehmen, das darin besteht, das Tragen des Schleiers zu verweigern, gegen das Gesetz Gottes und des Propheten ist und eine sachliche und moralische Verunglimpfung für das Land darstellt. Wir bekräftigen, daß der lächerliche Gebrauch des westlichen Hutes eine Schande für die Mohammedaner ist, die unserer Unabhängigkeit Fesseln anlegt und gegen den Willen Gottes ist. Wir bekräftigen, daß die gemischten Schulen ein Hindernis für ein heiliges Leben sind, daß sie dem Land materiell und moralisch schaden und gegen den göttlichen Willen sind. Wir bekräftigen, daß die Musik Unmoral erzeugt, Lüsternheit, Zügellosigkeit, und Mut, Tapferkeit und ritterlichen Geist ersticken; sie ist nach den Gesetzen des Koran verboten und darf in den Schulen nicht gelehrt werden."

Die seitherigen Errungenschaften der islamischen Kulturrevolution: Erstens, Wiederein-führung des integralen Scharia-Rechtes mit Steinigung für die Ehebrecherin, Erschießung von Prostituierten, Homosexuellen, Drogen-händlern; Verstümmelung der Diebe, Auspeitschung für außerehelichen Sex und Alkoholgenuß usw. Zweitens, eine Säuberungswelle gegen alles für unislamisch erachtete: massive Zurückdrängung der Frau aus der Öffentlichkeit, Durchsetzung des Tschador, Schwimmbadverbot für Frauen, Verbot der Koedukation.

Drittens, trotz der in der Verfassung gewährleisteten Religionsfreiheit (Grundsatz 13/14), Schließung christlicher Schulen mit der Begründung, „weil die Gefahr besteht, daß dort unsere Jugend verwestlicht wird" (Ayatollah Hossein Nuri), oder „sie sind ein Hort der Un-moral!" Schwere Verfolgung religiöser Minderheiten: Die Ba’hais werden wieder einmal als Häretiker und Abtrünnige vom Islam diffamiert; zwei ihrer führenden Geistlichen wurden im August dieses Jahres in Täbris hingerichtet; alle neun Mitglieder ihres geistlichen Rates sind seit dem August verschwunden. Bibliotheken werden gesäubert, Kunst und Musik verboten und den Universitäten . islamische Wissenschaft'verordnet, d. h. sie werden zu Koran-Schulen degradiert. Immerhin, so der Ayatollah Montazeri, Rektor der neuen Universität Teheran, der . größten islamischen Universität der Welf, sollen weiterhin Fremdsprachen gelehrt und gelernt werden können, „um Missionare auszubilden, die den Islam in aller Welt verbreiten".

Wie wird dies alles aufgenommen vom Volk in der Islamischen Republik? Im ganzen, wie es scheint und wie es öffentlich zum Ausdruck kommt, noch immer eher posititv. Da äußert die bereits oben zitierte 15jährige Gymnasiastin aus Teheran — also immerhin ein Kind aus städtischem, privilegiertem Milieu: „Die Gesetzgebung des Landes muß entsprechend den Gesetzen des Koran praktiziert werden. Zum Beispiel muß man einem Dieb die Hand abhacken ... Genauso müssen ehebrüchige Frauen öffentlich gesteinigt werden ... Propagandisten, die nur zum Zweck der Verdummung Filme, Zeitschriften usw. herstellen, müssen ebenfalls hingerichtet werden." Wie dabei allerneueste Argumente aus dem Westen in den bigotten Traditionalismus miteinfließen, zeigt die Antwort des Mädchens auf die Frage nach dem Tschador: „Finden Sie es erniedrigend für eine Frau, sich verschleiern zu müssen? Nein, im Gegenteil. Für mich ist es eine Ehre ... Sich zu verschleiern ist für mich keine Einsränkung, denn ich weiß, daß der Islam die vollkommenste Religion ist... Frauen sind wie kostbare Juwelen, die geschützt und aufbewahrt werden müssen. Daher müssen sie sich verschleiern, um nicht als Sexualobjekte in den Augen der Männer zu wirken." — Das klingt wie das Allerneueste aus der Feministen-Szene: Befreiung vom Sexismus, ist aber nichts als Rechtfertigung patriarchalischer Repression!

Wer trägt den Mullah-Staat im Jahre Zwei der Republik? Sieht man ab vom patriotischen Aufschwung im Gefolge des unseligen Krieges mit dem Irak, so hat sich das Bild doch gewandelt. Die Revolution war sicherlich das Werk der Mehrheit des iranischen Volkes. Die Zustimmung zur islamischen Republik und zur islamischen Verfassung war fast einstimmig. Andererseits: Der . Liberale'Bani Sadr schlug seinen Rivalen aus dem Lager der islamischen Ultras haushoch bei den Wahlen zum Amt des Staatspräsidenten. Gewiß ist zur Stunde nur, daß die Allerletzten in der sozialen Hierarchie, die . Mostazafin'der Slums, das persische Subproletariat, mit ungeschwächtem Eifer dem Rückzug in die integrale Glaubenswelt der Mullahs folgen. Als in Teheran junge Frauen gegen die neuen Kleidervorschriften protestierten wollten, wurden sie von den . Mostazafin'als . Pahlewi-Huren'beschimpft und tätlich bedroht. Und noch eine Abteilung der Allerletzten scheint unerschüttert bei den Mullahs zu stehen: die Frauen der unteren Mittelschichten und Unterschichten. Ihnen, denen nach Erziehung und sozialer Stellung die kulturelle Fremdüberlagerung besonders beängstigend und frevlerisch erschienen war, mag der Rückzug in die hermetische Welt des patriarchalischen und traditionsgeleiteten Gottesstaates noch immer als Rettung erscheinen. Sie stellen nach wie vor das Hauptreservoir der Demonstrationszüge, wenn der Imam sie befiehlt.

Vieles fließt hier von dem zusammen, was im einleitenden Versuch über die weltweite antiwestliche Haltung beschrieben wurde: Der Imam verheißt Schutz vor dem Gift zersetzender fremder Sitten; der Iman demütigt die Demütiger; der Imam gibt der beschädigten Selbstachtung ihre Würde zurück. Er ist Heiliger und Heilsbringer, nationaler Führer und sozialer Revolutionär — die große charismatische Integrationsgestalt.

Die Perspektive des schiitischen Gottesstaates: Nicht nur das vorgeschrittene Alter des Imam läßt seinen Zusammenbruch über kurz oder lang wahrscheinlich erscheinen, sondern auch der Widerstand der beunruhigten islamischen Nachbarn und der erbitterten religiösen Rivalen (die Ulama Marokkos hat Khomeini als . Häretiker'gebrandmarkt, „dessen Halluzinationen einen schweren Anschlag auf Gott und den Auftrag des Propheten darstellen"). Der schiitische Gottesstaat, die Diktatur der Mullahs, wird vor allem daran scheitern, woran noch jeder theokratische Versuch gescheitert ist: an der Umöglichkeit, mittels starrer religiöser Normen der Komplexität eines lebendigen sozialen Organismus gerecht zu werden — gar eines Staates, einer Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ayatollah Khomeini, Weisheiten, Warnungen, Weisungen, München 1979, S. 21.

  2. Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt 1966, S. 160f.

  3. Gamal al-Din alAfghani, Al-Urwa al-Wutqa, April 1884, in: Orient, Jg. 62, Heft 1, S. 93.

  4. Zitiert nach: Umbruch im Iran, rororo S. 114f.

  5. Kwame N Krumah, Consciensismus, Köln 1965, S. 72.

  6. Khomeini, a. a. O., S. 40.

  7. Khomeini, a. a. O., S. 19.

  8. Khomeini, a. a. O., S. 24 f.

  9. Khomeini, a. a. O., S. 18 und 24.

  10. Präambel zur Verfassung der Islamischen Republik Iran.

  11. Grundsatz 2 der Verfassung der Islamischen Republik Iran.

  12. Recht eindrucksvoll läßt sich die Gefügigkeit der osmanischen Geistlichkeit gegenüber den jeweiligen Machthabern am Gang der turbulenten politischen Ereignisse vom Ende des 18. Jh. bis zum Beginn des 20. Jh.demonstrieren. Selim III., der erste Sultan, der in großem Stile Reformen nach westlichem Vorbild durchzuführen gedachte, wurde 1807 von der mächtigen Traditionstruppe der Janitscharen gestürzt. Der oberste geistliche Würdenträger des Reiches, der Sheik ul-Islam, bestätigte den Putsch mit der autoritativen Feststellung, der Sultan habe „durch sein Verhalten gegen die im Koran festgelegten religiösen Prinzipien" verstoßen. Im Jahre 1826 sanktionierte ein anderer Sheik ul-Islam das Massaker an den Janitscharen durch Sultan Mah-

  13. Khomeini, a. a. O., S. 21.

  14. Zitiert nach: Umbruch im Iran, a. a. O., S. 84.

  15. Umbruch im Iran, a. a. O., S. 87.

  16. Zitiert nach: Umbruch im Iran, a. a. O, S. lOOff.

  17. Spiegel, 46/79, S. 165 ff.

  18. Le Monde v. 12. 8. 1980.

  19. Khomeini, a. a. O., S. 19.

  20. Khomeini, a. a. O., S. 26.

  21. Khomeini, a. a. O., S. 17.

  22. Khomeini, a. a. O., S. 20.

  23. Khomeini, a. a. O., S. 29f.

  24. Khomeini, a. a. O., S. 36.

  25. Umbruch im Iran, a. a. O., S. 113.

  26. Umbruch im Iran, a. a. O., S. 110.

Weitere Inhalte

Reinhard Kapferer, Dr. phil. Professor, geb. 1932; Dozent für Politikwissenschaft (Mainz, Frankfurt, Aachen, Heidelberg); in den sechziger Jahren Gastdozent an den Universitäten von Damaskus und Kairo; zahlreiche Publikationen zu politischen und sozio-kulturellen Themen der Dritten Welt, besonders des arabischen Orients, u. a. auch in „Aus Politik und Zeitgeschichte".