I. Einleitung: Langfristige Tendenzen und aktuelle Notwendigkeiten
Seit geraumer Zeit sind die amerikanischen Archive und Nachlaßsammlungen für die zweite Hälfte der vierziger Jahre der Forschung zugänglich. Damit wird eine quellen-mäßig abgesicherte Beschreibung und Interpretation jener Periode amerikanischer Außenpolitik möglich, in der durch den Marshall-Plan die Weichenstellungen für die westeuropäische Entwicklung der fünfziger Jahre vorgenommen wurde. Das gilt insbesondere auch für die Frage, welche Bedeutung Deutschland im Rahmen der Marshall-Plan-Politik hatte und wie sich diese Politik in Deutschland auswirkte. Da auch in der Bundesrepublik Deutschland die Akten des Bundesministeriums für den Marshall-Plan und wichtige Nachlässe (u. a. von Franz Blücher) von Wissenschaftlern eingesehen werden können, ist die Forschungslage optimal.
Angesichts dieses Sachverhalts ist es erstaunlich, daß gleichwohl nach wie vor Darstellungen über den Marshall-Plan und Deutschland vorgelegt werden, ohne die reichhaltigen Quellen zu befragen -Eine solche Verfah-rensweise wäre höchstens dann vertretbar, wenn in der quellenbezogenen Sekundärliteratur bereits ein breiter Konsens über die gültige Interpretation bestünde, der dann nur noch referiert werden müßte. Davon kann jedoch derzeit noch keine Rede sein. Als geklärt dürfte allerdings gelten, daß bei der Entstehung des Marshall-Plans langfristig wirksame Tendenzen und aktuelle Notwendigkeiten zusammentrafen: Nämlich einerseits Planungen in der Ministerialbürokratie und in Beratungsgremien gesellschaftlicher Gruppen (Geschäftsleute, Gewerkschafter, Wissenschaftler u. dgl.), die bereits bei Kriegseintritt der USA begannen, 1944 konkretisiert wurden und im einzelnen die Politik begründeten, nach dem Krieg dem geschwächten Ausland umfassende Dollarhilfe zu gewähren und andererseits die Anfang 1947 erkennbare Notwendigkeit, die auslaufenden bilateralen Hilfsverträge mit Großbritannien und Frankreich durch eine Multilateralisierung zu ersetzen, um mit einem umfassenden Wiederaufbauprogramm „Europa vor Hunger und Chaos (nichtvor den Russen) zu retten" Die langfristigen Überlegungen hatten also überhaupt nichts mit dem Kalten Krieg zu tun, und auch die auf die aktuelle Situation von 1947/48 bezogenen Überlegungen standen nur zum Teil im Zusammenhang mit der amerikanischen Politik, außerhalb des bereits immens ausgeweiteten sowjetrussischen Machtbereiches eine gewaltsame kommunistische Expansion zu verhindern („Truman-Doktrin")
Dieser Beitrag ist die überarbeitete und erweiterte Fassung des Vortrags „Germany and the Marshall Plan", den derAutoram 27. Mai 1980 im Rahmen des Symposiums„The Marshall Plan and Europe" in Rom gehalten hat und der demnächst in einem italienischen Sammelband erscheint. Der Marshall-Plan, der mit der Harvard-Rede des amerikanischen Außenministers vom Juni 1947 angeregt wurde, ist also nicht (wie behauptet wird) „die Umsatzstrategie jenes Konzepts, das in der . Truman-Doktrin'formuliert wurde", sondern die programmatischen Überlegungen, die schon in der Phase der Kooperation mit der Sowjetunion und unter dem Aspekt der Fortsetzung dieser Zusammenarbeit entwickelt worden waren, wurden auf die neue politische Konstellation angewendet; dabei war die Eindämmung gewaltsamer sowjetischer Expansion ein wesentlicher Faktor (der erst später — insbesondere infolge der kommunistischen Machtergreifung in Prag im Februar 1948 — bei der innenpolitischen Durchsetzung des Marshall-Plans ins Zentrum rückte).
Die globale Auslandshilfspolitik der USA wurde durch den Marshall-Plan konzentriert auf diejenigen Gebiete, wo (nach den Worten von Under Secretary of State Dean Acheson)
folgende Ziele am wirkungsvollsten verfolgt werden konnten: der Aufbau weltpolitischer und wirtschaftlicher Stabilität, die Förderung menschlicher Freiheit und demokratischer In-. stitutionen, die Begünstigung liberaler Handelspolitik und die Stärkung der Autorität der Vereinten Nationen. Ein innerer Zusammenhang mit der Truman-Doktrin ergab sich insofern, als auch dort das wirtschaftliche Instrument im Vordergrund stand und der MarshallPlan das bisherige amerikanische Auslands-hilfeprogramm mit ihr partiell in Übereinstimmung brachte 5). Denn in der Reichweite blieb der Marshall-Plan vom Konzept der Truman-Doktrin verschieden: Als Europa-Plan war er einerseits breiter angelegt als die mit der Truman-Doktrin verbundenen Hilfsmaßnahmen, die sich auf Griechenland und die Türkei beschränkten; andererseits war er als Regionalprogramm enger konzipiert als das globale Hilfsversprechen der Truman-Doktrin. Die Konzentration auf einen gesamteuropäischen Hilfsplan und die damit zum ersten Mal verbundene Befürwortung einer europäischen Integration (siehe dazu weiter unten) sind die zentralen und innovativen Merkmale des Marshall-Plans.
Diese Hauptthese läßt sich weiter erläutern und präzisieren, wenn man speziell die Zusammenhänge zwischen amerikanischer Deutschlandpolitik und Marshall-Plan untersucht. Vor allem drei Aspekte sind nach wie vor kontrovers, nämlich — Deutschlands Stellenwert im Konzept des Europäischen Wiederaufbauprogramms, — der Beitrag des Marshall-Plans zur inhaltlichen Gestaltung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus, des neuen politischen Staatswesens und der sozio-politischen Kultur Westdeutschlands und — die deutsche Antwort auf die vom Marshall-Plan ausgehenden Impulse.
Die folgenden Abschnitte beschränken sich auf die Erörterung dieser Aspekte.
II. Die europapolitische Innovation und ihre deutschlandpolitische Bedeutung
Mit der Formulierung und Umsetzung der neuen amerikanischen Stabilisierungspolitik in (West-) Europa erhielt das Deutschland-Problem eine neue strategische Bedeutung. Der tatsächlichen wirtschaftlichen Wechselbeziehung zwischen den westeuropäischen Ländern und Deutschland und der geopolitischen Lage Deutschlands mußte Rechnung getragen werden. Die Morgenthau-Politik der Bestrafung und Deindustrialisierung Deutschlands, die von Anfang an umstritten war, war bereits seit der Konferenz von Potsdam schrittweise revidiert und mit der Weisung an die amerika-nische Militärregierung in Deutschland vom 11. Juli 1947 (Direktive 1779) offiziell von einem konstruktiven Wiederaufbaukonzept abgelöst worden, das nunmehr essentieller Bestandteil der neuen amerikanischen Europapolitik wurde und vom Marshall-Plan her seinen neuen Stellenwert gewann Erst infolge der Zuspitzungen des Ost-West-Konflikts setzte sich dann die Einsicht durch, die Secretary of State Marshall u. a. in einem Telegramm vom 19. Februar 1948 an Juli 1947 (Direktive 1779) offiziell von einem konstruktiven Wiederaufbaukonzept abgelöst worden, das nunmehr essentieller Bestandteil der neuen amerikanischen Europapolitik wurde und vom Marshall-Plan her seinen neuen Stellenwert gewann 6). Erst infolge der Zuspitzungen des Ost-West-Konflikts setzte sich dann die Einsicht durch, die Secretary of State Marshall u. a. in einem Telegramm vom 19. Februar 1948 an die amerikanische Botschaft in Paris folgendermaßen zusammenfaßte: „Wenn Westdeutschland in den kommenden Jahren nicht wirkungsvoll mit den westeuropäischen Staaten verbunden wird — erst durch wirtschaftliche Arrangements und vielleicht auf irgendeine politische Art und Weise —, dann besteht die reale Gefahr, daß ganz Deutschland in den östlichen Einflußbereich einbezogen wird, was für uns alle offenkundig schreckliche Folgen hätte. 7) Dementsprechend wurde der ERP-Sonderbotschafter Harriman im Dezember 1948 instruiert: „Wir dürfen es nicht zulassen, daß Deutschland in den sowjetischen Einflußbereich einbezogen oder als Instrument sowjetischer Politik wiederaufgebaut wird. Die Sowjets waren intransigent gegenüber allen früheren Versuchen einer Viermächtelösung, soweit nicht dieses Ergebnis wahrscheinlich war. Deshalb muß unsere jetzige Politik darin bestehen, Westdeutschland in eine enge Verbindung mit den freien demokratischen Staaten Westeuropas zu bringen und in die Lage zu versetzen, zum europäischen Wiederaufbau beizutragen und an ihm teilzuhaben. 8)
Die Anerkennung der strategischen Bedeutung Deutschlands bedeutete jedoch nicht, daß der Marshall-Plan eigentlich ein Deutschland-plan gewesen und primär als Antwort auf die Schwierigkeiten der amerikanischen Deutschlandpolitik entstanden sei. Mehrere Gründe, die hier nur stichwortartig genannt werden können, sprechen gegen eine derartige Deutung: Erstens: Für die US-Zone existierte bereits ein wirtschaftliches Hilfsprogramm, nämlich „Government and Relief in Occupied Areas" (GA-
RIOA), und es überstieg, auch in den entscheidenden Jahren 1948/49, die deutsche ERP-Quote 9).
Zweitens: ökonomisch stand — wie die internen Aufzeichnungen eindeutig belegen — die Situation in Frankreich, Italien und Großbritannien im Vordergrund der amerikanischen Hilfsüberlegungen 10).
Drittens: Als sich Secretary of State Marshall entschied, ein multilaterales europäisches Hilfsprogramm anzuregen, folgte er nicht denjenigen Ratgebern, die (wie z. B. General Clay) die Situation aus dem engen Blickwinkel der amerikanischen Besatzungspolitik in Deutschland betrachteten, sondern den Befürwortern einer dezidiert europäischen Konzeption (wie Clayton und Dulles), die im scharfen Gegensatz zu Clays Auffassung argumentierten, und zwar insbesondere hinsichtlich der Behandlung des Ruhr-Problems (s. dazu weiter unten).
Mit anderen Worten: Der Marshall-Plan trägt seinen offiziellen Namen „European Recovery Program" zu Recht: Sein Hauptmerkmal und innovativer Charakter zugleich bestanden darin, daß die USA — im Gegensatz zu ihrer negativen Einstellung in den zwanziger Jahren — die Föderation oder Integration Europas förderten und zur Erreichung dieses Ziels das Europäische Wiederaufbauprogramm als ein geeignetes Instrument ansahen. In der Zwischenkriegszeit hatte es die amerikanische Regierung vorgezogen, enge bilaterale Beziehungen zu Deutschland und zu jedem einzelnen europäischen Staat zu unterhalten, und sie hatte alle Pläne für eine europäische Zusammenarbeit (wie z. B.den Briand-Plan) als gegen ihre Interessen gerichtet angesehen, als eine „ganging up" der Europäer gegen die USA 11). Hingegen wollten die intellektuellen Väter des Marshall-Plans nicht dazu beitragen, die Vorkriegsstruktur zu restaurieren, sondern eine grundsätzliche Neugestaltung zu fördern. Demgemäß wurden auch die zu entwickelnden deutsch-amerikanischen Beziehungen eindeutig dem europäischen Konzept untergeordnet und eingefügt. Nicht Restauration, sondern Innovation war die Leitlinie: „Die Vorkriegsbedingungen wiederherzustellen, würde nicht nur eine Geldverschwendung, sondern ein glatter Geldmiß-brauch sein. Es wäre falsch, unsere Ressourcen dazu zu benutzen, separate Souveränitäten in Europa erneut aufzubauen, wenn sie ohne unsere Hilfe gezwungen wären, der Notwendigkeit folgend zusammenzukommen. Aber es wäre angebracht, unsere Ressourcen zu nutzen, wenn sie dazu helfen könnten, sie zur Einsicht zu bewegen."
Aus Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht der Europäer wurde die Integration nicht zur Bedingung für die Gewährung ökonomischer Hilfe gemacht, aber immerhin wurde durch die Gründung der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) ein erster Impuls gegeben
III. Die Anregungen liberaler Geschäftsleute
Daß die Verbindung zwischen dem Europäischen Wiederaufbauprogramm und dem Deutschland-Problem in Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der Zwischenkriegszeit (also nicht primär oder ausschließlich im Kontext des Kalten Krieges) und in bewußter Abkehr von der früheren bilateralen Praxis entwickelt wurde, wird nicht zuletzt dadurch bestätigt, daß führende Repräsentanten der amerikanischen Wirtschaftselite, die in den zwanziger Jahren enge Beziehungen zu Deutschland und Europa hatten, die neue Europa-Politik und die Lösung des Deutschland-Problems innerhalb dieses Konzepts maßgeblich mitgestalteten, wenn nicht sogar inaugurierten
An erster Stelle ist Winthrop Aldrich, der Vorsitzende des Direktoriums der Chase National Bank, zu nennen, der 1945 Präsident der Internationalen Handelskammer war. Die Chase National Bank hatte in den zwanziger Jahren erhebliche Anleihen nach Deutschland vermittelt und sich 1930 als Finanzagentin für das Deutsche Reich angeboten. Bereits im Sommer 1945 besuchte Aldrich anläßlich der Pariser IHK-Konferenz Europa und Deutschland. Er wurde begleitet von Shephard Morgan, dem Vizepräsidenten der Bank, der in der Dawes-Plan-Ära Mitarbeiter des amerikanischen Reparationsagenten gewesen war. Von Europa zurückgekehrt, erklärte Aldrich in einer öffentlichen Rede: „Das Problem, mit dem wir konfrontiert sind, ist nicht, was man — isoliert für sich — mit Deutschland machen soll, sondern was man mit Deutschland im Zusammenhang mit den europäischen wirtschaftlichen Erfordernissen machen soll."
Damit und mit ähnlichen Äußerungen im „President's Committee for Financing Foreign Trade" (in dem führende Industrielle und Bankiers vertreten waren) war die Einfügung der Deutschland-Politik in den europäischen Kontext als Problem definiert, aber noch nicht konzeptionell verarbeitet. Auf der 33. National Foreign Trade Convention in New York am 11. November 1946 bedauerten Aldrich und andere Redner (z. B. Allen Dulles, der ebenfalls über intensive Vorkriegsbeziehungen zu Deutschland verfügte und nach Beendigung seiner Geheimdiensttätigkeit in der Schweiz im Jahre 1945 eine ausgedehnte Informationsreise durch Deutschland gemacht hatte), daß noch kein durchdachtes Programm zur Eingliederung der deutschen Wirtschaft in die Gesamtwirtschaft Westeuropas existierte Eine mögliche Alternative wäre eine Politik des separaten Wiederaufbaus Deutschlands gewesen, die z. B. von dem ehemaligen Präsidenten Herbert Hoover nach seiner Deutschland-Mission im Frühjahr 1947 skizziert wurde Eine solche Politik hätte Deutschland ökonomisch wieder zum stärksten Faktor in Europa gemacht. Entsprechende Bedenken wurden Präsident Truman unterbreitet Innenpolitisch und außenpolitisch (Rücksicht auf Frankreich!) war ein separater, unkontrollierter Wiederaufbau Deutschlands nicht vertretbar, und damit schied praktisch diese Alternative aus.
Die konzeptionelle Verbindung von Kontrolle und Wiederaufbau Deutschlands und die Einfügung dieser beiden Komponenten in ein Konzept der westeuropäischen Integration trug diesen Bedenken Rechnung, und zwar wurde sie in internen Beratungen bereits zu dieser Zeit vorgenommen. Ferdinand Eber-stadt (der als ehemaliger Partner von Dillon, Read & Co., 1929 als Assistent von Owen D. Young auf der Pariser Reparationskonferenz und anschließend als Chef einer eigenen Firma enge persönliche und geschäftliche Beziehungen zu Deutschland hatte) entwickelte im Herbst 1945 in mehreren Briefen an Secretary of the Navy Forrestal den Gedanken, die Ruhrindustrie zu internationalisieren und damit die westeuropäische Integration einzuleiten: .. ] Die Vereinigten Staaten von Europa können und — so meine ich — sollten um eine internationalisierte oder zumindest europäisierte Ruhr als ihr Rückgrat geschaffen werden." Nur eine derartige europäische Konzeption schien geeignet zu sein, die französischen Forderungen nach politischer und ökonomischer Sicherheit konstruktiv zu verarbeiten
Unabhängig von Eberstadt und mit dem Gewicht, das er als außenpolitischer Berater des Republikanischen Präsidentschaftskandidaten besaß, vertrat John Foster Dulles — in offenkundiger Anknüpfung an seine Erfahrungen in Deutschland während des Ruhrkampfes und bei der amerikanischen Anleihevergabe in den folgenden Jahren — dieses Konzept. Bereits gegenüber der Stuttgarter Rede von Secretary of State Byrnes (6. September 1946) wandte er ein: „Ich hätte es für besser gehalten, das deutsche Problem im Zusammenhang mit einer zunehmenden politischen und wirtschaftlichen Einheit für Westeuropa zu sehen." Sein Gesamtkonzept legte er in einer weitbeachteten Rede vor der National Publi-shers Association in New York am 17. Januar 1947 der Öffentlichkeit vor Nach einem Plädoyer für eine Politik der Eindämmung der sowjetischen Expansionsbestrebungen skizzierte er im Blick auf die kommende Moskauer Außenministerkonferenz die europäische Dimension der deutschen Frage. Indem er das amerikanische Föderalismuskonzept auf Europa übertrug, glaubte er einen konstruktiven Neuansatz für eine friedliche und prosperierende Entwicklung Europas gefunden zu haben, zu der Deutschland wesentliches beitragen könnte, da das Industriegebiet des Rheinbeckens das natürliche ökonomische Herz Westeuropas sei. „Gewiß, ein Übereinkommen über Deutschland wird nicht per se eine Föderation Europas zustandebringen. Nur die europäischen Völker selbst können dies tun, und sie werden sich wahrscheinlich (nur) langsam bewegen. Aber die deutsche Regelung wird entscheidend bestimmen, ob die Bewegung in Richtung auf wirtschaftliche Einigung oder zur Wiederherstellung der alten Struktur unabhängiger, miteinander unverbundener souveräner Staaten führt.“ Denn die Wiedererrichtung eines einheitlichen Deutschland mit ausschließlich deutscher Kontrolle über sein Wirtschaftspotential werde von seinen westlichen Nachbarn nicht akzeptiert werden: „Wenn das wirtschaftliche Potential Westdeutschlands nicht sicher in Westeuropa integriert werde, dann sollte es auch nicht nur von den Deutschen genutzt werden." Die Deindustrialisierung sei dann die logische Maßnahme, die allerdings nicht zu einer dauernden Sicherheit führen könne. Dulles folgerte daher, daß nur eine Föderali-sierung Europas unter Einschluß Deutschlands eine Entwicklung des industriellen Potentials Westdeutschlands im Interesse Westeuropas, einschließlich Deutschlands, erlaube und daß eine derartige gemeinsame Kontrolle den Wiederaufbau Deutschlands ermögliche, ohne die Deutschen zu Herren Europas zu machen.
Diese Rede veranlaßte Secretary of State Marshall, Dulles zu bitten, ihn zur Moskauer Konferenz zu begleiten. Zuvor versicherte sich Dulles der Unterstützung des leitenden Beamten des State Department für sein West-eufopa-Konzept In Moskau bzw. auf der Heimreise setzte er sich gegenüber den als anti-französisch perzipierten Auffassungen Clays und Murphys durch und überzeugte Marshall, „daß das Problem Deutschland nicht isoliert behandelt werden könne". Er hatte den Eindruck, daß Marshall unter dem Einfluß seines Konzepts die Idee seiner Harvard-Rede entwickelte, „deren Grundgedanke war, daß das Problem Europa nur als ganzes gelöst werden könne."
Die europäische Lösung war also vorbereitet worden von den Diskussionen der ökonomischen Elite, unter maßgeblicher Beteiligung derjenigen Männer, die aufgrund ihrer früheren Geschäftsbeziehungen und nach unmittelbaren Eindrücken im Nachkriegsdeutschland geprägt worden waren Die amerikanische Regierung konkretisierte dieses Programm (in einem von John Gimbel detailliert geschilderten, langwierigen bürokratischen Verhandlungsprozeß), als das kooperative Friedenssicherungskonzept, vor allem nach dem Fehlschlag der Zusammenarbeit in der atomaren Frage, gescheitert und damit auch die kooperative Vier-Mächte-Politik unmöglich geworden war.
Erst nach dieser Veränderung in der internationalen Umwelt wurde die neue Europa-Politik und mit ihr die neue Deutschland-Politik, so wie sie von den genannten Vertretern der ökonomischen Elite vorkonzipiert und innerbürokratisch und international modifiziert worden war, zur offiziellen amerikanischen Politik. Diejenigen Geschäftsleute, die an der Begutachtung, Ausformulierung und Durchführung des europäischen Hilfsprogramms beteiligt waren, unterstützten konsequenterweise die volle Einbeziehung Westdeutschlands als wesentliche Voraussetzung für sein Gelingen Sie vermittelten entsprechende Erkenntnisse und Informationen, die sie in Europa und Deutschland — nicht zuletzt in direkten Gesprächen mit deutschen Geschäfts-leuten — gewonnen hatten, in den internen amerikanischen Entscheidungsprozeß.
Es wäre freilich falsch und entspräche lediglich einem weitverbreiteten ideologischen Vorurteil, wollte man aus diesem Sachverhalt schließen, der Marshall-Plan sei Ausdruck eines einseitigen Klässeninteresses oder des Expansions-und Herrschaftsstrebens des amerikanischen Wirtschaftsimperialismus gewesen. Auch die Gewerkschaften, die die Situation in Europa und Deutschland ähnlich definierten wie die zitierten liberalen Geschäftsleute, unterstützten das Europäische Wieder-aufbauprogramm Die American Federation of Labor und der Congress of Industrial Organizations arbeiteten aktiv und gleichberechtigt in der Verwaltung des Marshall-Plans mit. Abgesehen von den Kommunisten, kam der Widerstand von den konservativen Kreisen der Geschäftswelt und von der linksliberalen Gruppe um den entlassenen Handelsminister Wallace.
In einem Telegramm an den Schatzmeister der CIO, James B. Carey, vom 17. November 1947 skizzierte das State Department die innenpolitische Konstellation folgendermaßen „Eine eben fertiggestellte Übersicht über die Einstellung gesellschaftlicher Gruppen zum Marshall-Plan zeigt, daß Farmer-Verbände, Gewerkschaften, Veteranen-Verbände, religiöse Gruppierungen und allgemeine BürgerKomitees breite Unterstützung liefern. Opposition ist hauptsächlich bei konservativen Wirtschaftsverbänden, wie z. B. bei der US Chamber of Commerce, zu finden; das Wall Street Journal und der National Industrial Conference Board äußern Bedenken [... ]. Abgesehen von Henry Wallaces Progressive Ci-tizens of America, die opponieren, ergibt sich als allgemeine Schlußfolgerung [der Über-sicht]: Je liberaler die Gruppen sind, um so mehr sind sie für den Marshall-Plan, und je konservativer die Gruppen sind, um so mehr lehnen sie ihn ab. Angesichts dieser Analyse ist jede Behauptung, der Marshall-Plan sei ein Geschöpf der Wall Street, unwahr. Wall Street möchte Geld für Steuerreduktionen sparen, statt es dem Ausland zur Verfügung zu stellen." Untersuchungen im Frühjahr 1948 und die Anhörungen (Hearings) zum ERP-Gesetz belegten daß diese Kräfteverteilung im wesentlichen bestehen blieb. Das Europäische Hilfs-programm war Ausdruck einer breiten liberalen Strömung in der amerikanischen Gesellschaft.
IV. Der Beitrag zur Bildung eines westdeutschen Staates
Der Einschluß der Westzonen Deutschlands in das Europäische Wiederaufbauprogramm machte es notwendig, in irgendeiner Weise eine deutsche Regierung zu schaffen, denn das gesamte Programm beruhte ja auf dem Prinzip der gemeinsamen Entscheidungsfindung (Arkes), Prinzip nicht auf eines imperialistischen Diktats. Wie eine politisch-staatliche Regelung für die Westzonen aussehen und angesteuert werden konnte, war indes eine offene Frage. Gewiß, rückblickend betrachtet, war die Schaffung der Bizone bereits ein erster organisatorischer Schritt zur Weststaatsgründung. Aber 1946, als die bizonale Entscheidung getroffen wurde, war bei der amerikanischen Regierung der politische Wille, die deutsche Einheit zu erhalten, noch vorherrschend. Diese Feststellung wird belegt durch die internen Beratungen des War Council; General Eisenhower (JCS) erklärte dort am 5. Dezember 1946, „daß das bizonale Arrangement ein konstruktives Programm der Selbstversorgung darstelle, das eine große politische Waffe beim Zustandebringen dieser Einheit sein könne, da die Russen den Ruhr-Stahl benötigten"
Es ist mithin unzutreffend, wenn behauptet wird, daß der „Weg zur Schaffung der Voraussetzungen für einen separaten Staat“ 1946 „of -fensichtlich" geworden und mit Byrnes’ Stuttgarter Rede vom 6. September 1946 „die weitere Entwicklung in dieser Richtung auch offiziell abgesteckt" worden sei Dem politischen Einheitskonzept entsprach in dieser Phase der von Secretary of State Byrnes wiederholt angebotene Vier-Mächte-Vertrag zur Garantie der Entmilitarisierung Deutschlands für einen Zeitraum von 25 bzw. 40 Jahren Die Situation war 1946/47 also noch relativ offen. Der Marshall-Plan trug dann indirekt insofern zur Herausbildung einer staatlich-politischen Organisation für Westdeutschland bei, als die UdSSR mit der Entscheidung, sich nicht an dem Europäischen Wiederaufbauprogramm zu beteiligen, automatisch auch die Sowjetische Besatzungszone in Deutschland ausschloß. Die Beschränkung implizierte zugleich die analoge Beschränkung des gesamtdeutschen Konzepts auf ein westdeutsches. Das State Department kam daher zu dem logischen Schluß, daß „ein maximaler deutscher Beitrag zum europäischen Wiederaufbau nicht erreicht werden könne, ohne eine politische Organisation Westdeutschlands einzurichten"
Diese Schlußfolgerung (die auch von den verschiedenen Beratungsausschüssen geteilt wurde) beinhaltete jedoch keineswegs eine Vorentscheidung für diejenige politische Lösung, die schließlich mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland gefunden wurde. John Foster Dulles, um nur einen der einflußreichen Berater auf diesem Felde zu nennen, schlug eine völlig andersartige Lösung vor, nämlich die Bildung von vier selbständigen deutschen Staaten, die in ein integriertes Westeuropa als „separate Staaten, nicht in Form eines westdeutschen Bundesstaates", eingegliedert werden sollten Der europäische Rahmen war Hauptbestandteil der amerikanischen Politik, England, Frankreich, Italien usw. zu unterstützen und zugleich das Deutschland-Problem zu lösen. Um Westdeutschland in diesen europäischen Rahmen zu integrieren, waren verschiedene Arten politischer Organisation möglich, solange sie nur mit diesem generellen Ziel der europäischen Einigung vereinbar waren. Diese Überlegung wurde wiederum am klarsten von John Foster Dulles formuliert, indem er an Senator Vandenberg am 5. Dezember 1949 (nachdem die Bundesrepublik Deutschland gegründet war) schrieb „daß nur durch [europäische] Einheit Stärke entstehen kann, und nur Stärke in Westeuropa schafft den Rahmen, innerhalb dessen es möglich ist, Deutschland zu gestatten, wieder stark zu werden, ohne Westeuropa zu beherrschen oder eine gefährliche Verhandlungsposition zwischen Ost und West einzunehmen".
V. Die Absicherung der Westbindung
Daß in dem bilateralen deutsch-amerikanischen ERP-Abkommen vom 15. Dezember 1949 Vorsorge getroffen wurde, um die letztgenannte Alternative praktisch auszuschalten, ist in der Literatur bisher übersehen worden. Artikel I, 3 dieses Abkommens enthält nämlich die Klausel, daß die „Exporterlöse aus der gesamten künftigen Produktion und aus Lagerbeständen der Bundesrepublik [... ] für die Bezahlung der Hilfeleistungen, die gemäß dem Abkommen bereitgestellt worden sind, verfügbar sein" würden. Eine derartige Verpfändungsklausel gab es in keinem anderen ERP-Abkommen. Mit seiner Hilfe sollten auch in Zukunft Reparationslieferungen an die Sowjetunion aus der deutschen Produktion verhindert und feste Bindungen an die amerikanische Politik vertraglich fixiert werden. Vizekanzler Blücher, der Bundesminister für den Marshall-Plan, und seine Berater haben seinerzeit diese Absicht mit Besorgnis und innerem Widerstand klar erkannt. In einer Besprechung am 10. November 1949 stellte Blücher „zu dem ganzen Problem der Verpfändung den außenpolitischen Gesichtspunkt als maßgebend heraus: Durch die Verpfändung würde die Bundesrepublik sich selbst die Möglichkeit beschränken, eines Tages mit Sowjetrußland über die Reparationen und die Fragen der Ostzone und der Ostgebiete zu einer Einigung zu kommen [... ]. Dr. Emminger unterstreicht diesen Gesichtspunkt des Mini-sters mit dem Hinweis, daß nach seiner Kenntnis die Amerikaner mit der Verpfändungsklausel unsere Politik an ihren Willen binden und insbesondere selbständige Verhandlungen der Bundesrepublik mit Sowjetrußland von ihrer Einwilligung abhängig machen wollen."
Es ist nicht verwunderlich, daß in der Ratifikationsdebatte des Deutschen Bundestages diese hochpolitische Implikation von dem KPD-Abgeordneten Rische aufgegriffen und in seine Propagandarede eingebaut wurde, während die Mitglieder der Regierungsparteien und der demokratischen Opposition abschwächend auf die Tatsache verwiesen, daß Rückzahlungen aus Exporterlösen davon abhängig gemacht wurden, daß sie mit der Erhaltung einer friedlichen und gesunden deutschen Wirtschaft vereinbar seien
Die weitere Entwicklung der deutschen Innen-und Außenpolitik machte den politischen Zweckinhalt der Verpfändungsklausel obsolet. Gleichwohl ist die Existenz dieser Klausel bemerkenswert. Sie belegt, daß sogar unter dem Regime des Besatzungsstatuts, das die außenpolitische Souveränität der Bundesrepublik Deutschland einschränkte, der Marshall-Plan als ein zusätzliches potentielles Instrument benutzt wurde, um sicherzustellen, daß die Bundesrepublik fest in den Westen integriert blieb. Für die Bundesrepublik Deutsch-land bedeutete der Marshall-Plan nicht nur ökonomische, sondern auch politische Integration in den Westen, die von allen demokratischen Parteien bejaht wurde.
VI. Die Sozialisierungsfrage
Während der außenpolitische Aspekt des Marshall-Plans oftmals unterbewertet wurde, wurden seine ökonomischen Implikationen für Deutschland nicht selten überbewertet. So ist immer wieder behauptet worden, der Marshall-Plan habe die Versuche zur Verstaatlichung der westdeutschen Grundstoffindustrie verhindert. Auch neuerdings wird wieder konstatiert, der „präjudizierende Charakter“ des Marshall-Plans für die Wirtschaftsordnung Westdeutschlands sei „offenkundig", und generell wird von der „Verhinderung der Sozialisierungsmaßnahmen durch die US-Militärregierung" gesprochen Beide Aussagen sind in dieser Form nicht haltbar. Gewiß, es ist zutreffend, daß gemäß dem amerikanischen Wertesystem, in dem freiheitliche Demokratie und freie Wirtschaft eine untrennbare Einheit bilden, die amerikanischen politischen und ökonomischen Eliten hofften und wünschten, daß sich in Westdeutschland eine freie Marktwirtschaft durchsetzen würde. Aber zwischen Wunsch und Oktroi ist zu unterscheiden. Die eigentliche Frage lautet, ob und gegebenenfalls inwieweit die USA diesen Wunsch zu einer Bedingung für die amerikanische Hilfeleistung an Deutschland machten.
Auch hier ist die europäische Dimension einzubeziehen. Denn nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Staaten gab es bekanntlich Sozialisierungstendenzen bzw. wurden (wie in England) auf demokratischem Wege Sozialisierungsmaßnahmen durchgeführt. Ob mit den amerikanischen Hilfeleistungen, die von allen europäischen Ländern (einschließlich Deutschlands) dringend benötigt wurden, eine Sozialisierungspolitik in den Empfängerländern vereinbar sein sollte, war mithin ein generelles Problem das in Deutschland durch den Grundwiderspruch zwischen Demokratisierung und Besatzungsdiktatur eine zusätzliche Verschärfung erfuhr: Die amerikanische Besatzungspolitik mußte dem Grundkonsens über die Unabdingbarkeit einer freien marktwirtschaftlichen Ordnung, der in der amerikanischen Demokratie bestand, Rechnung tragen und zugleich gemäß dem eigenen Demokratiepostulat in der US-
Zone eine potentielle bzw. (wie im Falle Hessen) eine aktuelle demokratische Entschei-. dung für die Sozialisierung der Grundstoffindustrie respektieren.
. Die amerikanische Regierung rang sich — gegen interne Widerstände — dazu durch, eine Politik zu verfolgen, die eine demokratisch begründete Sozialisierung in der US-Zone nicht ausschloß
Mehr noch: In Hessen (US-Zone) wurde — entgegen weitverbreiteter Meinung — die Sozialisierung nicht auf Dauer suspendiert, sondern (allerdings in restriktiver Auslegung) verwirklicht. Die amerikanische Militärregierung vertrat lediglich die Auffassung, daß der Eigentumstitel nicht qua Art. 41 automatisch auf die Hessische Landesregierung übertragen worden sei „Freilich kann der Eigentumstitel übertragen werden, sobald die Einzelheiten dafür gesetzlich festgelegt werden. Zu diesen Einzelheiten gehört die Entschädigung der Eigentümer." Daß die Verabschiedung des Durchführungsgesetzes sich sehr verzögerte, lag nicht am Einspruch der US-Besatzungsmacht, sondern an den Stimmverhältnissen im Hessischen Landtag, d. h. die Sozialisierung beschränkte sich schließlich auf die Errichtung der Hessischen Berg-und Hüttenwerke;
für diesen Komplex wurden 30, 4 Millionen DM Entschädigung gezahlt.
Im Prinzip hielt die amerikanische Regierung auch hinsichtlich der Sozialisierung im Ruhrgebiet an der Auffassung fest, daß das deutsche Volk in freier demokratischer Entscheidung über die Wirtschaftsordnung befinden sollte. Angesichts der Bedeutung des Ruhrgebiets für ganz Deutschland war nach amerikanischer Überzeugung der Landtag von Nordrhein-Westfalen nicht hinreichend legitimiert und waren vor der Bildung einer nationalen bzw. westdeutschen Regierung die Voraussetzungen für eine derartige freie Entscheidung nicht gegeben. Zudem hätte eine Verstaatlichung im Ruhrgebiet das Land Nordrhein-
Westfalen zum beherrschenden Staat gemacht Der zwischen der britischen und der amerikanischen Regierung im August 1947 ausgehandelte Kompromiß bedeutete eine Verschiebung der Entscheidung in der Hoffnung, daß sie später zugunsten einer freien Marktwirtschaft ausfallen werde. Er war kein Oktroi der amerikanischen Wirtschaftsordnung. Bei all diesen Überlegungen und Entscheidungen auf der Regierungsebene war das unmittelbare Ziel der Produktionssteigerung und die Rücksichtnahme auf die französischen Interessen ausschlaggebend Zusätzlich argumentierte General Clay in seinem Bestreben, eine gegen Sozialisierungsmaßnahmen gerichtete Politik in Washington durchzusetzen, mit dem Hinweis, er sei sicher, daß eine sozialisierte Wirtschaft der Bizone für amerikanische Industrielle und Bankiers, von deren Finanzierungsbereitschaft das deutsche Export-programm letzten Endes abhängen werde, unakzeptabel sei
Jedenfalls war die amerikanische Regierung, die bereits einen großen Teil der deutschen Lebensmittelimporte mit amerikanischen Steuergeldern finanzierte, nicht bereit, zusätzliche Dollars bereitzustellen, damit Entschädigungen für sozialisierte Betriebe bezahlt werden könnten.
Aus all dem ergibt sich, daß das Problem der Verstaatlichung der deutschen Grundstoffindustrie zunächst ein Problem der amerikanischen Besatzungspolitik war; und bezüglich der Zukunftsauswirkungen einer Sozialisierung war die Hauptfrage nicht, ob die Verstaatlichung amerikanische Regierungskredite verhindern, sondern, ob sie die private Anleihebereitschaft ausschließen würde. Im Kontext des Marshall-Plans gewann dann die Sozialisierungsproblematik zusätzlich ein taktisches Gewicht: Eine amerikanische Zustimmung und Mitwirkung an dem britischen Sozialisierungsprogramm an der Ruhr wäre auf den vehementen Widerstand Frankreichs gestoßen und hätte vor allem neue Schwierigkeiten im amerikanischen Kongreß erzeugt, so daß innen-und außenpolitisch die Verwirklichung des Europäischen Wiederaufbauprogramms blockiert worden wäre
Die Gründe gegen eine Sozialisierung der Ruhr-Industrie waren also gewichtig. Gleichwohl sollte nicht übersehen werden, daß die amerikanischen politischen und ökonomischen Eliten in ihren diesbezüglichen Urteilen differenzierter waren, als einige Historiker vermuten. Innerhalb der Regierung gab es die Tendenz, „ein sozialistisches Programm für Deutschland hinzunehmen". Owen D. Young, der Mitglied des Harriman-Ausschusses war und ebenso wie Harriman Deutschland aufgrund seiner Vorkriegstätigkeit bestens kannte resümierte in einem Brief an Harriman vom 12. September 1947 diese von ihm kritisierten Überlegungen wie folgt „Wenn wir ein sozialistisches Programm nicht hinnehmen oder gar versäumen, es aktiv zu betreiben, dann wird die kommunistische Propaganda so wirkungsvoll sein, daß sie all unsere finanzielle Hilfe zunichte macht." Daß dieses Resümee eine korrekte Wiedergabe offizieller Gedankengänge war, wird durch interne Dokumente bestätigt. Im State Department wurde die Unterstützung sozialdemokratischer Regierungen in Europa (als Gegengewicht zu kommunistischen Trends) befürwortet und betont, „daß die Regierung die Unterstützung derjenigen europäischen Länder nicht verweigert hat, deren Regierungen extensive Verstaatlichungsprogramme in Angriff genommen haben, wie vor allem das Vereinigte Königreich und Frankreich. Die deutsche Tendenz zur Verstaatlichung sollte als Teil der gleichlaufenden allgemeinen europäischen Tendenz angesehen werden. Sie zu bekämpfen, würde den Kommunisten ein Argument in die Hand geben, das sie in ganz Westeuropa einsetzen würden"
Führende amerikanische Geschäftsleute teilten diese Auffassung. Sie waren durchaus in der Lage, zwischen demokratischem'Sozialismus und totalitärem Kommunismus zu unterscheiden. Thomas W. Lamont (J. P. Morgan & Co.) war sogar bereit, zu tolerieren, daß die Briten amerikanische Finanzhilfe teilweise für die Durchführung der Sozialisierung in der deutschen Industrie nutzten, da er „die Ausdehnung des Kommunismus — des Polizeistaates — mehr fürchtete" als den demokratischen Sozialismus -Im gleichen Sinne argumentierte der Bankier James Warburg, daß der demokratische Sozialismus der Freund und nicht der Feind der Vereinigten Staaten sei. Für Männer wie Lamont und Warburg war entscheidend die Erhaltung der politischen Freiheit Dementsprechend lehnte es auch der Harriman-Ausschuß (einschließlich jener
Mitglieder, die die Geschäftswelt repräsentierten) ab, denjenigen Industriellen zu folgen, die Ländern mit „kollektivistischer" Politik die Marshall-Plan-Hilfe versagen wollten
Was Deutschland anbelangte, so wurde mit dem Gesetz Nr. 75 der amerikanischen und britischen Militärregierung die „endgültige Entscheidung über die Eigentumsverhältnisse im Kohlebergbau und in der Eisen-und Stahl-industrie einer aus freien Wahlen hervorgegangenen, den politischen Willen der Bevölkerung zum Ausdruck bringenden deutschen Regierung" überlassen und diese Regierung entschied sich nicht für die Sozialisierung, sondern für die soziale Marktwirtschaft.
Angesichts dieser Tatsache kann man nur darüber spekulieren, wie die amerikanische Reaktion auf eine demokratische Entscheidung in entgegengesetzter Richtung gewesen wäre.
Darüber, daß die amerikanische Regierung sie ^akzeptiert hätte, kann es aufgrund der internen Erörterungen und des tatsächlichen Verhaltens in der Mitbestimmungsfrage (vgl. unten) keinen Zweifel geben. Was die vermutliche Reaktion der amerikanischen Geschäftsleute anbelangt, so sollte schon alleine das Verständnis einiger Bankiers für die Soziali-
sierungspolitik der Labour-Regierung skeptisch machen gegenüber der vorschnellen Behauptung, eine Obstruktionspolitik amerikanischer Geschäftsleute sei mit Sicherheit zu erwarten gewesen. Andererseits ist zu berücksichtigen, daß die Kredit-und Investitionswürdigkeit des mit dem Erbe des Nationalsozialismus und des Krieges belasteten Deutschlands in weitaus größerem Maße beeinträchtigt war und durch Sozialisierungsmaßnahmen zusätz-lieh gefährdet, wenn nicht gar völlig zerstört hätte werden können.
Die intensive Einflußnahme der NAM und des NFTC gegen die Einführung der partitäti-schen Mitbestimmung in der Montan-Indu-strie und das anschließende Disengagement in diesem Sektor geben der These, daß im Sozialisierungsfalle ein gravierender Vertrauensverlust eingetreten wäre, eine hohe Wahrscheinlichkeit. Die Auseinandersetzungen um die Mitbestimmung belegen jedoch auch, daß trotz der massiven Intervention amerikanischer Geschäftsleute konträre strukturpolitische Entscheidungen getroffen werden konnten. Im Falle der Mitbestimmung war es sogar die amerikanische Hochkommission, die gegen die transnationalen Interventionen amerikanischer Geschäftsleute durch die Aufhebung der ursprünglich verordneten Suspendierung einen wesentlichen Impuls für eine bundesgesetzliche Mitbestimmungsregelung gab Ebenso wie die amerikanische Regierung eine demokratische Entscheidung zugunsten der Sozialisierung der Grundstoffindustrie respektiert hätte, kann dies auch für die amerikanische Geschäftswelt angenommen werden, zumal sie später (1952) ebenfalls den Stabilisierungseffekt der Mitbestimmung erkannte
Wie groß oder wie klein auch immer der indirekte Beitrag des Marshall-Plans zur Verhinderung der Sozialisierung der Ruhrindustrie gewesen sein mag, es verdient festgehalten zu werden, daß in der US-Zone (in Hessen) ungeachtet des Marshall-Plans Grundstoffindustrien sozialisiert wurden und daß sich die amerikanische Regierung mit Gesetz Nr. 75 selbst band, eine freie demokratische Entscheidung des deutschen Volkes zuzulassen und anzuerkennen, und zwar unabhängig davon, ob sie inhaltlich ihrem Wunsch entspräche oder nicht 57a).
VII. Die sozioökonomischen Wirkungen
Der Wandel des sozioökonomischen Klimas in Westdeutschland zugunsten einer freien Marktwirtschaft mit starken sozialen Komponenten war nicht zuletzt eine Folge des Funktionierens (und nicht eine Vorbedingung) des Marshall-Plans. Zusätzlich zu den positiven psychologischen Impulsen, die durch die gleichberechtigte Einbeziehung des besiegten Landes in das Europäische Wiederaufbauprogramm erzeugt wurden, ist derjenige Teil des Marshall-Plans, der „Technische Hilfe" genannt wurde, als ein wichtiger Faktor in diesem Wandlungsprozeß anzusehen.
Unveröffentlichte Dokumente belegen, daß in Deutschland die Attraktivität der amerikanischen politischen und sozialen Kultur als Folge der Vielzahl direkter transnationaler Kontakte, die durch die technische Hilfe organisiert wurden, zunahm. Deutsche Gewerkschafter kehrten von ihrer USA-Reise als „Botschafter der amerikanischen Demokratie" zurück; sie waren beeindruckt von der Rolle, „die die American Federation of Labor sowohl im wirtschaftlichen und politischen Leben der USA als auch in den internationalen Beziehungen spielen"
Beispielhaft kann dieser Effekt anhand der Studienreise dokumentiert werden, die Markus Schleicher (Vorsitzender des Zonenausschusses der Gewerkschaften der amerikani-sehen Zone), Fritz Dahlmann (britische Zone), Adolf Ludwig (französische Zone) und Ernst Scharnowski (Unabhängige Gewerkschaftsorganisation Berlin) vom 6. Oktober bis 30. November 1948 unternahmen
Die Gewerkschafter waren äußerst beeindruckt — nicht nur von der Größe des Landes und der Produktivität der amerikanischen Wirtschaft, sondern insbesondere von dem hohen Lebensstandard der Arbeiter und der Stärke der amerikanischen Gewerkschaften sowie von dem Interesse, das auch bei Regierungsstellen an der Mitwirkung der deutschen Gewerkschaften an den entscheidenden Wiederaufbauprogrammen bestand. In diesem Sinne berichteten sie nach ihrer Rückkehr in offiziellen Rundschreiben, in Aufsätzen und in zahlreichen Gewerkschaftsversammlungen über ihre Eindrücke. In einem Zeitraum von drei Monaten sprach z. B. Markus Schleicher auf 25 Veranstaltungen über seine USA-Reise und die amerikanischen Lebens-und Arbeitsverhältnisse. Vor allem die Einflußmöglichkeiten der amerikanischen Gewerkschaften wurden als Vorbild empfohlen: Sie seien weit größer als in Deutschland und basierten auf einer ausgezeichneten Zusammenarbeit zwischen der Betriebsführung und den Gewerkschaften; die deutschen Arbeiter und ihre Gewerkschaften würden froh sein, wenn sie ihre von der Militärregierung suspendierten Betriebsräte-gesetze gegen diesen politischen Einfluß der Gewerkschaften in den Vereinigten Staaten eintauschen könnten.
Insgesamt betrachtet, hatten die aus den Marshall-Plan-Mitteln finanzierten Studienreisen das offizielle Hauptziel, die Produktivität der europäischen Wirtschaften zu steigern, und dieses Ziel wurde durch die Übertragung amerikanischen technischen Wissens und amerikanischer Sozialphilosophie zu erreichen versucht.
Die Veröffentlichungen des Rationalisierungs-Kuratoriums der Deutschen Wirtschaft (der ERP-Produktivitätszentrale in Deutschland) zeigen, daß der Technologietransfer als vorrangig betrachtet wurde und die entsprechenden Bemühungen auch quantitativ vorherrschten Die Unterlagen belegen jedoch auch, daß der sozialphilosophische und sozialpolitische Transfer in seiner grundlegenden Bedeutung klar erkannt wurde, und zwar nicht nur von den amerikanischen Geschäftsleuten. Im Public Advisory Board der Economic Co-operation Administration (in dem Vertreter der Gewerkschaften, der Unternehmer und der ERP-Administration zusammenarbeiteten) betonten insbesondere die Repräsentanten der AFL und des CIO die Verbindung von Produktivitätssteigerung und Sozialpartnerschaft. So führte beispielsweise James B. Carey, der Schatzmeister des CIO, in einer Denkschrift aus, daß eine Produktivitätssteigerungspolitik, die Arbeitern, Verbrauchern und Unternehmern einen gerechten Anteil am Produktivitätszuwachs zukommen lasse, der wirksamste Weg zur Wiedergewinnung der demokratischen Loyalität der europäischen Arbeiterschaft sei „Der Gedanke der gleichzeitigen Steigerung der Produktion und des allgemeinen Konsums ist das typischste amerikanische Produkt, das wir exportieren können. Es ist meiner Ansicht nach die beste Antwort der Demokratie auf die kommunistische Behauptung, daß Konflikt und Zusammenbruch unvermeidliche Produkte unserer Art von Wirtschaftsgesellschaft sind ... Wir haben in unserer amerikanischen Erfahrung die Antwort auf den Kommunismus gefunden. Unsere Freunde in Europa wollen diese Idee erproben und ihren Bedingungen anpassen. Ich glaube nicht, daß wir sie im Stich lassen sollten, selbst wenn einige furchtsame Gemüter es . Einmischung'nennen mögen."
Deutscherseits hatte der Bundesminister für den Marshall-Plan, Blücher, schon bei seinem USA-Besuch im Februar 1950 den Beamten des State Department erklärt zur Steigerung der Produktion sollte eine aktive Lohn-politik betrieben werden, und dabei würden „die Beispiele, wie sie aus größeren Betrieben der USA bekanntgeworden sind, als Muster dienen".
Dementsprechend galt — wie das Bundesministerium für den Marshall-Plan nach den ersten Besuchsreisen konstatierte — ein großer Teil der Untersuchungen der US-Reisenden dem Verhältnis zwischen Betriebsführung und Arbeitnehmern in den amerikanischen Betrieben „Dieses Verhältnis basiert auf dem gemeinsamen Ziel der Produktivitätssteigerung. Beide Partner gehen dabei von der Erkenntnis aus, daß jede Steigerung der Produktivität sowohl dem Unternehmen als auch den Arbeitnehmern zugute kommt, indem sie Preissenkungen bei gleichzeitiger Erhöhung der Produktion und der Löhne, verbunden mit Verkürzung der Arbeitszeit, mit sich bringt. In der wissenschaftlichen und praktischen Erforschung aller Probleme, die mit dem Begriff der Produktivität verbunden sind, hat man in den USA wie die deutschen Sachverständigen feststellen konnten, gerade in den letzten Jahren beträchtliche Fortschritte erzielt."
Berichte von Unternehmern und Arbeitnehmern bestätigen, daß durch die ERP-Studien-
gruppenreisen eine Vermittlung von amerikanischen Vorstellungen der sozialpartnerschaftlichen Produktivitätsund Konsum-steigerung in das deutsche politisch-soziale System erfolgte. Darüber hinaus wurde die Zusammenarbeit zwischen staatlichen Stellen, Arbeitnehmern und Gewerkschaften, die durch die US-Studienreisen initiiert worden war und sich an diesen Vorstellungen orientierte, institutionalisiert: Im Jahre 1952 wurden der „Ausschuß für die Produktionssteigerung im Kohlebergbau" und der „Deutsche Produktivitätsrat" gegründet, in dem Vertreter der Bundesregierung, des BDI/BDA, des DGB und der Mutual Security Agency (MSA) vertreten waren. Zwar war in diesem Gremium das transnationale Element durch die Nachfolgeorganisation der amerikanischen MarshallPlan-Verwaltung nur schwach vorhanden und fehlten (im Gegensatz zu dem British-Ameri-can Productivity Council) die amerikanischen Gewerkschaftsund Unternehmervertreter. Aber dieser Prototyp der „Konzertierten Aktion" veranschaulichte, wie stark der von James Carey und anderen Vertretern amerikanischer Gesellschaftsgruppen empfohlene „Export" amerikanischer Ideen zur Wirkung kam.
Im Unterschied zu diesen Ausschüssen, in denen Vertreter der Arbeitgeber und Gewerkschaften zusammenwirkten, wurden ebenfalls unter der ERP-Ägide multilateral und bilateral spezielle Gremien und Konferenzen für die transnationale Zusammenarbeit initiiert, in denen ausschließlich Unternehmer aus den atlantischen Ländern vertreten waren.
VIII. Der Beitrag zum Wirtschaftsaufschwung
Von den sozioökonomischen Wirkungen des Marshall-Plans ist der im engeren Sinne wirtschaftliche Beitrag zu unterscheiden. Während er im öffentlichen Bewußtsein durchweg hoch eingeschätzt wurde, sind in der wissenschaftlichen Literatur erhebliche Relativierungen versucht worden. Charles Kindleber-ger hat (u. a. in Auseinandersetzung mit James Wallich) schon in den sechziger Jahren die entscheidende Rolle des Marshall-Plans für den Wirtschaftsaufschwung bestritten und statt dessen postuliert, daß „das sine qua non das elastische Angebot an Arbeitskraft war, wodurch die Löhne niedrig und die Gewinne und Investitionen hoch gehalten wurden" Darüber hinaus hat neuerdings Werner Abels-hauser argumentiert, daß auch der Anstoß zum Wirtschaftsaufschwung nicht vom Marshall-Plan ausging, sondern daß der Wiederaufbau schon im Herbst 1947 in vollem Gang war, bevor der Marshall-Plan in Kraft trat und die ersten ERP-Lieferungen eintrafen Obwohl beide Argumente auf relevante Bedingungsfaktoren verweisen, die zweifellos außerhalb des Wirkungszusammenhanges der ERP-Hilfe liegen, können sie gegenüber einer Reihe anderer Fakten kein durchschlagendes Gewicht gewinnen:
Erstens: Die für die Bizone bzw. Trizone zuständige Joint Export-Import Agency antizipierte bereits im Herbst/Winter 1947 die baldige Verfügbarkeit der ERP-Mittel und autorisierte die deutsche Wirtschaftsverwaltung, ein Import-Programm in Höhe von 400 Millionen US-Dollar für 1948 vorzubereiten; d. h. „noch bevor die ersten ERP-Lieferungen Deutschland erreichten, war der Nutzeffekt des bevorstehenden umfassenden Hilfsprogramms bemerkbar geworden"
Zweitens: Der Prozeß der wirtschaftlichen Wiederbelebung und des Aufschwungs hatte sich noch nicht stabilisiert, als das Europäische Wiederaufbauprogramm 1948/49 tatsächlich realisiert wurde. Ganz im Gegenteil gab es Ende 1949 Zeichen einer wirtschaftlichen Stagnation, und es waren die Marshall-Plan-Gelder, mit deren Hilfe der „eigentliche Wiederaufbau" (Pohl) zustande gebracht wurde. Im Jahre 1950 betrugen die Gesamtinvestitionen zwischen 9 und 10 Milliarden DM, von denen 2 Milliarden DM (= 20— 25%) aus den ERP-Gegenwert-Mitteln stammten. Diese Mittel wurden in einem Planungsverfahren, das von einem interministeriellen Ausschuß und der Kreditanstalt für Wiederaufbau besorgt wurde, konzentriert auf kritische Wirtschaftsbereiche wie elektrische Energieerzeugung, Kohlebergbau, Wohnungsbau und Transportwesen gelenkt. „Erst hierdurch wurde eine kontinuierliche Industrieentwicklung ermöglicht. Nicht aus der absoluten Höhe der Gesamtinvestitionen, sondern aus ihrem gezielten und sinnvollen Einsatz resultierte jene Effektivität, aus der heraus die Basis der gesamten Wirtschaft, nämlich die Grundstoffindustrie, geschaffen wurde." Die Gegenwert-Mittel stellten ein Planungsinstrument dar, das selbst in einem System freier Marktwirtschaft notwendig war. Der Marshall-Plan und die anschließenden privaten amerikanischen Kapitalmittel (die infolge der positiven Erst-wirkungen des Marshall-Plans verfügbar wurden) statteten die deutsche Wirtschaft mit dem notwendigen Produktionsfaktor „Kapital" aus; das reiche Angebot des Faktors . Arbeit" hätte allein den Wirtschaftsaufschwung nicht bewerkstelligen können.
Drittens: Die ERP-Hilfe versetzte Deutschland in die Lage, weiterhin die für den Wirtschaftsaufschwung notwendigen Einfuhren von Lebensmitteln, Rohstoffen, Brennstoffen und Maschinen zu bezahlen, für die zunächst keine hinreichenden Exporterlöse zur Verfügung standen (1948/49 wurden ca. 50% aller Importe auf dem Wege der Auslandshilfe finanziert). Ferner trug der Marshall-Plan merklich zu dem enormen Anstieg der deutschen Exporte bei (vor allem in Richtung USA). Die Gesellschaft zur Förderung des deutsch-amerikanischen Handels, das deutsche Dollar-Drive-Bureau, wurde im Kontext des Marshall-Plans gegründet und teilweise aus ERP-Mitteln finanziert
Da dieser geplante Gesamtprozeß auch entscheidungsmäßig und personell im Zusammenwirken zwischen deutschen Stellen und Vertretern der amerikanischen ERP-Verwaltung (Economic Cooperation Administration, ECA) gesteuert wurde, kann gesagt werden, daß in diesem umfassenden Rahmen gemeinsamer Entscheidungen (Arkes) amerikanische ECA-Vertreter direkt am deutschen Wiederaufbau und am Wirtschaftsaufschwung der Bundesrepublik Deutschland beteiligt waren.
IX. Resümee
Zusammenfassend ergibt sich mithin, daß der Marshall-Plan zwar kein Deutschland-Plan, sondern (seinem offiziellen Namen entsprechend) ein Europa-Plan mit integrativer Zielsetzung war, in dessen innovativem Rahmen aber auch die wirtschaftlichen und politischen Probleme der amerikanischen Deutschland-politik gelöst werden sollten. Die Verbindung ist in starkem Maße von liberalen Vertretern der ökonomischen Elite, die enge Beziehungen zu Deutschland hatten, angeregt worden. * Der Gesamtplan ist Ausdruck einer breiten liberalen Strömung in der amerikanischen Gesellschaft, und bei seiner Durchführung wurden den europäischen Staaten (einschließlich Deutschlands) eine gleichberechtigte Mitwirkung eingeräumt.
Das Europäische Wiederaufbauprogramm trug (in Verbindung mit anderen Faktoren) direkt zu dem kontinuierlichen Wiederaufbau und zu dem immensen Wirtschaftsaufschwung Westdeutschlands bei. Indirekt förderte der Marshall-Plan die Entwicklung zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland, und er trug ebenfalls indirekt dazu bei, daß die Bundesrepublik Deutschland sich politisch für den Westen und ökonomisch für die soziale Marktwirtschaft entschied. Dieser Beitrag kam nicht im entferntesten einem Zwang oder Oktroi gleich; die politische und wirtschaftliche Westorientierung und Westintegration war eine genuin deutsche Entscheidung. Auch die Wirtschaftsverfassung wurde den Deutschen nicht von den Amerikanern aufgezwungen. Abgesehen davon, daß der Marshall-Plan mit den Investitionen aus den Gegenwert-Mitteln selbst ein Element der Planwirtschaft enthielt, war seine Annahme nicht gleichbedeutend mit dem Verzicht auf Planung oder demokratische Sozialisierungsmaßnahmen. In Hessen wurden Grundstoffindustrien aufgrund der freien Entscheidung des Landesparlaments sozialisiert, und die aus übergeordneten politischen Gründen vorgenommene Suspendierung der Sozialisierungsgesetze in Nordrhein-Westfalen wurde mit der Selbstbindung der amerikanischen und britischen Regierung verbunden, die definitive Entscheidung einer frei gewählten deutschen Regierung zu überlassen. Die mannigfachen pro-westlichen und insbesondere pro-amerikanischen Wirkungen des Marshall-Plans waren möglich, weil die deutsche Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit und alle demokratischen Parteien und Verbände positiv auf das amerikanische Hilfsprogramm reagierten und weil dessen kooperative Umsetzung spürbar erfolgreich war. Materielle und ideelle Faktoren wirkten zusammen, und daraus resultierten jene engen deutsch-amerikanischen Beziehungen, die treffend als das Zweite Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet worden sind