I. Das militärische Konkurrenzverhältnis zwischen den beiden Weltmächten und das Problem der Parität
Im Herbst 1974 kamen die USA und die UdSSR in Wladiwostok überein, daß alle Arten von strategischen Trägern — Raketen wie Flugzeuge — von dem vorgesehenen SALT-II-Abkommen erfaßt werden sollten und daß für beide Seiten die gleiche Gesamtzahl als Obergrenze festzulegen sei. Damit verzichteten beide Seiten jeweils auf die quantitativen Vorteile, die sie bis dahin besessen hatten.
Wichtiger freilich ist die Frage der qualitativen Beschränkungen. Bei SALT I hatten nicht nur die Amerikaner kein Interesse an einer ihnen erlangten Waf von -Ausschaltung der Mehrfachsprengköpfe (MIRV) fenoption der gezeigt. Auch die UdSSR hatte nicht auf ein Verbot der neuen Rüstungstechnik gedrungen — wohl darum, weil sie den USA keinen Vorsprung an Know-how lassen wollte und mit ih -rer eigenen Waffenentwicklung vor dem Abschluß stand. Bei den SALT-II-Verhandlungen nach 1974 zeigte sich zudem, daß die UdSSR den Vorteil höherer Wurfgewichte zu bewahren und zu befestigen trachtete: Der amerikanische Vorteil größerer Sprengkopfzahlen begann nach den sowjetischen MIRV-Tests von 1973 -unaufhaltsam dahinzuschwinden. Die so wjetische Seite fand sich zwar — gegen amerikanische Zugeständnisse im eurostrategischen Bereich — dazu bereit, der Ausnutzung ihres Vorteils durch eine Begrenzung der MIRV-Zahlen pro Träger gewisse Grenzen zu setzen, doch konnte Washington keine Wurfgewichtseinschränkungen erreichen. Der UdSSR wurden so bei SALT II unter anderem das bisherige Monopol auf „schwere Raketen" (d. h. auf Raketen mit ungeheuer großen Sprengladungen) und die in den Jahren nach SALT I weiter ausgebaute Überlegenheit bei den Wurfgewichten der übrigen Raketen bestätigt.
Diese Vorteile werden noch bis in die achtziger Jahre hinein durch Vorzüge der amerikanischen Technik — etwa hinsichtlich der Treffgenauigkeit — aufgewogen, doch scheint der Tag heranzurücken, an dem die UdSSR auch in diesem Bereich gleichgezogen haben wird. Wenn man diesen Punkt bei sowjetischen Repräsentanten geltend macht, antworten diese stets mit dem Hinweis darauf, USA die würden dann zweifellos mit neuen Fortschritten wieder voraus sein. Das sowjetische Bedürfnis, sich die Fortdauer bestimmter Vorteile zu sichern, kann im Licht solcher Aussagen aus einem technologischen Minderwertigkeitskomplex gegenüber den Amerikanern erklärt werden. Auch wenn dies uneingeschränkt zutreffen würde, wäre dadurch die Gefahr von zumindest zeitweiligen Disparitäten nicht ausgeschlossen.
Es stellt sich freilich die Frage, wie stark derartige Disparitäten das global-strategische „Gleichgewicht" — definiert als Gleichheit der militärischen Optionen — verändern können. Diejenigen Sachverständigen, für welche die Tendenz zu ein-oder wechselseitiger global-strategischer Erstschlagsfähigkeit im Mittelpunkt steht, sehen große Gefahren am Horizont. Diese Denkschule ist vor allem in den USA sehr stark ausgeprägt. Hier gilt die Aufmerksamkeit vor allem den Möglichkeiten, welche die UdSSR vielleicht erlangen könnte. Weil die westliche Führungsmacht den Gedanken an einen Angriff von ihrer Seite nicht gelten läßt, bleibt weiterhin unberücksichtigt, was in Moskau Sorge vor einem amerikani13
Anmerkung: Nur ein Teil der Ausführungen ist durch Hinweise in den Anmerkungen belegt. Das Übrige beruht weithin auf detaillierten Darlegungen und Nachweisen in der vom Autor verfaßten umfangreichen Studie „Die sowjetischen Sicherheitsvorstellungen und die Möglichkeiten eines Ost-West-Einvernehmens“, die als Buch in der Reihe des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien beim Nomos Verlag in Baden-Baden erscheinen wird. sehen Erstschlag hervorrufen könnte. Auf dieser Basis werden Erfordernisse für ein global-strategisches „Gleichgewicht" formuliert, die anderswo — vor allem in der Sowjetunion — den Eindruck des Überlegenheitsstrebens wecken.
In der amerikanischen Öffentlichkeit, die unter dem Trauma politischer und militärischer Ohnmacht (geschaffen durch die Hilflosigkeit Washingtons etwa bei der iranischen Geisel-Affäre oder bei der sowjetischen Afghanistan-Intervention) leidet, findet der Ruf nach mehr Rüstung lebhaftes Echo und vielfachen Beifall — und zwar um so mehr, als Moskau weder im global-strategischen Bereich noch auf anderen militärischen Ebenen die bisherige westliche Zurückhaltung honoriert hat. Die UdSSR, so will es den Amerikanern zunehmend scheinen, macht nicht bei militärischer Parität Halt, sondern sie will sich so weit wie möglich darüber hinaus Vorteile verschaffen, um die westliche Welt früher oder später niederringen zu können.
Dieser Eindruck ist weniger die Folge als vielmehr das Motiv westlichen Zusammenrükkens mit China, das seit der sowjetischen Besetzung der Tschechoslowakei 1968 den sowjetischen „Polarbären" als eine militärisch rücksichtslose, der Welthegemonie zustrebende Macht ansieht Der erklärte sowjetische Wille, den Status quo in der Dritten Welt zum eigenen Vorteil zu verändern und dazu bei Bedarf auch militärische Mittel einzusetzen hat — vor allem angesichts der sowjetischen Militäraktivitäten in Angola, Äthiopien, Südjemen und Afghanistan — in den USA den Argwohn, die sowjetischen Führer betrieben eine skrupellose Gewalt-und Expansionspolitik, entscheidend verstärkt. All dies führt in der amerikanischen Öffentlichkeit zu der Sorge, daß die Weltgeltung des eigenen Landes, ja sogar dessen elementare Sicherheit in Gefahr sei.
Die bisher verfolgte Linie Washingtons, durch Rüstungskontrollverhandlungen mit Moskau militärische Strukturen wechselseitiger Sicherheitsgewährleistung zu etablieren, gilt nunmehr in den USA als ein Ergebnis gefährlicher Illusionen über die Ziele der sowjetischen Politik. Nach dieser Ansicht hat die amerikanische Rüstungskontrollpolitik der UdSSR die Möglichkeit verschafft, die militärische Überlegenheit der USA zunächst aufzuzehren und dann durch ein zunehmendes sowjetisches Übergewicht zu ersetzen. Daher sei es nun allerhöchste Zeit, von liebgewordenen Illusionen Abschied zu nehmen und die sowjetische Aufrüstung durch eine amerikanische Gegenaufrüstung zu kontern. Manche meinen darüber hinaus, daß nur ein gewisses Maß an Überlegenheit dem gefährlichen sowjetischen Widersacher dauernde militärische Zurückhaltung auferlegen könne. Die Administration Carter hat sich unter diesem Druck entgegen ihren ursprünglichen Absichten zunehmend zu Rüstungsmaßnahmen veranlaßt gesehen, jedoch grundsätzlich weiter zu einer Politik einvernehmlicher und paritätischer Rüstungskontrolle mit der UdSSR bereitgefunden.
II. Das Paritätsproblem bei MBFR
Während die sowjetische Führung bei SALT von militärischer Parität zunächst etwas zu gewinnen hatte, lagen die Dinge bei den Verhandlungen über wechselseitige ausgewogene Streitkräfteverringerungen in Mitteleuropa (MBFR) von vornherein umgekehrt. In dem Gebiet, in dem die Verringerungen stattfinden sollen, unterhält der Warschauer Pakt seit über einem Jahrzehnt etwa doppelt soviel Divisionen wie die NATO. Zwar ist der Mannschaftsbestand pro Division im Osten traditionell kleiner, doch haben sich dort die Personalstärken in der ersten Hälfte der siebziger Jahre deutlich vergrößert. Unter Berücksichtigung der besseren Ausnutzung des östlichen Soldatenbestandes für Kampfzwecke können die Divisionen beider Seiten heute als ungefähr gleichwertig gelten. Bei den schweren Waffensystemen ist eine teilweise sehr erhebliche quantitative Überlegenheit festzustellen, die bei den Panzern das Verhältnis eins zu drei erreicht. Herkömmlicherweise besitzt die NATO einen gewissen Qualitätsvor14 sprung, der jedoch mittlerweile großenteils aufgebraucht ist und stellenweise sogar einer besseren Ausstattung auf östlicher Seite Platz gemacht hat. Dazu kommen geographisch bedingte Asymmetrien: Der Warschauer Pakt wird durch ungleich kürzere Nachschubwege zum Gebiet der Hauptmacht und durch unendlich große Raumtiefe begünstigt. Die östliche Überlegenheit ist aufgrund verschiedener Faktoren (wie beispielsweise größere Nachschuberfordernisse im Westen) bei den Personalstärken am geringsten. In dem für wechselseitige Truppenverringerungen vorgesehenen Gebiet (ohne das in dieser Hinsicht strittige Ungarn) betrug die Relation zu Beginn der MBFR-Verhandlungen nach westlicher Einschätzung 925 000 zu 777 000 Mann. Ab 1976 beziffert die NATO das Verhältnis auf 962 000 zu 791 000 Soldaten.
Die NATO-Staaten drangen von Anfang an auf eine paritätische Regelung. Sie bezogen ihre Forderung auf die Personalstärken, verlangten also, da so das östliche Übergewicht bei den Divisions-und Waffenquantitäten weithin nicht unberührt bleibt, keine volle Parität der Kampf-und Feuerkraft. Allerdings sollte die UdSSR zusätzlich und einseitig die Panzerausstattung einer gesamten Armee (zunächst 1 400— 1 500, später ca. 1 700 Kampf-panzer) abziehen. Seit Dezember 1974 bot die NATO dafür einen einseitigen Verzicht auf 1 000 taktisch-nukleare Sprengköpfe mit zugehörigen Systemen an; außerdem wurde später das Verlangen in quantitativer und qualitativer Hinsicht ermäßigt. Die westliche Seite begründete die Forderung nach Abzug der sowjetischen Panzer damit, daß sie eines zumindest beschränkten Ausgleichs für die östlichen Vorteile bei den Waffensystemen und hinsichtlich der Geographie bedürfe. Die Verringerung des östlichen Überhangs bei einer so ausgesprochenen Offensivwaffe wie den Panzern solle den erklärten östlichen Verzicht auf Angriffsabsichten wirksam unterstreichen. In der Sache lief das westliche MBFR-Konzept darauf hinaus, die militärische Überlegenheit des Warschauer Pakts in Mitteleuropa wenigstens so weit zu begrenzen, daß ein zugleich überraschender und erfolgversprechender Angriff auf Westeuropa als eine vor allem zukünftige Möglichkeit zuverlässig ausgeschlossen wurde. Die östliche Seite sollte, falls sie sich eines Tages doch zu einem offensiven Vorgehen gegen die NATO-Streitkräfte in
Mitteleuropa entschließen würde, entweder zu vorherigem Heranführen von Verstärkungen aus der UdSSR genötigt sein oder aber auf die Hoffnung eines sofortigen Durchbruchs zur französischen Grenze oder gar bis zum Atlantik verzichten. Wäre die sowjetische Führung auf dieses Ansinnen eingegangen, dann hätte die westliche Seite für den Fall einer Krise die Zuversicht erlangt, daß sie nicht militärisch bedroht sei, solange die UdSSR keine Truppen vorverlege.
Die UdSSR wandte sich zusammen mit ihren Verbündeten von vornherein gegen die westliche Formel der „Ausgewogenheit". Ihre Vorschläge liefen auf gleichmäßige Verringerungen beider Seiten hinaus. Mehr noch: Bestimmte Forderungen wie das vorgesehene Verbändekaderungs-und Waffenlagerungsverbot hatten zusätzlich einseitige westliche Verzichte zum Inhalt. Der Umfang der geforderten Truppenverringerungen war so bemessen, daß nach dem Urteil westlicher Militärs das NATO-Verteidigungssystem künftig personell wesentlich unterbesetzt wäre, während beim Warschauer Pakt weiterhin Überkapazitäten vorhanden sein würden. Die östliche Argumentation lautete, das bestehende Kräfte-verhältnis sei beizubehalten und lediglich auf eine niedrigere zahlenmäßige Ebene zu bringen. Das Vorgehen wurde von den Staaten der westlichen Allianz als Versuch gedeutet, die bestehende militärische Unterlegenheit der NATO auf dem europäischen Schauplatz festzuschreiben und auszuweiten.
Das Prinzip der Parität, das die westlichen Staaten bei den MBFR-Verhandlungen für sich in Anspruch nahmen, entwickelte größere Überzeugungskraft als die östlichen Argumente — und das um so mehr, als sich auf die wechselseitige Anerkennung dieses Grundsatzes bei SALT hinweisen ließ. Das veranlaßte die sowjetische Führung schließlich dazu, den Gedanken der Parität, den offen abzulehnen sie stets vermieden hatte, förmlich zu akzeptieren. Im Sommer 1977 begannen die Vertreter des Warschauer Pakts bei den MBFR-Verhandlungen, das Paritätsargument gelten zu lassen. Als Generalsekretär Breschnew im Mai 1978 nach Bonn kam, sanktionierte er in aller Form die Parität als Grundlage der Rüstungskontrollverhandlungen zwischen Ost und West Die damit zustande gekommene Einigung blieb jedoch ohne konkrete Folgen. Die sowjetische Seite bestritt nämlich die Datenbasis, die dem westlichen Verlangen nach einer Korrektur des Kräfteverhältnisses im Sinne der Parität zugrunde lag. In Mitteleuropa, so hieß es beim Warschauer Pakt, bestehe bereits annähernde Parität: Die NATO habe die Zahl ihrer Truppen mit 791 000 Mann angegeben, denen auf östlicher Seite 805 000 Soldaten gegenüberstünden. Daher, so lautete die Folgerung, brauche an der militärischen Ost-West-Relationnichts — oder doch zumindest nichts Wesentliches — geändert zu werden. Nach wie vor seien daher die vorzunehmenden Truppenverringerungen gleichmäßig auf beide Seiten zu verteilen. In der Folgezeit blieb das Bemühen der NATO-Staaten erfolglos, den Grund für die unterschiedlichen Zahlenangaben über die Truppenstärken des War-schauer Pakts aufzuklären und die östliche Seite zu dem Zugeständnis substantieller überproportionaler Verringerungen in einem größeren Umfang zu bewegen.
III. Parität im eurostrategischen Bereich?
Ein ähnliches Datenproblem zeichnet sich bei den bevorstehenden Verhandlungen zwischen den USA und der UdSSR über das eurostrategische Kräfteverhältnis ab. Nach westlicher Einschätzung besteht seit Anfang der sechziger Jahre in diesem Bereich eine erhebliche quantitative Überlegenheit der Sowjetunion. Aus mehreren Gründen beginnt dieses Un-gleichgewicht, das so lange Zeit zu wenig Sorgen Anlaß geboten hat, jetzt zunehmend bedrohlich zu werden. Dabei spielen die erheblichen qualitativen Verbesserungen, die bei den zahlenmäßig etwa gleichbleibenden sowjetischen Systemen eingetreten sind und laufend weiter eintreten, eine wichtige Rolle. Der Trend läßt sich am klarsten und am stärksten bei der Offensivrakete SS-20 (mit der knapp unter interkontinentalen Dimensionen bleibenden Reichweite von 5 000 km) aufzeigen. Die durch dieses System (wöchentlich etwa ein Stück) ersetzten alten Systeme SS-4 und SS-5 wiesen je nur einen Sprengkopf auf. Die SS-20 besitzt dagegen jeweils drei voneinander unabhängige Sprengköpfe und läßt sich dreimal nachladen. Auf diese Weise stehen statt des bisherigen einzigen Sprengkopfes nach der Umrüstung bis zu zwölf Sprengköpfen zur Verfügung. Dazu kommt eine im Vergleich zu den beiden früheren Systemen auf das Sechs-bzw. Dreifache gesteigerte Treffgenauigkeit, die den Einsatz gegen gehärtete militärische Punktziele ermöglicht. Zugleich entzieht sich die SS-20 als mobiler Träger der Erfassung in den für die global-strategischen amerikanischen Waffen aufgestellten Zielplänen. Die SS-20 stellt insgesamt ein strategisches Trägersystem dar, das auf dem europäischen Schauplatz keine westliche Entsprechung findet: Die weiterreichenden, potentiell bis in Teile der UdSSR vorstoßenden amerikanischen Nuklearträger bestehen aus Flugzeugen, die im Gegensatz zu den Raketen für die (in der Sowjetunion besonders forcierte) Luftabwehr zunehmend verwundbar werden, und die Raketenkapazitäten Frankreichs wie Großbritanniens sind klein und veralten. Die dem NATO-Oberkommando zugeteilten amerikanischen U-Boote mit insgesamt 400 nuklearen Sprengköpfen auf „Poseidon" -Raketen werden in der SALT-Balance mitgezählt und gelten daher nach amerikanisch-sowjetischer Übereinkunft nicht als Bestandteil des euro-strategischen Kräfteverhältnisses. Die europäischen NATO-Partner der USA sehen sich in Europa einem zunehmenden nuklearstrategischen Übergewicht der UdSSR gegenüber. Dies scheint um so weniger akzeptabel zu sein, je mehr die global-strategische Überlegenheit der Amerikaner dahinschwindet und möglicherweise einer gewissen global-strategischen Disparität zu sowjetischen Gunsten Platz macht.
Die sowjetische Seite läßt diese Darstellung nicht gelten. Sie hebt diejenigen Faktoren hervor, die sich nicht zugunsten der UdSSR geändert haben, und vernachlässigt alle Aspekte, welche die eurostrategische Umrüstung im eigenen Land nicht bloß als routinemäßiges Mitziehen mit der waffentechnischen Entwicklung erscheinen lassen, überdies bleibt das jahrzehntelange Stagnieren der eurostraB tegischen Waffentechnik im Westen außer Betracht. Das Moskauer Standardargument lautet, die UdSSR habe die Zahl ihrer eurostrategischen Systeme in keiner Weise vermehrt, sondern sogar noch etwas vermindert Das stimmt zwar, entzieht aber dem Blick, daß sich mit der gleichbleibenden Zahl an strategischen Trägern potentiell eine Verzwölffachung der ins Ziel zu bringenden Sprengköpfe samt einer außerordentlich gesteigerten Treff-genauigkeit verbindet.
Auch der auf die Systeme bezogene Zahlen-vergleich, der von östlichen Spitzenfunktionären und Vertretern aufgemacht worden ist erweckt einen nach westlichen Erkenntnissen unzutreffenden Eindruck. Die Ausgewogenheit, die demnach auf der eurostrategischen Ebene besteht, kommt vor allem durch die einseitige Hinzuzählung von westlichen Waffensystemen zustande, die entweder für eine nukleare Rolle überhaupt nicht in Frage kommen oder aber nach Reichweite und anderen Merkmalen eurostrategischen Kriterien nicht genügen Selbst ein prinzipieller Konsens bei den Verhandlungen über eine eurostrategische Rüstungskontrolle über die Notwendigkeit von Parität wäre daher keine hinreichende Basis für ein Einvernehmen über die konkreten Probleme.
IV. Die Frage des Bezugsrahmens für Parität
Bevor sich die sowjetische Seite bei MBFR offiziell auf das Paritätsprinzip einließ, hatten (ihre Vertreter wiederholt informell Vorbehalte dagegen geltend gemacht. Die UdSSR, so hieß es beispielsweise, müsse in Europa einen gewissen militärischen Vorteil für sich beanspruchen, weil sie sich global im Nachteil befinde und daher eines Ausgleichs auf dem europäischen Schauplatz bedürfe. Alternativ dazu lautete die These, daß das Kräfteverhältnis zwischen Ost und West nicht nur militärisch gesehen werden dürfe. Der Westen sei auf allen Feldern außer im militärischen Bereich überlegen (was vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht gelte). Daher bleibe der Sowjetunion keine andere Wahl, als sich das ihr für eine volle weltpolitische Parität fehlende Gewicht durch entsprechend verstärkte militärische Anstrengungen zu verschaffen.
Derartige Argumentationen weisen darauf hin, daß das, was Parität konkret bedeutet, von dem jeweils gewählten Bezugsrahmen abhängt. Wie die hier angeführten Äußerungen belegen, ist die sowjetische Seite gern geneigt, Parität so zu definieren, daß sie im Einzelfall einen Anspruch auf Bevorzugung daraus ab-— leiten kann. Dabei muß offenbleiben, wie weit solche zweckdienliche Argumentation ein echtes Unterlegenheitsbewußtsein mit daraus folgendem Kompensationsbedürfnis ausdrückt oder aber auf ein die Mehrung der eigenen Sicherheit und Macht abzielendes Instrumentarium ausgerichtet ist. Vermutlich ist beides der Fall, wobei die relativen Anteile schwer zu bestimmen sind. Der Rahmen, auf den der Paritätsgrundsatz jeweils bezogen wird, ist jedenfalls für die zu ziehenden praktischen Konsequenzen mindestens ebenso wichtig wie die Datenbasis, die den Paritätsansprüchen zugrunde gelegt wird.
Die Vertreter der UdSSR fassen ihren Anspruch auf militärische Parität meistens in die Formel der „gleichen Sicherheit". Nach offizieller sowjetischer Ansicht soll „gleiche Sicherheit" vor allem auf dreierlei Weisen zu verstehen sein: 1. als Gleichrangigkeit und Gleichfähigkeit im Weltmaßstab, 2. als Stärkevorteil in Europa zum Ausgleich für das überlegene Potential, das die USA politisch ins Spiel zu bringen haben und das sie im Falle eines längerdauernden Krieges militärisch mobilisieren könnten, und 3. als Gleichheit der global-strategischen Kapazitäten der UdSSR mit den gesamten nuklear-strategischen Kräften, welche die USA gegen die UdSSR einzusetzen haben. Diese verschiedenen Aspekte der sowjetischen Vorstellungen über „gleiche Sicherheit" bedürfen einer näheren Darlegung.
Der globale Aspekt des sowjetischen Verlangens nach „gleicher Sicherheit“
Die sowjetischen Vertreter argumentieren gerne damit, daß ihr Land in der Welt militärisch allein dastehe. Alle militärisch potenten Drittstaaten befänden sich auf Seiten der USA: die europäischen NATO-Mitglieder, Japan und China. Zudem hätten die Vereinigten Staaten einen Einkreisungsring von Stützpunkten um die UdSSR gelegt, der es ihnen gestatte, das sowjetische Heimatgebiet von beliebigen Stellen aus zu bedrohen. Dagegen verfüge die UdSSR über keine entsprechende Möglichkeit gegenüber den USA. Bei dieser Betrachtungsweise bleiben die Bindungen, mit denen die Sowjetunion andere Staaten politisch und sich hat, militärisch an gefesselt ebenso außer Betracht wie die Militärstützpunkte und Militärpräsenzen, die sich die sowjetische Seite im Warschauer-Pakt-Bereich und in bestimmten Regionen der Dritten Welt hat und ihr Konfliktfall angeeignet die im eine Störung oder gar Gefährdung westlicher Verbindungslinien sowie Energie-und Rohstoff-routen zur See ermöglichen könnten.
Die Schlußfolgerung aus den sowjetischen Argumentationen lautet, die UdSSR müsse damit rechnen, daß sie es im Kriegsfall mit allen anderen größeren Militärmächten zugleich aufnehmen müsse. Das ziehe das Erfordernis nach sich, sich einer solchen militärischen Koalition gegenüber behaupten zu können. Die schlimmstmögliche Mächtekonstellation wird somit als der Fall bezeichnet, auf den sich die Sowjetunion militärisch vorzubereiten habe. Nach dieser Darlegung erscheint es logisch, daß die UdSSR den Anspruch erhebt, militärisch ebenso stark zu sein wie alle anderen großen Militärmächte zusammen. Dieser Schluß wird allerdings nicht explizit gezogen; er wäre jedoch als implizierte Aussage plausibel und könnte ein Erklärungsmuster für die nicht nachlassenden sowjetischen Rüstungsanstrengungen bilden.
Ausdrücklich in der Diskussion geltend gemacht wird von sowjetischer Seite, daß Wechselseitige Sicherheit nur dann gegeben sei, wenn das Kräfteverhältnis auf den verschiedenen regionalen Schauplätzen wegen der generell benachteiligten sowjetischen Lage kompensatorisch gewisse Vorteile aufweise. Nicht nur die erwähnten informellen MBFR-Argumentationen, sondern auch der offizielle östliche Einspruch gegen jede Berücksichtigung der den Warschauer Pakt in Mitteleuropa begünstigenden geographischen Verhältnisse lassen diese Logik deutlich erkennen. Auch die östliche Weigerung, einheitliche Kriterien für die Zählung des Personalbestands auf beiden Seiten festzulegen und anzuwenden, könnte unausgesprochen von der Vorstellung bestimmt sein, daß angesichts einer ungünstigen Gesamtlage in Europa für beide Seiten keine gleichen Maßstäbe angebracht seien und daß statt dessen ein Bonus für Moskau erforderlich sei.
Falls sich die sowjetische Führung tatsächlich konsequent nach einer solchen Logik richten sollte, würde dies alle potentiellen Gegner mit einer unerträglichen Herausforderung für ihre Sicherheit konfrontieren. Die den Moskauer Überlegungen zugrunde gelegte Annahme der schlimmstmöglichen Mächtekonstellation ist für die Außenwelt allein schon darum gefährlich, weil die UdSSR in dem nicht unwahrscheinlichen Fall, daß sich die Konstellation im Augenblick des akuten Konflikts für sie günstiger gestalten würde, von vornherein militärisch überlegen wäre. Überdies nützt ein globales Gleichgewicht denjenigen Staaten wenig, die sich regional einem überwältigenden sowjetischen Übergewicht gegenübersehen. Für die UdSSR würde sich dann die Möglichkeit eröffnen, die regional bedrohten Staaten durch Anwendung von Druck und Androhung von Gewalt aus der Front der unabhängigen Mächte herauszubrechen und in den sowjetischen Einflußbereich hinüberzuzwingen — was dann im Endergebnis eine Chance weltweiter politischer und militärischer Überlegenheit gegenüber den anderen Mächten begründen könnte. Der europäische Aspekt des sowjetischen Verlangens nach „globaler Sicherheit"
Der Situation in Europa ist nach sowjetischer Auffassung grundsätzlich eine künstliche Anomalie eigen dadurch, daß eine außereuropäische Macht — nämlich die USA — politisch und militärisch präsent ist Nach dieser Ansicht sollte grundsätzlich in der gleichen Weise, wie gemäß der Monroe-Doktrin Amerika für die Amerikaner beansprucht worden ist, Europa den Europäern gehören. Die UdSSR betrachtet sich dabei als die herausragende europäische Macht, die in einem von Nordamerika getrennten Europa — vor allem aufgrund ihrer militärischen Potenz — eine natürliche Führung übernehmen könnte. Die sowjetischen Außenpolitikexperten sind sich, was die Verwirklichung dieses Ideals anbelangt, uneinig darüber, ob der NATO-Zusammenhalt und die amerikanische Europa-Präsenz als derzeit unabänderlich hinzunehmen sind oder ob eine Politik, die beides zu beseitigen sucht, unter den gegenwärtigen Umständen Erfolg verspricht. Keinen Streit jedoch gibt es über die Meinung, daß die Ausdehnung des amerikanischen Einflusses auf Westeuropa und vor allem die Anwesenheit der amerikanischen Macht auf dem europäischen Kontinent als latente Bedrohungen der UdSSR zu gelten haben. Die Gefahr würde in ein akutes Stadium treten, wenn es in Europa zu einem Ost-West-Krieg käme.
In diesem Falle sollen nach sowjetischer Absicht die amerikanischen Streitkräfte so rasch wie möglich auf die amerikanische Hemisphäre zurückgeworfen werden. Außer den genannten prinzipiellen Überlegungen sprechen dafür in Moskau auch pragmatisch-militärische Gründe. Den USA wird ein überlegenes wirtschaftlich-technisches Potential zugute gehalten, das, je länger ein Krieg dauern sollte, desto mehr in militärische Stärke umzusetzen ist. Daher soll, bevor sich die besseren Möglichkeiten der USA auf den Gang der Geschehnisse auszuwirken beginnen, den Amerikanern der europäische Brückenkopf vollständig genommen werden, der ihnen als Ausgangsbasis für einen Landangriff gegen das sowjetische Heimatland dienen könnte. Dabei dürfte es aus sowjetischer Sicht kein unerwünschter Begleitumstand sein, daß die militärische Kampfkraft und die politische Weltgeltung der Vereinigten Staaten gleichermaßen getroffen würden, wenn es in der geplanten Weise gelänge, die europäischen NATO-Staaten rasch auszuschalten.
Im übrigen sind schnelle Anfangssiege für Moskau eine relativ gute Versicherung dagegen, daß die latente Unzufriedenheit der beherrschten osteuropäischen Völker Gelegenheit und Hoffnung findet, sich zu einem aktiven politischen und militärischen Widerstand gegen die Vormacht zu verdichten. Eine siegreiche Sowjetunion, welche die Gegner auf dem europäischen Schauplatz niedergeworfen hat, kann am ehesten die Kontrolle über Osteuropa aufrechterhalten und die Verbündeten mit Erfolg dazu nötigen, die sowjetischen Kriegsanstrengungen zu unterstützen, statt sie zu sabotieren oder gar zu bekämpfen.
Diesen Überlegungen entspricht die Offensiv-strategie des Warschauer Pakts auf dem europäischen Gefechtsfeld, welche die westlichen Militärexperten aus der Dislozierung der östlichen Streitkräfte und aus ihrer waffenmäßigen Ausstattung ebenso schließen wie aus der Anlage der östlichen Truppenmanöver. Auch die amtliche östliche These, im Falle des — natürlich niemals von der als stets friedliebend bezeichneten „sozialistischen Gemeinschaft" angefangenen — Krieges müsse ein sofortiger Gegenstoß tief ins gegnerische Territorium vordringen, läßt den offensiven Charakter des operativen Konzepts erkennen
Das bedeutet nicht, daß die sowjetische Führung Angriffsabsichten hegen müßte. Vielmehr geht es darum, es bei einem ausbrechenden militärischen Konflikt in Europa so wahrscheinlich wie möglich zu machen, daß der amerikanische Gegner in der Anfangsphase seine europäischen Positionen aufgeben muß. Aus sowjetischer Sicht stellt die Fähigkeit zu offensivem Vordringen nach Westeuropa zugleich ein Element zusätzlicher Abschreckung dar, das der westlichen Seite den Kriegseintritt gegen die UdSSR verleidet: Den Verbündeten der USA droht in diesem Falle die Aussicht, daß ihre Länder binnen kurzer Zeit zum Gefechtsfeld werden und östlicher Eroberung unterliegen. Diese Drohung könnte nach sowjetischer Vorstellung nicht nur etwaigen Angriffshandlungen der NATO gegen den War-schauer Pakt entgegenwirken, sondern auch im Falle eines amerikanisch-sowjetischen Konflikts in der Dritten Welt eine Parteinahme der westeuropäischen Staaten für die USA bremsen.
Was immer aus sowjetischer Perspektive für eine Offensivoption auf dem europäischen Gefechtsfeld spricht, so läßt sich eine solche mit den Sicherheitsbedürfnissen der Westeuropäer keinesfalls vereinbaren. Der Druck, dem sich die europäischen Länder außerhalb des Warschauer Pakts ausgesetzt sähen, wenn die UdSSR sie überzeugend zu realisieren vermöchte, würde früher oder später zu einer Wohlverhaltensabhängigkeit ganz Westeuropas von Moskau führen.
Das könnte auch die amerikanische Weltgeltung nicht unberührt lassen. Auf die Dauer würden das nordatlantische Bündnis und die amerikanische Militärpräsenz kaum zu halten sein. In dem Maße, wie die Sowjetunion ein Einflußmonopol auf dem europäischen Schauplatz erlangen würde, ginge weltpolitisch entscheidendes Gewicht von den USA an die UdSSR über. Das würde sich auch auf die Entwicklung der Situation in anderen Weltregionen auswirken. Auch wenn man davon ausgeht, daß sich die sowjetische Führung bei ihrem militärischen Offensivkonzept gegenüber Westeuropas primär von defensiven Überlegungen leiten läßt, würde dessen erfolgreiche Durchführung — sei es nun in Form eines durch eine Ost-West-Krise ausgelösten Eroberungsfeldzuges oder in Form einer durch Pressionen vorangetriebenen „Finnlandisierung" — offensiv-expansive Konsequenzen zeitigen. „Gleiche Sicherheit" und vorne stationierte Systeme (FBS)
Das sowjetische Sicherheitsdenken ist primär auf die USA — als die einzige Macht, die zu einer militärischen Bedrohung der UdSSR in der Lage wäre — fixiert. Die Vereinigten Staaten werden gleichermaßen betrachtet als möglicher Kriegsgegner, dem man gewachsen sein muß, wie als erwünschter Partner einer Politik, die auf die Verhütung des Risikos eines sowjetisch-amerikanischen Krieges und auf die Ausschaltung dritter Staaten von der Mitbestimmung über sensitive Sicherheitsfragen abzielt. Aus diesen Voraussetzungen ergibt sich ein primär bilaterales Denk-und Verhaltensmuster sowjetischer Sicherheitspolitik.
In Moskau erscheint es natürlich, daß die eigene Militärmacht — wie etwa die nuklear-strategischen Kapazitäten — an dem Verhältnis zu derjenigen der Vereinigten Staaten gemessen wird. Unter diesem Gesichtspunkt wird ein „zweifaches Potential“ der USA festgestellt, demgegenüber die UdSSR nur ein einfaches Potential besitze: Während die Sowjetunion die andere Weltmacht nur mit ihren global-strategischen Waffen erreichen könne, verfüge diese, wenn sie die Sowjetunion nuklearstrategisch treffen wolle, sowohl über ihre im eigenen Land stationierten global-strategischen Träger als auch über die in Westeuropa und Ostasien „vorne stationierten [Nuklear-Systeme" (FBS). Anders als die UdSSR hätten also die Vereinigten Staaten zwei verschiedene Instrumentarien zur Hand, wenn sie gegen die andere Weltmacht einen nuklearstrategischen Schlag führen wollten.
Aus dieser Argumentation leitet die sowjetische Seite als praktische Folgerung ab, daß die beiden Weltmächte nur dann in einem Verhältnis „gleicher Sicherheit" (Parität) zueinander stünden, wenn entweder die FBS beseitigt würden oder das global-strategische Potential und die FBS auf amerikanischer Seite zusammen gegen allein das global-strategische Potential der UdSSR aufgerechnet würden. In dieser Sicht muß, wenn bei SALT eine Parität der beiderseitigen global-strategischen Kapazitäten vereinbart wird, Washington auf den einseitigen Vorteil verzichten, der ihm mit der Existenz der amerikanischen FBS an der sowjetischen Peripherie bislang zugefallen ist. Moskau dagegen hat dieser Vorstellung zufolge keinen Grund, auf seine kontinental-strategischen Potentiale in Europa und in Ostasien zu verzichten, weil sich diese ja nicht gegen amerikanisches Territorium, sondern gegen Westeuropa bzw. China und evtl, auch gegen Japan richten.
Die sowjetischen Vorschläge bei MBFR lassen die Tendenz erkennen, das nukleare Element der westlichen Verteidigung (das vor allem der Abschreckung mittels Eskalationsandrohung dient) so weit wie möglich auszuschalten. Insbesondere aber haben die sowjetischen Unterhändler bei SALT I und II auf eine einseitige Beschränkung und möglichst Beseitigung der kontinental-strategischen Waffen im Westen gedrungen. Der Grundsatz, daß ein Verhältnis gleicher militärischer Stärke auf strategischer Ebene hergestellt werden müsse, wurde allein auf die global-strategischen Waf-B fensysteme beider Seiten bezogen; die Frage der FBS wurde ausgeklammert Die Amerikaner haben freilich im Verlauf der SALT-II-Verhandlungen einige Ausnahmen von diesem Prinzip akzeptiert: 1. Die sowjetische Seite erreichte, daß die dem NATO-Oberkommandierenden zugeordneten „Poseidon" -Kernwaffenträger (die grundsätzlich sowohl eine global-strategische als auch eine eurostrategische Funktion erfüllen können, aber für letztere vorgesehen sind) der global-strategischen Balance zugerechnet wurden und damit unter die SALT-Begrenzung fallen. 2. Umgekehrt blieb der schwere sowjetische Nuklearbomber „Backfire“, der unter bestimmten Voraussetzungen global-strategische Missionen ausführen kann, entgegen amerikanischem Verlangen außerhalb der SALT-Beschränkungen. 3. Die Amerikaner fanden sich im SALT-Protokoll zu einer einseitigen Reichweitenbegrenzung ihres Marschflugkörper-Waffensystems auf 600 km — also bis unter die kontinental-strategische Mittelstreckenschwelle von 1 000 km — bereit. Diese Regelung wurde zwar zeitlich auf Ende 1981 begrenzt, muß aber als Präjudiz gelten. 4. Schließlich kam es zu einer Nicht-Umgehungs-Verpflichtung in dem Sinne, daß keine zusätzlichen strategischen Kapazitäten außerhalb des Geltungsbereichs von SALT aufgebaut werden sollen, mit denen eine Seite die andere bedrohen könne. Das bezieht sich der Natur der Sache nach allein auf die gegen sowjetisches Gebiet gerichteten kontinental-strategischen Systeme der USA in Europa und Ostasien, denn die UdSSR besitzt keine entsprechenden Systeme, die Ziele auf amerikanischem Boden bedrohen könnten, überdies wurde die Regelung von den sowjetischen Unterhändlern in der erklärten Absicht durchgesetzt, daß eine Umgehung der SALT-Beschränkungen durch die andere Seite ausgeschlossen werden müsse.
Die sowjetische Führung zog aus dem Verhandlungsergebnis verschiedene Schlüsse. Die amerikanische Regierung schien demnach generell zu einem allmählichen Abbau der FBS bereit zu sein. Sie hatte sich nach dieser Ansicht darüber hinaus bindend dazu verpflichtet, dauernd auf die Stationierung von land-und seegestützten Marschflugkörpern kontinental-strategischer Reichweite zu verzichten. Aus Moskauer Sicht hat dies als eine grundsätzliche Festlegung zu gelten. Die fixierte zeitliche Begrenzung besagt demzufolge lediglich, daß die künftigen konkreten Einzelheiten noch ausgehandelt werden müssen Schließlich haben sich die USA nach sowjetischem Urteil einseitig des Rechts begeben, ihre kontinental-strategischen Rüstungen zu verstärken. Sie dürfen daher auch dann, wenn die UdSSR ihre — ja nicht gegen die andere Weltmacht gerichteten — eurostrategischen Kapazitäten ausbaut, nicht mit gleichem Vorgehen antworten (was ja in ihrem Fall gegen die andere Weltmacht zielen würde). Gemäß diesen Vorstellungen ist die UdSSR ohne weiteres zu ihrer SS-20-Rüstung berechtigt und braucht dafür nicht das Risiko einer amerikanisch-atlantischen Gegenrüstung zu befürchten. Das sowjetische Konzept, nach dem es nur ein einziges strategisches Kräfteverhältnis zwischen beiden Weltmächten gibt und die Amerikaner abseits davon keine kontinental-strategischen Kapazitäten zum Schutz Westeuropas und Japans gegen die keiner Beschränkung unterliegenden Kapazitäten der UdSSR bereithalten dürfen, hat eine sicherheitspolitische Entblößung für die regionalen Verbündeten der USA zur Konsequenz. Da weder die Westeuropäer noch die Japaner ein ausreichendes nuklearstrategisches Gegengewicht zur UdSSR besitzen und zugleich kein Recht auf einen regional dislozierten amerikanischen Kernwaffenschutzschirm haben sollen, steht es demnach der sowjetischen Seite frei, überlegene strategische Macht gegenüber den Verbündeten der USA zur Geltung zu bringen. Die Vereinigten Staaten können dagegen nur ihre global-strategischen Kapazitäten setzen, die freilich bereits durch ein gleich starkes sowjetisches Potential in diesem Bereich abgedeckt sind.
Die Bundesgenossen der Amerikaner lägen demnach zwar nicht notwendigerweise außerhalb des nuklearstrategischen Abschrekkungsschirms der USA, aber es entstünden doch Defizite, die problematisch werden könnten. Die Vereinigten Staaten müßten ihre Verbündeten mit einem Nuklearschirm abzudek-ken versuchen, der in jedem Krisenfall, der nicht ausschließlich die beiden Weltmächte beträfe, von vornherein schwächer wäre als derjenige des sowjetischen Gegners. Sobald sich nämlich die potentielle militärische Auseinandersetzung nicht nur auf der global-strategischen Ebene, sondern auch auf einem regionalen Schauplatz abspielt (was bei einer Erstreckung des Abschreckungsschutzes auf bedrohte Verbündete unweigerlich der Fall wäre), zählt die Relation zwischen den kombinierten global-strategischen und den kontinental-strategischen Kapazitäten auf beiden Seiten: Die Gesamtheit der für den Schutz des potentiell bedrohten Gebietes — und das ist grundsätzlich die gesamte Sicherheitsgemeinschaft eines Bündnissystems — verfügbaren strategischen Waffen steht der Gesamtheit der strategischen Waffen gegenüber, die der Bedroher in der Hand hat.
Noch entscheidender als das gesamtstrategische Kräfteverhältnis ist die Existenz oder Nicht-Existenz einer realen sicherheitspolitischen Kopplung zwischen den USA und ihren Verbündeten in Westeuropa und Ostasien: Der Abschreckungsschutz, der eine kriegerische Initiative gegen die Vereinigten Staaten zu verhindern bestimmt ist, und der Abschrekkungsschutz, der Pression und Angriff gegen die Bundesgenossen verhüten soll, darf nicht auseinanderdividierbar sein, wenn die mittleren und-kleineren westlichen Staaten vor Herausforderungen ihrer und Eigenständigkeit Sicherheit bewahrt bleiben sollen und wenn die USA nicht in eine ihre Weltgeltung zerstörende Isolierung geraten sollen. Einer derartigen Gefahr zu wehren, beansprucht die allerhöchste Priorität: Andernfalls könnte die UdSSR Übergewichte, die auf regionalen Schauplätzen entstanden sind und die sich weiterhin herausbilden, zu einem Aufrollen der amerikanischen Weltmachtposition benutzen. Soweit die Verbündeten der USA gegenüber der UdSSR allein auf sich gestellt sind und nicht mit einem Engagement des amerikanischen Gegengewichts rechnen können, könnte sich Moskau von Aktionen systematischer Pression, eventuell auch begrenzten Angriffs, Erfolg versprechen. Auf diese Weise entstünde die Option, daß die sowjetische Seite allmählich und unmerklich die Pfeiler des amerikanischen Bündnissystems ins Wanken bringen könnte, bis die USA schließlich von den regionalen Schauplätzen des Ost-West-Gegensatzes verdrängt wären.
Wenn sich die USA und die NATO gegen die UdSSR behaupten wollen, müssen sie vor allem anderen die Positionen auf den regionalen Schauplätzen politisch und militärisch sichern. Das ist noch wichtiger als die Wahrung eines hundertprozentigen Gleichstandes bei jedem Aspekt des global-strategischen Kräfte-verhältnisses: Der Krieg auf der global-strategischen Ebene gilt wegen der Größe des auch im günstigsten Falle damit verbundenen Risikos beiden Seiten als eine grundsätzlich nicht anzustrebende Eventualität; ein Waffenkonflikt und insbesondere eine Pressionsstrategie in regionalem Rahmen dagegen erscheinen unter bestimmten Umständen vorstellbar.
Nach westlicher Ansicht dient es der Kriegs-verhütung und der Friedenssicherung gleichermaßen, wenn alle regionalen Unsicherheiten und Instabilitäten im militärischem Ost-West-Verhältnis von vornherein ausgeschlossen sind. Die NATO kann daher den sowjetischen Standpunkt, daß der Grundsatz „gleicher Sicherheit" nur bilateral auf die Beziehungen zwischen den beiden Weltmächten zu erstrecken sei, nicht hinnehmen. Statt dessen fordert sie, daß sich die Parität auf die beiden Gesamtbereiche erstrecken muß, um deren Sicherheit es geht, nämlich einerseits auf das ganze Bündnissystem der USA und andererseits auf das ganze Bündnissystem der UdSSR. Nur wenn diesem Verlangen entsprochen wird, läßt sich vermeiden, daß zwischen den beiden Weltmächten Zwischenzonen einseitig verminderter Sicherheit entstehen, deren unklare Lage zu krisen-und kriegsträchtigen Mißverständnissen und Verwicklungen Anlaß geben könnte.
V. Der Nachrüstungsbeschluß und das Verhandlungsangebot der NATO vom Dezember 1979
Angesichts des schwindenden global-strategischen Rüstungsvorsprungs der USA und der zunehmenden eurostrategischen Überlegenheit der UdSSR sahen führende Politiker Westeuropas seit Mitte der siebziger Jahre, vor allem aber seit der 1976 beginnenden Stationierung der SS-20, eine immer gebieterischere Notwendigkeit, dem nuklearstrategischen Kräfteverhältnis in Europa Aufmerksamkeit zu widmen und den sich abzeichnenden Entwicklungstendenzen entgegenzuwirken. Die erste sichtbare Folge war, daß seit 1977 eine Studiengruppe der NATO Vorschläge der Abhilfe ausarbeitete. Die nordatlantischen Sachverständigen kamen zu dem Schluß, man müsse das sich laufend verstärkende eurostrategische Übergewicht der Sowjetunion verringern.
Dafür gab es grundsätzlich zwei Möglichkeiten. Zum einen konnte man sich zu eurostrategischer Rüstung entschließen, die den Rückstand wenigstens teilweise aufholte. Zum anderen ließ sich an eine Verringerung der allzu sehr überhöhten sowjetischen Kapazitäten denken. Es ging freilich nicht nur um ein quantitatives Nachziehen. Ein qualitativer Aspekt kam hinzu: „Backfire" und SS-20 sollten entweder von der Bildfläche verschwinden oder aber durch Waffensysteme auf gleichem Niveau gekontert werden. Von vornherein war ein sowjetischer Totalverzicht auf die beiden fortgeschrittenen eurostrategischen Träger, die in der UdSSR disloziert wurden, höchst unwahrscheinlich. Daher kamen die NATO-Experten überein, der Sowjetunion lediglich eine Verringerung ihrer beiden neuen Systeme vorzuschlagen und dafür dann auch nur eine Einschränkung der eigenen Nachrüstungspläne — nicht aber einen völligen Verzicht auf diese — anzubieten.
Die eurostrategischen Waffen der NATO, die dem „Backfire" und der SS-20 Paroli bieten sollten, mußten nach den Überlegungen der beratenden Sachverständigen im Vergleich zu den bisher in Westeuropa stationierten nuklearen Trägern vor allem eine größere Reichweite haben und den Einwirkungen von Seiten der östlichen Luftabwehr wie der sowjetischen Offensivraketen weniger ausgesetzt sein. Ungeachtet der NATO-Überlegungen wurde in den westlichen Hauptstädten verschiedentlich die Bereitschaft zu einem Totalverzicht auf eurostrategische Nachrüstung sichtbar für den Fall, daß die UdSSR die Stationierung ihrer SS20 stoppen sollte.
Am 6. Oktober 1979 äußerte Generalsekretär Breschnew die Bereitschaft, über eine Beschränkung oder sogar eine Verringerung der sowjetischen Systeme zu verhandeln. Voraussetzung dafür sollte allerdings ein vorheriger Verzicht der NATO auf der Stationierung neuer Träger sein Die westliche Seite sollte somit nichts tun, während die Sowjetunion keine Verpflichtung zu einem Dislozierungsstopp für „Backfire" und SS-20 auf sich nahm. Bundeskanzler Schmidt nannte die Asymmetrie beim Namen, als er die sowjetischen Führer dazu aufforderte, mit ihrer eurostrategischen Rüstung Schluß zu machen, um die vorgeschlagenen Verhandlungen über einen westlichen Nachrüstungsverzicht zu erleichtern. Hätte Moskau dieser Initiative Folge geleistet, dann wäre Breschnews Verhandlungsangebot vom 6. Oktober 1979 aller Voraussicht nach unwiderstehlich geworden und hätte den geplanten westlichen Nachrüstungsbeschluß verhindert.
Die Verantwortlichen in Moskau drangen mit wachsender Härte auf Verhandlungen, bei denen der Westen vorher einseitig auf eurostrategisches Rüstungsverhalten verzichten sollte. Die Formulierung des Breschnew-Anerbietens hatte die Interpretation offengelassen, daß die sowjetische Seite lediglich einen Stationierungsbeginn auf westlicher Seite, nicht aber schon den vorausgehenden Eventualbeschluß als ein die Verhandlungsmöglichkeiten zerstörendes Hindernis betrachten werde. Da die vorgesehenen westlichen Systeme ohnehin nicht vor Ende 1982 dislozierungsbereit waren, ließ sich demzufolge daran denken, daß die NATO zwar den Nachrüstungsbeschluß für alle Fälle faßte und in der dann noch bis zum Beginn der Stationierung verbleibenden Zeit Verhandlungen über eine eurostrategische Rüstungskontrolle mit der UdSSR suchte.
Außenminister Gromyko machte nunmehr am 23. November 1979 auf einer Pressekonferenz in Bonn deutlich, daß seine Regierung den westlichen Verzicht auf den vorgesehenen Nachrüstungsbeschluß als Vorbedingung für Gespräche über eurostrategische Begrenzungen ansah Damit freilich erweckte er in den westlichen Hauptstädten noch mehr als zuvor den Eindruck, daß die NATO-Staaten unter Druck verhandeln sollten: Das nordatlantische Bündnis, so schien es, sollte sich durch den laufenden Aufwuchs an SS-20 und „Backfire" in der UdSSR zur Eile und Nachgiebigkeit angespornt sehen, während die sowjetische Seite zunächst einmal das westliche Handeln abgeblockt hatte und daher getrost zuwarten, ja sogar verzögern konnte.
Die westlichen Regierungen waren nicht willens, sich ein einseitiges Interesse an dem Zustandekommen eines Verhandlungsergebnisses auflasten zu lassen. Nach den Äußerungen von Gromyko waren sie mehr denn je der Ansicht, daß nur ein Gegendruck, der von einer bereits beschlossenen und damit herannahenden eurostrategischen Nachgrüstung der NATO ausgehe, die sowjetische Führung zu ernstlichen Rüstungsverzichten veranlassen könne. Nur wenn Moskau allein von Zugeständnissen hinsichtlich der SS-20 und des „Backfire" eine Abschwächung der geplanten westlichen Rüstungsmaßnahmen zu erwarten habe, werde es sich zu einem substantiellen Entgegenkommen gegenüber den westlichen Vorstellungen bereit finden.
Diese Erwägungen liegen dem Doppelbeschluß der NATO vom 12. Dezember 1979 wesentlich zugrunde. Danach sollen 108 Abschußvorrichtungen für „Pershing II" -Raketen mit einer Reichweite von rund 1 800 km und 464 landgestützte Marschflugkörper mit einer Reichweite von rund 2 500 km, versehen mit jeweils einem Kernsprengkopf, in Großbritannien, in den Niederlanden, in Belgien, in der Bundesrepublik Deutschland und in Italien stationiert werden. Zugleich wurden der UdSSR Verhandlungen über eine Verringerung dieser Systeme angeboten. Das Ausmaß der westlichen Abstriche soll sich dabei nach dem richten, was die andere Seite als Beschränkungen bei ihren SS-20 und „Backfire" auf sich zu nehmen bereit ist.
Die Autoren des Beschlusses suchten sorgfältig den Eindruck einer ungebremsten Aufrü-* stung zu vermeiden, um bei der UdSSR kein Gefühl der Bedrohung aufkommen zu lassen. Daher begnügte sich die NATO mit einer Gesamtzahl von 572 eurostrategischen Systemen, obwohl die Militärplaner anfänglich das Dreifache als erforderlich bezeichnet hatten. Im Unterschied zur SS-20 sollen bei eurostrategischen Waffen des westlichen Bündnisses keine Mehrfachsprengköpfe erhalten. Bewußt wurde ein begrenztes Maß an Unterlegenheit gegenüber dem eurostrategischen Rüstungsziel der UdSSR einkalkuliert. Das sollte nicht nur Zurückhaltung gegenüber dem potentiellen Gegner, sondern auch den Verzicht auf ein eigenständiges eurostrategisches Gleichgewicht (das der Kopplung an das global-strategische Kräfteverhältnis zwischen den beiden Weltmächten nicht länger bedürftig hätte erscheinen können) signalisieren. Das Bestreben, eine deutliche, allseits erkennbare Kopplung zwischen westeuropäischer und amerikanischer Sicherheit herzustellen, war ein entscheidendes Motiv für die Urheber des NATO-Beschlusses.
Besondere Aufmerksamkeit wandten die Führer der NATO dem Gesichtspunkt zu, daß die geplanten eurostrategischen Systeme aufgrund ihrer Merkmale in Moskau nicht die Sorge vor einer eurostrategischen Erstschlagsfähigkeit des Westens wecken sollten. Daher wurden überwiegend Marschflugkörper vorgesehen, die, weil sie mehrere Stunden vom Abschuß bis zum Eintreffen im Zielgebiet benötigen, im Falle eines Erstschlags der sowjetischen Führung genügend Zeit zur Auslösung eines Vergeltungsschlages geben würden. Ihre Reichweite wurde bewußt auf Gebiete diesseits des Urals begrenzt, so daß die sowjetischen Raketenstellungen zum allergrößten Teil außerhalb ihrer Reichweite liegen. Als Waffen des zweiten Schlages, der in der NATO als einzig denkbarer Einsatzfall gilt, sind die Marschflugkörper freilich sehr effektiv: Sie sind für die gegnerische Abwehr schwer zu orten und können daher die gegnerische Luftverteidigung gut unterlaufen. Die Reichweite der „Pershing II" wurde noch stärker, nämlich auf 1 800 km, begrenzt und damit auf das Vorfeld der sowjetischen Hauptstadt beschränkt. Das bedeutet zugleich, daß dieses System die durchweg weiter östlich gelegenen sowjetischen Raketenstellungen nicht angreifen kann. Es ist damit ebenfalls für Erstschlagzwecke ungeeignet. Damit wurde zugleich Rücksicht genommen auf die erklärte sowjetische Sorge, die USA könnten, weil sie auf der eurostrategischen Ebene keinem Gegenschlag der Sowjetunion ausgesetzt seien, sich vielleicht unter irgendwelchen Bedingungen zu einem nuklearen Erstschlag gegen die UdSSR von Westeuropa aus entschließen. Mag diese Möglichkeit schon darum abwegig erscheinen, weil ein nuklearstrategischer Krieg kaum auf Europa beschränkt bleiben dürfte und weil die Amerikaner gar nicht über die Gefechtsfeld-Streitkräfte zur anschließenden Eroberung einer geschwächten Sowjetunion verfügen, so hielt die NATO es doch für zweckmäßig, ein deutliches Zeichen der Zurückhaltung in dieser Hinsicht zu setzen: Eurostrategische Schläge gegen nukleare Punktziele in der UdSSR sollten von westeuropäischem Boden aus von vornherein undenkbar sein.
Wenn die Abdeckung sowjetischer Raketen-stellungen global-wie eurostrategischer Art nach wie vor durch die global-strategischen Kapazitäten der USA erfolgen soll, dann stellt sich die Frage, welchem anderen Zweck die eurostrategische Nachrüstung der NATO dienen soll. Die atlantischen Überlegungen waren zum einen politischer Art. Der Sowjetunion soll demonstriert werden, daß ihre eurostrategische Aufrüstung nicht ungekontert bleibt. Weiterhin soll die UdSSR für den Fall, daß sie einen Angriff auf Westeuropa erwägen sollte, mit der Notwendigkeit eines so massiven nuklearmilitärischen Einsatzes konfrontiert werden, daß sie kaum noch mit der Möglichkeit rechnen kann, die Eskalation in den global-strategischen Zusammenstoß vermeiden zu können. Das läuft auf eine Erhöhung des politischen Risikos hinaus, mit dem die Sowjetunion bei einem Angriff auf dem europäischen Schauplatz zu rechnen hätte: Eine Abkopplung Westeuropas von den Vereinigten Staaten würde um so unwahrscheinlicher, je höher die militärische Ebene des sowjetischen Vorgehens wäre; zudem würde auf diese Weise eine Schonung Frankreichs und Großbritanniens kaum praktikabel sein, was deren gegen die sowjetischen Städte gerichteten nuklearen Vergeltungspotentiale ins Spiel brächte.
Zum anderen wurde der NATO-Beschluß durch militärische Gesichtspunkte bestimmt. Der Sowjetunion soll die Option eines Kernwaffenerstschlags gegen Westeuropa verwehrt sein, der nur gegen ausgewählte Ziele gerichtet würde und so der Vorbereitung eines folgenden östlichen Truppenvorstoßes dienen könnte. Wenn die sowjetische Führung gezwungen ist, zu einer — und dann auch nur teilweise möglichen — Ausschaltung der eurostrategischen Kapazitäten in Westeuropa flächendeckend mit nuklearen Mitteln zuzuschlagen, dann beraubt sie sich damit zugleich für lange Zeit der Möglichkeit eines anschließenden Vormarsches nach Westen. Schließlich hat die eurostrategische Nachrüstung den Sinn, das Streitkräftedefizit der NATO in Europa wenigstens zu einem Teil auszugleichen: Sie gestattet Schläge gegen die rückwärtigen Verbindungen und militärischen Einrichtungen des Warschauer Pakts, die einem sowjetischen Truppenangriff gegen die westliche Verteidigung in Europa Rückhalt geben
Die sowjetische Führung lehnte das in dem NATO-Beschluß enthaltene Verhandlungsangebot ab. Der Grund dafür waren nicht etwa Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Offerte. Vielmehr lassen die Moskauer Kommentare als Motiv erkennen, daß die NATO nach sowjetischer Ansicht zu viel für zu wenig forderte und daß man sich Hoffnung auf ein Scheitern des Nachrüstungsvorhabens an innerwestlichen Widerständen machte Die Leiter der sowjetischen Außenpolitik wurden, je mehr Zeit verging, um so stärker von der Furcht erfaßt, daß sie das Gegenteil des Gewünschten erreichen könnten, wenn sie die im Herbst 1979 formulierte Vorbedingung aufrechterhielten und unter Hinweis darauf jegliche Verhandlungen ablehnten. Daher erklärte sich Generalsekretär Breschnew gegenüber Bundeskanzler Schmidt während dessen Moskau-Besuch Mitte 1980 bereit, auch unter anderen als den bisher genannten Voraussetzungen zu verhandeln. Allerdings sollte, wenn der NATO-Nachrüstungsbeschluß vorher nicht widerrufen würde, der Kreis der westlichen Verhandlungsgegenstände auf die gesamten FBS der USA ausgeweitet werden. Zugleich blieb offen, inwieweit die UdSSR ihr eurostra-tegisches Arsenal ebenfalls zur Disposition stellen würde Auf dieser Grundlage kam es Ende Oktober 1980 zu ersten amerikanisch-so-wjetischen Vorauskonsultationen, die zunächst einmal die zu verhandelnden Themen festlegen sollen.
VI. Konzeptionelle Überlegungen zur Sicherheits-und Friedenspolitik
Seit einigen Jahren werden in der amerikanischen Öffentlichkeit die Grundgedanken der Rüstungskontrolle prinzipiell in Frage gestellt. Im Mittelpunkt der Diskussion steht das Verhältnis von Abschreckung und Verteidigung. Nach dem Rüstungskontrollansatz haben die Kernwaffen als politische Waffen zu gelten: Ihr Potential zu sofortiger massiver Vergeltung und zu einem Zuschlägen ohne gleichzeitigen Sieg (weil die Verkrüppelung der gegnerischen Gesellschaft nicht ohne die gleichzeitige Verkrüppelung der eigenen Gesellschaft möglich ist) läßt einen Einsatz allein zur Abschreckung gegnerischer Gewaltdrohung, nicht aber zur Durchsetzung offensiver Machtambitionen zu. Die Abschreckung beruht demnach auf der Fähigkeit beider Seiten, sich im Kriegsfall wechselseitig mit unerträglicher Vergeltung („Bestrafung") zu bedrohen. Ein solcher Krieg kann für niemanden sinnvoll sein.
Das daraus erwachsende „Gleichgewicht" liegt darin, daß keine Seite über militärische Optionen verfügt, die nicht durch gleichartige militärische Optionen der anderen Seite gekontert und damit blockiert würden. Militärische Macht wird durch militärische Gegenmacht unanwendbar gemacht.
Der wunde Punkt ist, daß die Sicherheit aufhört, falls die Abschreckung versagen sollte. Es gibt dann kaum noch eine Überlebensaussicht: Die Gewähr für die Wirksamkeit der kriegsverhütenden Abschreckung ergibt sich ja gerade daraus, daß der Krieg eine für die beteiligten Seiten total unannehmbare Perspektive darstellt. Sicherheit — und zwar eine ge-* meinsame Sicherheit beider Seiten vor einer gemeinsam drohenden Kriegsgefahr — soll entstehen, indem die Anwendung, die Androhung oder die Manifestation militärischer Gewalt, wie sie die jeweils andere Seite versuchen könnte, mit einem unannehmbaren Ausmaß an vergeltender Zerstörung beantwortet wird.
Aus dem Umstand, daß beide Seiten über gleiche Optionen verfügen und gleichermaßen Sicherheit beanspruchen, folgt notwendigerweise eine Wechselseitigkeit dieser kriegs-verhütenden Abschreckung, d. h., das unannehmbare Ausmaß an Zerstörung auf der anderen Seite geht einher mit einem ebenso unannehmbaren Ausmaß an Zerstörung auf der eigenen Seite. In dieser wechselseitigen Schutzlosigkeit für den Fall eines Krieges liegt die entscheidende Gewähr dafür, daß keine Seite ihr Zerstörungspotential offensiv zu Druckausübung und Gewaltanwendung mißbrauchen kann. Das bedeutet zugleich, daß sich die militärische Gegnerschaft in eine sicherheitspolitische Partnerschaft verwandeln kann, die ein dauerhaftes Einvernehmen ermöglicht: Nicht die antagonistische Sicherheit der Vorteilssuche gegenüber dem potentiellen Kriegsgegner, sondern die partizipatorische Sicherheit gemeinsamer Vorkehrungen gegen die Kriegsgefahr soll die Beziehungen bestimmen. Es widerstrebt menschlicher Gewohnheit, allein auf eine Existenzgrundlage zu bauen, deren Zerstörung nicht restlos auszuschließen ist und katastrophal wäre. Soll, ja darf der Frieden auf die Eventualität der physischen Vernichtung und Selbstvernichtung gegründet werden? Muß nicht für ein „Auffangnetz" gesorgt werden für den Fall, daß die kriegsverhütende Abschreckung einmal unwirksam sein sollte? Ist eine Abschreckung für die andere Seite glaubwürdig, wenn ihr keine Aussicht auf überlebenssichernde Verteidigung zugeordnet ist, oder macht sie nicht vielmehr den Entschluß zur Kapitulation unausweichlich, falls der Gegner seine Risiken mißachtet und die eigene Seite vor die Wahl zwischen Untergang und Unterwerfung stellen sollte?
In der amerikanischen Öffentlichkeit haben diese sozusagen ewigen Zweifel gegenwärtig besonderes Gewicht erhalten. Die weitverbreitete Enttäuschung darüber, daß die — freilich nie ganz konsequent verfolgte — eigene Politik der Rüstungskontrolle dem Anschein nach nicht zu mehr, sondern zu weniger Sicherheit geführt hat, wirkt sich aus. Es ist auch zunehmend ins allgemeine Bewußtsein getreten, daß die sowjetische Führung bisher nicht daran gedacht hat, das Konzept bloßer Abschreckung zur Basis ihrer Sicherheitspolitik zu machen, vielmehr deutlich bemüht ist, sich die Option des Rückgriffs auf eine überlebenssichernde Verteidigung zu erhalten Damit, so scheint es, ensteht eine Ungleichheit der militärischen Optionen, die eine Gefahr für die Sicherheit der USA und ihrer Verbündeten darstellt. Auf dem Hintergrund des um sich greifenden Empfindens, daß die UdSSR in globalem Maßstab eine ebenso gewalthafte wie expansive Politik treibe, findet diese Sorge eine gesteigerte Resonanz.
Aus diesen Überlegungen werden in den USA praktische Schlüsse gezogen. Zum einen erscheint es notwendig, dem Enstehen von „Lükken" im global-strategischen Instrumentarium entgegenzuwirken. Insbesondere soll die UdSSR unter keinen Umständen eine Option des entwaffnenden nuklearen Erstschlags gegenüber der amerikanischen Kernstreitmacht oder einzelnen Teilen von ihr erhalten. Ein angestrengtes qualitatives Weiterrüsten im global-strategischen Bereich ist die Folge. Zum anderen geht es darum, für den Fall einer kriegerischen Herausforderung seitens der Sowjetunion Optionen der begrenzten militärischen Auseinandersetzung zu schaffen, die eine begrenzte Reaktion erlauben und so die Katastrophe des totalen Nuklearkrieges hinausschieben. Dahinter steht die Absicht, einer eventuellen Kriegsinitiative des sowjetischen Gegners so lange wie nur irgend möglich mit Zurückhaltung zu begegnen.
Seit Anfang der sechziger Jahre ist nach diesem Konzept der „flexiblen Erwiderung", das die Erfordernisse der Abschreckung mit denen der Verteidigung zu harmonisieren sucht, ein stärkerer Ausbau der konventionellen NATO-Verteidigung geboten; sie soll den möglichen sowjetischen Truppenangriff auf Westeuropa zunächst einmal auffangen können und so dem Gegner die vor ihm stehende Wahl zwischen einem Abbruch der Aggression und deren Fortsetzung unter dem Risiko der nuklearen Eskalation bewußtmachen. Die Direktive Nr. 59, die der amerikanische Präsident erlassen hat, erweitert die Möglichkeiten hierzu: Selbst wenn der Kriegsverlauf den Einsatz von global-strategischen Kernwaffen bereits gebieterisch fordern sollte, soll noch eine Zwischenstufe in Form von nuklearen Warnschlägen gegen Teile des sowjetischen Raketenarsenals eingeschaltet werden können, ehe die totale Katastrophe ausgelöst wird.
Für die europäischen Länder, vor allem für die Staaten Mitteleuropas, stellt sich die Frage des Überlebens im Kriegsfall anders als für die beiden Weltmächte. Für die USA wie für die UdSSR ist ein konventioneller Krieg, der außerhalb ihrer Grenzen ausgefochten wird, ein erträgliches Risiko, sofern sich eine geographische und waffenmäßige Ausweitung verhindern läßt. Sie könnten also, wenn es zuverlässig gelänge, eine militärische Ost-West-Auseinandersetzung in diesem Rahmen zu halten, einen mit konventionellen Truppen vorgetragenen Angriff denkbarerweise wieder zum Mittel ihrer Politik machen, das sie bewußt wählen und einsetzen. Optionen der begrenzten Kriegführung sind für denjenigen, der die militärische Aktion innerhalb dieser Grenzen als noch annehmbar betrachtet, grundsätzlich ein den Entschluß zum Krieg erleichternder Faktor. Das Versagen der kriegs-verhütenden Abschreckung ist daher um so wahrscheinlicher, je mehr die beiden über Krieg und Frieden im Ost-West-Verhältnis entscheidenden Weltmächte eine für sie akzeptable Alternative zum totalen Risiko erhalten. Würde aber der Krieg in Europa wieder führbar werden, wäre die physische Existenz der Länder in dieser Region bedroht: Auch ein „kleiner" konventioneller Krieg wäre angesichts der seitherigen Fortschritte in der Waf27 fentechnik für die hochindustrialisierten und dicht besiedelten Gebiete des europäischen Kontinents eine tödliche Gefahr. Die in der Region zwischen den beiden Weltmächten lebenden Europäer haben daher ein ungleich stärkeres natürliches Interesse daran, daß der begrenzte Krieg keine reale Alternative zur kriegsverhütenden Abschreckung wird. Für die europäische Zwischenregion kommt es darauf an, daß der Krieg zwischen Ost und West in jeder Form ausgeschlossen bleibt.
Diese Überlegungen führen zurück zu dem Konzept einer Abschreckung durch die wechselseitige Fähigkeit zu unerträglicher Vergeltung („Bestrafung"). Das unbedingte Kriegsverhütungsinteresse der europäischen Staaten ist freilich noch kein überzeugendes Argument, das die Zweifel an der Wirksamkeit dieses Konzepts ausräumen würde. Im Lichte des „gesunden Menschenverstands" will es jedenfalls einleuchtend erscheinen, daß die Aussicht auf wechselseitige global-strategische „Bestrafung" jede Initiative zu einem Ost-West-Krieg von vornherein mit einem Risiko belastet, das vernünftigerweise kaum gesucht werden kann — und zwar um so mehr, je weniger zeitweilig oder dauernd kriegsbegrenzende Stufungen eingebaut werden.
Das gilt auch dann, wenn eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß die gegnerische Vergeltungsmacht entweder nicht mehr wirksam werden kann oder aber politisch auszumanövrieren ist: Das Ausmaß der Gefahr, der sich der Angreifer im Falle verfehlter Kalkulationen oder unvorhergesehener Friktionen aussetzen würde, mahnt zur Rücksichtnahme auch auf kleine Unsicherheitsfaktoren. Denn es läßt sich ernstlich kein nuklearstrategischer Erstschlag vorstellen, der die Aussicht auf total sicheres Gelingen böte und daher das unvermeidliche Risiko des kollektiven physischen Selbstmords nicht mit sich brächte. Kann denn ein potentieller Aggressor das immer gegebene Risiko der nuklearen Eskalation vernachlässigen und sich damit der Gefahr einer totalen Katastrophe aussetzen?
Erwägungen dieser Art haben neuerdings auch amerikanische Autoren dazu veranlaßt, die von dem Konzept der „flexiblen Erwiderung" geforderte Kontrollierbarkeit eines begrenzten Ost-West-Krieges in Zweifel zu ziehen und dem Konzept der Abschreckung durch die Fähigkeit zu wechselseitiger „Bestrafung" eine sehr robuste Wirksamkeit zuzubilligen. Das Fazit lautet, daß selbst unterlegene strategische Abschreckungsstreitkräfte mit überaus großer Wahrscheinlichkeit noch Kriegsverhütung gewährleisten, solange die nukleare Vergeltungsfähigkeit in möglicherweise lebensgefährlicher Stärke fortbesteht
Das ist auch für den Nicht-Fachmann überzeugend, wenn man bedenkt, daß ein geringer Prozentsatz des für die Bekämpfung militärischer Punktziele angehäuften nuklearen „Overkills" genügen würde, um die Gesellschaft auf der jeweils anderen Seite weitgehend auszulöschen.
Die Erfahrungen seit dem Zweiten Weltkrieg deuten in die gleiche Richtung: Die sowjetische Kernwaffenmacht war zwar lange Zeit derjenigen der USA hoffnungslos unterlegen, doch reichten die begrenzten Zerstörungsmöglichkeiten Moskaus gegenüber Westeuropa aus, um den Amerikanern jede Ausnutzung der Krisen in der DDR 1953 und in Polen sowie Ungarn 1956 zu verwehren, obwohl das „Zurückrollen des Kommunismus"
und die „Befreiung Osteuropas" ausdrücklich zum Programm der Eisenhower-Dulles-Administration gehörten.
Das westliche Bündnis kann sich in global-strategischer Hinsicht einiges an Gelassenheit erlauben, weil ein bewußt initiierter sowjetischer Angriff, wenn er in Moskau je erwogen werden sollte, mit einem unvernünftig großen Risiko belastet wäre. Das bedeutet freilich nicht, daß es keine realen Herausforderungen für die westliche Sicherheit geben könnte. Die zunehmende Erosion der Entspannung, die Mitte der siebziger Jahre eingesetzt hat und 1979/80 zu ernsten Konsequenzen gediehen ist, droht die Mechanismen der Spannungsund Krisenvorbeugung zwischen Ost und West nicht allein in der Dritten Welt, sondern längerfristig auch in Europa in Mitleidenschaft zu ziehen. Selbst dann, wenn die potentielle Krisenlage auf die Dritte Welt beschränkt bliebe, kann sich ein dort entwikkelnder politischer und vielleicht sogar militärischer Ost-West-Zusammenstoß auch auf den europäischen Schauplatz auswirken und dort eine kritische Situation schaffen.
VII. Schlußfolgerungen
Die sowjetischen Vorstellungen über „gleiche Sicherheit" enthalten die Implikation, daß die UdSSR auf regionalen Schauplätzen ein militärisches Übergewicht erlangt, das sie bei hinreichender Vergrößerung ihres Vorteils und vor allem unter den Bedingungen einer sicherheitspolitischen Abkopplung der USA von ihren regionalen Verbündeten zur Ausdehnung ihres Einflusses und ihrer Macht ausnutzen könnte. Sollte es dahin kommen, daß die USA mit ihrem Abschreckungspotential nicht mehr alle gegen die Sicherheit ihrer Bundesgenossen denkbaren Herausforderungen mit abwehren könnten oder wollten, dann erhielte die andere Weltmacht die Option, von den regionalen Schauplätzen aus das amerikanische Bündnissystem allmählich aufzurollen und damit zugleich die Weltmachtstellung der USA zu zerstören. Amerikanische Äußerungen wie die von Kissinger in Brüssel vorgetragenen Überlegungen zeigen, daß diese Eventualität allmählich auch in Washington erkannt wird.
An diesem Punkt liegt gegenwärtig das entscheidende Sicherheitsproblem des Westens. Die praktische Folgerung aus dieser Erkenntnis lautet, daß nicht die global-strategische Ebene der zur Zeit vorrangige Kampfplatz in dem Ringen um „gleiche Sicherheit" von Ost und West ist. Wenn die USA hier unterhalb der vollen Parität bleiben sollten, entstehen dadurch kaum Optionen, welche die andere Seite nutzen könnte: Die ungeheuer großen, weiterhin untragbaren Risiken, die selbst ein vorausberechnet „siegreicher" global-strategischer Krieg für die überlegene Seite mit sich bringt, lassen eine Angriffsoption in diesem Bereich illusorisch erscheinen, selbst wenn theoretisch haarscharf eine Erstschlagsfähigkeit zu errechnen wäre. Die global-strategische Abschreckung ist also einigermaßen robust; sie gewährt, wo sie ins Spiel kommt, auch noch unter relativ ungünstig erscheinenden Umständen eine sehr große Sicherheit der Kriegsverhütung.
Was dagegen operativ interessant werden könnte, sind regionale Ungleichgewichte, die von dem global-strategischen Kräfteverhältnis unter Umständen abgekoppelt werden könnten. In dem gleichen Maße, wie für die beiden Weltmächte ein militärischer Konflikt in Europa oder Ostasien zu einem nicht mehr existenzbedrohenden Kriegsfall wird, weil genügend Sicherungen gegen eine Eskalation auf die global-strategische Ebene eingebaut erscheinen, könnte die sich regional überlegen fühlende Seite in der Gewißheit wiegen, daß sie sich offensive Herausforderungen erlauben könnte, ohne ein ernstliches Sicherheitsrisiko einzugehen. Jede Abkopplung der regionalen Abschreckung von der global-strategischen Abschreckung verringert unabhängig von den derzeitigen Absichten der Groß-mächte objektiv den Mechanismus der Kriegs-verhütung zugunsten von Optionen des offenen oder versteckten Gewaltgebrauchs. Die westlichen Überlegungen gehen dahin, daß eine Abkoppelung um so wahrscheinlicher ist, je weniger das regionale Ungleichgewicht noch erträgliches Ausmaß zu haben scheint: Der Einsatz der — mit der Perspektive allseitiger totaler Vernichtung verbundenen — global-strategischen Kapazitäten muß in einem angemessenen Verhältnis zur Herausforderung stehen, d. h., nicht jedes minimale Salamischeibchen darf schon eine massive Vergeltungsdrohung erfordern. Daher erscheint ein relatives (wenngleich unvollständiges) regionales Gleichgewicht notwendig. Im übrigen ist die Kopplung vor allem eine Frage des politischen Willens — eines Willens freilich, der durch die militärischen Gegebenheiten, namentlich durch eine organische Verbindung zwischen den Elementen regionaler und globaler Abschreckungssicherheit, unterstützt und konsolidiert werden muß. Nur von einer solchen Basis aus ist es sinnvoll, dann freilich völlig unerläßlich, nach Regelungen einvernehmlicher Sicherheit und krisendeeskalierender Stabilität mit der UdSSR und ihren Verbündeten zu suchen.