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Einige Anmerkungen zur Problematik der Todesstrafe | APuZ 49/1980 | bpb.de

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APuZ 49/1980 Artikel 1 Einige Anmerkungen zur Problematik der Todesstrafe Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Ein Vergleich mit dem Supreme Court in politikwissenschaftlicher und politikdidaktischer Absicht

Einige Anmerkungen zur Problematik der Todesstrafe

Karl Bruno Leder

/ 45 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Zwar ist die Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland durch Grundgesetz-Gebot abgeschafft, doch in den meisten Ländern unserer Welt wird sie noch angedroht und auch vollstreckt Da diese Strafart auch immer wieder als probates Mittel zur Bekämpfung politischer Gegner angesehen und verwendet wird, hat die Bundesregierung auch aus diesem Grund vor den Vereinten Nationen darauf gedrungen, die Todesstrafe international ächten zu lassen. Sie wird in ihrer Bemühung von Amnesty International unterstützt. Wer sich über das Wesen der Todesstrafe Klarheit verschaffen will, muß sich auch mit ihrer Geschichte auseinandersetzen. In der weltweiten Diskussion um diese Strafe, die während der letzten zweihundert Jahre viele große Geister zu einer Stellungnahme zwang, ist immer wieder versucht worden, das Problem der Todesstrafe zu rationalisieren und zu einem Thema moderner Strafjustiz zu machen. Wie die Untersuchung dieser ältesten gesellschaftlichen Strafe jedoch zeigt, kommt die Forderung nach der Todesstrafe aus irrationalen Schichten und hat nichts zu tun mit der Forderung nach Gerechtigkeit. Somit ist die Todesstrafe auch kein Problem der Justiz, die damit stets überfordert war und noch ist. Vielmehr handelt es sich bei der Forderung nach der Todesstrafe um einen Indikator für innergesellschaftliche Zwänge und Pressionen. Folgerichtig gibt es auch kein einziges rationales Argument, das klar für die Anwendung der Todesstrafe spräche und nicht zu widerlegen wäre. Dagegen gibt es eine Reihe von Argumenten, die eindeutig gegen die Anwendung dieser archaischen Strafe sprechen. Es sollte daher zum politischen Allgemeingut werden, daß die Todesstrafe nicht mehr zum Instrumentarium eines modernen Staates gehören darf, sondern daß sie ebenso geächtet werden muß wie etwa die Sklaverei.

In der Bundesrepublik Deutschland ist bekanntlich durch den Grundgesetzartikel 102 die Todesstrafe definitiv, also auch für den Kriegsfall, abgeschafft. Diese Tatsache hat bei vielen, selbst politisch interessierten und gut informierten Bundesbürgern zu einem verringerten „Problembewußtsein" geführt; sie ignorieren nur zu gern die Tatsache, daß von den rund 160 Staaten, die es auf unserer Welt gibt, die allermeisten die Todesstrafe noch beibehalten haben und sie praktizieren.

Nur 18 Staaten schafften sie ebenso wie die Bundesrepublik endgültig ab. Im gesamten Ostblock, in Afrika und Asien jedoch ist sie noch in Kraft und wird auch noch relativ oft vollstreckt (ganz zu schweigen von Ländern, die sich in revolutionärem Umbruch befinden, wie der Iran, aus dem fast täglich Nachrichten von Exekutionen kommen). Im übrigen meldeten aber während des letzten Jahres auch China, Südafrika, die Sowjetunion, Afghanistan, Vietnam, Algier, Mocambique, Burundi, Nepal, Singapur und Pakistan Exekutionen. Die Dunkelziffer dürfte noch weit höher liegen, da der Vollzug einer Exekution sicher in vielen Ländern nicht zu den meldenswerten Nachrichten gehört.

Aber auch in der Bundesrepublik Deutschland ist das Problem noch längst nicht ausdiskutiert; nach dem jüngsten Umfrageergebnis fordern immer noch 26 Prozent der Befragten die Todesstrafe Dieser Prozentsatz kann sich erfahrungsgemäß nach sensationellen Verbrechen auf 50 Prozent und mehr erhöhen.

Die Fragwürdigkeit der Institution Todesstrafe offenbart sich am deutlichsten in ihrem noch allzuoft anzutreffenden Mißbrauch und in ihrer Anwendung auf mißliebige politische Gegner. Obwohl gerade dies sich eigentlich am klarsten verbietet, sind die aus politischen Gründen verhängten Todesurteile noch die häufigsten. Denn leider muß es noch immer jedem Diktator einfacher erscheinen, seine politischen Gegner umzubringen, als sie zu überzeugen oder mit ihnen politisch zu argumentieren.

Gerade wir Deutschen haben in diesem Punkt aus den Tagen des nazistischen Gewaltregi-

mes wache Erinnerungen an nur allzu böse Erfahrungen. Vielleicht ist auch dies ein Grund dafür, daß die Bundesregierung nach einer Presseveröffentlichung vom 1. September 1979 generell für eine weltweite Ächtung der Todesstrafe eintritt 1a). Falls einmal ein UNO-Antrag auf Ächtung der Todesstrafe eine internationale Mehrheit fände, so wäre zweifellos ein großer Fortschritt erzielt. Zwar könnte noch nicht garantiert werden, daß nicht weiterhin Dutzend-Diktatoren ihre Gegner umbringen. Doch sie hätten dann nicht mehr die Mehrheit auf ihrer Seite; sie könnten sich nicht mehr hinter dem schlechten Beispiel anderer verstecken, könnten nicht länger als Gerechtigkeit ausgeben, was doch nichts anderes als Tyrannei ist; ihre Untaten wären von vornherein gebrandmarkt, und diese Tatsache könnte vielleicht, zumindest auf Dauer, einen mildernden Einfluß ausüben.

Älteste Strafe der Gesellschaft

Wer sich mit dem Wesen der Todesstrafe auseinandersetzen will, muß sich bewußt sein, daß sie die älteste aller Strafen ist, die von der Gemeinschaft gegen Gesetzesbrecher verhängt wurde. Sie stammt also aus archaischer, prä-rationaler Zeit, als an einen rationalen Strafbegriff noch lange nicht zu denken war. Diese Tatsache allein sollte schon hinreichend zu denken geben und die Todesstrafe „verdächtig" machen.

In der Tat ist sie in ihrem Anfangsstadium nicht als Strafinstrument, sondern als Sühne-mittel gedacht, und zwar als Sühne gegenüber den (mystischen) Schicksalsmächten. Es kommt hier sehr darauf an, den Unterschied zur heutigen Strafauffassung zu begreifen. Dieser Unterschied ist fundamental; er ergibt sich aus unserer heutigen wissenschaftlichen und der damaligen animistischen Weltauffassung des frühen Menschen Diese animistische Weltauffassung, der wir in allen frühen Kulturkreisen rund um die Welt begegnen, war dadurch gekennzeichnet, daß der Mensch jener Zeiten jedes Ereignis, das ihm oder anderen begegnete, als von Schicksalsmächten (Geistern, Dämonen, Ahnen oder Göttern) gesandt ansah. Da ihm noch die Mittel fehlten, die Umwelt rational zu begreifen und auf sie einzuwirken, blieben ihm nur magische Einflußnahmen übrig. Naturgemäß begegneten ihm viel mehr Unglücksfälle als dem heutigen Menschen, der sie zu beherrschen gelernt hat. Hunger, Wetterunbilden, wilde Tiere und Krankheiten — das alles waren Plagen, gegen die der frühe Mensch keinerlei Waffen als magische Alle Unglücksfälle Rituale glaubte er von -den Schicksalsmächten ge sandt; diese waren ihm also feindlich gesinnt. Vielleicht hatten er oder einer der Stammesgenossen (wenn auch nur unwissentlich) sie beleidigt, wofür sie ihn und die Gesellschaft bestraften. Es galt also, die Schicksalsmächte unbedingt wohlgesonnen zu erhalten. Dies war möglich durch Opfer und Geschenke sowie durch Einhaltung ihres Willens. Ihren Willen aber drückten die Schicksalsmächte in den Tabugesetzen aus, jenen Gesetzen, die oft als völlige Willkürakte erscheinen, die aber doch, nach Freuds Erkenntnis, das Leben der menschlichen Gemeinschaft regelten. Es ist hier nicht der Platz, intensiver auf das Tabu-problem einzugehen. Nur so viel sei gesagt: das polynesische Wort tabu bedeutet sowohl heilig als auch unrein und verdammt, ebenso übrigens wie das altlateinische sacer. Das Heilige ist also auf jeden Fall unberührbar, oft ist es auch todbringend. Die Tabugesetze haben im allgemeinen den Charakter eines Verbots: Du sollst nicht — du darfst nicht... Zu den strengsten Tabugesetzen gehören sexuelle Verbote, etwa das weltweite Verbot des Inzests oder des Ehebruchs; aber auch alles, was mit dem Tod in Verbindung zu bringen ist, steht unter strengem Tabu. Das gilt sogar für Krieger. „Es will uns scheinen, als wäre auch in diesen Wilden das Gebot lebendig: Du sollst nicht töten!“ schreibt Freud in seiner Arbeit über „Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen“

Jeder Bruch der Tabugesetze, seien diese auch noch so seltsam, erregt sofort den Zorn der Schicksalsmächte und beschwört deren Strafe auf die Gemeinschaft herab. So ist es z. B. auf den Aleuten verboten, die Sterne zu zählen — es würde den Tod bringen

Wer also ein Tabugebot übertritt, sei es auch unwissentlich, ist ein „Fluchträger" und muß aus der Gemeinschaft ausgemerzt werden, um auf diese nicht den Zorn der Schicksalsmächte herabzubeschwören. Das beste Beispiel für diese grundsätzlich andere Schuldauffassung bietet der bekannte griechische Ödipus-Mythos. Bei der Geburt des Helden Ödipus wird, um den Stoff kurz zu rekapitulieren, dem Vater geweissagt, daß er von der Hand seines Sohnes umkommt. Er läßt daher den Säugling mit durchstochenen Füßen aussetzen. Doch Ödipus wird gerettet und vom König von Korinth aufgezogen. Da auch dem Ödipus geweissagt wird, er werde seinen Vater töten und seine Mutter heiraten, verläßt er seine neue Heimat Korinth. Unterwegs trifft er auf seinen ihm unbekannten richtigen Vater und erschlägt ihn im Streit. Dann befreit er Theben von der Sphinx und erhält dafür seine ihm unbekannte Mutter Jokaste zur Frau. Mit ihr hat er vier Kinder. Für die Götter jedoch ist er Fluchträger; sie strafen das ganze Land (!) für seine Verbrechen mit einer Pest. Das Geheimnis des Ödipus wird daraufhin von einem Seher enthüllt. Jokaste erhängt sich, Ödipus sticht sich die Augen aus, irrt im Land umher und wird in einem heiligen Hain entrückt. Nach unserem heutigen Rechtsverständnis wäre Ödipus als wenig schuldig anzusehen, denn er zeigt nicht nur keinerlei kriminellen Willen, er tut sogar alles in seinen Möglichkeiten Liegende, um der bösen Tat auszuweichen. Unwissentlich wird er „schuldig" und zum Fluchträger; die Tat allein ist entscheidend; durch sie ist die Weltordnung gestört und der Zorn der Götter erregt worden. Dieser Zorn trifft Gerechte und Ungerechte: „Ich, der Herr dein Gott, bin ein eifriger (eifersüchtiger?) Gott, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied“, heißt es auch im 2. Buch Mose, 20. 5., womit klar das frühe Rechtsverständnis gekennzeichnet wird. Es ist von mythischer Weltauffassung geprägt, seine Triebfeder ist Angst, und zwar Angst vor kommendem Unglück, das wiederum auf den Zorn der Schicksalsmächte verweist, der nur durch Missetaten erregt worden sein kann. So ist denn in der erwähnten ödipussage die Pest, von der das Land heimge-sucht wurde, sicher das primäre Element: sie konnte nur durch Götterzorn erklärt werden, wie sie ja auch noch im Mittelalter als Gottesgeißel galt, und bei der Nachforschung nach dem Grund des Götterzorns stieß der Seher auf die Verbrechen des Ödipus.

Ebenfalls in den Rahmen des frühen Bewußtseins gehört, daß jeder Unglückliche ein Fluchträger ist. Sein Unglück läßt sich nicht anders erklären, als daß er irgendein Tabu gebrochen, ein Gesetz übertreten und die Schicksalsmächte gereizt hat; ihm zu nahe zu kommen, ja ihm zu helfen, hieße nichts anderes, als den Schicksalsmächten ihre Beute streitig zu machen und deren Zorn auf sich selbst oder auf die Gemeinschaft zu lenken. So kommt es zu der nicht selten beobachteten Tatsache, daß Schiffbrüchigen oder Ertrinkenden nicht geholfen daß nur nicht wird, sondern man im Gegenteil noch nachhilft, ihren Tod zu sichern. Auch Schwerkranken wird oft die Hilfe verweigert, weil sie als „dem Tode verfallen" angesehen werden Es wäre geradezu Sünde, ihnen noch Hilfe zu leisten. Trotz dieser scheinbaren Grausamkeit hat der frühe Mensch eine große magische Scheu davor, zu töten und Blut zu vergießen. Seinen Vorstellungen gemäß verwandelt sich die Seele des Getöteten in einen (bösen) Geist, mit dessen Nachstellungen der Täter rechnen muß — ganz abgesehen von der Blutrache, der er und seine Sippe verfallen würden. Hinter den Vorstellungen vom „Bösen Geist" des Getöteten (oder aller Verstorbenen) verbirgt sich aber nichts anderes als Schuldbewußtsein und „schlechtes Gewissen", das von Selbstvorwürfen genährt wird. Der Täter hat gegen die jedem Menschen angeborene, tief sitzende Tötungshemmung gehandelt, er weiß in seinem Innern, daß es nicht richtig ist zu töten; dieses Wissen äußert sich bei ihm als Furcht vor der Rache des „bösen Geistes", weshalb auch das Töten im Kriegsfall in den frühen Gesellschaften stets von mühseligen Reinigungsriten gefolgt ist.

Wenn die frühen Gesellschaften eines ihrer Mitglieder zum Tod bestimmten, so immer nur in dem mystisch-magischen Glauben, damit ihren Göttern wohlgefällig zu sein. Dies konnte in der Form des Menschenopfers geschehen, wobei dieses als edelste Gabe der Gemeinschaft an die Götter wurde, angesehen oder als Sühnegabe für irgendeine Beleidigung der Schicksalsmächte.

Der Unterschied in der Einschätzung der Gesinnung ihrer Götter ist nicht groß. Beide Male wird ihr zukünftiger Zorn durch eine ihnen dargebrachte menschliche Gabe besänftigt. Doch im ersten Fall ist das Opfer unschuldig und der Grund des Götterzornes unbekannt; das Menschenopfer wird gewissermaßen prophylaktisch dargebracht. Im zweiten Fall dagegen hat sich der Delinquent gegen die Götter und ihre Gebote vergangen. Es liegt eine gewisse Logik darin, ihn zu töten, ihn damit den Göttern darzubringen und deren Zorn über den Rechtsbruch zu besänftigen.

Die frühesten „todeswürdigen" Straftaten

In der Tat ist das älteste Recht immer ein sakrales, ein „heiliges" Recht, wie sich sehr klar an der Gesetzgebung Mosis ersehen läßt. Dieser erhält ja bekanntlich die zehn Gebote und auch alle sonstigen Regeln, die das Zusammenleben in der Gemeinschaft ordneten, direkt von Gott und erläßt sie nicht etwa selbst. Dasselbe gilt auch für andere alte Kulturen, so daß ein Rechtsbruch auch automatisch ein Sakrileg, ein Vergehen gegen den oder die Götter darstellte. Zu den frühesten als todes-würdig angesehenen Straftaten gehören daher alle Vergehen gegen die von den Göttern gegebenen Tabugebote, besonders der Bruch der Sexualgebote, der immer und überall in allen Kulturen mit besonderer Erbitterung verfolgt wurde. Selbstverständlich wurden auch alle Formen des Sakrilegs, also alle Beleidigungen der Gottheit, mit dem Tode geahndet; mußten doch derartige Taten ganz unabweislich den Götterzorn wecken. Ferner zählen noch Schadenszauber und Verrat zu den in fast allen frühen Gesellschaften todeswürdigen Vergehen. Besonders Zauberei und Hexerei wurden stets mit Eifer verfolgt. Der mittelalterliche Hexen-wahn ist also keineswegs eine Ausnahmeerscheinung. Der Ethnologe Irenäus Eibl-Eibesfeldt hat noch in unserer Zeit bei den Eipo, einem Bergvolk in Neuguinea, eine Hexentötung miterleben müssen Man muß dazu wissen, daß es für die Naturvölker seltsamerweise keinen natürlichen Tod gibt. Falls doch einer ihrer Stammesgenossen an Krankheit oder Altersschwäche stirbt, suchen sie sofort mit Hilfe von allerlei Ordalien den schuldigen Zauberer zu entlarven, der den Verstorbenen verzaubert haben könnte. Daß der entlarvte Zauberer sich unschuldig fühlt, hilft ihm wenig; er wird als Träger eines mystischen „bösen" Prinzips angesehen, das nichts als Schaden unter den Menschen stiften will. Es ist also verdienstlich und außerdem die einzige Rettungsmöglichkeit, den Träger dieses Bösen Prinzips und damit dieses selbst zu vernichten.

Die Bestrafung des letzten todeswürdigen Delikts, des Verrats, scheint auf einer gewissen rationalen Grundlage zu stehen; wird doch durch den Verrat ein meßbarer materieller Schaden bewirkt. Doch diese rationale Deutung geht in die Irre. Bei genauerer psychologischer Durchleuchtung dieses Strafbestandes zeigt sich, daß ein anderes dahinterliegendes Moment am Verrat gehaßt wird: Das ist der Übergang zu den fremden Göttern und damit die Beleidigung der eigenen Götter. In frühen Zeiten war Krieg zwischen fremden Stämmen ganz selbstverständlich auch Krieg zwischen den Stammesgottheiten. Die irdischen Kämpfe fanden ihre Entsprechung im Himmel, wie man aus der Ilias ersieht. Dem Kampf zwischen Griechen und Troern entsprechen Auseinandersetzungen zwischen den Göttern, die jeweils für die eine oder andere Seite Partei ergriffen haben.

Auch bei heutigen Fällen von Verrat müssen wir uns eingestehen, daß der besondere Haß, mit welchem der Verräter verfolgt wird, aus einer ähnlichen psychischen Lage erwächst. Was wir am Verräter hassen, ist das überlaufen zu anderen, fremden Grundwerten und Anschauungen. Unsere eigenen Grundwerte sind von uns längst verinnerlicht und damit „heilig" geworden. Sie gehören untrennbar zu unserer Identität; wer sie ablehnt oder verrät und sich zu anderen bekennt, der lehnt uns selbst in unserer Identität ab. Er verrät unsere „Götter", also unsere Grundanschauungen, und das ist weit schlimmer als jeder materielle Schaden, den er anrichten mag.

Wenn wir den Katalog der als todeswürdig geltenden Straftaten noch einmal überblicken, so müssen wir feststellen, daß es sich dabei fast durchweg um sakrale Tatbestände handelte, jedenfalls ihrem innersten Wesen nach. Fast immer ging es darum, durch die Bestrafung des Täters die Götter wieder zu versöhnen. Nur allzu deutlich entlarvt sich dabei die wahre Motivation der Strafenden: Es ist ihre Angst vor zukünftigem Unheil; diese Angst aber ist eng verbunden mit eigenem Schuldbewußtsein, mit dem sprichwörtlichen „schlechten Gewissen", ja, sie erwächst aus diesem. Denn zu derselben Untat, die der Rechtsbrecher begangen hat, besteht in den Strafenden eine zwar verdrängte, aber doch starke Neigung, „denn was niemand zu tun begehrt, das braucht man doch nicht zu verbieten", hatte seinerzeit S. Freud sehr scharfsinnig bemerkt Der ins Unbewußte verdrängte sündhafte Wunsch rumort dort und bewirkt Unbehagen, ja Schuldbewußtsein. Dieses „schlechte Gewissen" aber, dieses verborgene Wissen um die eigene Sündhaftigkeit, bewirkt wiederum Angst, denn die Schicksalsmächte wissen um diese geheime Sündhaftigkeit und werden sie bestrafen. Als Grundlage der menschlichen Strafordnung hat Freud sehr richtig „die Gleichartigkeit der verbotenen Regungen beim Verbrecher wie bei der rächenden Gesellschaft" erkannt.

Sündenbock und Menschenopfer

Nun bietet sich jedoch eine psychische Mechanik an, die es den Strafverfolgern erlaubt, sich von ihrem eigenen Schuldbewußtsein und damit auch von ihrer eigenen Angst zu befreien; das ist die Projizierung dieser eigenen Schuldgefühle auf ein dazu passendes Objekt, einen „Sündenbock".

Betrachten wir kurz die Stelle des Alten Testaments, welcher der Begriff „Sündenbock" entnommen ist. Dort heißt es (3. Mos. 16, 20— 22): „Und wenn Aaron vollbracht hat das Versöhnen des Heiligtums, soll er einen lebendigen Bock bringen. Da soll dann Aaron seine beiden Hände auf dessen Kopf legen und bekennen alle Missetaten der Kinder Israel, alle ihre Übertretungen und ihre Sünden, und soll sie dem Bock auferlegen und ihn durch einen Mann in die Wüste bringen lassen, daß also der Bock alle ihre Missetaten in die Wüste trage." Dieses magische Entsühnungsritual macht deutlich, daß hinter ihm nichts anderes steckt als die oben erläuterte Projektion eigener Schuldgefühle auf ein dazu passendes Objekt. Indem man die eigenen Missetaten einem anderen auflädt, befreit und reinigt man sich selbst von ihnen, entgeht somit künftiger Bestrafung und kann angstfrei leben.

Daß es sich bei dem biblischen Sündenbock ursprünglich um einen Menschen handelte, ist wahrscheinlich. Ein Mensch eignet sich als Schuldträger und als Projektionsobjekt natürlich besser als ein Tier, und diese Tatsache ist die Motivation, die hinter den meisten Formen des Menschenopfers steckt.

Aus der griechischen Kolonie Massilia, dem heutigen Marseille, wird uns folgender Brauch überliefert „Immer, wenn in der Stadt eine Seuche herrschte, wurde ein sogenannter Pharmakos, ein menschlicher Sündenbock, geopfert. Es war dies ein Armer, der auf Staatskosten genährt worden war. Bei Bedarf führte man ihn, mit Kränzen und festlichen Kleidern geschmückt, durch die Straßen der Stadt. Dabei wurde er vom Volk mit Flüchen und Verwünschungen überschüttet. Jeder versuchte, ihm alles eigene Schuldbewußtsein aufzuladen, von dem er sich bedrückt fühlte. Danach wurde der Pharmakos vom Felsen zu Tode gestürzt". Die Ähnlichkeit dieser Aktion mit der biblischen Sündenbock-Austreibung ist offensichtlich. übrigens enthält das Alte Testament noch mehrere Schilderungen von Menschenopfern, von denen hier nur eine ebenfalls bezeichnende gebracht sei: Im 2. Buch Könige 3, 27 erfahren wir, daß bei einer Belagerung durch die Israeliten der König der Moabiter seinen erst-geborenen Sohn auf der Stadtmauer opfert. Offenbar werden die Israeliten durch die Macht eines solchen Opfers so entmutigt, daß sie die Belagerung aufgeben und abziehen.

Das Menschenopfer scheint an eine ganz bestimmte frühe Phase der meisten Hochkulturen gebunden gewesen zu sein. Jedenfalls gibt es für eine solche Behauptung genügend Belege. Vor allem die Sagen und Märchen der Völker sind voll von kaum verhüllten Hinweisen auf dies alte, blutige Ritual.

So sind die weitverbreiteten Sagen von Jungfrauen, die alljährlich einem Untier, etwa einem feuerspeienden Drachen, dargebracht werden mußten, sicher auf alte Menschenopfer zurückzuführen (die dereinst vielleicht einer Vulkangottheit dargebracht wurden). Auch unser schönes altes Volksmärchen von „Hänsel und Gretel" läßt das alte Menschenopfer noch recht gut erkennen; während einer Hungersnot, also in einer allgemeinen Notlage, werden die beiden Kinder in den Wald geschickt und dort von der Hexe, die wohl als Priesterin des alten Kultes anzusehen ist, aufgenommen. Das Mästen des Knaben entspricht der Ernährung auf Staatskosten bei den Massilianern. Auch die Azteken ernährten das auserwählte Opfer ein Jahr lang mit ausgesuchten Speisen und erwiesen ihm große Verehrung. Der Flammentod der Hexe beendet deren böse Zaubermacht und symbolisiert das Ende des blutigen Brauchs.

Die Bibel berichtet verschiedentlich von Kinderopfern, die von den Nachbarvölkern der Israeliten dem Baal dargebracht wurden. Auch die Karthager opferten ihren Göttern Moloch und Kronos in allen Notlagen Kinder, wie Plutarch berichtet Sie taten dies nicht aus Sadismus oder besonderer Herzlosigkeit, sondern aus der Überzeugung heraus, daß von den Göttern nur die wertvollsten, reinsten Opfer-gaben in Gnade aufgenommen werden. Der erstgeborene Sohn, die Jungfrau sind also als Opfer gerade recht (wie auch aus der Sage von Iphigenie hervorgeht, der Tochter des Agamemnon, die geopfert werden soll, weil die griechische Flotte durch widrige Winde am Auslaufen gehindert wird). Ursprünglich ist es wohl der Priesterkönig, von dem eine Selbstaufopferung für sein in Not geratenes Volk erwartet wird. Immer aber sind es gegenwärtige oder zukünftige Notlagen, die ein Menschenopfer erfordern, um den Zorn der Götter zu besänftigen. Wieder also ist es die Angst, die letztlich als Motivation zu erkennen ist, eine Angst, die zweifellos aus Schuldgefühlen, also aus dem Bewußtsein der eigenen Sündhaftigkeit, genährt wurde.

Es zeigt sich somit eine ganz gleichgeartete psychische Einstellung gegenüber menschlichen Opfern und Rechtsbrechern. Beide sind dazu bestimmt, den Zorn der Schicksals-mächte zu besänftigen, beide dienen als Schuldträger und sollen die Gemeinschaft entsühnen. (Am klarsten kommt diese Funktion natürlich im Kreuzestod des Jesus Christus zum Ausdruck.)

Es kann nicht verwundern, daß diese Entsühnungsfunktion später immer mehr den Rechtsbrechern zugeschoben wurde. Wenn ein Straftäter zum Tode verurteilt wurde, so schien das sogar noch ein Akt der Gerechtigkeit zu sein — obwohl er mit dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit absolut nichts zu tun hatte, wie wir oben sahen.

Sakraler Ursprung der Exekutionsformen

Die frühen Gemeinschaften kannten unseren Begriff von Gerechtigkeit, also die rationale Abwägung von individueller Schuld und Sühne, grundsätzlich nicht. Sie bewerteten den Straftäter stets emotional, also mit Haß-, Angst-und Schuldgefühlen.

übrigens hatte Freud noch eine andere Emotion entdeckt, die als Kraft hinter der Forderung nach Bestrafung des Rechtsbrechers steckt: den Neid auf dessen „Erfolg". Er, der Rechtsbrecher, hat etwas gewagt, wozu auch im Verfolger eine starke Neigung besteht. Er hat ein Tabu oder ein Gesetz übertreten und sich damit einer Entsagung entzogen, der sich alle anderen Gemeinschaftsmitglieder unterwerfen; dieser Freveltat darf er sich nicht erfreuen, weil sonst die Entsagung aller anderen als wert-und sinnlos erschiene. Ihm muß der Erfolg seines Rechtsbruchs genommen werden.

Diese psychische Haltung offenbart sich sehr klar in den früher in den USA häufigen Lynchakten, wobei dem Opfer sehr oft sexuelle Vergehen vorgeworfen wurden. Der Haß der — meist völlig unbeteiligten — Verfolger auf den Täter nährte sich also meist aus Sexualneid. In den frühen Gesellschaften wurden die Rechtsbrecher also den Göttern zur Sühne dargebracht, weil sie deren Gebote — vielleicht nur unwissentlich — verletzt und damit deren Zorn auf die Gemeinschaft herabbeschworen hatten. Ihrer tieferen Bedeutung nach waren diese Exekutionen nichts anderes als Menschenopfer; ihr Sinn lag nicht darin, die verletzte Gerechtigkeit wiederherzustellen, sondern die Gemeinschaft von Schuld-und Angstgefühlen zu befreien. Es kann daher nicht verwundern, wenn die frühen Exekutionsmethoden stets sakral getönte Riten sind, deren Bedeutung darin liegt, den Delinquenten einer bestimmten Gottheit oder einer Gruppe von Gottheiten auszuliefern und ihnen das eigentliche Töten zu überlassen. So kann man eine vielgestaltige Urstrafe erkennen, die sich als „Auslieferung an die Macht der Elemente" umschreiben läßt.

Da die Elemente stets als beseelt angesehen und von Gottheiten bewohnt und beherrscht gedacht wurden, bedeutete die Auslieferung an die Elemente nichts anderes als eine Überantwortung an deren Gottheiten. Hierhin gehören Hängen, Kreuzigen, Rädern, Verbrennen und Ertränken. Meist vermied man dabei sorgsam — aus alteingewurzelter Furcht vor der Blutschuld, in Wahrheit aber natürlich wegen der Tötungshemmung —, dem Delinquenten selbst den Tod zuzufügen. Der Gehängte wurde anfänglich anscheinend um die Brust geschnürt aufgehängt und dem Sturmgott dar-gebracht, der sich dessen Seele holte; auch der Gekreuzigte wurde lebend den Wettergottheiten ausgesetzt. Dasselbe galt für den Geräderten, dem man zwar die Knochen gebrochen hatte, um sein Entweichen unmöglich zu machen, den man dann aber auf einem Rad, dem Symbol der Sonnenscheibe, festband und damit offensichtlich der Sonne darbrachte. Daß man die Delinquenten, die verbrannt oder ertränkt wurden, damit in Wahrheit den Feuer-gottheiten oder Wassergeistern übergab, muß nicht betont werden.

Aus diesem Rahmen fallen Felssturz, Steinigung und Lebendigbegraben als besonders archaische Exekutionsformen. In allen drei Fällen ist der Delinquent offenbar den Unterweltsgottheiten dargebracht worden. Die Steinigung hebt sich dadurch ab, daß sie eine Exekution „zu gesamter Hand" ist, das heißt, die gesamte Gemeinschaft muß sich an der Tötung beteiligen, die Blutschuld wird auf alle Gemeinschaftsglieder verteilt. Auch dies ist wieder eine Maßnahme, um die stets gegenwärtige Tötungshemmung zu überwinden.

Wir finden diese Bemühungen noch bis in die neueste Zeit.

Bei Erschießungen, der modernen Form der Hinrichtung „zu gesamter Hand", wurde in der deutschen Wehrmacht meist ein Gewehr „blind", also mit einer Platzpatrone, geladen und dann an die ahnungslosen Schützen ausgegeben; so konnte sich jeder einreden, er habe nur „blind" geschossen.

Als in den USA noch gehängt wurde, saßen jeweils drei Beamte an einem Tisch, vor dem drei Schnüre gespannt waren. Auf das Zeichen des Henkers hin mußten sie die Schnüre durchschneiden. Eine von ihnen öffnete die Falltür, durch welche der Delinquent in den Tod stürzte. Doch wußten sie nicht, welches die Todesschnur war. Auch hier also konnte sich jeder von ihnen für unschuldig am Tod des Verurteilten halten

Die Steinigung ist bekanntlich die Strafe des Alten Testaments und von daher in das Islamische Recht übernommen worden. Die heutige Reislamisierung hat leider auch zu einer Wiedererweckung dieser archaischen Strafe ge-führt, so in Pakistan und in Iran Im Akt der Steinigung offenbart sich sehr deutlich die These von der Projektion der Schuld. Nach alter Überzeugung besaßen Steine magische Qualitäten; sie konnten unheilvolle Ausstrahlungen, also die eigene Schuld, in sich aufnehmen. Indem man den Stein auf den Verurteilten schleuderte, wurde die eigene Befreiung von Schuld und die Schuldabladung zum anschaulichen, bildhaften Akt.

Die einzige uralte Hinrichtung „mit blutiger Hand", wie es in der Rechtssprache hieß, ist die Enthauptung. Bei dieser Exekutionsform wurde dem Opfer der Tod direkt zugefügt. In Anbetracht der erwähnten grundsätzlichen Tötungshemmung und der magischen Angst vor der Blutschuld und dem Tötungstabu kann es keinen Zweifel geben, daß die Enthauptung ursprünglich als sakraler Akt, also als Menschenopfer vollzogen wurde. Bereits Mommsen hatte um die Jahrhundertwende darauf hingewiesen, daß die Enthauptung bei den Römern in den Ritualen des sakralen Opfers vollzogen wurde Die ursprünglichen Hinrichtungswerkzeuge waren sicher die Axt und das Beil, die zwar später vom Schwert verdrängt wurden, obwohl das Beil immerhin in Deutschland beispielsweise noch in den dreißiger Jahren zur Anwendung kam. Wenn man bedenkt, daß die Axt als Symbol des Blitzes ein Attribut des obersten Himmelsgottes und vielfach ein Gegenstand kultischer Verehrung war, dem man Opfer brachte wenn man ferner bedenkt, daß es einen weitverbreiteten, offenbar uralten Schädelkult gab, dessen letzte Äußerungsformen bei den Kopfjägern des polynesischen Raumes angetroffen wurde, wenn man sich schließlich noch vor Augen hält, daß zum Enthaupten sehr oft auch das Aufstecken des Kopfes auf eine Stange, auf die Stadtmauer oder ähnlich exponierte Plätze gehörte, wenn man all diese Punkte bedenkt, so wird der ursprünglich sakrale Charakter der Enthauptung sehr deutlich. Somit läßt sich konstatieren, daß die auch heute noch am häufigsten gebrauchten Exekutionsformen, also Hängen, Enthaupten und Erschießen, sich auf uralte Sakralformen zurückführen lassen und diese tradieren, wobei die Erschießung als modernisierte Form der Steinigung anzusehen ist.

Geburt der persönlichen Schuld

Die ursprüngliche Form des Tatrechts, bei dem man nicht nach der individuellen Schuld des Täters fragte, begann sich erst etwa im 12. Jahrhundert zu wandeln. Zu diesem Zeitpunkt, und zwar zuerst im südfranzösischen Raum, begann man, wie seinerzeit Achter nachgewiesen hat zum erstenmal in der Rechtsgeschichte nach dem „bösen Willen" des Täters, also nach dessen persönlicher Schuld zu fragen. Es war dies wohl ein erster Lufthauch der Renaissance, jener gewaltigen Epoche eines neuen Bewußtseins, deren bedeutsamste Errungenschaften die Entdeckung des Individuums und der Durchbruch zum rationalen Denken waren.

Von nun an gab es also den Begriff des kriminellen Willens, und gleichzeitig damit wurde auch der Gedanke der Abschreckung geboren. Hatte man es bis dahin quasi als eine Selbstverständlichkeit betrachtet, einen Rechtsbrecher zu töten, so brauchte man von nun an eine Rechtfertigung dafür.

Gab es bis zu dieser Zeit noch keinen „bösen Willen", so konnte es naturgemäß auch noch nicht den Gedanken der Abschreckung geben, denn diese ist ja in ihrer Zielsetzung auf den kriminellen Willen gerichtet. Selbst derartige Maßnahmen wie das Belassen des Gerichteten am Galgen oder Kreuz (dem arbor infelix der Römer) oder auf dem Rad, bis sich der Körper auflöste, oder das Aufstecken des Kopfes des Enthaupteten hatten ursprünglich nur magische Bedeutung und nichts mit Abschreckung zu tun, wenngleich man später den Abschrekkungsgedanken auf diese Maßnahmen aufzupfropfen versuchte. Die uralte wahre Funktion der Hinrichtungen als Ventil für eigene Schuld-, Angst-und gar auch Neidgefühle, ihre wahre Bedeutung als Entsühnungsmöglichkeit für die Gemeinschaft, und die Rolle des Delinquenten als Sündenbock blieb bis in die Gegenwart erhalten.

Damit behielten auch alle Exekutionen ihren wahren Charakter, der sie als Menschenopfer kennzeichnete. Offensichtlich handelte es sich hierbei um sehr starke Bedürfnisse der Gemeinschaft, die um so drängender nach Abreaktionsmöglichkeiten suchen, je rigoroser die Lebensverhältnisse innerhalb der Gemeinschaft normiert sind, je stärker also der Normen-und Gesetzesdruck auf dem einzelnen lastet. Folgerichtig gibt es auch keine einzige Diktatur in der Menschheitsgeschichte, die auf die Todesstrafe glaubte verzichten zu können. Somit erweist sich die Todesstrafe als ein direkter Gradmesser für das Maß an Un-freiheit, das innerhalb einer Gesellschaft herrscht.

Diese Unfreiheit geht nicht nur von staatlichen Gesetzen aus, sondern auch von den innergesellschaftlichen, ungeschriebenen Normen, von dem „Das-macht-man-Nicht", „Das-gehört-sich-Nicht".

Hinrichtungen und Aberglaube

Einen Beweis dafür, daß Exekutionen immer, auch bis in die neueste Zeit, vom Volk als Sühneopfer, also als eine Art Menschenopfer, angesehen wurden, liefert verblüffenderweise der Volksaberglaube. Während nämlich einerseits der Henker bis in die neueste Zeit zu den am stärksten verfemten „unehrlichen" Leuten zählte und jede Berührung des Galgens schändete und „unehrlich" machte, galten andererseits der Henker und die Hinrichtungsinstrumente sowie Körperteile des Gerichteten als stärkste Glücksbringer (s. S. 11). Hier offenbart sich eine Ambivalenz der Gefühle, eine Doppelwertigkeit, wie sie immer bei starken Tabus festzustellen ist.

Die oben erwähnte „Unehrlichkeit" des Henkers muß man eher als eine Art Unberührbar-keit verstehen; sie nährt sich aus Scheu und Abscheu; in ihr offenbart sich das uralte, magische Tabuverständnis. Der Henker darf etwas, was niemandem sonst erlaubt ist. Er darf straflos töten, er darf also eines der stärksten Tabus straflos brechen und steht damit in enger Verbindung mit den Schicksalsmächten, ist quasi deren Erfüllungsgehilfe auf Erden. Kurz gesagt: der Henker ist seinem Amte nach nichts anderes als der alte Opferpriester. Zwar schändet schon seine Berührung; er darf oft nicht innerhalb der Stadt wohnen, darf eine Gastwirtschaft nur nach Erlaubnis aller anderen Gäste betreten, erhält einen eigenen Krug, aus dem niemand sonst trinken mag. Selbst sein Geld nimmt man nur, wenn vorher drei Kreuze darüber geschlagen wurden. Doch andererseits gilt der Henker auch als zauber-und heilkundig; er kann durch seine magische Kraft in vielerlei Notlagen helfen, und König Friedrich I. von Preußen machte den Berliner Scharfrichter Coblenz, der immerhin mehr als hundert Köpfe abgeschlagen hatte, zu seinem Leibarzt.

Die Berliner Wundärzte empfanden seinerzeit die Konkurrenz der Scharfrichter als sehr widerwärtig und richteten diesbezüglich eine Eingabe an Friedrich den Großen, auf welche dieser sehr geistreich und spitz antwortete:

Wenn die Herren Chirurgen so fähig seien, wie sie von sich behaupten, würde sich ja ohnehin jedermann lieber ihnen als den Scharfrichtern anvertrauen. Falls jedoch unter den Chirurgen Ignoranten seien, so solle das Publikum nicht darunter leiden müssen, sondern solle sich lieber vom Scharfrichter kurieren lassen, als den Chirurgen zuliebe lahm und verkrüppelt zu bleiben. Also sollten sich die Chirurgen nur um Verbesserung ihrer Kenntnisse bemühen, dann würden die Kuren der Scharfrichter von selbst und ohne Verbot aufhören

Dieser Aberglaube, der den Henker, den Gerichteten und die Strafinstrumente umgab, war nicht etwa nur eine Sache früherer Jahrhunderte, sondern reicht bis in unsere Zeit. So berichtet Josef Lang, der letzte k. u. k. Scharfrichter in Wien daß viele Bittsteller immer wieder von ihm Teile des Stricks erbaten, mit dem jemand gehenkt worden war, als glückbringende Talismane. Der Vorrat an „echtem"

Strick reichte längst nicht aus, alle Bitten, die selbst von Angehörigen der Hocharistokratie an ihn herangetragen wurden, zu erfüllen, so daß Lang auch Stücke von ungebrauchtem Strick verteilte. Er war sich dabei keines Betruges bewußt, vielmehr glaube er fest, daß bereits die Berührung durch ihn — den Henker — den Strick zum Glücksbringer mache. Dasselbe galt auch von seiner Visitenkarte, aber selbst sein Kot und Urin wurden von ihm erbeten. Geschlechtskranke Männer erhofften sich Heilung durch eine bloße Berührung; geschlechtskranke Frauen versprachen sich das gleiche durch einen Beischlaf mit ihm. Ohnehin drängten sich Damen aller Gesellschaftsschichten, von Prostituierten bis Damen der Hocharistokratie, zu intimen Kontakten mit ihm. Lang ist ehrlich genug, dies nicht seiner Person, sondern nur seinem Amt zuzuschreiben. Die glückbringende und heilkräftige Macht wurde aber nicht nur dem Henker, sondern fast mehr noch dem Gerichteten und Teilen seines Körpers zugeschrieben. Bekannt und fast sprichwörtlich ist der Diebsdaumen, der als Glücksbringer gilt; ihn in der Geldtasche getragen, läßt das Geld nie ausgehen. „Als in Breslau der alte Rabenstein (das Hochgericht) abgebrochen wurde, trieben die Arbeiter einen sehr einträglichen Handel mit den bei der Aufgrabung vorgefundenen Knochen", schreibt Adolf Wuttke, der bedeutende Erforscher des deutschen Volksaberglaubens Dieser Drang nach Körperteilen des Gerichteten steigert sich oft bis zum Kannibalismus, da z. B.dem Blut von Enthaupteten seit altersher stärkste Heilkraft, besonders bei Epilepsie, zugeschrieben wurde. „Als in Preußen die Hinrichtungen noch öffentlich waren, kam es regelmäßig zu Reibungen zwischen der die Richtstätte umschließenden bewaffneten Macht und den mit gieriger Hast sich durchdrängenden Weibern, welche um jeden Preis etwas von dem Blut des Hingerichteten haben wollten und mit Löffeln, Schüsseln und Töpfen es aufrafften", schreibt Wuttke

Der Glaube an die Heilkraft des Blutes läßt sich zurückverfolgen bis zu den römischen Gladiatoren, die wohl ursprünglich als Menschenopfer angesehen wurden; auch ihr Blut galt als äußerst heilkräftig. „Als 1864 in Berlin zwei Mörder hingerichtet wurden, tauchten die Scharfrichtergehilfen ganze Massen von weißen Schnupftüchern in das Blut und erhielten für jedes zwei Taler", heißt es bei Wuttke Und als 1823 in Sachsen ein Raubmörder gerädert wurde, fehlten dem ausgestellten Leichnam wenige Tage später sämtliche Finger und Zehen

Das bezeichnende Moment dieses wüsten Aberglaubens ist, daß er sich nur auf Gerichtete und nicht etwa auf anderweitig Gestorbene bezieht. Selbst Ermordete oder Selbstmörder sind von sehr viel schwächerem Aberglauben umgeben. Ihre magische Aura ist bedeutend geringer als die des Gerichteten.

Bereits Mitte des vorigen Jahrhunderts hatte Wuttke sehr scharfsinnig den Grund für diese auffällige Erscheinung erkannt. „So schwebt auch dem jetzigen Volksaberglauben der Gedanke im Hintergründe vor, daß jede Hinrichtung ein Sühneopfer sei", schreibt er. „Der Hingerichtete hat die Sühnung der Gerechtigkeit vollbracht, ist durch seinen Tod ein Entsühnter, Geheiligter geworden, und eine Teilnahme an diesem Sühneopfer durch Aneignung irgendeines leiblichen Teils desselben, wie bei den Azteken das Essen und Trinken von dem Fleisch und Blut des Geopferten, ist darum selbst sühnend, also heilbringend und höhere Macht verleihend."

Aus der Sicht der heutigen sozialpsychologischen Erkenntnisse muß man hinzusetzen, daß es die Funktion des Sündenbocks ist, die den Gerichteten „heiligt". Er hat die Schuld-und Angstgefühle der Gemeinschaft auf sich genommen und sie mit seinem Tod aus der Welt geschafft; diese Funktion verschafft ihm höchste Verehrung Die Aura der „Heiligung" also ist es, die Körperteile des Gerichteten zu Glücksbringern werden läßt. Sie strahlt aber auch auf die Strafwerkzeuge aus und erfüllt diese mit magischer, glückbringender Kraft.

Diese Tatsache erhellt z. B. auch daraus, daß nicht etwa nur Rechtsbrecher mit geringer Schuld nach ihrer Hinrichtung diese hohe Verehrung genießen. Dasselbe gilt auch für entsetzenerregende Scheusale, deren Taten schaudern lassen. Doch ihr Tod entsühnt und „heiligt" sie und läßt ihre Überreste zu magischen Glücksbringern werden. „An eine die Todesstrafe mißbilligende Bemitleidung des Hingerichteten im Volksbewußtsein ist dabei auch nicht entfernt zu denken,“ meint Wuttke. „Vielmehr liegt demselben (Verhalten) die entschiedene Anerkennung der Notwendigkeit der Todesstrafe zur Sühnung zugrunde"

Der Streit um die Todesstrafe

Den frühen Gemeinschaften also war die Todesstrafe ganz unstrittig, weil deren Funktion im magisch-animistischen Weltbild unentbehrlich erschien. Mit der Aufklärung jedoch und dem Beginn des rationalen Denkens begann sich immer drängender die Frage nach der Rechtfertigung der Todesstrafe zu stellen. In dieser Atmosphäre des Aufbruchs, der geistigen Wende, erschien 1764 das Buch des Mailänders Cesare Beccaria „Von den Verbrechen und Strafen“. Es erregte sofort in ganz Europa ein gewaltiges Aufsehen. Beccarias Verdienst ist es, als erster entschieden gegen die Todesstrafe aufgetreten zu sein. Zwar hatte auch die Kirche den Satz verkündet: „ecclesia abhorret a sanguine" — „die Kirche verabscheut Blut" —, und die Kirchenväter der Urkirche hatten auch tatsächlich die Todesstrafe verdammt, weil sie darin instinktiv noch das heidnische Menschenopfer witterten. Ihre Kritik an der Todesstrafe war jedenfalls nicht rational begründet. Im übrigen hat sich später die Staatskirche nur allzuoft zum Verfechter härtester Strafen gemacht, wie sich in den Ketzer-prozessen und während des Hexenwahns erwies. Beccaria baute in seinen Überlegungen auf dem Rousseau’schen Begriff des Gesellschaftsvertrags auf und kam zu dem Schluß, daß der einzelne Bürger im (fiktiven) Gesellschaftsvertrag so wenig Rechte wie möglich dem Staat übertragen habe — so wenig, wie nötig seien, um das Staatswesen zu erhalten.

Keineswegs habe er dem Staat auch das Recht übertragen, ihn eventuell töten zu dürfen. Der Staat habe also schlichtweg nicht das Recht, einen seiner Bürger zu töten.

Beccarias wurde Zeit in Schrift in kürzester alle Kultursprachen übersetzt und löste eine heftige Diskussion unter den größten Geistern der Epoche aus. Es soll hier nicht verschwiegen werden, daß beispielsweise Kant zu den erbittertsten Gegenern von Beccarias Thesen zählte. In seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" bekannte er sich zur Talion, also dem Vergeltungsrecht, und schrieb: „Hat er (der Täter) gemordet, so muß er sterben. Es gibt hier kein Surrogat zur Befriedigung der Gerechtigkeit. Es ist keine Gleichheit zwischen einem noch so kummervollen Leben und dem Tode..."

Kant fragte also ebensowenig nach der persönlichen Schuld des Täters wie die frühen Gemeinschaften. Ohnehin kam er bisweilen zu sonderbaren Urteilen; so hielt er z. B. Kindestötung an unehelichen Kindern für nicht strafbar, weil diese Kinder außerhalb des Gesetzes und somit außerhalb von dessen Schutz geboren seien. Das uneheliche Kind habe sich in die Gemeinschaft gleichsam eingeschlichen, und diese könne seine Existenz und auch seine Vernichtung ignorieren, weil es eigentlich nicht hätte existieren dürfen Man sieht hieraus, wie auch große Denker sich bisweilen in Absurdität verrennen können. Übrigens errang die Humanität bereits 20 Jahre vor Beccarias Schrift einen ersten Sieg, und zwar ausgerechnet im finsteren, rückständigen Rußland. Dort hatte die Zarin Elisabeth, die Tochter Peters des Großen, bei ihrer Thronbesteigung 1741 erklärt, daß während ihrer Regierungszeit keine Todesstrafe vollstreckt werden solle. Dieses Versprechen wurde von ihr auch eingehalten und später noch weiter bekräftigt, und so kam es, daß ihre zwanzigjährige Regierungszeit in Europa der erste längere Zeitraum wurde, während dem in einem großen Reich die Todesstrafe ausgesetzt war. Die gebildete Welt Europas starrte entgeistert auf dieses wagemutige Experiment und erwartete, Rußland in Mord und Totschlag versinken zu sehen, weil dort die Abschrekkungswirkung der Todesstrafe fortfiel.

Auch die spätere Zarin Katharina war keine Anhängerin der Todesstrafe, sondern verkündete in einer Instruktion, „daß im gewöhnlichen Zustand der Gesellschaft der Tod eines Bürgers weder nützlich noch notwendig sei", womit sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Bis zur Revolution 1917 blieb es seitdem in Rußland Tradition, daß Todesurteile nur sehr selten vollstreckt wurden. Jedenfalls hat der so oft verteufelte Zarismus unvergleichlich weniger Opfer zu verantworten als etwa der Stalinismus.

Doch bleiben wir noch bei Beccaria. Dessen Schrift machte besonders auf den Reformkaiser Joseph II. so starken Eindruck, daß er 1786 in seinen österreichischen Ländern die Todesstrafe abschaffte. Sein Bruder Leopold, Großherzog der Toskana, folgte ihm in diesem Schritt. Allerdings führten die Wirren der napoleonischen Zeit zu einem Rückschlag und zu allgemeiner Wiedereinführung der Todesstrafe. Erst das Revolutionsjahr 1848 brachte wieder einen Fortschritt.

Sowohl das Paulskirchen-Parlament als auch die kurz darauf tagende verfassunggebende preußische Nationalversammlung forderten die Abschaffung der Todesstrafe. Doch bekanntlich siegte die Reaktion über den Fortschritt und fegte dessen Forderungen vom Tisch. Die Ehre, als erstes europäisches Land von der Todesstrafe Abschied genommen zu haben, gebührt Rumänien, wo es 1865 zur Abschaffung kam (1939 wieder eingeführt). Ihm folgten 1867 Portugal und 1870 die Niederlande, dann 1905 Norwegen, 1919 Österreich, 1921 Schweden, 1930 Dänemark. In einigen Schweizer Kantonen war die Todesstrafe bereits Mitte des vorigen Jahrhunderts aufgehoben worden, in anderen blieb sie bis zum Jahr 1942 in Kraft. Die letzte Schweizer Exekution fand 1940 im Kanton Obwalden statt. Unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges hatten einige der oben aufgeführten Staaten die Todesstrafe vorübergehend wieder eingeführt; dort sind auch in den Nachkriegsjahren zahlreiche Urteile vollstreckt worden, besonders an Kollaborateuren, Verrätern und Kriegsverbrechern Daß im „Dritten Reich" die Zahl der vollstreckten Todesurteile einen schrecklichen Rekord erreichte, ist allgemein bekannt. Die genaue Zahl der Exekutionen läßt sich nicht mehr feststellen. Bei vorsichtiger Hochrechnung — ausgehend von den vorhandenen Teilzahlen — kommt man, einschließlich der militärrechtlichen Verurteilungen, auf eine Zahl von ca. 30000 bis 35 000 „legalen" Exekutionen. Nicht berücksichtigt sind hier natürlich die illegalen Tötungen in KZ-Lagern und Gestapokellern.

Die entsetzlichen Erfahrungen der Nazizeit ließen in vielen Politikern der Nachkriegszeit die Überzeugung reifen, daß die Todesstrafe, schon um ihren grausigen Mißbrauch für immer unmöglich zu machen, nicht länger zu den Strafmaßnahmen des Staates gehören dürfe.

Erstaunlicherweise war es die damalige Deutsche Partei, deren Abgeordneter und spätere Minister Seebohm im Parlamentarischen Rat 1948 den Antrag einbrachte, in der Verfassung, also im Grundgesetz, die Abschaffung der Todesstrafe zu deklarieren. Es gab einige Meinungsverschiedenheiten darüber, ob ein solcher Artikel in die Verfassung gehöre. Theodor Heuss wollte ihn lieber ins später auszuarbeitende Strafgesetzbuch aufgenommen sehen. Bei der entscheidenden Abstimmung im Plenum stimmte jedoch die Überwiegende Mehrheit der Abgeordneten für den Antrag; dagegen stimmten vier Mitglieder der FDP und einige CDU-Abgeordnete, unter ihnen Konrad Adenauer Am 23. Mai 1949 trat das Grundgesetz in Kraft. Von diesen Tag an ist die Todesstrafe in Westdeutschland ohne jede Einschränkung abgeschafft.

In der DDR dagegen wird sie nach wie vor angedroht. Seit 1949 sollen mindestens 150 Todesurteile vollstreckt worden sein (genaue Zahlen sind jedoch nicht zu erhalten).

Das Für und Wider

Betrachten wir nun noch die Argumente, die für und gegen die Todesstrafe vorgetragen werden. Seitdem das Problem als strittig ins Bewußtsein getreten ist, hat man immer wieder versucht, es zu „rationalisieren". Doch das war vergebliche Mühe; ein Problem, das so tief im Irrationalen wurzelt, läßt sich nun einmal nicht mit rationalen Argumenten packen. So war die Justiz, der man diese Problematik aufgebürdet hatte, damit auch stets überfordert; denn bei der Todesstrafe handelt es sich nicht um ein juristisches Problem, wie wir gesehen haben, sondern um ein sozialpsychologisches, das eng mit dem inneren Zustand der Gemeinschaft, also mit gesellschaftlichen Fragen, verbunden ist. Die Justiz hat daher auch nie eine überzeugende, rationale Antwort auf diese Problematik finden können.

Doch zunächst die Argumente der Befürworter: Als erstes wird da das uralte, auch von Kant verteidigte Gesetz der Vergeltung, die Talion, genannt, das sich auf den alttestament-liehen Satz „Auge um Auge, Zahn um Zahn" (2. Mosis, 21.24) stützt. Wer Blut vergießt, dessen Blut soll wieder vergossen werden — daß diese Forderung eine einleuchtende Kraft besitzt, soll nicht verkannt werden. Das eigentlich Unzeitgemäße und überholte dieses Standpunkts liegt eben darin, daß hier, wie be-reits deutlich gemacht wurde, nicht nach der persönlichen Schuld des Täters gefragt wird. Selbst die Befürworter der Todesstrafe betonen, daß diese nur noch für Mord in Betracht kommen sollte. Doch gerade dieser Tatbestand ist äußerst schwer zu definieren; die Grenze zum Totschlag bleibt fließend. Auch muß man klarstellen, daß ein Täter um so weniger der Justiz gehört, je abscheulicher sein Verbrechen ist; denn um so sicherer gehört er dann der Psychiatrie.

Das nächste starke Argument, das immer wieder für die Todesstrafe ins Feld geführt wird, ist deren angeblich abschreckende Wirkung auf Gewalttäter. Noch im Frühjahr 1979 hat der französische Justizminister Peyrefitte in einem Interview mit dem „Spiegel" seinen Glauben an die Abschreckungskraft betont und die Befürchtung ausgedrückt, daß die französische Gesellschaft wieder in ein Chaos von privater Rache zurückfallen würde, wenn man auf die Todesstrafe generell verzichtete. Diese Befürchtung hat sich in den Staaten, die schon seit längerer Zeit die Todesstrafe abgeschafft haben, nicht bewahrheitet. Die Statistiken aus Schweden, Norwegen, Holland, Finnland und nicht zuletzt unsere eigenen lassen eher das Gegenteil vermuten. Nach der jüngsten Veröffentlichung des Bundesjustizministeriums sind in der Bundesrepublik die schweren Gewaltverbrechen, darunter Mord, in den letzten Jahren zurückgegangen (laut Süddeutsche Zeitung vom 29. 8. 1980). Ob in einer Gesellschaft viel oder wenig Neigung zu Aggressionen herrscht, hängt durchaus nicht von der Todesstrafe ab, sondern von der inneren Verfassung der Gemeinschaft. Die Todesstrafe ist dann nur ein Indikator, keineswegs aber ein Regulativ für diese Aggressionen.

Auch aus psychologischer Sicht darf man eher das Gegenteil von abschreckender Wirkung der Todesstrafe vermuten. Jene einmalige Erhöhung des Todeskandidaten, die ihn zum Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit macht — man denke etwa an den Rummel um Gary Gilmore —, diese einmalige Bedeutung und Wichtigkeit, die der Täter auf andere Weise niemals errungen hätte, dieser von plötzlichem Wohlwollen getragene Respekt (in dem sich noch immer die alte Befangenheit vor dem „Opfer" wiederfindet) sind Werte, die für manchen labilen Charakter durchaus eine Faszination besitzen mögen und für deren Erlangung er wohl sein Leben „opfern" würde. Als weiteres Argument wird das Bedürfnis der Gesellschaft nach dauerhafter Sicherheit vor gefährlichen Gewaltverbrechern genannt. Eine solche Sicherheit könne nur durch die unabänderlichen Tatsachen, die eine Exekution schafft, erreicht werden. Solange der Gewaltverbrecher noch lebe, bestehe die Möglichkeit, daß er wieder in Freiheit gerate und neue Gewalttaten begehe. Selbst im Gefängnis sei er dazu noch in der Lage.

Statistisch ist längst bewiesen worden, daß die Rückfallsquote bei ehemaligen Mördern, die wieder in Freiheit kamen — sei es, daß sie ihre Strafe abgebüßt hatten, sei es, daß sie begnadigt wurden —, äußerst gering war. Meistens wurden sie zu ordentlichen, gesetzestreuen Bürgern, die sich ängstlich mühten, sich wieder in die Gesellschaft einzuordnen. Die äußerst seltenen Fälle, in denen ein freigekommener Mörder eine neue Gewalttat beging, rechtfertigen sicher nicht die Todesstrafe. Auf der anderen Seite liegt in der Endgültigkeit einer Exekution ein besonders fatales Moment, und zwar das des Justizirrtums, der natürlich immer wieder vorkommen kann — denn Richter sind Menschen, und Menschen können irren —, der aber gerade im Fall der Todesstrafe zu einem Justizskandal würde. Man halte diese Möglichkeit nicht für aus-schließbar; unter den 123 Personen, die in England von 1949 bis 1961 gehenkt wurden, war mit Sicherheit mindestens einer, der an dem ihm vorgeworfenen Verbrechen unschuldig war. Und Lawes, der ehemalige Leiter der Strafanstalt Sing-Sing, berichtet, daß er während seiner Amtszeit die Einlieferung von 415 Todeskandidaten erlebte, unter ihnen sechs Frauen. Die Verurteilung von 53 Männern und zwei Frauen wurde aufgehoben, sprach man völlig frei. „Es scheint also, daß Geschworene und Richter in 11 Prozent der ursprünglichen Verurteilungen wegen . schweren Mordes'irrten," schreibt Lawes 30).

Besonders im Zusammenhang mit dem Terrorismus, der ja bekanntlich Morde und Mord-drohungen zu seiner Strategie zählt, wird oft die Forderung erhoben, Gleiches mit Gleichem zu vergelten und gefangene Terroristen hinzurichten. So ist vor einiger Zeit in dieser Zeitschrift von Konrad Löw der Vorschlag eingebracht worden, das Parlament möge für terroristische Mordtaten die Todesstrafe wieder einführen -Diese sollte dann bei den Verurteilten zunächst ausgesetzt, im Falle von erpresserischer Geiselnahme durch Terroristen wie im Falle Moro als Vergeltung jedoch wieder angedroht werden. Davon verspricht sich der Autor eine tiefgreifende Wandlung der Terroristen

Abgesehen von der Frage, wie sich ein Vertreter der Rechtsstaatlichkeit die Praktizierbarkeit eines solchen Vorschlags vorstellt — jemand würde also gewissermaßen vorläufig begnadigt, müßte aber unter Umständen je nach den Bedürfnissen der Staatsräson immer noch mit der Exekution rechnen —, hat Löw diesen Vorschlag wohl nicht ganz zu Ende gedacht. Was immer an Gründen für das Entstehen des Terrorismus vorgebracht werden mag, mit Sicherheit ist hier auch der uralte Generationenkonflikt im Spiel, und je mehr diese Gefühle genährt werden, desto mehr steigert sich der Haß. Ganz ohne Zweifel wäre daher eine Terroristenhinrichtung der beste Nährboden für ein weiteres Anwachsen der Terroristen-bewegung. Das weltweite Aufsehen, das eine solche Exekution erregen müßte, würde viele junge Leute radikalisieren, die sich sonst mit verbalen Protesten zufriedengäben. Ganz zweifellos würden sich schon in der Zeit bis zur Hinrichtung die aktiven Terroristen zu weiteren Gewalttaten geradezu herausgefordert fühlen.

Ganz allgemein läßt sich zum Terrorismus sagen: Nichts nährt gewalttätiges Denken und Handeln mehr als brutale Reaktionen des Staates, denn diese scheinen den Terrorismus zu rechtfertigen. Nichts dagegen wird sicherer zu seiner Austrocknung führen als Milde und Humanität des Staates, denn diese widerlegen den Terrorismus, nehmen ihm seine (scheinbare) Existenzberechtigung und schneiden ihm dauerhaft den Nachwuchs ab.

übrigens trug Löw seinerzeit noch weitere unbedachte Thesen vor, so etwa, wenn er das Notwehrrecht oder das Recht des Staates auf militärische Verteidigung mit der Todesstrafe gleichsetzte oder wenn er argumentierte, daß die Todesstrafe zu allen Zeiten und auch in der Bibel gefordert wurde So argumentieren heißt, die Problematik völlig unhistorisch zu sehen. Gerade weil die Todesstrafe aus archaischen (und nicht rational argumentierenden) Zeiten stammt, wird es höchste Zeit, ihr Wesen neu zu durchdenken.

Als Argument für die Todesstrafe wird von deren Anhängern auch noch deren Billigkeit angeführt. Mit der Behauptung, daß eine langjährige Verwahrung des Täters den Steuerzahler viel Geld koste und die Herren Mörder auf Staatskosten ein feines Leben führten, wird immer wieder versucht, vorschnelle Emotionen zu wecken. Das Argument ist freilich so primitiv, daß es keine ernsthafte Erörterung verdient.

Betrachten wir nun die wichtigsten Argumente der Todesstrafe-Gegner: An ihrer Spitze steht die Forderung, daß der Staat kein Leben nehmen dürfe, weil er das Leben nicht gegeben habe und nicht geben könne. Dieser Satz klingt nach einem Glaubensartikel, ist jedoch das Ergebnis rationaler Erwägung.

Der moderne säkularisierte Staat ist nicht mehr durch Gottesgnadentum geheiligt; die Staatenlenker führen nicht mehr an Gottes Stelle das Richtschwert, wie es noch Luther und die Kirchenväter einst verstanden. Vielmehr ist der moderne Staat heute eine sehr menschliche, d. h.sehr fehlerhafte Institution, die irren kann und viele Schwächen aufweist. Einer solchen säkularisierten Institution das Recht über das Leben anzuvertrauen, ist völlig unzeitgemäß. Eine Institution, die sich das Recht anmaßen dürfte, Leben zu fordern, müßte unfehlbar sein und „heilig". Dem modernen Staat wird niemand diese Qualitäten zuschreiben wollen.

Da im übrigen der Staat selbst die Heiligkeit des menschlichen Lebens deklariert und dessen Respektierung von allen Bürgern verlangt, steht es ihm schlecht an, diesen Grundsatz selbst zu verletzen. Die doppelte Moral einer solchen Handlungsweise ließe sich durch keinerlei rationale Argumente verschleiern. Wenn das Leben heilig ist, dann darf es nicht zum Objekt von allerlei Nützlichkeitserwägungen werden, sonst erhebt sich sofort die Gefahr des Mißbrauchs. Von der Unabänderlichkeit einer Exekution wurde schon gesprochen. Abgesehen aber von der damit verbundenen generellen Möglichkeit eines Justiz-mordes bedeutet sie jedoch auch, daß dem Täter jede Möglichkeit zur Reue, zur tätigen Sühne, zur sittlichen Besserung genommen wird. Wer hätte dazu ein Recht? Gehört nicht vielmehr die Möglichkeit, eine Untat — und sei es die schlimmste — sühnen zu können, zu den unveräußerlichen Menschenrechten? Fichte vertrat jedenfalls mit Nachdruck diesen Standpunkt und kam im Gegensatz zu Kant zur Verurteilung der Todesstrafe.

Ein weiteres gewichtiges Argument gegen die Todesstrafe ist deren grundsätzliche Ungerechtigkeit. Alle Unterlagen bezeugen, daß die Todesstrafe immer nur die Strafe der „kleinen Leute", der Unterprivilegierten, der Analphabeten, der rassischen Minderheiten war und noch ist.

„Das Bildungsniveau der Todeszelleninsassen ist niedriger als das der Durchschnittshäftlinge und weit niedriger noch als das des Durchschnittsbürgers draußen", schreibt Duffy der langjährige Direktor des Zuchthauses von San Quentin. Das rührt nicht etwa daher, daß klügere und wohlhabendere Leute prozentual weniger Gewaltverbrechen begehen. Aber sie können sich besser verteidigen, mehr Geld für bessere Anwälte ausgeben, und ganz allgemein wird eine von ihnen begangene Untat gnädiger beurteilt als bei einem Täter, der einer weniger geschätzten Gruppe angehört.

Unter den 123 Delinquenten, die in England zwischen 1949 und 1961 exekutiert wurden, waren 15 Ausländer, also mehr als zehn Prozent. Einige Täter waren Analphabeten, viele hatten eine nur mangelhafte Schulbildung genossen, viele waren arbeitslos. Etwa die Hälfte der Täter wies psychische Defekte auf, die von leichten Formen der Schizophrenie und Paranoia über nervöse Reizbarkeit bis zu krankhaft veranlagtem Sexualtrieb und Epilepsie reichten Diese Beispiele ließen sich fortsetzen. Nicht belanglos ist schließlich noch das Argument, daß bei jeder Form der Exekution ein gewisses Maß an Unmenschlichkeit nicht auszuschließen ist. Der schnelle, schmerzlose Tod ist auch mit den modernen Exekutionsformen, dem elektrischen Stuhl und der Gaskammer, nicht zu erzielen, wie vielfache Schilderungen beweisen. Zur Zeit wird im Staat Texas, USA, die Absicht erwogen, zur Exekution eine soge-nannte „Todesspritze" zu verwenden. Ob damit das grundsätzliche Problem gelöst werden kann, darf bezweifelt werden.

Als bedeutungsvollstes Argument gegen die Todesstrafe, das alle anderen in sich einschließt und aufhebt, erscheint mir aber die Erkenntnis, daß diese „Strafe" grundsätzlich nicht dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit dient. Der Forderung nach der Todesstrafe geht es nicht um fremde Schuld, sondern um die Auflösung eigener Schuld-und Angstgefühle, für die ein Ventil gesucht wird. Ist der Sündenbock zufällig schuldig — um so besser. Ist er unschuldig — auch nicht schlimm. Seine Rolle als Entsühner der Gemeinschaft „heiligt" ihn.

Warum ein „Exempel" statuiert wird

Zum Schluß sei noch ein Fall angeführt, der auf sehr überzeugende Weise die psychische Mechanik der Forderung nach dem Tod eines Mitmenschen, aber auch die Mechanik des Funktionierens einer Diktatur verdeutlicht. Der Fall wird hier nach Einsicht in die Akten des Landgerichts Freiburg wiedergegeben; aus Gründen des Personen-und Datenschutzes können die Namen der beteiligten Personen nicht genannt werden

Anfang Mai 1945 liegt ein deutsches Artillerieregiment an der damaligen deutsch-ungarischen Grenze in Abwehrkämpfen mit den Russen. Ein Obergefreiter, nennen wir ihn Schack, ein Berliner, Abiturient und Pfarrerssohn, ist als Funker beim vorgeschobenen Beobachter eingesetzt und desertiert gemeinsam mit einem Unteroffizier in der Nacht vom 2. zum 3. Mai. Die beiden nehmen Eiserne Rationen und das letzte funktionstüchtige Krad der Einheit mit.

Einige Tage später setzt sich die ganze Division nach Westen ab und ergibt sich am 10. Mai einer aus Italien kommenden englischen Einheit. Sie wird in der Gegend von Mauterndorf in Österreich interniert. Zur Aufrechterhaltung der Disziplin und des Wach-dienstes dürfen die Kompanien einige Karabiner und die Offiziere ihre Pistolen behalten. Am 14. Mai fährt der fahnenflüchtige Schack ahnungslos auf einem Panjewagen durch das Dorf, in dem seine Einheit interniert ist. Er wird erkannt und auf Befehl seines Oberleutnants festgenommen. Dieser und ein Hauptmann begeben sich zum Divisionsrichter ins nächste Dorf, um die Angelegenheit zu melden. Der Divisionsrichter erklärt sich für nicht mehr zuständig, seine Amtsgewalt sei erloschen. Man möge die Frage der Einheit vortragen. Die beiden Offiziere fahren zurück. Der Oberleutnant läßt die Einheit, etwa 60 bis 70 Leute, im Halbkreis antreten. Dann trägt er ihnen vor, daß Schack Fahnenflucht begangen habe, woraufhin Rufe laut werden: „So einer gehört erschossen!" Man wirft Schack Unkameradschaftlichkeit vor; auch die Tatsache, daß er das letzte Krad der Einheit mitnahm, wird ihm sehr verübelt. Der mit fahnenflüchtig gewordene Unteroffizier wurde, nach Schacks Aussagen, von Ostarbeitern erschossen. Der Oberleutnant fordert diejenigen seiner Leute, die für Schacks Tod stimmen, auf, rechts herauszutreten. Daraufhin treten zunächst alle Unteroffiziere, dann aber auch der Großteil der Mannschaften nach rechts. Nur etwa acht oder zehn Leute bleiben unschlüssig zurück, darunter der Fahrer des Oberleutnants.

Nunmehr befiehlt der Oberleutnant einem Leutnant, die Exekution durchzuführen. Abends gegen 21 Uhr wird der Delinquent von diesem Leutnant, einem Wachtmeister und einem Obergefreiten zum Waldrand geführt und vor ein flach ausgehobenes Grab gestellt. Der Obergefreite, der als einziger einen Karabiner mit sich führte, gibt den Todesschuß ab. Der Leutnant versetzt dem Zusammengebrochenen mit seiner Pistole noch einen Fangschuß; dann begraben sie ihn. Einige Tage später wird die Leiche entdeckt; eine englische Kommission untersucht den Fall, begnügt sich aber mit der Erklärung, daß Schack auf der Flucht erschossen worden sei.

Der Vater des Erschossenen, der Pfarrer Schack, erfährt durch einen anonymen Brief, daß sein Sohn erschossen worden sei. Er stellt auf eigene Faust Nachforschungen an und erhebt schließlich gegen den Oberleutnant, der unterdessen in Karlsruhe Referendar ist, Mordanklage. Es kommt im Herbst 1949 zu einem Gerichtsverfahren, in dessen Verlauf der Oberleutnant aussagt, daß er sich selbst nicht mehr erklären könne, wie er jenen Erschießungsbefehl geben konnte. Die als Zeugen vernommenen Mannschaftsgrade werfen dem Erschossenen noch immer seine „Unkameradschaftlichkeit" vor. Der Oberleutnant und der Leutnant werden zu dreieinhalb Jahren bzw. zu einem Jahr und acht Monaten Haft verurteilt. Die Tatsache, daß in den letzten Kriegstagen oder gar nach dem Waffenstillstand noch Todesurteile nach dem Militärstrafrecht vollstreckt wurden, hat nach Bekanntwerden in der Öffentlichkeit schon für viel Aufhebens und auch politischen Zündstoff gesorgt. Bisher hat man es sich immer relativ leicht damit gemacht, indem man die Schuld fanatischen Nazis oder Durchhalte-Militärrichtern zuschob. Der oben dargelegte Fall beweist jedoch, daß die Sache nicht so einfach liegt. Offensichtlich wird ein diktatorisches System doch nicht nur von einigen Fanatikern, sondern auch von breiteren Volksschichten getragen.

Was also mag jene Männer dazu gebracht haben, noch eine Woche nach dem Waffenstillstand für den Tod eines Kameraden zu stimmen? Waren sie etwa unverbesserliche Nazis? Sicher nicht. Diesen einfachen Leuten, die im Zivilleben Bauern oder Handwerker waren, hatte mit Sicherheit die nazistische Ideologie nie etwas bedeutet, ebensowenig wie für den Oberleutnant, der angab, aus einem liberal-konservativen Elternhaus zu kommen.

Von den anfänglichen Erfolgen Hitlers beeindruckt, ließ sich das deutsche Volk für ihn und seine Ziele einfangen. Bekanntlich hatte Hitler in freien Wahlen nie eine absolute Mehrheit erhalten. Doch Erfolge machen populär, und Siege berauschen — auch jene Menschen, die dem Regime mit Vorbehalten begegneten. Als sich dann das Blatt wendete, war das deutsche Volk — und die Wehrmacht — zu einer „verschworenen Gemeinschaft", daß heißt zu einer Gemeinschaft von Schuldigen und Schuldbewußten geworden. Jeder denkende Mensch in Deutschland ahnte dumpf, daß die geknechteten Völker Europas nach einem Sieg über die Deutschen den früheren Bedrük-kern ihre Rechnung präsentieren würden. Jenes zynische Sprichwort, das während der letzten Kriegsjahre in aller Munde war: „Laßt uns den Krieg genießen, der Friede wird fürchterlich", legt von dieser dumpfen Zukunftsangst ein beredtes Zeugnis ab.

Doch wenn schon das ganze Volk auf dem Wagen saß, der unaufhaltsam dem Abgrund zusteuerte, so sollte doch niemand versuchen, noch rechtzeitig abzuspringen und die eigene Haut zu retten. Aus dieser Grundstimmung heraus — viel weniger aus nazistischer Über-zeugung — billigte man im Volk die harten Maßnahmen gegen Deserteure und „Verräter"; diese Stimmung mag wohl auch der tiefste Grund für das Scheitern des Putsches vom 20. Juli 1944 gewesen sein. An eine Rettung, eine glückliche Wendung kurz vor dem Abgrund vermochte anscheinend niemand mehr recht zu glauben.

Auch die Männer jener Artillerie-Einheit haben sich offenbar als eine „verschworene Gemeinschaft", das heißt als eine Gemeinschaft von Schuldigen und vielleicht von Verlorenen verstanden. Was ihnen bevorstand, wußten sie nicht, mit Sicherheit aber hielt die Zukunft nichts Gutes für sie bereit. Und da war einer, der sich aus dieser „Schicksalsgemeinschaft" ausklammern wollte, der seinen eigenen Weg zu gehen versuchte, sich womöglich zu retten glaubte. Die Zukunftsangst und auch das Schuldbewußtsein der Männer, das sich kaum mehr verdrängen ließ, wurden von diesem Außenseiter, der sich zum Sündenbock förmlich anbot, wie magnetisch angezogen. Bezeichnend ist der Vorwurf der „Unkameradschaftlichkeit", der dem Deserteur gemacht wurde. Dahinter verbirgt sich, kaum verhüllt und noch deutlich zu erkennen, der Vorwurf, daß er das allgemeine (schwere) Schicksal nicht teilen wollte, sondern seinen eigenen Weg zur Rettung suchte.

Aus dieser psychologischen Konstellation heraus kamen jene Männer damals zu dem Todesurteil über ihren Kameraden, das vielen von ihnen vier Jahre später selbst nicht mehr erklärlich schien, und dieselbe Konstellation war es auch, die das deutsche Volk bis fünf Minuten nach Zwölf zu seiner verbrecherischen Führung halten ließ. Schuldbewußtsein war der Kitt, der die „verschworene Gemeinschaft" zusammenhielt, und dieses Gefühl reichte sehr viel tiefer als die oberflächliche Tünche der Ideologie.

Dieses eben geschilderte Beispiel spiegelt natürlich außergewöhnliche Umstände wider und ist nur unter diesen Umständen möglich gewesen. Doch auch dort, wo unter normalen, friedlichen Verhältnissen eine an ordnungsgemäße Gesetze gebundene Justiz zu Todesurteilen kommt, liegt die Grundproblematik nicht anders.

Die Todesstrafe ist ihrem Wesen nach kein In-strument einer rationalen Rechtspflege und kann es auch nie sein. Vielmehr ist sie Ausdruck eines archaischen Irrationalismus, und jeder Versuch, sie in ein rationales System einzubauen, muß zwangsläufig scheitern. Damit ist sie der heutigen Menschheit zutiefst unwürdig.

Ausgewählte Bibliographie

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Koestler, Arthur, und Rolph, C. H., Hanged by the Neck, Harmondsworth 1961 Lang, Josef (Herausgeber Oskar Schalk), Erinnerungen des letzten k. u. k. Scharfrichters, Wien 1920 Lasaulx, E. von, Die Sühnopfer der Griechen und Römer, Regensburg 1841 Latte, Kurt, Heiliges Recht, Aalen 1964 Leder, Karl Bruno, Todesstrafe, München 1980 Liepmann, Moritz, Die Todesstrafe. Ein Gutachten, Berlin 1912 Mommsen, Theodor, Römisches Strafrecht, Leipzig 1899 (in Carl Binding, Systematisches Handbuch der deutschen Rechtswissenschaft) Mommsen, Theodor, Zum ältesten Strafrecht der Kulturvölker, Leipzig 1905 Naegeli, Eduard, Das Böse und das Strafrecht, München o. J.

Neumann, Erich, Tiefenpsychologie und neue Ethik, München 1964 Schwenn, Friedrich, Die Menschenopfer bei den Griechen und Römern, Gießen 1915 Scott, George R., The History of Capital Punishment, London 1950 Steinmetz, Seb. Rud., Ethnologische Studien zur ersten Entwicklung der Strafe, 2 Bde, Groningen 1928 Strack, Hermann L., Das Blut in Glauben und Aberglauben der Menschheit, München 1900 Wuttke, Adolf, Der deutsche Volksaberglaube in der Gegenwart, Berlin 1900

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe Süddeutsche Zeitung vom 5. 3. 1980. Dort wird Bezug genommen auf eine Umfrage des Allensbacher Institutes.

  2. Diese Unterscheidung der verschiedenen Bewußtseinsstadien stammt von Sigmund Freud; siehe denselben, Totem und Tabu, Frankfurt 1956, S. 83.

  3. Ebenda, S. 46.

  4. S. R. Steinmetz, Ethnologische Studien zur ersten Entwicklung der Strafe, 2 Bde, Groningen 1928, Bd. II, S. 349.

  5. L. Lvy-Bruhl, Die geistige Welt der Primitiven, München 1927, S. 261 ff.

  6. I. Eibl-Eibesfeldt, Menschenforschung auf neuen Wegen, Wien 1976, S. 295.

  7. Freud, a. a. O., S. 75.

  8. Freud, a. a. O., S. 78.

  9. E. v. Lasaulx, Die Sühnopfer der Griechen und Römer, in: Studien des klass. Altertums, Regensburg 1854, S. 245.

  10. Ebenda, S. 250.

  11. Freud, a. a. O., S. 77/78.

  12. Clinton D. Duffy und Al Hirshberg, Exekution, Köln 1964, S. 47.

  13. Siehe Abendzeitung, München, 10. 7. 1980.

  14. Th. Mommsen, Römisches Strafrecht, Leipzig 1899, S. 916 ff.

  15. J. Maringer, Vorgeschichtliche Religion, Zürich/Köln 1956, S. 273 und 295 ff.

  16. Vgl. die grundlegende Arbeit zu diesem Thema von V. Achter, Geburt der Strafe, Frankfurt/M. 1951.

  17. Zitiert bei J. Knobloch, Der deutsche Scharfrichter und die Schelmensippe, Naumburg/S., 1921, S. 88.

  18. Josef Lang, Erinnerungen des letzten k. u. k. Scharfrichters, hrsg. v. Oskar Schalk, Wien 1920, S. 80 ff.

  19. A Wuttke, Der deutsche Volksaberglaube in der Gegenwart, Berlin 1900, S. 137.

  20. Ebenda, S. 137.

  21. Ebenda, S. 138.

  22. H. L. Strack, Das Blut in Glauben und Aberglauben der Menschheit, München 1900, S. 79.

  23. Wuttke, a. a. O. S. 138.

  24. Siehe hierzu E. Neumann, Tiefenpsychologie und neue Ethik, München 1964, S. 39 ff.

  25. Wuttke, a. a. O., S. 138.

  26. Zitiert nach H. Büchert, Die Todesstrafe, Berlin 1956, S. 43.

  27. Ausführlicher zu diesem Punkt bei K. B. Leder, Todesstrafe, München 1980, S. 276 ff.

  28. B. Düsing, Die Geschichte der Abschaffung der Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland, Offenbach 1952, S. 286.

  29. In: Der Spiegel Nr. 15 vom 9. 4. 1979.

  30. Zitiert bei H. v. Hentig, Die Strafe, 2 Bde, Berlin 1954, Bd. II, S. 147.

  31. K. Löw, Begünstigt der Rechtsstaat den Terrorismus?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Nr. 20/78 vom 20. 5.

  32. Der Jesuitenpater Groppe vertritt dieselben Ansichten, wie jüngst aus dem SPIEGEL zu erfahren war (Nr. 43 vom 20. 10. 1980). Auch er schlägt eine fallweise Androhung und Vollstreckung der Todesstrafe und generell deren Wiedereinführung für Terroristen vor. Der Pater scheint von einem wenig christlichen Haß gegen Sünder und verirrte Schafe erfüllt zu sein. Terroristen sind für ihn grundsätzlich „Schwerstverbrecher", die abzuschießen für den Schützen „sittlich gerechtfertigt" ist. Und die Verantwortlichen, die den Befehl zum Todesschuß nicht geben, „handeln im Grunde unsittlich".

  33. Löw, a. a. O., S. 18.

  34. Löw, a. a. O., S. 17.

  35. Duffy, a. a. O., S. 253.

  36. A. Koestler, Reflections on Hanging", London 1956, S. 105 ff.

  37. Düsing, a. a. O., erwähnt ebenfalls diesen Fall, siehe S. 222.

Weitere Inhalte

Karl Bruno Leder, geb. 1929 in Rudolstadt/Thüringen; im Herbst 1949 von der sowjetischen Besatzungsmacht verhaftet und von einem Militärtribunal wegen „antisowjetischer Propaganda" zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt; sechseinhalb Jahre in Bautzen abgesessen. Nach der Entlassung im Juli 1956 in West-Berlin Reifeprüfung und Studium der Publizistik, Slawistik und Theaterwissenschaft an der FU; 1959 Dramaturg und Verlagslektor; von 1964 bis 1977 wieder Dramaturg bei einem großen deutschen Filmverleih; seit 1977 freier Schriftsteller, Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller (VS). Veröffentlichung u. a.: Todesstrafe, München 1980.