I. Vorbemerkung zum Stellenwert der „Rechtskunde" im Politikunterricht
Die Situation des Politikunterrichts in einer Reihe von Bundesländern ist so diffus wie eh und je zu nennen: Die „reformerische" Arbeit an den einschlägigen Lehrplänen für alle Schularten und Stufenbereiche reißt nicht ab, der Stellenwert des Faches im Kanon der schulischen Disziplinen bleibt aber weiterhin umstritten. Daran ändern auch jene Rufe von Politikern nach forcierter politischer Bildung nichts, die immer dann ertönen, wenn jugendliche Verirrung zum extremistischen Radikalismus Gefahren für das politisch-soziale System der Bundesrepublik zu signalisieren scheint, und ebensowenig die regelmäßig wiederkehrenden Klagen über die mangelnde Wirksamkeit der politischen Bildungsarbeit. Daß Sorge und Opportunismus hier eng beieinander liegen, ist ganz unpolemisch zu vermerken: Dieselben Politiker werden bei anderer Gelegenheit nicht müde, werbeträchtig auf „Politologen" und „Soziologen" als vermeintliche Elemente der „Dekomposition" einzuschlagen, durch anfechtbare Kapazitätsberechnungen die Zahl der Politikstudenten (vor allem auch an Pädagogischen Hochschulen!) drastisch zu verringern und durch stiefmütterliche Behandlung des Politikunterrichts an den Schulen zusätzliche Abschreckungsmechanismen einzubauen.
Solche Situationsanalyse wird auch nicht durch den Umstand entkräftet, daß da und dort eine (freilich unzulängliche) Anhebung der Stundenzahl für dieses Fach stattgefunden hat; denn die quantitative Ausweitung kommt kaum der schulischen Beschäftigung mit dem Phänomen der Politik zugute, sondern dient der An-und Eingliederung sozialer, wirtschaftlicher und rechtlicher Stoffe in das Curriculum politischer Bildung. Was auf den ersten Blick einleuchtet, die Perspektivenerweiterung des Politischen auf jene Nachbarbereiche nämlich, die eng mit ihm verzahnt sind und in Wechselwirkung stehen, löst bei genauerer Betrachtung Unbehagen aus. Nicht bloß fördern so geartete curriculare Intentionen das ohnehin verbreitete Gefühl fachlicher Inkompetenz bei vielen Politiklehrern man darf überdies mit gutem Grund vermuten, daß die Einbeziehung soziologischer, ökonomischer und juristischer Sachverhalte in den Politikunterricht gelegentlich auch seiner „Entpolitisierung" und „Disziplinierung" den Weg bereiten soll Um die Position des Autors zweifelsfrei zu verdeutlichen: daß die Erzeugung und Förderung gesellschaftlicher und rechtlicher Einsichten zu den fundamentalen Lernzielen jeder politischen Bildung gehört, ist völlig unbestritten; der Rechtsunterricht, um auf unser Thema zu kommen, gehört in den Zusammenhang des Politikunterrichts. Solches zu konstatieren darf aber nicht die Augen vor Gefahren verschließen heißen, die in der Überforderung von Ausbildern bzw.
Lehrern und in Tendenzen zur „Verrechtlichung"
des Politischen beschlossen liegen. Solange Rechtskunde nicht als eigenständiges Fach an Schulen eingeführt wird (und gleiches gilt für die Wirtschaftskunde), solange sie (ohne ausreichende Anhebung der Stunden-zahlen)
dem herkömmlichen Politikunterricht untergeschoben wird, muß das Prinzip gelten, daß zuvörderst die politischen Implikationen von Recht (Wirtschaft u. a.) zu behandeln sind, daß Bildung die Orientierungsmarken politische für die Behandlung rechtlicher (oder wirtschaftlicher) Sachverhalte setzt, daß die Schule weiterhin am Ziel des politisch mündigen Bürgers festhält und nicht die Ausbildung juristischer und ökonomischer Experten betreiben kann.
Solche Postulate müssen sich in einer sinnvollen didaktischen Konzeption niederschlagen. Sie darf nicht in erster Linie darauf abzielen, bei Politiklehrern (oder im Nachvollzug bei Schülern) juristisches Fachwissen als Selbstzweck anzuhäufen, sondern muß ihre Fähigkeiten entwickeln helfen, politisch relevante Zusammenhänge im Bereich des Rechts zu erkennen und für die politische Bildung fruchtbar zu machen. In diesem Sinn versteht sich folgender Versuch, das Phänomen der Verfassungsgerichtsbarkeit als Gegenstand des Politikunterrichts vorzustellen. Sicher kann er auf die Vermittlung juristischer Sachverhalte nicht verzichten, weil eine Institution bloß angemessen zu begreifen ist, wenn man ihr organisatorisches Prinzip und ihren funktionellen Stellenwert im Systemzusammenhang kennt — eine schlichte Wahrheit, die aber nach der heftigen Schelte einer „emanzipatorischen" Politikdidaktik gegen jedwede „Institutionenkunde" doch mancherorten in Vergessenheit geraten ist. Vorrangiges Lernziel freilich sollen Einsichten in die politische Problematik sein, die der verfassungsgerichtlichen Sphäre innewohnten, in den zuweilen verlegen negierten Kontext von Macht und Recht etwa, in die klassischer Gewaltenteilungslehre zuwiderlaufende Interdependenz von politischer Dezision und verfassungsrichterlichem Vermögen oder in die politischen Implikationen judikativer Entscheidungen und anderes mehr Die gelegentlich eingestreuten didak-tisch-methodischen Hinweise wollen sich nicht auf eine spezifische Schulund Altersstufe beschränken; sie möchten generell Anregungen vermitteln, die der Lehrer in geeigneter Weise in den Sekundarstufen I oder II umsetzen kann
Der strukturvermittelnde Leitgedanke dieses Beitrags soll noch erwähnt und vorläufig begründet werden: gemeint ist der Vergleich zwischen deutscher und amerikanischer Verfassungsgerichtsbarkeit. Der komparatistische Ansatz gewinnt in den Sozialwissenschaften ständig an Boden, gerade und vor allem im institutioneilen Bereich. Daß der Vergleich ähnlicher Realitäten sowohl im Blick auf die zeitgenössische Umwelt wie in der historischen Retrospektive die Erkenntnis politischer Gegenwartsprobleme fördern kann, läßt sich aus den Werken der „Klassiker" von Aristoteles über Machiavelli oder Montesquieu bis hin zu Tocqueville ebenso ablesen wie aus den aktuellen Forschungsergebnissen jener politikwissenschaftlichen Teildisziplin, die unter der Bezeichnung „Comparative government" vor allem in den USA entwickelt worden ist. In ihrem Sinn versteht sich der Versuch, die Eigentümlichkeiten der bundesrepublikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit ebenso wie die spezifische politische Problematik, die Stellung und Wirken des Bundesverfassungsgerichts (BVG) im Herrschaftssystem der Bundesrepublik aufwerfen, im Vergleich mit äquivalenten Phänomenen amerikanischen Ver-fassungsrechts und amerikanischer Verfassungswirklichkeit zu erhellen. Der komparati-stische Ansatz rechtfertigt sich in diesem Falle zusätzlich aus der Entstehungsgeschichte des BVG: Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, der Parlamentarische Rat und der Deutsche Bundestag haben bei den Diskussionen um seine angemessene konstitutionelle und gesetzgeberische Verankerung stets auch das Modell des amerikanischen Supreme Court in ihre Überlegungen einbezogen
II. Die Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit in unserer Gegenwart
„Betroffenheit" als Ferment fruchtbaren Lernens kann der Politiklehrer beim Thema „Verfassungsgerichtsbarkeit" mit größerer Aussicht auf Erfolg herstellen als in manchen anderen institutionenkundlichen Bereichen seines Faches: In den vergangenen Jahren hat es an Urteilen des BVG zu politischen Streitfragen nicht gefehlt, die jugendliche Existenz unmittelbar berühren; auch nicht, fügen wir es gleich hinzu, an kontroversen Urteilen im doppelten Sinn gegensätzlicher Rechtsauffassungen innerhalb des höchsten Gerichtes wie unter gesellschaftlichen Gruppen, was der didaktisch-methodischen Planung durchaus zugute kommt. So mag der kritische Vergleich von Textpassagen aus dem Urteil zu § 218 StGB mit der abweichenden Meinung der Richterin Rupp v. Brüneck und des Richters Dr. Simon oder aus dem Wehrpflicht-Urteil mit der abweichenden Meinung des Richters Hirsch als Einstieg in unseren rechtskundlichen Sachkomplex dienen, der schon Bedeutung'wie politische Problematik der Verfassungsgerichtsbarkeit signalisieren soll.
Dem Urteil zu § 218 StGB lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Deutsche Bundestag hatte am 18. Juni 1974 im Fünften Gesetz zur Reform des Strafrechts (5. StrRG) die §§ 218 bis 220 StGB neu gefaßt und dabei zum einen in der sogenannten Fristenlösung die mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommene Abtreibung in der Dreimonatsfrist nach der Empfängnis legalisiert, zum anderen bei Vorliegen der medizinischen oder eugenischen Indikation Schwangerschaftsabbrüche auch nach der Zwölfwochenfrist ermöglichen wollen. 193 Mitglieder des Deutschen Bundestags sowie die Landesregierungen von Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, des Saarlands und von Schleswig-Holstein stellten gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, und § 13 Nr. 6 BVerfGG den Antrag auf verfassungsrechtliche Überprüfung der revidierten Paragraphen, die nach ihrer Meinung gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und außerdem gegen die Art. 3 sowie 6 Abs. 1, 2 und 4 GG sowie gegen das Rechtsstaatsprinzip verstießen; überdies hätte nach Rechtsauffassung der Landesregierungen das Fünfte Strafrechtsreformgesetz dem Bundesrat als Zustimmungsgesetz überwiesen werden müssen. Das BVG hat in seinem Urteil die „Fristenlösung" der Verfassungswidrigkeit (Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) geziehen und lediglich einer Indikationslösung Rechtmäßigkeit zuerkannt, woraus der Gesetzgeber dann 1976 in einer neuerlichen Fassung der inkriminier-
ten Paragraphen des STGB (und in Verwaltungsvorschriften einzelner Länder) Konsequenzen gezogen hat.
Eine Enquete-Kommission (14 medizinische, soziologische und psychologische Experten) hat für das Bundesfamilienministerium im Februar 1980 eine vorläufige Bilanz der Gesetzesanwendung gezogen. Der vorgelegte Bericht kritisiert die Auswirkungen der Reform (große Ungerechtigkeiten gegenüber den Frauen) und empfiehlt in einem fast die Hälfte der Mitglieder umfassenden Minderheitsvotum die „Fristenlösung" bis zur 10. Woche nach der Empfängnis. Meinungsbefragungen signalisieren kontroverse Positionen der Bevölkerung in Sachen „Abtreibung", wobei sich Befürworter und Gegner fast die Waage halten; und zwischen Parteien (etwa CDU — FDP) oder gesellschaftlichen Gruppen (hier Katholische Kirche, dort etwa Frauenvereinigungen) scheinen die Fronten ebenso unüberbrückbar. Klären wir sie in der Gegenüberstellung von Urteils-Auszügen aus dem Mehrheitsund Minderheitsvotum des BVG. a) Mehrheitsvotum „Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schützt auch das sich im Mutterleib entwickelnde Leben als selbständiges Rechtsgut...
„Bei der Auslegung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist auszugehen von seinem Wortlaut: . Jeder hat das Recht auf Leben .. Leben im Sinne der geschichtlichen Existenz eines menschlichen Individuums besteht nach gesicherter biologisch-physiologischer Erkenntnis jedenfalls vom 14. Tage nach der Empfängnis (Nidation, Individuation) an ..
«... Die Sicherung der menschlichen Existenz gegenüber staatlichen Übergriffen wäre unvollständig, wenn sie nicht auch die Vorstufe des . fertigen Lebens', das Leben, umfaßte ... Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewußt ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen." „Die Schutzpflicht des Staates ist umfassend. Sie verbietet nicht nur — selbstverständlich — unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen, das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren ..
„Die Verpflichtung des Staates, das sich entwikkelnde Leben in Schutz zu nehmen, besteht grundsätzlich auch gegenüber der Mutter ...
„Wäre der Embryo nur als Teil des mütterlichen Organismus anzusehen, so würde auch der Schwangerschaftsabbruch in dem Bereich privater Lebensgestaltung verbleiben, in den einzudringen dem Gesetzgeber verwehrt ist. Da indessen der Nasciturus ein selbständiges menschliches Wesen ist, das unter dem Schutz der Verfassung steht, kommt dem Schwangerschaftsabbruch eine soziale Dimension zu, die ihn in der Regelung durch den Staat zugänglich und bedürftig macht. Das Recht der Frau auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit, welches die Handlungsfreiheit im umfassenden Sinn zum Inhalt hat und damit auch die Selbstverantwortung der Frau umfaßt, sich gegen eine Elternschaft und die daraus folgenden Pflichten zu entscheiden, kann zwar ebenfalls Anerkennung und Schutz beanspruchen. Dieses Recht ist aber nicht uneingeschränkt gewährt..
„Ein Ausgleich, der sowohl den Lebensschutz des Nasciturus gewährleistet als auch der Schwangeren die Freiheit des Schwangerschaftsabbruchs beläßt, ist nicht möglich, da Schwangerschaftsabbruch immer Vernichtung des ungeborenen Lebens bedeutet. Bei der deshalb erforderlichen Abwägung . sind beide Verfassungswerte in ihrer Beziehung zur Menschenwürde als dem Mittelpunkt des Wert-systems der Verfassung zu sehen'. Bei einer Orientierung an Art 1 Abs. 1 GG muß die Entscheidung zugunsten des Vorrangs des Lebensschutzes für die Leibesfrucht vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren fallen."
(BVerfGE 39, 1 ff. [Auszüge vom Verf. ]). b) Minderheitsvotum „Unbestritten umfaßt die verfassungsrechtliche Pflicht zum Schutz des Lebens auch seine Vorstufe vor der Geburt. Die Auseinandersetzungen im Parlament und vor dem Bundesverfassungsgericht betrafen nicht das Ob, sondern allein das Wie dieses Schutzes. Die Entscheidung hierüber gehört in die Verantwortung des Gesetzgebers. Aus der Verfassung kann unter keinen Umständen eine Pflicht des Staates hergeleitet werden, den Schwangerschaftsabbruch in jedem Stadium der Schwangerschaft unter Strafe zu stellen. Der Gesetzgeber dürfte sich sowohl für die Beratungs-und Fristenregelung wie für die Indikationslösung entscheiden. Eine entgegen-gesetze Verfassungsauslegung ist mit dem freiheitlichen Charakter der Grundrechtsnormen nicht vereinbar und verlagert in folgenschwerem Ausmaß Entscheidungskompetenzen auf das Bundesverfassungsgericht ... „Die in diesem Verfahren begehrte Prüfung verläßt den Boden der klassischen verfassungsgerichtlichen Kontrolle ... In der Skala der staatlichen Eingriffsmöglichkeiten stehen Strafvorschriften an der Spitze: Sie befehlen dem Bürger ein bestimmtes Verhalten und unterwerfen ihn bei Zuwiderhandlungen empfindlichen Freiheitsbeschränkungen oder finanziellen Belastungen. Verfassungsgerichtliche Kontrolle solcher Vorschriften bedeutet daher die Prüfung, ob der mit dem Anlaß oder der Anwendungen der Strafvorschrift verbundene Eingriff in die grundrechtspflichtgeschützte Freiheitssphäre zulässig ist, ob also der Staat überhaupt oder in dem vorgesehenen Umfang strafen darf.“
„Unser stärkstes Bedenken richtet sich dagegen, daß erstmals in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung eine objektive Wertentscheidung dazu dienen soll, eine Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß von Strafnormen, also zum stärksten denkbaren Eingriff in den Freiheitsbereich des Bürgers, zu postulieren. Dies verkehrt die Funktion der Grundrechte in ihr Gegenteil. Wenn die in einer Grund-rechtsnorm enthaltene objektive Wertentscheidung zum Schutz eines bestimmten Rechtsgutes genügen soll, um daraus die Pflicht zum Strafen herzuleiten, so könnten die Grundrechte unter der Hand aus einem Hort der Freiheitssicherung zur Grundlage einer Fülle von freiheitsbeschränkenden Reglementierungen werden. Was für den Schutz des Lebens gilt, kann auch für andere Rechtsgüter von hohem Rang — etwa körperliche Unversehrtheit, Freiheit, Ehe und Familie — in Anspruch genommen werden." ...
„Nach Auffassung der unterzeichnenden Richterin ist die Weigerung der Schwangeren, die Menschwerdung ihrer Leibesfrucht in ihrem Körper zuzulassen, nicht allein nach dem natürlichen Empfinden der Frau, sondern auch rechtlich etwas wesentlich anderes als die Vernichtung selbständig existenten Lebens. Schon deswegen verbietet es sich von vornherein, die Abtreibung im ersten Stadium der Schwangerschaft mit Mord oder vorsätzlicher Tötung prinzipiell gleichzustellen. Erst recht ist es verfehlt, wenn nicht unsachlich, die Fristenlösung in die Nähe der Euthanasie oder gar der . Tötung un-werten Lebens'zu rücken, um sie von daher zu diskriminieren — wie dies in der öffentlichen Diskussion geschehen ist."
„Nach unserer Auffassung schreibt die Verfassung nirgends vor, ethisch verwerfliches oder strafwürdiges Verhalten müsse ... ohne Rücksicht auf den damit erzielten Effekt mit Hilfe des Gesetzesrechts mißbilligt werden. In einem pluralistischen, weltanschaulich neutralen und freiheitlichen demokratischen Gemeinwesen bleibt es den gesellschaftlichen Kräften überlassen, Gesinnungspostulate zu statuieren. Der Staat hat darin Enthaltsamkeit zu üben ...
A. a. O. Dem Wehrpflicht-Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Deutsche Bundestag wollte im „Gesetz zur Änderung des Wehrpflichtgesetzes und des Zivildienstgesetzes“ vom 13. Juli 1977 unter Berufung auf Art. 4 GG die freie Wahl zwischen Wehr-und Zivildienst einführen. Wehrpflichtige, die aus Gewissensgründen den Dienst in der Bundeswehr verweigern wollten, sollten sich über eine Meldung an das zuständige Kreiswehrersatzamt für den 18 Monate dauernden Zivildienst entscheiden können; bereits eingezogene Wehrpflichtige aber sollten weiterhin ein (freilich verbessertes) Prüfungsverfahren absolvieren, wenn sie von Art. 4 GG Gebrauch machen wollten. Die CDU/CSU-Opposition sowie die Landesregierungen vom Bayern, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg beantragten gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 Nr. 1 BVerfGG beim BVG, es solle das Wehrpflichtänderungsgesetz für nichtig erklären, weil es gegen Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3, 12 a Abs. 1 und 2 GG verstoße und überdies nicht nach den Vorschriften des GG zustande gekommen sei (die geplante Umgestaltung des Zivildienstes tangiere die Verwaltungskompetenz der Länder; deshalb hätte die Wehrdienstnovelle der Zustimmung des Bundesrats nach Art. 87 b Abs. 2 Satz 1 GG bedurft). Das BVG entsprach in seinem Urteil den Argumenten der Antragsteller und dekretierte die Nichtigkeit des Gesetzes. Seither bemüht sich der Bundesgesetzgeber — bislang ohne jeden Erfolg — um eine verfassungskonforme „Neuordnung des Rechtes der Kriegsdienstverweigerung und des Zivildienstes"; notgedrungen ist man einstweilen zum Status quo ante, zu jenem heftig umstrittenen Anerkennungsverfahren für Wehrdienstverweigerer mittels „Gewissensüberprüfung" zurückgekehrt. a) Leitsätze des Karlsruher Urteils zur Wehrdienstnovelle „ 1. Die von der Verfassung geforderte militärische Landesverteidigung kann auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht, aber — sofern ihre Funktionstüchtigkeit gewährleistet bleibt — verfassungsrechtlich unbedenklich beispielsweise auch durch eine Freiwilligenarmee gewährleistet werden. 2. Die allgemeine Wehrpflicht ist Ausdruck des allgemeinen Gleichheitsgedankens. Ihre Durchführung steht unter der Herrschaft des Art. 3 Abs. 1 GG.
3. Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen sind gemäß Art. 12 a Abs. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 GG von Verfassungs wegen vom Wehrdienst nach Art. 12 a Abs. 1 GG befreit.
4. Der Kerngehalt des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 3 GG besteht darin, den Kriegsdienstverweigerer vor dem Zwang zu bewahren, in einer Kriegshandlung einen anderen töten zu müssen, wenn ihm sein Gewissen eine Tötung grundsätzlich und ausnahmslos zwingend verbietet.
Die Ableistung von Wehrdienst außerhalb dieser Zwangslage und ihres unmittelbaren Zusammenhangs, insbesondere die Leistung von Wehrdienst in Friedenszeiten, fällt nicht schlechthin in den Kernbereich des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 3 GG. Das Grundgesetz gibt indes durch die in Art. 12 a Abs. 2 GG erteilte Ermächtigung, auf gesetzlichem Wege eine Ersatzdienstpflicht einzuführen, zu erkennen, daß es denjenigen, der den Kriegsdienst mit der Waffe aus Gewissensgründen verweigert, auch außerhalb des von Art. 4 Abs. 3 GG geschützten Kernbereichs, mithin grundsätzlich auch in Friedenszeiten, nicht zum Dienst mit der Waffe herangezogen sehen will.
5. Der Verfassungsgeber hat nicht eine allen Staatsbürgern — also gemäß Art. 3 Abs. 2 GG auch dem weiblichen Teil der Bevölkerung — obliegende Dienstpflicht für das allgemeine Wohl zugelassen. Der in Art. 12 a Abs. 2 GG vorgesehene Ersatzdienst ist vom Grundgesetz nicht als alternative Form der Erfüllung der Wehrpflicht gedacht; er ist nur Wehrpflichtigen vorbehalten, die den Dienst mit der Waffe aus Gewissensgründen verweigern.
6. Dem Verfassungsgebot der staatsbürgerlichen Pflichtengleichheit in Gestalt der Wehrgerechtigkeit wird nicht schon dadurch genügt, daß die Wehrpflichtigen entweder zum Wehrdienst oder zum Ersatzdienst herangezogen werden. Das Grundgesetz verlangt vielmehr, daß der Wehrpflichtige grundsätzlich Wehrdienst leistet, und verbietet es deshalb, in den als Ersatz des Wehrdienstes eingerichteten Zivildienst andere als solche Wehrpflichtige einzuberufen, die nach Art. 12 a Abs. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 GG den Dienst mit der Waffe aus Gewissensgründen verweigern dürfen.
7. Die Wehrgerechtigkeit fordert von jeder gesetzlichen Regelung nach Art. 12 a Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 Satz 2 GG, daß nur solche Wehrpflichtige als Kriegsdienstverweigerer anerkannt werden, bei denen mit hinreichender Sicherheit angenommen werden kann, daß in ihrer Person die Voraussetzungen des Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG erfüllt sind.
8. Wie eine gesetzliche Regelung, welche die Ausgestaltung des Ersatzdienstes als einzige Probe auf die Gewissensentscheidung einsetzt, beschaffen sein muß, wenn sie der Verfassung entsprechen soll, hängt von zahlreichen Faktoren ab. Der Gesetzgeber hat insoweit innerhalb des von Art. 12 a Abs. 2 Satz 2 und 3 GG gezogenen Rahmens volle Gestaltungsfreiheit." (BVerfGE 48, S 127 ff. [Auszüge vom Verf. ]). b) Abweichende Meinung des Richters Hirsch „Die jetzt erhobene Forderung des Zweiten Senats nach einem Verfahren, das gewährleistet, daß nur solche Wehrpflichtigen als Kriegsdienstverweigerer anerkannt werden, bei denen mit hinreichender Sicherheit angenommen werden kann, daß in ihrer Person (!) die Voraussetzungen des Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG erfüllt sind, ist aus der Verfassung nicht herzuleiten. Art. 4 Abs. 3 GG ist ein Fall des Art. 4 Abs. 1 GG und will den Kriegsdienstverweigerer schützen, der nur gegen sein Gewissen mit der Waffe am Kriege teilnehmen könnte. Sein Schutz ist gegeben, wenn er durch entsprechende Erklärung — im Krieg und Frieden (Art. 4 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 12 a GG) — von der Wehrpflicht freigestellt ist. Der mögliche Mißbrauch des Grundrechts beeinträchtigt nicht den Schutz der Gewissensfreiheit. Damit ist zwar nicht ein Verfahren zur Verhütung von Mißbrauch verboten; aber die Zulässigkeit bedeutet kein Gebot ... Diese Freiheit ist weder disponibel noch einem staatlichen Definitionsvorbehalt unterworfen ... Diese (unbequeme)
Verfassungssituation wird auch nicht durch Art. 3 Abs. 1 GG relativiert. Die vom Senat hier ins Feld geführte Idee der Wehrgerechtigkeit ist lediglich ein Argument gegen die als Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG subsumierte Ungerechtigkeit, daß viele Wehrpflichtige (die sich nicht auf Art. 4 Abs. 3 GG berufen können) nicht einberufen werden und deswegen weniger zu leisten haben als ihresgleichen, die (zum Teil zufällig) einberufen worden sind. Die berechtigten Kriegsdienstverweigerer kann man hingegen nicht als vergleichsweise besser gestellt ansehen. Die Wehrgerechtigkeit verlangt, daß bei der Erfüllung der Wehrpflicht nicht willkürlich oder ohne sachlich zwingenden Grund unterschiedliche Anforderungen gestellt werden (BVerfGE 38, 154). Wer aber von Verfassungs wegen nicht der Wehrpflicht unterworfen ist, kann nicht als ungerechtfertigt bevorteilt im Vergleich zum Wehrpflichtigen angesehen werden ... Der Senat unternimmt eine politische Wertung (d. Verf.), wenn er die Notwendigkeit des Prüfungsverfahrens von der . Bedeutung'des Wehrdienstes für die Allgemeinheit abhängig macht. Diese Nichtbeachtung des judical-self-re-straint'im Sinne einer Bescheidung auf eine gerichtsförmige Kontrollfunktion zwecks Einhaltung der durch die Verfassung vorgegebenen Grenzfestlegungen birgt die Gefahr in sich, daß sich das Verfassungsgericht zu einer das Demokratie-und Gewaltenteilungsprinzip überlagernden Verfassungsgesetzgebungsinstanz entwickelt und damit vom , Hüter'zum (unkontrollierbaren) . Herrn'der Verfassung wird...
A. a. O.
Die Interpretation der Texte läßt wenigstens zwei zentrale Funktionen westdeutscher Verfassungsgerichtsbarkeit erkennen und verweist auch schon auf ihre wesenseigene Problematik: In einem gerichtsförmigen Verfahren entscheidet das BVG über die verfassungskonforme Auslegung und Inanspruchnahme der Grundrechte und mißt überdies das Handeln staatlicher Gewalt in ihren verschiedenen Erscheinungsformen an den Wert-und Normvorstellungen des Grundgesetzes. Dabei bewegt es sich im ersten Bereich offensichtlich auf dem schlüpfrigen Boden des Gegensatzes zwischen individuellen Freiheits-, Gleichheits-oder Gerechtigkeitsforderungen und Herrschaftsansprüchen der staatlichen Institutionen: im zweiten Bereich begibt es sich auf das Glatteis zwischen „affirmativer"
Hilfestellung bei der Durchsetzung exekutiv-legislativer Entscheidungen und einer die Gewaltenbalance berührenden Interpretation des richterlichen Prüfungsrechts, welche die Frage des „quis custodiet custodes" aufwirft und über Kontrollmechanismen nachzudenken zwingt, denen das BVG selbst unterworfen sein muß bzw. müßte.
Wir werden uns an die politische Problematik der Verfassungsgerichtsbarkeit behutsam her-antasten können, wenn wir der Konzeption nachspüren, welche die westdeutschen Verfassungsväter diesem Institut zugrunde gelegt haben, und die bundesrepublikanische Verfassungsgerichtsbarkeit mit ihrem funktionalen Äquivalent in den USA vergleichen. Der Autor teilt jene zuweilen vorgetragene Ansicht nicht, man könne sich „von Vergleichen (des BVG, d. Verf.) mit anderen, ähnlichen Verfassungsgerichten wenig Erkenntnis erhoffen. Dies gilt z. B. für die ... Bezugnahme auf den Supreme Court. Beide Gerichte sind nur teilweise vergleichbar." Das Faktum stimmt, die Folgerung irrt: Gerade im Kontrast zum Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten enthüllt sich die singuläre Position des BVG im zweihundertjährigen Entwicklungsprozeß der modernen Verfassungsgerichtsbarkeit, gerade im Kontrast rechtfertigen sich Einschätzungen ausländischer Kommentatoren, die das BVG mit seiner Kompetenzfülle als „originellste und interessanteste Institution" im westdeutschen Verfassungssystem bezeichnet haben
III. Ursprung, Kompetenzen und Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland und den USA
Zweifelsohne kommt den USA das Verdienst der Urheberschaft am Phänomen der modernen Verfassungsgerichtsbarkeit zu Seit Be-ginn des vorigen Jahrhunderts, als Chief Justice John Marshall ein richterliches Prüfungsrecht legislativer Akte aus der US-Verfassung herausinterpretierte beanspruchte der Supreme Court mit wachsendem Nach-druck die Kompetenz, unter gewissen Voraussetzungen Bundesgesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin kontrollieren zu können. Wenn in der politischen Theorie und Verfassungswirklichkeit Europas die Judikative bislang tatsächlich nur als fünftes Rad am Wagen des gewaltenfeiligen Herrschaftsmodells gewertet worden war, so avancierte die richterliche Gewalt in den Vereinigten Staaten fortan zum ebenbürtigen Mit-und Gegenspieler von Exekutive und Legislative.
Das amerikanische Modell des „judicial review" bestimmte gerade auch die konstitutionelle Entwicklung des Deutschen Reiches seit der Frankfurter Paulskirchenbewegung von 1848 und ließ zuguterletzt den Parlamentär! -, sehen Rat 1948/49 mit dem BVG ein Organ schaffen, das die Konsolidierung der zweiten deutschen Republik ebenso fördern sollte wie einst das Oberste Gericht der jungen amerikanischen Republik zur Festigung verhelfen hatte: durch den Schutz des Rechtsstaates und der individuellen Grundrechte im Wege der Gesetzesüberprüfung einerseits und durch die Sicherung der föderalen Ordnung mittels schiedsrichterlicher Regelung von Konflikten im Beziehungsgefüge von Zentralstaat und Einzelstaaten andererseits.
Freilich zeigt der Vergleich der einschlägigen Verfassungsund Gesetzesbestimmungen (Art. III US-Verfassung und Art. 93 GG; Judiciary Act von 1789 und Bundesverfassungsgerichtsgesetz von 1951 in seiner mehrfach revidierten Form), daß beide Länder den Kompetenzenkatalog und Aktionsradius der „dritten Gewalt" in ihrer verfassungsgerichtlichen Manifestation unterschiedlich fixieren.
Art. III US-Verlassung „Abschnitt 1. Die richterliche Gewalt der Vereinigten Staaten liegt bei einem Obersten Bundesgerichtshof und bei solchen unteren Gerichten, deren Errichtung der Kongreß von Fall zu Fall anordnen wird ...
Abschnitt 2. Die richterliche Gewalt erstreckt sich auf alle Fälle nach dem Gesetzes-und dem Billigkeitsrecht, die sich aus dieser Verfassung, den Gesetzen der Vereinigten Staaten und den Verträgen ergeben, die in ihrem Namen abgeschlossen wurden oder künftig geschlossen werden; — auf alle Fälle, die Botschafter, Gesandte und Konsuln betreffen; — auf alle Fälle der Admiralitätsund Seegerichtsbarkeit; — auf Streitigkeiten, in denen die Vereinigten Staaten Streitpartei sind; — auf Streitigkeiten zwischen zwei oder mehreren Einzelstaaten; — zwischen einem Einzel-staat und den Bürgern eines anderen Einzel-staates; — zwischen Bürgern verschiedener Einzelstaaten; — zwischen Bürgern desselben Einzelstaates, die auf Grund von Zuweisungen seitens verschiedener Einzelstaaten Ansprüche auf Land erheben; — und zwischen einem Einzelstaat oder dessen Bürgern und fremden Staaten, Bürgern oder Untertanen.
In allen Fällen, die Botschafter, Gesandte und Konsuln betreffen, und in solchen, in denen ein Einzelstaat Partei ist, übt das Oberste Bundesgericht ursprüngliche Gerichtsbarkeit aus. In allen anderen zuvor erwähnten Fällen ist das Oberste Bundesgericht Appellationsinstanz sowohl hinsichtlich der rechtlichen als auch der Tatsachenbeurteilung gemäß den vom Kongreß festzulegenden Ausnahme-und Verfahrensbestimmungen ..
Art. 93 CG „[Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts! (1) Das Bundesverfassungsgericht entscheidet: 1. über die Auslegung dieses Grundgesetzes aus Anlaß von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch dieses Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind;
2. bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit diesem Grundgesetz oder die Vereinbarkeit von Landesrecht mit sonstigem Bundesrecht auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Drittels der Mitglieder des Bundestages;
3. bei Meinungsverschiedenheiten über Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder, insbesondere bei der Ausführung von Bundesrecht durch die Länder und bei der Ausübung der Bundesaufsicht;
4. in anderen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten zwischen dem Bund und den Ländern, zwischen verschiedenen Ländern oder innerhalb eines Landes, soweit nicht ein anderer Rechtsweg gegeben ist;
4 a. über Verfassungsbeschwerden, die von jedermann mit der Behauptung erhoben werden können, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Artikel 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte verletzt zu sein;
4 b. über Verfassungsbeschwerden von Gemeinden und Gemeindeverbänden wegen Verletzung des Rechts auf Selbstverwaltung nach Artikel 28 durch ein Gesetz, bei Landes-gesetzen jedoch nur, soweit nicht Beschwerde beim Landesverfassungsgericht erhoben werden kann;
5. in den übrigen in diesem Grundgesetz vorgesehenen Fällen.
(2) Das Bundesverfassungsgericht wird ferner in den ihm sonst durch Bundesgesetz zugewiesenen Fällen tätig."
Der Supreme Court nimmt laut US-Verfassung in genau definierten Sachbereichen originäre, erstinstanzliche Rechtsprechungsfunktionen wahr; er stellt die oberste Revisionsbzw. Appellationsinstanz eines (dreistufigen) Bundesgerichtssystems in konkreten Streitfällen dar;
er übt schließlich durch die Inanspruchnahme des „judicial review" Verfassungsgerichtsbarkeit aus, gemeinsam allerdings mit anderen Gerichten im Rahmen einer dezentralisierten Judikative, und beschränkt auf den Bereich „konkreter“ Normenkontrolle.
Vor dem amerikanischen Hintergrund nehmen sich Position und Kompetenzfülle des BVG über die Maßen stattlich aus: Das Bonner Grundgesetz hat einen mit dem Monopol der Verfassungsgerichtsbarkeit ausgestatteten Gerichtshof geschaffen, dessen vielfältige Funktionen folgende Tabelle veranschaulichen soll
Die politische Bedeutung der einzelnen Zuständigkeiten ist unterschiedlich; die (quantitative) Aufschlüsselung der beim BVG anhängigen Verfahren, wie sie unsere Übersicht wiedergibt, vermittelt Hinweise auf Problemfelder, die offensichtlich der kontrollierenden bzw. schiedsrichterlich-integrierenden Entscheidungsprozesse des BVG in besonderem Maße bedürfen
Freilich darf die Auswertung der Tabelle nicht zu dem Umkehrschluß verführen, es sei die politische Tragweite jener richterlichen Betätigungsfelder gering zu veranschlagen, die in der Verfahrensstatistik seltener auftauchen. Lediglich die gerichtliche Kompetenz nach Art. 18 GG, über die individuelle Verwirkung von Grundrechten zu befinden, hat bislang so gut wie keine Rolle gespielt (zwei von der Bun-desregierung angestrengte Verfahren gegen Rechtsradikale führten nicht bis zum Urteilsspruch); hier reichte die administrative Befugnis zur Auflösung verfassungsfeindlicher gesellschaftlicher Gruppen (Art. 9 GG) aus, um der Gefahr des antidemokratischen Radikalismus zu begegnen. Dagegen kommt den beiden Parteienverbotsverfahren (1952 gegen die neonazistische SRP, 1956 gegen die KPD) nach Art. 21 GG insofern eminente politische Bedeutung zu, als sie zum einen dem BVG die Chance boten, das grundgesetzliche Modell der Parteiendemokratie normierend zu verdeutlichen, zum anderen aber die „Wehrhaftigkeit" der zweiten deutschen Republik in der Auseinandersetzung mit linkem und rechtem Radikalismus zu demonstrieren. Und ähnliches gilt für den Bereich der Bund-Länder-Streitigkeiten: Zwar haben der „Niedergang der Bedeutung der Länder, die wachsende Verflechtung der Landes-und Bundesparteienstruktur und die verwaltungsrechtlichen Kontrollen..." die Zahl der föderalen Konflikte stark verringert, doch sind die wenigen Verfahren (vor allem die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit einer Volksbefragung zur Atombewaffnung in Hessen 1958 oder das Fernsehurteil von 1961) insofern zu politischen Meilensteinen auf dem Wege zur Konsolidierung der Bundesrepublik geraten, als sie dem BVG die Gelegenheit boten, Grundprinzipien unserer bundesstaatlichen Verfassungsordnung ins Bewußtsein der Öffentlichkeit zu rufen.
Auch im organisatorischen Bereich fallen ebenso viele Unterschiede wie Gemeinsamkeiten ins Auge, wenn man das Oberste Gericht der USA mit dem Karlsruher BVG vergleicht. Dort judiziert ein einziges Senatskollegium, das auf Lebenszeit bestellte Richter, heute neun an der Zahl, umfaßt; hier urteilt ein Zwillingsgericht, dessen beide Senate je eigene Zuständigkeitsbereiche ausfüllen und mit derzeit je acht Richtern besetzt sind, die auf zwölf Jahre in ihr hohes Amt gewählt sind. Von Anfang an hat der Supreme Court (S. C.) den Prozeß seiner Urteilsfindung insofern an die Öffentlichkeit getragen, als er abweichende Rechtsauffassungen („dissenting opinions") ebenso publizierte wie Sondervoten („concurring opinions") von Richtern, die zwar das Ergebnis der Mehrheitsentscheidung, nicht aber deren Begründung mittragen wollen; das BVG kann erst seit 1970 abweichende Meinungen einzelner Richter veröffentlichen
Beide Gerichte sind im organisatorischen Bereich politischen Außeneinflüssen unterworfen, die in diesem Abschnitt bloß erwähnt sein sollen. So wie in den USA der Präsident im Einvernehmen mit dem Senat die Richter am S. C. bestellt, entscheiden in der Bundesrepublik der Bundestag (durch ein zwölfköpfiges Wahlmännergremium) und der Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit je über die Hälfte der Richterstellen (und können sich bei der Auslese geeigneter Amtsträger vom Bundesjustizministerium beraten lassen). Und hier wie dort ermächtigt die Verfassung den Gesetzgeber, allzu kühner Rechtsprechung oder allzu großem Machtzuwachs der Judikative durch legislative Maßnahmen entgegenzutreten. Im äußersten Fall können die Parlamente beider politischen Systeme die Folgen eines Rechts-entscheids durch eine Verfassungsrevision oder Gesetzeskorrektur nachträglich neutralisieren, mögen sie auch die Kompetenzen der Gerichte beschneiden. Die US-Verfassung überträgt dem Kongreß das Recht, die Berufungszuständigkeit des Obersten Bundesgerichts nach seinem Ermessen zu regeln, ihm Revisionsbefugnisse zu entziehen oder neue zuzuweisen und ebenso kann der Bundes-gesetzgeber den Aufgabenkatalog des BVG ausweiten oder beschneiden. Doch fährt die Legislative so schwere Geschütze ungern auf und begnügt sich im Normalfall mit den Einflußmöglichkeiten, die aus dem Bewilligungsrecht und der Organisationsgewalt erwachsen. Wo die Judikative auf parlamentarische Mittelbewilligung angewiesen ist (das BVG besitzt erst seit 1953 einen vom Bundesjustizmi-nisterium getrennten Haushaltsplan), wo die
Zahl der Richter (in der Bundesrepublik auch ihre Amtszeit und die Möglichkeit der Wiederwahl) nach Belieben verändert werden kann, wo Organisation und Verfahren der Gerichtsbarkeit vom Gesetzgeber geregelt werden, eröffnen sich vielerlei Möglichkeiten politischer Regulierung; und eben auf dem Feld der Operationsbedingungen finden sich mancherlei Parallelen in der Verfassungsgerichtsbarkeit der beiden Länder. Hier wie dort steht die Rechtsprechung unter einer Verfassung, die Kompetenzen zuweist und Beschränkungen verhängt: Kompetenzen der Schlichtung zuweist dort, wo die horizontale und vertikale Gewaltenteilung entscheidungshemmende Konflikte auslösen kann, Kompetenzen schiedsrichterlicher Dezision dort, wo die Garantie der Grundrechte oder die Höherrangigkeit von Verfassungsrecht gegenüber Akten des Gesetzgebers und der Exekutive gefährdet erscheinen; und Beschränkungen der geschilderten Art, die allesamt darin gipfeln, daß die Gerichte auf die (von ihnen nicht erzwingbare) Kooperation der politischen Institutionen angewiesen sind, um ihren Entscheidungen Autorität und Wirksamkeit zu sichern — Beschränkungen, die aus Erfordernissen der Gewaltenbalance genauso erwachsen wie aus dem Defizit an unmittelbarer demokratischer Legitimation. S. C. und BVG können zu bloßen demokratischen Dekorationsstücken degenerieren, wenn der (politische) Wille fehlt, bei Verletzungen der verfassungsmäßigen Ordnung richterliche Entscheidungen herbeizuführen; Funktionsfähigkeit und Aktionsradius beider Gerichte hängen in hohem Maße von der demokratischen Gesinnung politischer Machtträger, gesellschaftlicher Gruppen und der Staatsbürger ab.
An dieser Stelle freilich stoßen wir nun endgültig auf die politische Problematik der Verfassungsgerichtsbarkeit, die uns nunmehr beschäftigen soll.
IV. Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik
In den siebziger Jahren sind ebenso wie schon zwei Jahrzehnte zuvor erbitterte wissenschaftliche und politische Kontroversen über den Stellenwert der Verfassungsgerichtsbarkeit in unserer gewaltenteilig-demokratischen Institutionenordnung ausgefochten worden: So wie in der Frühphase des Bonner Staatswesens hat in der gerade zu Ende gehenden Dekade der Antagonismus der Parteien bei der Präsentation sozio-ökonomischer Zukunftsentwürfe und außenpolitischer Handlungsmuster auch das BVG in die heftigen Strudel der Polarisierung hineingerissen. Dabei brach sich eine hierzulande gerne verdrängte Wahrheit Bahn, daß nämlich Recht und Rechtsprechung, vor allem auch das Phänomen der Verfassungsgerichtsbarkeit, nicht allein im politischen Kräftefeld des Gemeinwesens angesiedelt sind, sondern auch selbst bei der Ausübung judikativer Funktionen unmittelbare politische Wirkungen zeitigen
Gerade die Juristenzunft selbst hat, aus Statusgründen zumeist, an der Fiktion politik-freier Rechtsprechung und gesellschaftlicher Unabhängigkeit der dritten Gewalt festgehalten, selbst im Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit, der doch in besonderem Maße als Bestandteil der politischen Machtdynamik eines Gemeinwesens funktioniert Noch in den fünfziger Jahren hat das BVG in seiner „Status-Denkschrift“ Rechtsprechung vorwiegend als „Cognition" eines vorgegebenen Normengefüges interpretiert und die (schwer kontrollierbare) Machtfülle des Karlsruher Gerichts insofern als unbedenklich bezeichnet, als eben seine Entscheidungen allein „am Recht" orientiert seien Zwar konnten einzelne Richter wie Rudolf Wassermann mit Hinweisen auf die gesellschaftsstabilisierende oder -verändernde Kraft des Rechts, auf richterliche „Rechtsfortbildung" durch Nutzung weitreichender Ermessensspielräume bei der Urteilsfindung und die daraus resultierende politische Macht der Justiz das traditionelle Selbstverständnis der Zunftgenossen mindestens am Rande verunsichern. Und ebenso hat die rechtssoziologische Erkenntnis von der gesellschaftlichen Bedingtheit jeglicher Rechtsfindung, von der Prägekraft also der sozialen Herkunft und Schulbildung, der rechts-wissenschaftlichen Sozialisation an Universität und im Beruf, vom Einfluß auch der sozialen und politischen Umwelt auf das Judizieren des Richters kräftig an der obrigkeitsstaatlichen Legende vom unpolitischen Charakter der „dritten Gewalt" gezehrt aber dennoch vollzieht sich der Bewußtseinswandel innerhalb der Richterschaft ebenso zögernd wie in der Öffentlichkeit, was die Beziehung von Recht und Politik anbelangt.
Der Politiklehrer, der Wissen von der Judikative als einem Akteur im Herrschaftsprozeß der Bundesrepublik vermitteln soll, kann heute immerhin auf einen wachsenden Konsens rekurrieren, daß die Dritte Gewalt (und im besonderen ihr verfassungsgerichtlicher Zweig) in einem politischen Kontext angesiedelt ist: als Interpret der politischen Ethik, jener Gesamtheit der Werte und Normen unserer verfassungsmäßigen Ordnung also, die auch den Gesetzgeber binden; als „Instrument sozialer Kontrolle" gar, das gebieterisch nach einer politischen Theorie der Justiz verlangt
Freilich bleibt die spezifisch bundesrepublikanische Ausformung des Beziehungsmusters von Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik weiterhin kontrovers, im Lager der Sozialwissenschaften ebenso wie unter politischen Parteien und gesellschaftlichen Gruppen, wobei Bejahung oder Kritik an ablaufenden Macht-prozessen häufig von opportunistischen Zweckmäßigkeitsüberlegungen getragen sind. Der politisch orientierte Rechtskunde-Unterricht wird versuchen, die wichtigsten Konflikt-bereiche im Spannungsfeld von Rechtsprechung und Politik mit Fallbeispielen einsichtig zu machen, wobei gelegentliche Verweise auf amerikanische Gegebenheiten noch einmal die Szenerie der westdeutschen Verfassungswirklichkeit schärfer ausleuchten sollen.
Der Streit um das angemessene Verhältnis zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik läßt sich auf zwei Grundmuster reduzieren: Wo ein Lager auf Gefahren verweist, die der verfassungsmäßigen Ordnung vermeintlich vom Wirken des BVG drohen, sieht ein anderes in der politischen Außeneinwirkung auf das Verfassungsgericht ein Element der Dekomposition für unser gewaltenteilig-demokratisches Im - unter richtlichen Verlauf müssen beide Positionen dargestellt und nach Möglichkeit problematisiert werden. a) Der „Hüter der Verfassung" als dominierende Kraft im gewaltenteiligen System Wo Analysen verfassungsgerichtlicher Tätigkeit in den fünfziger und sechziger Jahren überwiegend zu dem Ergebnis gelangten, das BVG befleißige sich im wesentlichen der gebotenen Zurückhaltung in politicis, drückte die Mahnung Helmut Schmidts im Herbst 1978 (anläßlich einer vom ZDF übertragenen Podiumsdiskussion in der Evangelischen Akademie Tutzing über Zustand und Zukunft der deutschen Demokratie), alle Verfassungsorgane sollten die „Notwendigkeit der Selbstbeschränkung" beherzigen und ihre Kompetenzen nicht bis an den Rand ausschöpfen, milden Tadel am Amtsgebaren des BVG seit den späten sechziger Jahren aus, das von Sozialwissenschaftlern und einzelnen Verfassungsrichtern ungleich heftiger kritisiert wird. Als Auslöser solcher Kritik wirkten eine Reihe spektakulärer Urteile, die Sperrfeuer gegen gesetzgeberische Aktionen der sozialliberalen Koalition legten und oppositionelle Behauptungen zu untermauern schienen, die Kabinette Brandt/Scheel und Schmidt/Genscher unterliefen das Grundgesetz: • „Mit ihrem Verdikt gegen das noch von der SPD/FDP-Koalition in Niedersachsen beschlossene . Vorschaltgesetz'zur Hochschulreform erklärten die Verfassungsrichter im Mai 1973 jede Universitätsselbstverwaltung für grundgesetzwidrig, bei der den Hochschullehrern nur 50 und nicht mindestens 51 Prozent Stimmen in den Entscheidungsgremien der Gruppenuniversität zustehen. • Im Urteil über den von der Bundestags-mehrheit reformierten Paragraphen 218 des Strafgesetzbuches vom Februar 1975 befanden sie, die Fristenlösung — straffreie Schwangerschaftsunterbrechung während der ersten drei Monate nach der Empfängnis — verstoße gegen das Verfassungsgebot, Leben zu schützen. • Im Urteil über den Grundvertrag banden sie die Bundesregierung an höchst weltfremde Interpretationen des Verhältnisses beider deutscher Staaten zueinander, etwa an den Satz, daß es sich bei der Grenze zur DDR , um eine staatsrechtliche Grenze handelt ähnlich denen, die zwischen den Ländern der Bundesrepublik verlaufen.
• Mit dem Wahlpropaganda-Urteil über die Bundestagswahl 1976 wurde dem Kabinett von Schmidt ein Keuschheitsgebot auferlegt, an das sich auch während der zwanzig Jahre christdemokratischer Herrschaft von 1949 bis 1969 keine Bundesregierung gehalten hatte: , Es ist mit dem Verfassungsprinzip, daß Bundestag und Bundesregierung nur einen zeitlich begrenzten Auftrag haben, unvereinbar, daß die im Amt befindliche Bundesregierung als Verfassungsorgan im Wahlkampf sich gleichsam zur Wiederwahl stellt und dafür wirbt, daß sie , als Regierung'wiedergewählt wird.'
© Im Urteil über die Etat-Hoheit des Parlaments vom Mai 1977 wurde die Bundesregierung — besonders der seinerzeit zuständige Bundesfinanzminister Helmut Schmidt — gerügt, weil sie wiederholt Sonderbewilligungen für den Bundeshaushalt ohne das dafür von der Verfassung verlangte . unabweisbare Bedürfnis'erteilt hatte; ein vom Bundestag zu beschließender Nachtragshaushalt wäre nötig gewesen.
• Auch die Entscheidung über die Klage der CDU/CSU gegen die Wehrpflichtnovelle vom Sommer 1977 ist zum Nachteil der Regierung ausgefallen. Als nach der Abschaffung der Gewissensprüfung bei Wehrdienst-Verweigerern die Zahl der Verweigerer rasant anstieg, nahm Karlsruhe noch vor Weihnachten mit einer einstweiligen Anordnung das Ergebnis in der Hauptsache vorweg: Von sofort an mußten die Prüfungsausschüsse wieder tätig werden."
Nach Meinung der Kritiker hat das BVG mit diesen Urteilen seine Kompetenzen vielfach überzogen, mehr noch, sich systemwidrig in das Getümmel der Tagespolitik gestürzt. Kon-rad Zweigert, Verfassungsrichter der „ersten Stunde", diagnostiziert eine Verschiebung der Gewalten, die Verzerrung der funktionell-rechtlichen Balance zwischen Legislative, Exekutive und Judikative, seit das BVG im Entscheid zum § 218 StGB, dem Diätenurteil vom November 1975 oder dem Judikat zur Wehrdienstnovelle die politische Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers durch die Vorgabe von Lösungsmodellen erheblich eingeschränkt hat Nicht allein kann das Aufstellen von Wegweisern für das zukünftige Handeln von Exekutive und Legislative die Gewaltenbalance bedrohen; ebenso problematisch muß sich auf die Dauer die letzthin mehrfach zu beobachtende Übung des BVG auswirken, nach § 311 BVerfGG die Bindungswirkung seiner Entscheidungen auf die tragenden Gründe des Urteils (und damit u. a. auf Ausführungen zu allerlei hypothetischen Fragen, die z. T. bloß sehr entfernt mit der Entscheidung im Zusammenhang stehen!) auszudehnen Auf diese Weise hindert es die anderen Verfassungsorgane, Gerichte und Behörden, in gleich-oder ähnlich gelagerten Fällen eine der verfassungsgerichtlichen Erkenntnis widersprechende Entscheidung zu treffen, verleiht es seiner Gesetzesauslegung eine gesetzes-gleiche Verbindlichkeit und stülpt ein dicht-geknüpftes Netz juristischer Normen über den (zukünftigen) Handlungsspielraum der demokratisch legitimierten politischen Instanzen.
Die Bindungswirkung auf die tragenden Gründe von Urteilssprüchen erstrecken, heißt die Zukunft rechtlich festlegen zu wollen, das juristisch Fixierbare gewaltig auszudehnen. Dies aber „führt paradoxerweise dazu, daß die Rechtsentwicklung der Entscheidungsmacht des BVG entgleitet. Wenn das Recht von Legislative, Exekutive und den Gerichten wegen der Bindung an die Gründe verfassungsgerichtlicher Entscheidungen zukünftigen Wandlungen nicht angepaßt werden darf, kann sich hinter der Fassade der offiziell aufrechterhaltenen Formel eine abweichende Praxis entwickeln. Angesichts der unübersehbaren Vielzahl von tragenden Gründen kann aber auch den anderen staatlichen Instanzen ein Entscheidungsspielraum dadurch erhalten bleiben, daß die Judikate des BVG einfach ignoriert oder vergessen werden. In einem Fall wird die Verfassung, im anderen das Verfassungsgericht desavouiert."
Das gesetzgeberische Funktionen usurpierende BVG, zunehmender „Selbstentfremdung verfallend durch Verlust des Sinns für politische Realitäten" (Zweigert), hat vor allem dort heftige Kontroversen ausgelöst, wo es seiner schiedsrichterlichen Aufgabe im Streit um die „verfassungsmäßige" Außenpolitik zwischen Regierungskoalition und Opposition nachkommen mußte.
Der Politiklehrer wird den offenkundigen Wandel im Rollenverständnis des BVG von den fünfziger zu den siebziger Jahren an Beispielen aus der einschlägigen Rechtsprechung veranschaulichen. Zum Vergleich bietet sich etwa an das Urteil über das Saar-Statut aus dem Jahre 1954 und das oben erwähnte Grundvertrags-Urteil von 1973, weil sich das BVG in beiden Fällen mit fast identischen Tatbeständen beschäftigte — mit zwischenstaatlichen Verträgen nämlich über Gebiete, die Bestandteil des einstigen Deutschen Reichs in den Grenzen von 1937 gewesen waren. Zur Stabilisierung der deutsch-französischen Beziehungen im Rahmen der Westintegration der Bundesrepublik hatten Konrad Adenauer und seine parlamentarische Regierungsmehrheit dem Saar-Statut zugestimmt, das die weitgehende politische Autonomie des Saarlands unter zeitweiliger Aufsicht eines europäischen Kommissars vorsah und damit zwar die bisherige Abhängigkeit des Landes von Frankreich lockerte, andererseits aber auch künftige Chancen seiner Eingliederung in die Bundesrepublik schmälerte. Die oppositionelle SPD-Bundestagsfraktion klagte vor dem BVG mit ähnlichen Gründen, wie sie die CDU/CSU-Op-Position fast zwei Jahrzehnte später gegen den Grundvertrag mit der DDR vorbrachte: Deutsches Staatsgebiet werde in verfassungswidriger Weise abgetreten und Wiedervereinigungsgebote des Grundgesetzes mißachtet. Die Karlsruher Richter wiesen die Klage der SPD postwendend ab und formulierten in der Begründung ein weitreichendes politisches Vertrauensbekenntnis zur Regierung Adenauer: „Es muß grundsätzlich davon ausgegangen werden, daß die politischen Organe der Bundesrepublik ... nicht grundgesetzwidrige Bindungen haben eingehen wollen, daß sie vielmehr die Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz geprüft haben und auch weiter auf eine grund-gesetzmäßige Auslegung und Anwendung des Vertrags achten werden"; internationale Verträge von der Art des Saar-Statuts rückten „für ein Verfassungsgericht weithin in den Bereich der Nichtjustiziabilität" und ließen juristische Auflagen an die Adresse der Politiker als wenig hilfreich erscheinen.
Ganz anders das Grundvertrags-Urteil von 1973, das zwar die Gültigkeit des Abkommens bestätigte, in den Urteilsgründen jedoch ein unverkennbares Mißtrauen gegen die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition zu erkennen gab und durch eine Fülle von Vertragsinterpretationen die Bundesregierung an die juristische Leine legte. „Als Grundlage für die neuen Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten erwächst aus ihm in der kommenden Zeit mit Notwendigkeit eine Vielzahl von rechtlichen Konkretisierungen des neuen Neben-und Miteinander der beiden Staaten (vgl. Art. 7 des Vertrags). Jeder dieser weiteren rechtlichen Schritte muß nicht nur vertragsgemäß, sondern auch grund-gesetzmäßig sein. Es bedarf also heute schon der Klarstellung, daß alles, was unter Berufung auf den Vertrag an weiteren rechtlichen Schritten geschieht, nicht schon deshalb rechtlich in Ordnung ist, weil die vertragliche Grundlage (der Vertrag) verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Deshalb sind schon in diesem Normenkontrollverfahren, soweit übersehbar, die verfassungsrechtlichen Grenzen aufzuzeigen, die für das . Ausfüllen'des Vertrags durch spätere Vereinbarungen und Abreden bestehen." Die Tragweite dieses Diktums kann Schülern unter Verweis auf aktuelle politische Spekulationen einsichtig gemacht werden: Ein „Tauschgeschäft" des Inhalts, eine Liberalisierung des Besucherverkehrs durch eine strafrechtliche Verfolgung der kommerziellen Fluchthilfe zu honorieren, wäre ebenso unzulässig wie etwa eine mögliche Abmachung, welche die Verwirklichung voller Freizügigkeit mit der Anerkennung einer DDR-Staatsangehörigkeit erkaufen würde und die Aufnahme von DDR-Bürgern in der Bundesrepublik nur noch im Rahmen des Asylrechts ermöglichte.
Der Vorwurf der Kompetenzüberschreitung und anhaltende Zweifel an der „Überparteilichkeit" des Gerichts in den siebziger Jahren werden von einer Kritik begleitet, die auf die festzustellende Neigung des Gerichts zielt, seine Grundrechts-Interpretation zunehmend am Maßstab politischer Zweckmäßigkeit auszurichten. So hat etwa Verfassungsrichter Martin Hirsch in seiner eingangs zitierten „abweichenden Meinung" zur Wehrpflichtentscheidung des Zweiten Senats die Relativierung des Grundrechts der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen (Art. 4 Abs. 3 GG) mittels politischer Überlegungen beklagt und die Gefahr beschworen, das BVG könnte sich vom Hüter zum unkontrollierbaren Herrn der Verfassung entwickeln, das Grundgesetz mitsamt den Grundrechten bloß noch in der Fassung gelten, die dem aktuellen Stand der Rechtsprechung (festgehalten in den amtlichem Entscheidungsbänden des Gerichts) entspreche.
Wo über zwei Jahrzehnte hinweg der „Hüter der Verfassung" durch bürgernahe Auslegung und Ausweitung der Grundrechte fast grenzenlose Reputation in der bundesrepublikanischen Gesellschaft genoß, ist im vergangenen Dezennium das BVG nicht selten hinter seine eigenen Rechtssetzungen zurückgefallen und hat im Konflikt von Bürgerfreiheit und Staatsraison vorzugsweise die Rolle des „defensor rei publicae" gespielt. Was im Urteil vom 15. Dezember 1970 zum Abhörgesetz anklang, bei dem es um die Frage ging, ob der Gesetzgeber elementare Verfassungsprinzipien wie das Post-und Telephongeheimnis antasten dürfe, ist bloß ein Beispiel staatspolitischer Beflissenheit neben manchen anderen: „Grundsätze", heißt es da, „werden als Grundsätze von vornherein nicht berührt, wenn ihnen im allgemeinen Rechnung getragen wird und sie nur für eine Sonderlage entsprechend deren Eigenart aus evident sachgerechten Gründen modifiziert werden." „Sonderlage", „evident sachgerechte Gründe", solche Kriterien können vielerlei Praktiken decken; politische Opportunität mag da leicht über Grundrechtssubstanz die Oberhand behalten. Wie im Falle jenes Wehrpflichtigen vom Panzergrenadierbataillon 292, stationiert im badischen Immendingen, der sich von seinem Kommandeur vierzehn Tage Disziplinar-Arrest einhandelte, weil er in der militärischen Unterkunft einen anderen Soldaten zu überreden versuchte, sich gegen den Bau des Atomkraftwerks in Wyhl auszusprechen? „Die disziplinare Bestrafung greift nicht unzulänglich in das Grundrecht des Beschwerdeführers (auf Meinungsfreiheit) ein", entschied der Zweite Senat des BVG mit vier gegen drei Richterstimmen
Wenn ein Soldat eine Bürgerinitiative unterstütze, die sich gegen den Bau von Atomkraftwerken wende, begehe er „eine verbotene und disziplinarisch zu ahndende politische Betätigung". Daß solche Begründung freilich mit dem Leitbild des „Staatsbürgers in Uniform"
kollidiert, ist von den abweichenden Richtern in ihrer Urteilsschelte vermerkt worden. „Das dem Beschwerdeführer vorgeworfene Verhalten", so ihre Kritik, „war ein Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage. Die disziplinare Bestrafung berührt deshalb die Meinungsfreiheit in ihrer Kernbedeutung als Voraussetzung eines freien und offenen politischen Prozesses, an dem der Beschwerdeführer auch als wehrdienstleistender Soldat grundsätzlich weiter teilnehmen darf."
Die öffentlich vorgetragenen Beschwerden gegen das BVG lassen sich allesamt auf einen gemeinsamen Nenner bringen: der „Hüter der Verfassung" befleißige sich nicht mehr des „judicial self-restraint" in dem Maße, wie es demokratietheoretischen Postulaten und gewaltenteiligen Ordnungsprinzipien entspräche. Wer dem BVG wohlwollte (und will), hat in den letzten Jahren verstärkt auf das amerikanische Vorbild verwiesen. Der S. C. unterwirft sich aufgrund verfassungsrechtlicher Beschränkungen (die auf die bundesdeutsche Situation nicht ohne weiteres übertragen werden können!) und schmerzlich erworbener Einsichten in die Dynamik des politischen Machtprozesses richterlicher Selbstbeschränkung in weitaus höherem Grade als das BVG.
Das Oberste Gericht der USA wird einmal durch konstitutionelle und gesetzliche Vorschriften zur Selbstbescheidung angehalten. Anders als das Grundgesetz legt Art. III Abs. 2 der US-Verfassung die Judikative auf die Entscheidung von „cases and controversies" fest und schließt damit unmißverständlich jede abstrakte Normenkontrolle aus. Wo Bundesgerichte bis hin zum S. C.den Tatbestand der Verfassungswidrigkeit feststellen, geschieht dies incidenter am konkreten Streitfall dann, wenn eine akzessorische Überprüfung der mit dem Prozeß verknüpften Verfassungsnorm zur Regelung des zivil-, strafoder verwaltungsrechtlichen Streitfalls erforderlich erscheint. Ohne „real controversy" treten US-Gerichte nicht in Aktion. Sie stellen ihre Tätigkeit deshalb auch ein, wenn sich der zu entscheidende Fall etwa durch vorzeitige Erfüllung des Klagebegehrens oder Außerkrafttreten des angegriffenen Gesetzes von selbst erledigt hat.
Ferner muß ein „substantial interest", ein unmittelbares Rechtsinteresse des Klägers an der Entscheidung des konkreten Streitfalls erkennbar sein. So erfüllen beispielsweise Unterlassungsklagen von Steuerzahlern gegen eine vermeintliche rechtswidrige oder verschwenderische Verwendung öffentlicher Gelder in den einzel-bzw. bundesstaatlichen Haushalten nach amerikanischer Rechtsprechung dieses Kriterium nicht. Sind in einem konkreten Rechtsstreit Verfassungsfragen entscheidungserheblich, so setzt ihre Klärung wiederum gewisse Verfahrensweisen voraus:
Das Gericht berücksichtigt Rechtsnormen grundsätzlich nur dann, wenn eine Partei sich unmißverständlich und rechtzeitig auf sie berufen hat. Schon in der Vorinstanz müssen deshalb die in einem Rechtsstreit angelegten Verfassungsaspekte aufgeworfen worden sein, wenn sie die Appellationsebene des S. C. erreichen sollen. Der S. C., der neben seinen erstinstanzlichen Kompetenzen all jene Funktionen wahrnimmt, die in der Bundesrepublik die oberen Bundesgerichte und das BVG ausüben, für ein Land obendrein, dessen Einwohnerzahl diejenige Westdeutschlands mehrfach übersteigt, kann seine Revisionsbefugnisse bloß durch drastische Beschränkung der zugelassenen Fälle ausüben. Als Guillotine für Revisionsfälle, die sich gegen verfassungsrechtliche Entscheidungen der Unterinstanzen richten, wirkt dabei das Erfordernis der „substantial federal question": Ist die bundesweite Erheblichkeit nach Auffassung des S. C. zu verneinen, verwirft er das Rechtsmittel ohne Urteil. Die überwiegende Zahl der eingehenden Revisionsbegehren beruht freilich auf der sog. „Petition of certiorari"; die nachgeordneten Gerichte werden sie einbringen, wenn sie in juristischen Zweifelsfragen eine Entscheidung des Obersten Gerichts herbeiführen wollen. Ein „certiorari" -Verfahren kommt aber bloß dann in Gang, wenn der S. C. dieser Petition (oder dem Revisionsantrag einer Prozeßpartei) durch Anweisung entgegenkommt, ihm die Akten des Falles zu überstellen; Revision ist hier kein Rechtsanspruch, sondern eher ein Privileg, welches das Oberste Gericht nur mit größter Zurückhaltung gewährt.
Zum anderen hat sich aber der S. C. im Lauf seiner Geschichte aus machtpolitischen Erfahrungen heraus einem gewissermaßen „freiwilligen" „judical restraint" unterworfen und dabei ungeschriebenes Verfahrensrecht entwickelt, welches den vorgegebenen Herrschaftsstrukturen pragmatisch Rechnung trägt. Richter Brandeis hat in einer berühmten „dissenting opinion" die Beschränkungen zusammengefaßt, die in der langen Tradition bundesrichter-B lieber Jurisdiktion entstanden sind: Das Gericht werde stets einer möglichen nicht-verfassungsrechtlichen Begründung des Urteils den Vorzug vor einer verfassungsrechtlich fixierten einräumen; es werde sich in zweifelhaften Fällen um die verfassungskonforme Auslegung eines umstrittenen Gesetzes bemühen; es werde auch über die Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm nicht auf Antrag einer Partei entscheiden, die die Vorteile des Gesetzes in Anspruch genommen habe -Am Beispiel der verfassungsgerichtlichen Judikate zur Abtreibungsproblematik können die unterschiedlichen Verhaltensweisen von S. C. und BVG aufgewiesen werden. Wo das BVG die vom Gesetzgeber getroffene Entscheidung nicht bloß ablehnte, sondern durch eine vom Gericht für besser gehaltene ersetzen wollte, beschränkte sich der S. C. auf bloße Überprüfung des einschlägigen Gesetzes an Verfassungsnormen; und wo der Oberste Gerichtshof der USA jede weiterreichende staatliche Beschränkung oder gar Strafandrohung im Fall der Abtreibung für unzulässig erklärte, weil sie dem Persönlichkeitsrecht der Frau auf ihre Privatsphäre widerstreite, kehrte das BVG das Grundrecht auf Leben in die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates zur Strafe um, wo Art. 2 Abs. 2 GG im Weg der Abtreibung verletzt werde.
„Judicial self-restraint" tritt schließlich zutage in der „politicial question" -Doktrin, so unscharf immer ihre Konturen gezogen, so kontrovers ihr Zweck und Sinn auch sein mögen In jedem Fall will der S. C. mit dem Begriff der „po-litical question" zum Ausdruck bringen, daß sich ein umstrittener Sachverhalt der Rechtsprechung entziehe. Bei Konflikten im Bereich der auswärtigen Beziehungen etwa (über die Geltung bzw. Einhaltung von Verträgen, Grenzstreitigkeiten, Anerkennung von Staaten, Einreiseverweigerungen für Ausländer oder deren Ausweisung etc.) stoßen richterliche Entscheidungskompetenzen an kaum überwindbare Grenzen: von Informationsschwierigkeiten abgesehen, kann die dritte Gewalt die internationalen Rückwirkungen rechtskräftiger Judikate weder übersehen noch verantworten.
Die Gefahr einer „Juridifizierung der Politik" wird heute in der Bundesrepublik heftiger beschworen als in den USA. Wer die zugrunde liegenden Sachverhalte differenziert betrachtet, kann freilich solchen Kassandra-Rufen nur mit Vorbehalt zustimmen. Er wird immer wieder auf Intentionen der Verfassungsväter verweisen müssen, Demokratie als Mehrheitsherrschaft durch das Recht begrenzen zu wollen, politische Willkür im Gewand der „Legalität" auch durch das Institut der abstrakten Normenkontrolle aufdecken zu lassen, obschon es richterlicher Kompetenzausdehnung Wege bahnen hilft. Allein eine entsprechende Verfassungsänderung könnte das BVG künftig auf „cases and controversies" nach amerikanischem Muster festlegen und damit seine weiterreichenden Interventionsmöglichkeiten beschneiden. Leichter zu verwirklichen wäre die Begrenzung von Richtermacht mit Hilfe der „political question" -Doktrin, welche die Annahme rein politischer Streitsachen mit der Begründung ausschließt, es fehle an entscheidungserheblichen Rechtsnormen. BVG und Gesetzgeber könnten eine solche Reform ohne größere Schwierigkeiten auf den Weg bringen. Bloß müßte das richterliche Vorrecht gesichert bleiben, autonom über die Justiziabilität von Streitigkeiten befinden zu können, weil sonst die anderen Gewalten sich allzu leicht der Rechtskontrolle unter Hinweis auf politische Dimensionen kontroverser Materien entziehen könnten. b) Der „Hüter der Verfassung"
im Sog politischer Machtdynamik Versuche, verfassungsgerichtliche Aktivitäten von außen zu beeinflussen, sind in den USA wie in der Bundesrepublik nicht eben selten unternommen worden, wobei die konkurrierenden Staatsgewalten ebenso als Auslöser politisch-psychologischer Nötigungskampagnen wirken mochten (und mögen) wie Parteien, gesellschaftliche Gruppen oder die öffentliche Meinung schlechthin. Wir haben das Waffenarsenal schon vorgestellt, das etwa der Legislative dort zur Verfügung steht, wo sie mißliebiger Ausschöpfung oder Überdehnung von Richtermacht begegnen will: Verfassungsänderung, Gesetzesrevision, Bewilligungsrecht und Organisationsgewalt können im Konfliktaustrag als durchaus wirkungsvolle Drohund Druckmittel eingesetzt werden. Im Normalfall freilich nehmen die jeweiligen Träger der politischen Macht ungern so offenkundigen Einfluß auf das Wirken der dritten Gewalt, weil sie den Vorwurf systemwidriger Verfassungsmanipulation oder demokratiegefährdender Herrschaftsanmaßung scheuen. Man schätzt subtilere Methoden der Druck-ausübung und nutzt in erster Linie die Chance der Richterbestellung zur Einflußnahme auf die Verfassungsrichter, in Amerika nicht anders als in der Bundesrepublik. Der Politiklehrer wird den Sog politischer Machtdynamik, dem das BVG wie der S. C. unterworfen sind, an der vielschichtigen Problematik der Personalauslese und Amtsbestellung im Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit veranschaulichen können Art. 94 Abs. 1 GG bestimmt: „Das Bundesverfassungsgericht besteht aus Bundesrichtern und anderen Mitgliedern. Die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts werden je zur Hälfte vom Bundestage und vom Bundesrate gewählt.. Die §§ 1— 12 des Bundesverfassungsgerichts-gesetzes (BVerfGG) legen das Verfahren der Richterbestellung im einzelnen fest. Die Wahl durch den Bundestag erfolgt in einem eigenen Richterwahlausschuß mit zwölf Mitgliedern, im Bundesrat durch das Plenum; in beiden Gremien sind Zweidrittelmehrheiten gefordert. Der Präsident des Gerichts und sein Stellvertreter werden abwechselnd vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt. Der Bundesjustizminister führt Kandidatenlisten, um den Wahlgremien auf Anforderung Entscheidungshilfe zu gewähren, die bei anhaltenden Einigungsnöten auch durch Vorschläge des BVG selbst vermittelt werden kann. Freilich regulieren die Wahlvorschriften des BVerfGG die politische Wirklichkeit bloß unvollkommen; denn Obmänner und Findungskommissionen der Parteien pflegen im Vorfeld fälliger Wahlen Kandidaturen zu klären, über das jeweilige Vorschlagsrecht der Fraktionen zu befinden und Kompromisse auszuhandeln, die um so leichter zu erreichen sind, je mehr Richter gleichzeitig gewählt werden. Zwar verringern die gesetzlich fixierten Qualifikationen für das Amt eines Bundesverfassungsrichters die Gefahr, daß inkompetente Politiker auf Pfründensuche das Kandidaten-karussell besteigen; und ebenso wird allzu einseitige Machtverteilung im BVG durch das Gebot der Zweidrittelmehrheit verhindert, das Kompromisse erzwingt und der jeweiligen Opposition Einflußchancen zuweist. Doch schließen solche institutionellen Vorkehrungen weder eine überzogene Politisierung der Wahlen noch parteipolitische Ungleichgewichte in den Senaten des BVG aus. Wie in den ersten Jahren des Gerichts häufig vom „roten" und vom „schwarzen" Senat gesprochen wurde, haben sich auch in der unmittelbaren Gegenwart unterschiedliche Parteikonstellationen im Zwillingsgericht herauskristallisiert Solche Feststellungen dürfen freilich nicht in der Weise mißverstanden werden, als ließe sich ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der parteipolitischen Zuordnung eines Richters und seinem juristischen Entscheidungsverhalten herstellen. Kommers etwa, der die persönlichen Werthaltungen der Richter einer eindringlichen Analyse unterzogen hat, ist zu dem Schluß gelangt, daß die Parteiorientierung in wichtigen Streitfragen von individuellen Überzeugungen überlagert werde — ein Befund, den ähnlich strukturierte Untersuchungen auch für das Abstimmungsverhalten der Richter am S. C. erbracht haben
Ganz unbestritten wirkt sich aber die politische (und berufliche) Herkunft der Richter auf ihr Judizieren aus, was die Parteien häufig veranlaßt, die Richtungseignung der Kandidaten als primäres Auslesekriterium zu bewerten.
Mehrfach haben Richterwahlen heftige und öffentlich ausgetragene Kontroversen zwischen Regierungsmehrheit und parlamentarischer Opposition ausgelöst, wurde taktiert und finassiert, am Modus der Richterwahl herumgebastelt, „gemauert" und verzögert. Daß das Ansehen des Gerichts unter opportunistischem Machtgerangel leiden mußte, nahmen die Parteien um so leichter in Kauf, als die Wachsamkeit der deutschen Öffentlichkeit bei Institutionenmißbrauch stets zu wünschen übrig ließ. Anders übrigens in den USA: Selbst Roosevelts „Court Packing" -Plan der dreißiger Jahre, der einen den sozialreformerischen „New Deal" systematisch abblockenden, gegen eine überwältigende Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses und die öffentliche Meinung gerichteten Kurs des S. C. ändern, den Gerichtshof durch personelle Umbesetzung gefügig machen und überhaupt die Bundesgerichte stärkerer Personalpatronage durch den Präsidenten unterwerfen sollte, scheiterte an eben dieser öffentlichen Meinung, die bei aller Kritik an der rückständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichts doch in der Gefahr der Beeinträchtigung richterlicher Unabhängigkeit das größere Übel erblickte.
Freilich darf der Politikunterricht an dieser Stelle nicht einfach Parteienschelte betreiben und damit dem in Deutschland ohnehin seit alters verwurzelten Antiparteienaffekt zusätzlichen Auftrieb vermitteln. Denn bei näherem Zusehen spricht manches für die geübte Praxis der Richterbestellung, können demokratische und grundgesetzliche Postulate zu ihrer Rechtfertigung ins Feld geführt werden. Zum einen ist „die Einflußnahme politischer Parteien auf die Richterauswahl im Hinblick auf die Vermittlung repräsentativ-demokratischer Legitimation positiv zu bewerten" zum anderen wäre ein Rekrutierungssystem, das den Parteieneinfluß prinzipiell auszuschalten versuchte, „in der Parteiendemokratie des Grundgesetzes wirklichkeits-und systemfremd"
Und angesichts der politischen Implikationen jeglicher Verfassungsgerichtsbarkeit kommt ausgewogenen Vertrauensbeziehungen zwischen den Richterkandidaten und den maßgeblichen politischen Kräften auch systemische Funktionalitätvon großem Gewicht zu. In einem institutionell und ideologisch plura-len politischen System übernimmt das BVG auch den Part des unentbehrlichen Schiedsrichters, des integrierenden Staatsorgans; er kann nur dann wirksam gespielt werden, wenn die Konfliktparteien (staatlicher oder gesellschaftlicher Provenienz) gerichtliche Entscheidungen annehmen (solange sie politisch erträgliche Lösungen anbieten und gewissen Standards „rationaler" juristischer Argumentation genügen). Nicht zuletzt deshalb stellen die Wahlgremien auch komplizierte Proporzüberlegungen an, ehe sie das Kandidatenkarussell in Bewegung setzen, suchen sie eine gewisse Balance zwischen zentralistischen und föderalistischen Einstellungen in den zwei Senaten herzustellen, achten sie auf ein ungefähres Gleichgewicht der Konfessionen (die CDU/CSU-benannten Richter waren überwiegend Katholiken, die SPD-orientierten Juristen eher Protestanten) und bedenken nicht zuletzt die Ausgewogenheit der regionalen Repräsentanz. Alles in allem haben in-und ausländische Forscher den Bundesverfassungsrichtern hohe Amtseignung bescheinigt und damit auch den bei der Auslese beteiligten Gremien Verantwortungsbewußtsein attestiert. Alle Parteien bemühten sich, dem BVG Richter mit untadeliger Vergangenheit zuzuführen und suchten im allgemeinen erfolgreich Kompromisse zwischen der Forderung nach Amtsqualifikation (d. h. „neutralem Sachverstand") der Kandidaten und ihrer Richtungseignung. Erst jüngst mehren sich Stimmen, die von der politischen Fraktionierung der BVG-Senate als Folge parteigebundener Ämterpatronage reden und den Vorwurf judikativen Qualitätsverfalls erheben. So sehr diese Kritik ernst zu nehmen ist, die keinesfalls allein dem radikal-„systemverändernden" Lager entspringt, so wenig sollte sie in eine totale Diskreditierung des Ausleseverfahrens münden. Ihre systemimmanente Hilfsfunktion erweist sie vielmehr dort, wo sie den Stellenwert einer wachsam-aufgeklärten öffentlichen Meinung ins Visier rückt, ohne die eine repräsentative Demokratie auf Dauer nicht gedeihen kann. Wo in den USA nach der Verfassung der Senat die Rolle des Wächters übernehmen soll, muß in der Bundesrepublik die öffentliche Meinung als Kontrolleur und Korrektiv wirken, wenn über taktischem Machtkalkül der Parteien Institutionenrespekt und gemeinwohlorientierte Politikperspektiven auf der Strecke zu bleiben drohen.
Schwerer als die Außeneinwirkungen über die Prozedur der Richterbestellung wiegen politisch-psychologische Nötigungsakte durch Mobilisierung der öffentlichen Meinung gegen zu erwartende Judikate des BVG Der jüngst ausgetragene Streit um die gesellschaftspolitischen Reizthemen Mitbestimmung bzw. Aussperrung mag die Problematik veranschaulichen, die solchen Versuchen im Hinblick auf verfassungsrechtliche und institutioneile Gebote unserer politischen Ordnung eignet. Arbeitgeberverbände und gewerkschaftliche Organisationen suchten durch drastische Stellungnahmen pro und contra Mitbestimmung, wie sie im einschlägigen Gesetz von 1976 verankert ist, die verfassungsrichterliche Entscheidung zu präjudizieren; und selbst ein Repräsentant der staatlichen Institutionenordnung, der nordrhein-westfälische Sozialminister Farthmann, glaubte zu Beginn des Jahres 1979 das BVG vor einem restriktiven Urteil über die Mitbestimmung warnen zu müssen Im Frühjahr 1980 haben vor allem Pressionsversuche des DGB im Umfeld der Aussperrungsentscheidung des Bundesarbeitsgerichts an Schärfe und Lautstärke zugenommen; gewerkschaftlichem Verständnis will offensichtlich zuweilen die deutsche Justiz immer noch als bürgerliche Klassenveranstaltung erscheinen. In Hannover drohte IG-Druck-Sprecher Dreßler ganz unverblümt mit politischen Konsequenzen für den Fall eines „gewerkschaftsfeindlichen" Urteils in Sachen Aussperrung: Man werde es nicht länger hinnehmen, daß sich eine Richter-generation im Beamtenstatus mit einem Interessenklüngel (d. h.den Arbeitgeberverbänden, d. Verf.) verbinde, um Verfassungsgebote zu ignorieren und Gesetze zu mißachten.
Solche Attacken verraten schlechten Stil, lassen den demokratienotwendigen Institutionenrespekt vermissen und nehmen für eine gesellschaftliche Organisation das Recht in Anspruch, autoritativ über die Intentionen des Grundgesetzes zu befinden. Und doch sind sie nicht unzulässig, hat doch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Rechtstreit „Sunday Times" gegen Contergan-Hersteller am 26. April 1979 der Pressefreiheit (bzw. öffentlichem Meinungsdruck von außen) Vorrang vor einem (angeblich übertriebenen) Schutz der Justiz bei schwebenden Verfahren eingeräumt. Einschränkungen der Meinungsfreiheit seien bloß dann erlaubt, wenn im konkreten Fall mit zweifelsfreier Sicherheit Gefahr für die Rechtspflege bestehe. Anders ausgedrückt: Solange Äußerungen der Medien oder mächtiger Verbände diesseits strafbarer Nötigung bleiben, müssen sie als zulässig gelten. Die Auswirkungen dieses wegweisenden Urteils lassen sich absehen: Das BVG und die übrigen Oberen Gerichte werden künftig verstärktem Außendruck unterworfen werden und können wenig mehr dagegen unternehmen, als ihre Bereitschaft zu beteuern, trotz aller Einschüchterungsversuche richterliche Unabhängigkeit zu bewahren.
Schließlich darf eine letzte Möglichkeit nicht übersehen werden, die Verfassungsgerichtsbarkeit direktem Außeneinfluß zu unterwerfen und in die Strudel politischer Machtdynamik zu zerren: die erneut in Mode gekommene Fortsetzung politischer Kontroversen vor dem BVG im Gewand verfassungsrechtlicher Streitigkeiten. Der damit verbundene Machtzuwachs für den „Hüter der Verfassung" ist ebenso unverkennbar wie der Macht-schwund des parlamentarisch-repräsentativen Regierungssystems. Das Institut der abstrakten Normenkontrolle verführt die Opposition, entweder als Bundestagsfraktion oder vertreten durch eine Länderregierung, gegen mehrheitlich verabschiedete Gesetze zu klagen.
„Ort der politischen Auseinandersetzung zwischen Regierungsmehrheit und Opposition ist aber das Parlament, dort findet sie durch Beschlußfassung ihr Ende — sowohl von der staatlichen Struktur her wie auch aus der Sicht des Bürgers. Die Möglichkeit, in Verlängerung der politischen Auseinandersetzung denselben Streit sogleich dem Bundesverfassungsgericht zur rechtlichen Entscheidung aufzugeben, hat die inzwischen sattsam bekannte Folge: Weite und Möglichkeiten eines politischen Kompromisses bleiben in wichtigen Fragen unausgelotet, da der spätere Sieg der eigenen Sache vor dem Bundesverfassungsgericht bereits in das politische Kalkül einbezogen ist." So wie durch anhaltende Versuche der jeweiligen Opposition (wie wir sie aus den fünfziger ebenso wie den siebziger Jahren kennen), ihre parlamentarischen Niederlagen durch Einschaltung des BVG in nachträgliche Siege umzuwandeln, der Bundestag als Ort verbindlicher gesamtgesellschaftlicher Dezision und politischer Integration abgewertet wird, verlieren Exekutive und Legislative insgesamt an Glaubwürdigkeit angesichts der „Überwälzung des politischen Risikos auf judikative Funktionsträger"
Daß heute in solchen Zusammenhängen die eigentlichen Gefahren der viel gescholtenen „Juridifizierung der Politik" wurzeln, ist offenkundig: Verrechtlichung der Politik, wachsende Distanz der politischen Entscheidungsträger zum Bürger und staatspolitische Verdrossenheit der Bevölkerung sind untereinander kausal verbunden. Jeder Politikunterricht, der auf Erhalt und Kräftigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zielt, muß über die gewiß wichtige Vermittlung von institutionellem und prozeduralem Wissen in Sachen Verfassungsgerichtsbarkeit hinaus zur Erhellung und Diskussion ihrer systemischen Schwächen vordringen: denn bloß in kritisch-problemorientierter Auseinandersetzung mit der eigenen Herrschaftsordnung bildet sich jenes konsensschaffende Bewußtsein, das auch in Krisenzeiten den demokratischen Institutionen staatsbürgerliche Loyalität sichert.