Dreißig Jahre Kulturpolitik der DDR im Spiegel ihrer Malerei
Karin Thomas
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Zusammenfassung
Seitdem die Malerei der DDR 1977 zum ersten Mal auf einer Documenta gezeigt wurde, ist das Interesse an ihr in der Bundesrepublik Deutschland und in den westlichen Ländern ständig gestiegen. Vor allem bewundert man die handwerkliche Brillanz der allegorischen Monumentalgemälde von Werner Tübke sowie die eindringliche Symbolik bei Wolfgang Mattheuer; und man ist angesichts der nicht immer leicht verständlichen westlichen Kunstszene sehr aufgeschlossen für die konkrete Inhaltlichkeit, die von der realistischen Malerei der DDR bereitgestellt wird. In der Tat ist die heutige DDR-Malerei mit ihrer stilistischen Vielfalt und thematischen Breite qualitativ weit entfernt von jener klischeehaften Propagandasprache des „Sozialistischen Realismus" der fünfziger Jahre, der nur geringes Interesse bei den westlichen Kunstkritikern fand. Die Verfasserin fragt daher nach den Gründen, die zu diesem Wandel im Erscheinungsbild der DDR-Malerei geführt haben. Dabei wird offenkundig, daß die einzelnen Phasen der Entwicklung in der DDR-Malerei vor dem jeweiligen kulturpolitischen Hintergrund zu interpretieren sind, der selbst einige Wandlungen seit den vierziger Jahren aufzuweisen hat. So war der herkuleshafte Klischeeheld in der Malerei der fünfziger Jahre ein Produkt der sogenannten Aufbauphase und der Kollektivierung von Industrie und Landwirtschaft; der technokratische Übermensch spiegelt jene fortschritts-und wissenschaftsgläubige Wirtschaftspolitik der DDR in den sechziger Jahren wider, die glaubte, mit Hilfe der Technologie den Kapitalismus überholen zu können, ohne ihn erst einholen zu müssen. Aber auch das vieldiskutierte Konfliktbild der siebziger Jahre, das die Probleme der heutigen DDR-Wirklichkeit nicht mehr verschweigt, sondern konkret benennt, versteht sich letztlich als ein politisches Erziehungsinstrument, denn sein kritischer Zeigefinger auf die Mängel des „real existierenden Sozialismus" in der DDR von heute impliziert immer auch die Perspektive einer positiven Korrektur. Daher bezeichnet die Autorin die Kausalverbindung zwischen Politik und Kunst über allen Wandel hinweg für drei Jahrzehnte DDR-Malerei als grundlegend, was Kunstwerke aus dem anderen Teil Deutschlands in ihrem bewußten parteipolitischen Bekenntnis grundsätzlich von westlicher Kunst unterscheidet. Deren Sinnverständnis bestimmt sich dagegen genau umgekehrt aus der ständigen kritischen Befragung ihrer eigenen Position und des jeweiligen gesellschaftlichen Umfeldes.
In den letzten Jahren hat sich die DDR-Malerei nach einer langen Phase der Abgrenzung mehr und mehr auf das Parkett der westlichen Kunstszene gewagt. So reservierte die weltweit renommierte Avantgardeschau der Bildenden Kunst, die Kasseler Documenta, der DDR-Malerei 1977 einen eigenen Raum für vier ihrer Repräsentanten. Das vielseitige Interesse, das dort dem Malerquartett Willi Sitte, Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer und Werner Tübke zuteil wurde, initiierte stattliche Ankäufe von Gemälden und grafischen Arbeiten dieser und weiterer DDR-Maler durch die Sammlung Ludwig, die wohl berühmteste und größte deutsche Privatsammlung internationaler Avantgarde.
Ludwig, der europäische Entdecker der grell-bunten Farbpalette von Pop Art und amerikanischem Fotorealismus, fand plötzlich in dem durch handwerkliche Technik und altmeisterliche Stilistik brillierenden Realismus eines Tübke-Gemäldes einen wohltuenden Kontrast zu der an Tafelbildern arm gewordenen Kunstszene des Westens, die sich mit ihren komplizierten Konzepten in Reaktion auf den Pop-Art-Boom immer hermetischer in einen Zirkel von eingeweihten Kunstkennern eingeschlossen hatte.
Abbildung 8
Wolfgang Mattheuer, Sisyphos behaut den Stein, 1973
Wolfgang Mattheuer, Sisyphos behaut den Stein, 1973
Durch diesen spektakulären Export von DDR-Gemälden in den Westen, ebenso aber auch durch zahlreiche Einzelausstellungen der oben genannten Vier in westeuropäischen Museen wurde der DDR-Malerei in den letzten Jahren jene Wirkung über die Grenzen des Ostblocks hinaus eröffnet, die sich Literatur und Musik schon lange Zeit vor ihr erobert hatten. Denken wir nur an die seit Jahren ohne Unterbrechung anhaltende publizistische Pflege von Schriftstellern wie Stefan Heym, Christa Wolf, Peter Hacks, Günter Kunert u. a. durch westdeutsche Verlage, oder an die Gastaufenthalte von Komponisten, Opern-regisseuren und Sängern ostdeutscher Prove-Auszugsweiser nienz an bundesrepublikanischen Opernhäusern. Man fragt sich daher heute — eben angesichts dieses kometenhaften Aufstiegs der DDR-Malerei in der Wahrnehmung westlicher Sammler und Kunstkritiker — nach den Gründen dieser Entwicklung, aber auch nach den Ursachen jener Abkapselung, die der Bildenden Kunst in der DDR bis zur Mitte der sechziger Jahre auferlegt war und die zu einer großen Unwissenheit in der Bundesrepublik wie auch im westlichen Ausland über den sogenannten „Sozialistischen Realismus im anderen Teil Deutschlands geführt hatte.
Die Beantwortung dieser Frage ist nur möglich, wenn man die Entwicklung der DDR-Malerei aus ihrer engen Verflechtung mit den kulturpolitischen Richtlinien und Wandlungen des anderen deutschen Staates verfolgt. Unser Blick auf die dreißigjährige Schaffensphase unter dem Vorzeichen des Sozialistischen Realismus muß allerdings in mancher Hinsicht offener sein, als es der kunstkritischen Rückschau der DDR-eigenen Vermittlungsorgane von Bildender Kunst möglich ist, wenn sie — wie dies mit der großangelegten Ausstellung „Weggefährten — Zeitgenossen" im Ost-Berliner Alten Museum jüngst in rund 600 Exponaten geschehen ist — ihre Kunstgeschichte resümiert.
Da die DDR-Kunstkritik in dieser Ausstellung bemüht ist, die frühe Nachkriegsphase mit den bekannten Malern der älteren Generation aus dem antifaschistischen Kampf sowie die stilistische Differenzierung ihres Realismus während der sechziger und siebziger Jahre in den Vordergrund zu rücken, muß es unsere Aufgabe sein, das kritische Auge vor den fünfziger Jahren nicht zu verschließen, die der DDR-Kunstkritiker Lothar Lang als „eine schwierige und komplizierte Zeit für die Entwicklung der Künste" entschuldigt -DabeiVorabdruck aus dem in diesen Tagen erscheinenden Buch der Verfasserin: „Malerei der DDR 1949— 1979", Dumont Buchverlag Köln. soll diese hoffentlich endgültig Vergangenheit gewordene Problemphase in der DDR-Malerei keineswegs ketzerisch in die Gegenwart zurückgeholt werden. Aber man darf sie auch nicht in ihren Auswirkungen verschweigen, denn sie verursachte letztlich jene erwähnte Isolation der DDR-Malerei.
Mit dem mangelnden Niveau des klischeehaften Sozialistischen Realismus aus den fünfziger und frühen sechziger Jahren begründete dann auch die westliche Kunstkritik ihre zwei Jahrzehnte dauernde vollständige Abwendung von östlichen Realismusformen. Was die kommunistischen Maler der DDR aus der älteren Generation wie Otto Nagel, Hans Grundig, Curt Querner und Wilhelm Lachnit mit ihrem expressiven Realismus der vierziger Jahre im Rückgriff auf den kritischen Realismus der Vorkriegszeit hervorbrachten, hätte allerdings seinerzeit eine angemessenere Würdigung durch die westliche Kunstkritik verdient. Aber der Westen hatte — und dies sei selbstkritisch gesagt — angesichts seiner Faszination durch den von Amerika und Frankreich übernommenen Subjektivismus tachistischer Abstraktion nur recht lieblose und sehr kurze Blicke für jene Künstler übrig, die aus der ASSO (Assoziation Revolutionärer Bildender Künstler Deutschlands, 1926 gegründet) hervorgegangen waren und sich zum „Sozialen Realismus" in der Tradition von Zille, Käthe Kollwitz und Barlach bekannten, bis ihnen die Kulturpolitik ab 1951 eine stilistische Ausrichtung nach dem Vorbild des sowjetrussischen Sozialistischen Realismus abverlangte. Die Entwicklung der DDR-Malerei beginnt somit nicht erst mit den von unserer Seite so viel geschmähten kulturpolitischen Richtlinien der frühen fünfziger Jahre, sondern mit dem Jahrfünft von 1945 bis 1949. In dieser Zeit gab es 1946 die „Allgemeine Deutsche Kunstausstellung" in Dresden, der das große Verdienst zukommt, so etwas wie eine erste Inventur der in der inneren und äußeren Emigration entstandenen Werke aus dem großen Künstler-kreis der „Entarteten" nach dem Krieg erbracht zu haben. Zu ihren Organisatoren gehörten der ASSO-Maler Hans Grundig sowie der Kunstwissenschaftler Will Grohmann, der einige Jahre später zum bedeutendsten Kenner der internationalen Avantgarde in der Bundesrepublik wurde. Die Ausstellung war möglich, weil der schon im Juli 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone gegründete „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands" zunächst keine Anzeichen parteilicher Reglementierung aufwies und sogar ein Refugium nichtkommunistischer künstlerischer Intelligenz war.
Die überraschend große Liberalität der Kunst-politik im östlichen Deutschland während der ersten Nachkriegsphase ist in der Tatsache begründet, daß die von der sowjetrussischen Besatzungsmacht angestrebte Angleichung aller sozialen Ordnungsgefüge an das eigene Vorbild die Prioritäten im Kulturbereich zunächst zugunsten von Schule und Bildungspolitik als wirksame Instrumentarien der Erziehung setzte und der Kunstpolitik nur untergeordnete Bedeutung zumaß. Erst auf der „Ersten Zentralen Kulturtagung der Sozialistischen Einheitspartei" im Mai 1948 wurde mit Nachdruck auf das sowjetische Kunstvorbild hingewiesen und dessen Kopierung in Stil und Inhalt den ostdeutschen Künstlern abverlangt.
Es sollte dann noch bis in die zweite Hälfte des Jahres 1951 dauern, bis die Partei ihre „Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten"
zu einem wirksamen Kontrollorgan der gesamten Kunstszene ausgebaut und damit jene starren Prinzipien des Sozialistischen Realismus durchgesetzt hatte, die der Bildhauer Fritz Cremer 13 Jahre später, auf dem 5. Kongreß des Verbandes Bildender Künstler im März 1964, als den „dogmatischen Teufel" der Kunst verurteilen sollte
In der Zwischenzeit hatte die Bildende Kunst in der damaligen SBZ eine kurze, aber an fruchtbaren Neuansätzen reiche Schaffensperiode erlebt, auf die die DDR-Malerei der siebziger Jahre mit Stolz zurückblickt und von der sie stilistische Anregungen bezieht. Daß die heutige DDR-Kunstkritik an die Liquidierung ihrer relativ liberalen Frühphase nicht mehr gern erinnert sein will, mag die selektierende Methode erklären, mit der Lothar Lang in seiner 1978 erschienenen „Malerei und Graphik in der DDR“ unter punktuellen Auslassungen die Entwicklung der DDR-Malerei rekonstru-iert und mit der die Ausstellung „Weggefährten — Zeitgenossen" gegen Ende des Jahres 1979 die Bilanz der Bildenden Kunst aus 30 Jahren DDR zog. Unsere Aufgabe ist es daher, neben den unbestrittenen Meisterleistungen eines Tübke oder Mattheuer die stilistischen und thematischen Tiefpunkte der Zeit nach 1950 nicht zu verschweigen. In der ASSO-Tra-dition ihrer Frühphase hatte die DDR-Malerei nach dem totalen Zusammenbruch einen auch ideologisch für sie brauchbaren künstlerischen Ansatzpunkt, der bei einer entsprechenden Fortführung und Weiterentwicklung schon in den fünfziger Jahren den westlichen Stilrichtungen qualitativ gleichwertige Alternativen hätte entgegensetzen können.
Die vierziger Jahre unter dem Einfluß der Vorkriegstradition
Abbildung 2
Wilhelm Rudolph, Schnorrstraße, 1945
Wilhelm Rudolph, Schnorrstraße, 1945
Nach dem Krieg begann man in der damaligen SBZ zunächst mit einer Art Bestandsaufnahme derjenigen Richtungen, die den deutschen Beitrag zur Kunst in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen international bedeutsam gemacht hatten. Dies geschah mit der „Ersten Deutschen Kunstausstellung der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung in der Sowjetischen Besatzungszone'1 im Berliner Zeughaus im Mai/Juni 1946 und vor allem mit der „Allgemeinen Deutschen Kunst-ausstellung" von August bis Oktober des gleichen Jahres in der Dresdner Stadthalle. Unter den 600 Exponaten der zweiten Ausstellung befand sich eine stattliche Reihe großer Namen aus dem Kreis der von den Nationalsozialisten „entartet" verfemten Expressionisten,
Bauhäusler und Neuen Sachlichen. Neben Werken des in Chemnitz (später in Karl-Marx-Stadt umbenannt) lebenden Schmidt-Rottluff sah man u. a. Bilder von Ernst Ludwig Kirchner, Otto Mueller, Erich Heckel, Oskar Kokoschka, Max Pechstein, Otto Dix, George Grosz, Max Beckmann, Lyonei Feininger, Paul Klee, Oskar Schlemmer, Willi Baumeister, Werner Gilles, Ernst Wilhelm Nay, Karl Rössing und Rudolf Schlichter sowie des kommunistischen ASSO-Künstlerehepaares Lea und Hans Grundig. Mit besonderem Nachdruck ehrte man auf beiden Ausstellungen des Jahres 1946 die Altmeister in der kritischen Darstellung der sozialen Not, Käthe Kollwitz und Ernst Barlach.
Auch das bereits ab 1945 von Herbert Sand-berg und Günther Weisenborn herausgegebene satirische Periodikum „Ulenspiegel" wurde schnell ein geistiges Sammelbecken für die verschiedensten Tendenzen in Bildender Kunst und Literatur über die Zonengrenzen hinaus So konnte man in dieser Zeitschrift neben Zeichnungen von Hannah Höch und Bele Bachem Werke von Josef Hegenbarth, Max Pechstein und Carl Hofer finden; es entwickelte sich so etwas wie eine Fortsetzung des expressionistischen und neusachlichen Formempfindens, das sich den deutschen Künstlern als besonders geeignet für ihren speziellen vom Kriegsende geprägten Themenkatalog anbot.
Dies illustrieren neben den Gemälden gerade auch die grafischen Blätter, die während jener Frühphase nach 1945 in zahlreichen Zyklen und Mappenwerken die Tragödie des Krieges protokollierten. Neben der Klage über Hunger und Not, über das grauenhafte Schicksal unzähliger Kriegsopfer und der in Trümmern liegenden Städte finden wir die Aufarbeitung der Erinnerungen aus den Ghettos und der Emigration, die Anprangerung des Faschismus und schließlich auch die Wiederentdekkung des Dialoges mit dem eigenen Ich im Selbstporträt — ein Genre der Malerei, das die Zeit der Diktatur in Deutschland bis auf wenige Beipiele aus dem Untergrund völlig liquidiert hatte. Vor allem Lea Grundig, die vom Krieg besonders gezeichnete jüdische Kommunistin, erreichte in ihren Ghetto-Zyklen eine grafische Dichte, die Oskar Kokoschka als in der direkten Tradition von Max Beckmann und Käthe Kollwitz stehend interpretierte. Das Vertrauen dieser Künstler in den überparteilichen Charakter der kunstpolitischen Arbeit muß in der damaligen SBZ zweifellos groß gewesen sein, wenn man bedenkt, welch unterschiedlichen Stilrichtungen die seinerzeit dort lebenden Maler und Grafiker verpflichtet waren. Die Liberalität der Frühphase wurde auch durch die Zusicherung auf der „Ersten Zentralen Kulturtagung der KPD" am 3. Februar 1946 durch Anton Ackermann gefördert, der betonte, daß die „Freiheit für den Wissenschaftler, die Wege einzuschlagen, die er selbst für richtig hält", und „die Freiheit für den Künstler, die Gestaltung der Form zu wählen, die er selbst für die einzig künstlerische hält, unangetastet bleiben" sollte
Doch schon im gleichen Jahr verwies eine Aufsatzfolge deutscher und sowjetischer Kulturfunktionäre in der sowjetamtlichen „Täglichen Rundschau" mit Nachdruck auf die Qualitäten realistischer Kunst aus der Sowjetunion, und im „Neuen Deutschland" erschien am 4. Oktober 1946 ein Artikel mit dem Thema „Zur Kunst des Volkes", der die allmähliche Nivellierung des Stilpluralismus in der damaligen SBZ ankündigte, wenn dort mit Blick auf die Zukunft der Kunst zu lesen war: „Die sozialistische Welt wird realistisch sein, das heißt, sie wird fest im Leben und in der Wirklichkeit stehen und beides, Leben und Wirklichkeit, bejahen. Darum wird auch die kommende Kunst realistisch sein. Es ist ungemein bezeichnend, daß die sogenannte abstrakte Kunst mit der beginnenden Auflösung der Bourgeoisie einsetzte und sich mit dem Fortschreiten dieses Prozesses steigerte. Wir erkennen darin den künstlerischen Ausdruck dafür, daß der herrschenden Gesellschaft der Boden der Wirklichkeit unter den. Füßen schwand und sie ihren Halt im Imaginären suchte. Und ebenso bedeutsam ist es, daß die Arbeiterschaft dieser Kunst fremd gegenüberstand. Die Welt des Arbeiters ist eine Welt des tätigen Lebens und der konkreten Dinge. Seine Kunst wird ebenso diese seine Sprache sprechen müssen und wollen. Gewiß, die Wahrheit, auch die geistige — ja diese erst recht —, ist abstrakt, aber die ganze Kunst besteht ja gerade darin, das Abstrakte sichtbar zu machen. Schönheit ist die sozusagen sichtbar ausgesprochene Wahrheit. Zum Aussprechen gehören aber wirkliche Worte, ein unartikuliertes Lallen ist kein Sprechen. Sozialismus heißt im Leben und in der Kunst Realismus
Ein Jahr später, im Oktober 1947, setzte dann mit einem Aufsatz von Max Grabowski „Zur Bildenden Kunst der Gegenwart" die Kampagne gegen die „romantizistische" Neue Sach-lichkeit, gegen die in der „Zersplitterung ohnmächtig" gewordenen Vorkriegsstile Futurismus, Kubismus und Expressionismus, sowie gegen das „l’art pour l’art-Spintisieren" des Surrealismus ein Dieser schrittweise vorangetriebene kulturpolitische Feldzug gegen die Stilrichtungen „westlicher Moderne", die abwertend als „dekadenter Formalismus" über einen Kamm geschoren wurden, kulminierte schließlich im sogenannten „Realismus-Formalismus-Streit" der ausgehenden vierziger Jahre, den die Herausgeber der Zeitschrift „Bildende Kunst", Oskar Nerlinger und Carl Hofer, zunächst noch auf einem hohen argumentativen Niveau austragen konnten, bis dann der direkte Einfluß sowjetischer Kultur-politik ab 1949 die völlige Ablehnung von expressiver wie nüchtern-sachlicher Stilistik und die Übernahme des Sozialistischen Realismus als Tendenzkunst mit parteilicher Themenausrichtung forderte.
Die Vorwürfe der SED-Kulturpolitik gegen die westlichen Stilrichtungen wurden von den Künstlern keineswegs kritiklos geteilt. So verwahrte sich der dem Expressionismus verbundene Herbert Sandberg 1948 ausdrücklich gegen die hochmütige Art, wie man den bürgerlichen Künstlern Dekadenz vorwerfe und drittklassige Künstler für bedeutender ansehe als Schmidt-Rottluff, „nur weil sie soziale Themen illustrieren". Sandberg wünschte sich den Aufbau der DDR-Kunst auf einer Tradition, „die von Goya bis Masereel die großen Bewegungen des letzten Jahrhunderts darstellt. Gleichzeitig wollen wir aber auch nicht auf die Poesie eines Paul Klee und Franz Marc verzichten, denn die Kunst darf nicht steril werden"
Eingeleitet wurde der Realismus-Formalismus-Streit indirekt durch die Gründung eini-ger Künstlergruppen in der SBZ, die nach einer den politischen Verhältnissen angepaßten Stil-und Themenorientierung suchten. Den Anfang machte 1945 „Der Ruf", eine Gruppe, die ehemalige Mitglieder der ASSO ebenso in ihren Kreis aufnahm wie den aus der expressionistischen „Sturm" -Bewegung her-kommenden Fotoexperimentator Edmund Kesting oder den zum Konstruktivismus neigenden Hermann Glöckner. Direkt an dem politischen und stilistischen Programm der ASSO orientierte sich die 1946 ins Leben gerufene Berliner „Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Künstler". Mit dem Bekenntnis „zum Realismus gegen Formalismus“ formierte sich 1948 eine Gruppe Dresdner Künstler, die sich „Das Ufer“ nannte. In ihr finden wir aus dem Kreis der in den fünfziger Jahren bekannt werdenden Namen neben dem ehemals neusachlichen Rudolf Bergander jene jüngere Malergeneration, deren Stil einige Jahre später prototypisch für den am sowjetrussischen Vorbild ausgerichteten Sozialistischen Realismus wird. In den Jahren dieser Gruppengründungen kristallisierte sich die Tradition des deutschen Sozialen Realismus, wie er in den Werken von Hans Baluschek, Heinrich Zille, Käthe Kollwitz, Conrad Felixmüller, Magnus Zeller und dem späten, kommunistisch orientierten Heinrich Vogeler begegnet, als das tragende Vorbild realistischer Darstellung heraus. Eine wichtige Rolle spielten dabei die in der DDR lebenden ehemaligen ASSO-Mitglieder wie Otto Griebel, Hans und Lea Grundig, Wilhelm Lachnit, Oskar Nerlinger und Curt Querner, vor allem aber der spätere Vorsitzende des Verbandes Bildender Künstler, Otto Nagel. Die ASSO, eine kommunistisch orientierte Künstlerorganisation, die zu Ende der zwanziger Jahre aus der Neuen Sachlichkeit hervorging, hatte unter dem Banner des Klassenkampfes eine expressive Realistik entwikkelt, die zwar l’art pour l’art-Tendenzen ausdrücklich ablehnte, aber etwa für die Foto-montagen Heartfields ebenso offen war für expressionistische Stilelemente, wenn sie sich dem politischen Kampf verschrieben hatten. Otto Nagel hatte 1929 zusammen mit Käthe Kollwitz den sozialkritischen Proletarier-film „Mutter Krausens Fahrt ins Glück" gedreht und griff in seinem grafischen Nachkriegswerk auf jene Art der typisch Berlinerischen Milieuschilderung im Anschluß an die Kollwitz zurück. In diesem Kunstklima erwies sich die von der sowjetischen Kulturpolitik geforderte Umorientierung trotz verbaler Anpassungsversprechungen der Bildenden Künstler als schwieriges Unterfangen, so daß man im Oktober 1951 im „Neuen Deutschland" die Forderung lesen konnte: „Auf dem Gebiet der bildenden Kunst müssen jetzt Diskussionen geführt werden, die endgültig das Verhältnis zur sowjetischen bildenden Kunst klären. Mit dieser Klärung wird der entscheidende Schlag gegen den Formalismus und Kosmopolitismus auf diesem Gebiet der Kunst getan werden."
Wie stark sich die Bildende Kunst der DDR noch zu Beginn der fünfziger Jahre in der Tradition des deutschen Realismus, des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit geborgen fühlte, verdeutlicht die scharfe Rüge, die Walter Ulbricht bei seiner kulturpolitischen Bilanz unter dem Titel . Aufgaben der Kunst"
1951 speziell an die Adresse der Bildenden Kunst richtete: „Die bildende Kunst — Malerei, Graphik und Plastik — ist in der Deutschen Demokratischen Republik am weitesten zurückgeblieben. Es gibt kein einziges Werk, das für die weitere Entwicklung dieser Kunst als beispielhaft hervorgehoben werden kann."
In den Bereichen der Literatur und der Musik war der Anpassungsprozeß an das sowjetische Muster des Sozialistischen Realismus zu diesem Zeitpunkt dagegen schon so weit fortgeschritten, daß Ulbricht in der gleichen Rede vor der Volkskammer eine Reihe „schöner Lieder", Schauspiele und Romane, die das „freudige Schaffen der Aktivisten" beschreiben, aufzählen konnte Man mußte schließlich zu massiven Angriffen auf einzelne Künstler übergehen, um die Bildende Kunst zu disziplinieren, was dann — z. B. bei Otto Nagel und Lea Grundig — zu einer resignierenden Anpassung oder zur Abwanderung der Künstler in den Westen Deutschlands führte. Schließlich entstand die fast groteske Situation, daß die Deutsche Akademie der Künste unter dem Einfluß Otto Nagels Werke von Ernst Barlach ausstellte, die das „Neue Deutschland" am 4. Januar 1952 heftig wegen ihres „pessimistischen Charakters" kritisierte. Barlach, der 1946 noch mit Käthe Kollwitz besondere Ehrung erfahren hatte, wurde nun von den Klischeeheroen des „neuen Menschen" aus dem Sozialistischen Realismus beiseite gedrängt.
Welch unverzeihliche Fehler die Kunsttheorie der DDR im Auftrag der parteigesteuerten Kulturpolitk damals mit ihrem ideologischen Gefecht gegen den Formalismus beging, gesteht auch die heutige DDR-Kunstwissenschaft ein, wenn man im Katalog „Weggefährten — Zeitgenossen" die Versandung der „beachtlichen Ansätze" aus den vierziger Jahren bedauert und die Anmaßung kritisiert, mit der jener „Vorwurf des Formalismus und der Dekadenz selbst vor einem Bildhauer wie Ernst Barlach, einem antifaschistischen Maler wie Carl Hofer und einer der Arbeiterklasse eng verbundenen Grafikerin wie Käthe Kollwitz nicht halt machte"
Die Ausbildung des Sozialistischen Realismus in den fünfziger Jahren
Abbildung 3
Rudolf Bergander, Trümmerfrauen, 1954
Rudolf Bergander, Trümmerfrauen, 1954
Da die DDR-Kunstkritik von heute die fünfziger Jahre nicht aus dem eigenen Kunst-Kalender streichen kann, werden sie durch weitgehende Auslassung des doktrinären Sozialistischen Realismus und durch Aufwertung der seinerzeit ins Abseits gedrängten ASSO-Traditionen in ein weitaus besseres Licht gerückt, als es die Fakten zulassen
Natürlich war die ASSO-Bewegung auch in den fünfziger Jahren nicht ohne stilistische Spuren, aber sie finden sich fast ausschließlich im Abseits einer nur auf intellektuelle Zirkel beschränkten Grafikproduktion. Im Bereich der Malerei setzte eine jüngere Generation unter dem Motto „Der neue Mensch braucht eine neue Darstellung" eine Programmatik durch, die sich stilistisch aus sowjetischen Vorbildern ableitete und inhaltlich politische Ziele der SED, d. h.den „aktiven und produktiven Einsatz" für den schwerindustriellen Aufbau und die angestrebte Kollektivierung der Landwirtschaft propagierte.
Ende 1952 blieb der Satz aus der SED-Zeitschrift „Einheit": „Die sowjetische Kunst steht auf einer viel höheren Stufe als unsere eigene" offiziell unwidersprochen, und Walter Ulbrichts Forderung: „Im Mittelpunkt des künstlerischen Schaffens muß der neue Mensch stehen, der Kämpfer für ein einheitliches, demokratisches Deutschland, der Aktivist, der Held des sozialistischen Aufbaus" konnte erste Realisationen aufweisen. 1953 erlitt diese parteigesteuerte Kulturpolitik jedoch noch einmal einen spürbaren Rückschlag, der sich bis 1956 bemerkbar machte. Im Sommer jenes Jahres nahm die Intelligenz die Isolation von Partei und Regierung während des Juni-Aufstandes zum Anlaß, um eine Revision der Kulturpolitik und eine Rückkehr zum Stilpluralismus zu fordern. Die Erklärung der Deutschen Akademie der Künste vom 30. Juni 1953 enthielt einen ganzen Katalog von Punkten, die auf eine Beendigung der Bevormundung aller Kunstbereiche durch die von der Partei eingesetzte Kunstkommission abzielte. Für die Bildende Kunst erhob Wolfang Harich am Juli 1953 in der „Berliner Zeitung" den Vorwurf, „die Kunstkommission habe faktisch die Produktivität der Maler, Bildhauer, Graphiker, Illustratoren gehemmt" und „die besten Kunsthistoriker abgestoßen“. Was unter dem Begriff . Realismus'an Kunst gefördert wurde, disqualifizierte Harich als „schönfärbe-rischen Naturalismus".
Die Partei, die angesichts ihrer innenpolitischen Schwierigkeiten eine Prüfung dieser Klagen versprach, machte aber schon auf der Tagung ihres Zentralkomitees vom 24. bis 26. Juli 1953 deutlich, daß sie „nach wie vor den sozialistischen Realismus als das erstrebenswerte Ziel einer nationalen Kunst" ansehe und dafür die „gewaltigen Errungenschaften der Sowjetunion" als vorbildlich erachte 14). Die große Ausstellung in Berlin „Sowjetische und vorrevolutionäre russische Kunst" von Juli bis Dezember des gleichen Jahres unterstrich unmißverständlich diese Absicht. Trotzdem gab es bis 1957 immer wieder Vorstöße aus der In-telligenz, die sich um die Einräumung größerer Freiheiten für Wissenschaft und Kunst bemühten, von der Partei aber als „revisionistische Tendenzen" bekämpft wurden.
Das wirksamste Instrument in der Disziplinierung der Bildenden Kunst besaß die Partei in der zentralen Steuerung der Kunstproduktion durch Aufträge, da es in der DDR keinen privaten Kunsthandel mehr gab. Die Vergabe öffentlicher Aufträge für staatliche Institutionen und Großbetriebe erwies sich als das wirksamste Mittel in der Durchsetzung des klischeehaften Sozialistischen Realismus.
Das Typenbild des „neuen Menschen"
Um die Jahreswende 1952/53 inszenierte die offizielle Kulturpolitik eine intensive Diskussion über die Wesensmerkmale sozialistisch-realistischer Kunst. Das Ziel des Sozialistischen Realismus war bereits im Juli 1952 durch Walter Ulbricht in der Definition des „neuen Menschen" umschrieben worden, der als heldenhafter Aktivist den sozialistischen Aufbau trägt. Auch die Einbettung der Kunst in die Instrumentarien parteilicher Volkserziehung wurde in der gleichen Rede Ulbrichts deutlich als Aufgabe der Künstler ausgesprochen: „Indem der Künstler dieses Neue, dieses Fortschrittliche in der Entwicklung der Menschen gestaltet, hilft er mit, Millionen zu fortschrittlichen Menschen zu erziehen. Lediglich das Wie dieser Zielsetzung war noch offen, und diese Lücke füllten in den folgenden Monaten zahlreiche Reflexionen in den Tageszeitungen und Kunstzeitschriften der DDR, indem sie in Anlehnung an ein Referat des sowjetischen KP-Sekretärs Malenkow den Begriff des „Typischen" erläuterten. Aus Malenkows Ausführungen wurden folgende Sätze als die wichtigsten herauskristallisiert: „Stärke und Bedeutung der realistischen Kunst bestehen darin, daß sie die hohen inneren Qualitäten und typischen positiven Charakterzüge des einfachen Menschen eindringlich künstlerisch gestalten kann und muß, den Menschen, der würdig ist, Vorbild und nachahmenswertes Beispiel für andere Menschen zu sein ... Typisch ist, was dem Wesen der gegebenen sozialen und historischen Erschei nungentspricht und nicht einfach das am häufigsten Verbreitete, das oft Wiederkehrende, Gewöhnliche ... Bewußte Übertreibung und Zuspitzung einer Gestalt schließt das Typische nicht aus, sondern offenbart und unterstreicht es vollständiger. Das Typische ist die Haupt-sphäre für die Äußerung der Parteilichkeit in der realistischen Kunst. Das Problem des Typischen ist stets ein politisches Problem."
Diese Leitlinien stellten nichts anderes dar als eine Summierung jener Ausdrucksformen, die in der sowjetischen Kunst seit 1934 ausschließlich zu finden waren. Die Sowjetunion hatte in den ausgehenden zwanziger Jahren die Möglichkeiten einer Kunstrevolution, wie sie von der eigenen futuristischen und konstruktivistischen Avantgarde bereitgestellt worden waren, rigoros beschnitten und ihre gesamte Kunstproduktion auf den Sozialistischen Realismus eingeschworen. Dieser griff stilistisch auf den repräsentativen Realismus des 19. Jahrhunderts zurück, um mit dessen Stilmustern die Heroen des industriellen Aufbaus und der landwirtschaftlichen Kolchosen in typischen sozialen Situationen des kollektiven Arbeitsprozesses zu gestalten. Auf diese Weise setzte man Lenins Maxime, die Parteilichkeit und Volkstümlichkeit als wichtigste Kriterien der Kunst festlegte, damit sie „vom Volk verstanden und geliebt werde", in die Praxis um.
Was unter einem vorbildlichen Helden der Arbeit in der DDR zu verstehen sei, konnte man dann schon im März 1955 auf der „Dritten Deutschen Kunstausstellung" in Dresden an den meisten der dort gezeigten Bilder ablesen. Eine stattliche Zahl von Arbeiterbildnissen, Demonstrationsbildern und Industrieszenarien beschrieb das neue Menschenbild in einer Stilistik, die ihre posenhafte Figurenanordnung aus dem 19. Jahrhundert abgeschaut hatte.
Auch die Gattung des Landschaftsbildes trat im Verlauf der fünfziger Jahre völlig in den Dienst der ökonomischen Produktionspropaganda, indem sie nur noch aus Industrielandschaften, Bergbauszenarien oder Kolchosfeldem mit Traktoren bestand. Das Historienbild illustrierte ausschließlich die Geschichte des Klassenkampfes; das private Familienbild war ebenso wie das in den vierziger Jahren so beliebte Selbstporträt fast ganz aus der Kunstszene verschwunden. Statt dessen gab es eine Fülle von Arbeiterbildnissen und Produktionsgruppenbildern aus Industrie und Landwirtschaft, die das kollektive Arbeitsprinzip verherrlichten. Einige von der Partei als vorbildlich gelobte Werke dieser Zeit wurden ständig zitiert und reproduziert, um ihr stilistisches und inhaltliches Konzept anderen Künstlern immer wieder ins Bewußtsein zu rufen.
Zur zentralen und meist geförderten Bildgattung avancierte in den fünfziger Jahren das Arbeiterbildnis im „Dienste des Proletariats". Stilistisch lehnte sich dieses Genre an die Repräsentationspose bürgerlicher Bildnisse aus dem 19. Jahrhundert an, etwa mit der Hervorhebung äußerlicher Statussymbole (Kelle, Schutzhelm, Hammer usw.), wodurch das Porträt eine Art Denkmalpose mit symbolischer Überhöhung erhielt. Der bevorzugten Sitzpose oder dem Brust-und Dreiviertelbildnis waren zumeist keine individuell charakteristischen Gesichtszüge beigegeben, dagegen dominierte Jahrhundert an, etwa mit der Hervorhebung äußerlicher Statussymbole (Kelle, Schutzhelm, Hammer usw.), wodurch das Porträt eine Art Denkmalpose mit symbolischer Überhöhung erhielt. Der bevorzugten Sitzpose oder dem Brust-und Dreiviertelbildnis waren zumeist keine individuell charakteristischen Gesichtszüge beigegeben, dagegen dominierte der Ausdruck herkulischer Kraft. Der Hintergrund wurde attributiv zur Kennzeichnung körperlicher Arbeit hinzugefügt, er zeigte keine konkrete Situationsschilderung. Dadurch entstand ein ikonenhafter, leitbildartiger Typus des Arbeiters als Held des sozialistischen Aufbaus, der mit seiner enormen Kraftanstrengung und im Gefühl, der neue Eigentümer der Produktionsmittel zu sein, alle wirtschaftlichen Entwicklungsaufgaben bewältigen kann.
Werke von Künstlern der jüngeren Generation, die dieses Konzept durch eigenwillige Formexperimente variierten, wie etwa Willi Sitte und Werner Tübke — die heute gefeierten Meister der sechziger und siebziger Jahre —, standen damals noch sehr hinter den flachen, klischeehaften Typenbildern zurück.
Wie deprimierend die Kunstsituation der fünfziger Jahre insgesamt auf die Vertreter der älteren Generation wirken mußte, vermag nichts so zu beschreiben wie die Klage des namhaften Grafikers Arno Mohr von 1955 über die „Vernachlässigung des Handwerklichen" und über „die weitgehende Verarmung der Mittel“ 17) oder wie die Kritik aus der Feder des ASSO-Malers Hans Grundig, der 1957 schrieb: „Wir werden niemals zu einer durchbluteten realistischen Malerei der Gegenwart kommen, wenn wir ein halbes Jahrhundert der Entwicklung des kritischen Realismus außer acht lassen. Zum mindesten in Deutschland dürfen wir das nicht. Es ist nicht so, daß unser kulturelles Erbe mit Menzel abgebrochen wäre und dann nur noch der Formalismus geherrscht hätte. Wir hatten gerade in diesen Jahrzehnten starke realistische Strömungen. Ich denke an viele Grafiker des alten Simplizissimus'und an Käthe Kollwitz und Heinrich Zille." 18)
Der „Bitterfelder Weg" und das Brigadebild in den frühen sechziger Jahren
Abbildung 4
Lea Grundig, Wäschemeister Gentsch, 1951
Lea Grundig, Wäschemeister Gentsch, 1951
Zwischen dem ersten Jahrfünft der sechziger Jahre und dem vorhergegangenen Jahrzehnt läßt sich für die Kunstproduktion der DDR eine Kontinuität ohne wesentliche neue Akzente feststellen. Die programmatische Motivation setzte für diese Periode der sogenannte Bitterfelder Weg, der die Künstler dazu aufforderte, im direkten Kontakt mit den Produktionsbetrieben die Leninsche Formel von der parteilichen Volksverbundenheit der Kunst mit konkreten Inhalten zu füllen.
Bereits im Juni 1958 hatte der Kunstkritiker Ullrich Kuhirt die vorrangige Aufgabe der Berufskünstler in der Aufforderung formuliert, „die reiche kulturelle Entwicklung und Bildung der Arbeiterklasse zu fördern und dies als die höchste Berufung von Kunst anzuse-hen" 19). Walter Ulbricht wies den Künstlern dann auf dem V. Parteitag der SED den Weg für eine Begegnung zwischen Kunst und Volk im Produktionsprozeß: „Die Bereitschaft, eine gemeinsame Sprache mit der wachsenden Zahl werktätiger Menschen zu finden, die sich ihr Leben — sei es am Arbeitsplatz, im Versammlungsraum oder zu Hause — gern mit Werken der bildenden Kunst verschönen möchten und auch die Mittel dazu haben, wächst langsam. Die Leitungen unserer volks-eigenen Betriebe sollten durch Freundschaftsverträge und Studienaufträge den bildenden Künstlern helfen, sich schneller in der künstlerischen Praxis unseres Lebens zur Kunst des sozialistischen Realismus zu entwickeln." Um diesen Brückenschlag zwischen der hohen Kunst und dem Volk zu forcieren, leitete die Partei unter dem Motto: „Greif zur Feder, Kumpel! Die sozialistische Nationalkultur braucht dich" auf der Ersten Bitterfelder Konferenz im April 1959 die Bewegung des schrei-benden und malenden Arbeiters ein, die mit der Zusammenführung von Kunst und Leben auch die Grenzen zwischen Berufskunst und Laienkunst verwischen sollte. So war mit dieser Initative letztlich ein dreifacher Erziehungseffekt beabsichtigt: Von der Förderung der Laienkunst erhoffte man sich eine lebensnahe Vergegenwärtigung der Arbeitswelt sowie die kulturelle Ansprache der Werktätigen am Arbeitsplatz unter parteilicher Zielvorstellung. Darüber hinaus sollten frühzeitig die künstlerischen Talente innerhalb der Arbeiterschaft entdeckt und unter Anleitung durch die Partei zu prinzipienfesten Interpreten des von Ulbricht skizzierten sozialistischen Menschenbildes erzogen werden. Auf der anderen Seite wollte man die akademisch gebildeten Berufskünstler dazu motivieren, ihre bisherige Kommunikationsebene der intellektuellen Zirkel und Klubs durch direkte Begegnungen mit der werktätigen Bevölkerung auszuweiten und sich im Erlebnis der betrieblichen Arbeitswelt mit den Aufgaben und realen Erfordernissen der Produktion vertraut zu machen. Aus diesen Erfahrungen sollten die Maler eine volksnahe Darstellung der kollektiven Lebensweise unter der Losung „Sozialistisch arbeiten, lernen und leben" entwickeln, was zum spezifischen Typus des Brigadebildes führte.
Ein Blick auf die rasch anschwellende Zahl von Brigadebildern in den sechziger Jahren läßt unschwer erkennen, was mit dieser Losung beabsichtigt war. Das Brigadebild sollte die Propagierung des kollektiven Lebens nicht allein auf die Situation am Arbeitsplatz im Kalischacht, vor dem Hochofen oder in der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) beschränken. Vielmehr pries dieser Bildtypus das Brigadesystem auch als nützlich für Freizeit und Privatleben an, wenn man das Brigadefest und den Brigadeausflug im Bilde festhielt oder auch nur ganz einfach den Brigadier als den guten Freund und Ratgeber im Familienkreis des Kumpels vorstellte.
Was der Bitterfelder Weg an Produktionen zum Thema Brigadebild hervorbrachte, besaß die gleiche Plakativität und Schönfärberei, die das Arbeiterporträt bereits einige Jahre früher in seiner Ausformung als Prototypus des neuen Menschen erfahren hatte.
Trotz der durch das Bitterfelder Konzept geförderten Inflation von Brigade-und Arbeiter-bildern blieb der Bitterfelder Weg in der Erfüllung seiner kulturpolitischen Zielsetzung letztlich erfolglos. Zwar waren einige Berufs-künstler in die Betriebe gegangen, um den Produktionsprozeß vor Ort zu erleben, aber der erwünschte Effekt einer . spontanen Begegnung'zwischen Künstlern und Werktätigen war nicht in der erhofften Weise eingetreten. Die Laienkünstler unter den Arbeitern blieben nach erfolgreicher Förderung nicht in den Betrieben, sondern wechselten zu den Akademien über, um sich zu Berufskünstlern ausbilden zu lassen. Was von den Werken im Zeichen des Bitterfelder Weges den betrieblichen Auftraggebern gefiel, war oft in den Augen der alt eingesessenen Akademiekünstler von geringer handwerklicher Qualität. Und mancher begabte Berufskünstler, der, wie Ronald Paris, tatsächlich in die LPG ging, mußte sich westliche Dekadenz vorwerfen lassen, nur weil der eigene Stil die Lehrjahre in Berlin-Weißensee bei dem expressiven italienischen Realisten Gabriele Mucchi nicht verleugnete. Dabei hatte die Partei offiziell gegen den italienischen „Realismo" eines Renato Guttuso und eines Gabriele Mucchi nichts einzuwenden, zumal dieser kommunistisch orientierte Realismus aus einer Vielzahl von Stilanleihen bei den verschiedensten Ismen des 20. Jahrhunderts eine homogene Ausdrucks-intensität erreichte, die man sich für das eigene Stilpotential so sehr wünschte.
So war die Partei gut beraten, als sie auf der Zweiten Bitterfelder Konferenz 1964 das Konzept einer Verbindung von Berufs-und Laienkunst aufgab und ihre inhaltlichen Zielvorstellungen einer Kunst, die „die Ankunft der DDR im sozialistischen Alltag" also die Periode nach der Aufbauphase, beschreiben sollte, wieder ausschließlich an die Adresse der Berufskünstler richtete. Seit 1962 hatte die Partei auch feststellen müssen, daß selbst die totale Disziplinierung der Akademie der Künste, die man mit allen Mitteln unter dem Einfluß der sowjetischen Politik betrieben hatte, um den dogmatischen Sozialistischen Realismus durchzusetzen, jene Ideen eines humanen Sozialismus nicht aus den Köpfen der Intellektuellen und Künstler verbannen konnte, die aus Polen und aus westlichen Marxismusdiskussionen in die DDR eindrangen. Vielmehr fesselten Literaten wie Christa Wolf eine ständig wachsende Schar von Zuhörern, und Maler wie Werner Tübke, Willi Sitte, Bernhard Heisig und Wolfgang Mattheuer durchbrachen allmählich mit neuen Stilelementen das starre Realismus-Konzept in der Malerei der DDR. Ende 1964 kündigte sich in der Rede Kurt Hagers vor dem ZK der Partei eine Sanktionierung dieser stilistischen Ausweitung des Realismusbegriffs an, als erstmals von der „Weite und Vielfalt der sozialistischen Kunst" die Rede war — ein Motto, das die zweite Hälfte der sechziger Jahre, vor allem aber die Malerei der siebziger Jahre, entscheidend prägen sollte.
Der sozialistische „Homo universale" in der Malerei der ausgehenden sechziger Jahre
Abbildung 5
Karl Erich Müller, Monteur, 1964
Karl Erich Müller, Monteur, 1964
Um die Mitte der sechziger Jahre setzte sich nicht nur im Kreis der Intellektuellen, sondern allmählich auch bei den Kulturpolitikern die Einsicht durch, daß die dogmatische Starrheit, mit der man bisher die Methodik der fünfziger Jahre für Stil und Inhalte des Sozialistischen Realismus propagiert hatte, auf Dauer an den Realitäten, aber auch an den sich wandelnden Zielvorstellungen der angestrebten nationalen Staatsentwicklung vorbeiführen mußte.
So initiierte man im Anschluß an die Zweite Bitterfelder Konferenz in kleinen Schritten eine behutsame Umorientierung der künstlerischen Zielsetzung.
Eingeleitet wurde diese allmähliche Korrektur der Kunst-Definition — wie schon oftmals vorher — von Ulbricht selbst, der auf dieser Zweiten Bitterfelder Konferenz erstmals die sowjetrussische Realismus-Definition relativierte: „Für uns ist der sozialistische Realismus ... kein Dogma, keine Ansammlung von Vorschriften, in die man das Leben zu pressen habe. Die realistische Methode ist historisch entstanden, und sie entwickelt sich weiter."
Auf der Basis dieser Äußerung begann nun in den nachfolgenden Monaten eine ausführliche ideologische Diskussion um die „aktuellen Grundfragen des Sozialistischen Realismus in der DDR", wobei man vor allem eine dynamische Offenheit der eigenen „Realismus-Auffassung gegenüber allem Neuen im Leben und in der Kunst" forderte. Während das Lenin-Postulat der „Volksverbundenheit" in den Hintergrund der Kunst-Debatten trat, blieb die Forderung der „Parteilichkeit" weiterhin unangefochten gültig als die „zentrale ästhetische Kategorie des Sozialistischen Realismus"
Im September 1966 analysierte Klaus Gysi in einem Diskussionsbeitrag vor dem 13. Plenum des ZK der SED die Konsequenzen, die sich aus der modifizierten Realismus-Definition für die Aufgabenstellung von Kunst und Kultur ergaben. Dabei benutzte er den Begriff des „sozialistischen Humanismus" als Umkehrung und Abgrenzung gegenüber dem Begriff des „humanen Sozialismus", den die westlichen Marxismus-und Sozialismus-Theorien geprägt hatten. Der „sozialistische Humanismus" sollte in der Kunst ein sozialistisches Menschenbild zeichnen und der Bevölkerung als Ziel vorstellen, das in seinem universalen Bildungsanspruch an den „Homo universale"
der Renaissance anschließt, aber mit den ideologischen, technologischen und politischen In-, halten der SED gefüllt ist. Wie sehr man an dieser neuen Aufgabenstellung der Kunst interessiert war, verdeutlicht die Klarheit, mit der Gysi in der gleichen Rede betonte, daß große Veränderungen für viele Künstler und Kulturschaffende nötig seien, da die Funktion der Kultur, der Kunst und Literatur nicht nur wachse, sondern sich auch verändere
Wie bereits in früheren Jahren schloß sich in der Grundsatzdebatte direkt an den Wandel der Realismus-Definition eine ausführliche Diskussion der Frage an: „Wie können Kultur und Kunst ihre Kraft nutzbar machen für das große humanistische Ziel des Wachsens sozialistischer Persönlichkeiten?"
Besonders auffallend war unter diesem Aspekt die Tatsache, daß der große Einfluß des sowjetischen Sozialistischen Realismus mit seinen plakativen Klischeebildern deutlich in den Hintergrund rückte. Ein Blick auf die Ausstellungsliste der DDR im Jahre 1967 läßt erkennen, daß man sich statt dessen wieder der ASSO und des Ausdruckspotentials eines Bar-lach, einer Käthe Kollwitz und ihrer Zeitgenossen erinnerte. Daneben zeichnete sich in den Angeboten der Verlage zum Thema Malerei eine wachsende Bedeutung des italienischen Realisten Renato Guttuso sowie eine späte Würdigung des stilistischen Universal-genies Picasso ab, den man in den frühen fünfziger Jahren noch zu den . Dekadenten gezählt hatte. Neben Publikationen zu großen Vertretern der sogenannten klassischen Moderne machte eine Monografie mit dem russischen Konstruktivisten El Lissitzky bekannt, und eine aufwendige Ausgabe von Majakowskis Rostafenstern ließ die allmählich wachsende Tendenz erkennen, außer den westlichen Kunstrichtungen des 20. Jahrhunderts auch stilistische Einflüsse aus der russischen Avantgarde in das eigene Stilrepertoire einfließen zu lassen. Das Argument der fünfziger Jahre, diesen „formalistischen Ismen" würde jede „Volksnähe" abgehen, war nun vergessen. Man forderte vielmehr eine „erzieherische Entwicklung des ästhetischen Verständnisses und Urteilsvermögens der arbeitenden Bevölkerung" und liquidierte damit faktisch die Inhalte des Bitterfelder Weges von 1959.
Während die Maler der klischeehaften Aufbauepen in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre an Einfluß verloren, rückten die stilistisch Progressiven — vor allem Sitte, Heisig, Tübke und Mattheuer — in das Rampenlicht der breiten Öffentlichkeit und konnten dabei nach langer Zeit erstmals wieder das Interesse westlicher Kunstkritik an der DDR-Malerei erregen. Die DDR-Kunsttheorie bemühte sich aber um eine strikte Abgrenzung zum Westen und argumentierte um 1968/69 vor allem mit dem Prinzip der Parteilichkeit ihrer Kunst. Wenn die DDR-Malerei Probleme der sozialistischen Gesellschaft ins Bild bringe, so geschehe dies immer aus der bejahenden Einstellung zum Sozialismus der DDR; mit der Benennung konkreter Probleme werde zugleich auch deren Bewältigungsmöglichkeit perspektivisch aufgezeigt.
Wenn Sitte und Reisig in ihren Arbeiterporträts oder Brigadebildern von platter Schönfärberei und belehrenden Attitüden betont abrückten, so geschah dies nicht nur aus Gründen künstlerischer Gestaltung, sondern auch, um die erzieherische Effektivität der Kunst durch eine spontane Identifikationsmöglichkeit des Betrachters mit den dargestellten Personen zu erhöhen. Dementsprechend weisen die vielzitierten Modellbilder dieser Zeit keinen fundamentalen inhaltlichen Wandel, wohl aber eine Veränderung im stilistischen Ausdruckspotential und in den Modalitäten des Bildaufbaus auf: In der Darstellung des Werktätigen wird die starre Repräsentationspose in eine aufgelockerte Gestik überführt, die sich aus einem plastisch skizzierten Szenarium des Arbeitsplatzes motiviert. In den Gesichtszügen der dargestellten Personen spiegelt sich individuelle Charakterzeichnung wider; eine aus Impressionismus wie Expressionismus übernommene Dynamik in Pinselführung und Farbwahl verleiht den Bildern einen optimistischen Grundton.
Um das Brigadebild mit neuen Impulsen zu bereichern, schuf Sitte mit seinem Gemälde „Chemiearbeiter am Schaltpult" (1968) und mit der viel zitierten „Leuna" -Fassung von 1969 den neuen Typus des sogenannten Simultan-bildes, das aus verschiedenen Szenenfragmenten ein geschlossenes Bildgefüge komponiert. Die Einbindung der Bildfragmente in einen geschlossen wirkenden Gesamteindruck wird von Sitte dadurch erzielt, daß er etwa die Röhrenanlage des Chemiewerkes in dem Gemälde „Leuna 1969" wie ein futuristisches Strahlensystem in der Funktion einer abstrakten Rahmung der einzelnen Bildfragmente strukturiert. Die Modifikation des vorbildlichen sozialistischen Menschen in der Kunst vom herkulischen Arbeiterhelden zum technisch hochqualifizierten Arbeiter-Planer war eine Folge der politischen Konzeption, welche die SED in den sechziger Jahren verfolgte. Das politisch-programmatische Selbstverständnis der SED wurde nach dem „Sieg sozialistischer Produktionsverhältnisse" (zeitlich fixiert durch die einschneidende Zäsur des Mauerbaus in Berlin 1961) durch eine Wirtschaftspolitik bestimmt, die sich in der Proklamierung des „Neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" (NÖSPL) konkretisierte und im Konzept der „Wissenschaftlich-technischen Revolution" verdichtete. Die Leistungsfähigkeit der sozialistischen Gesellschaft sollte sich in der Systemkonkurrenz mit den kapitalistischen Industriestaaten vor allem durch eine effektivere und humanere Nutzung moderner Technologien erweisen. Der Prozeß der Weiterentwicklung schien — wie die Bilder Sittes und Heisigs deutlich widerspiegeln — in hohem Maße durch die von der Intelligenz im Bündnis mit der Arbeiterklasse freigesetzte „Produktivkraft Wissenschaft" bestimmt.
Eine weitere Variante des Brigadebildes bietet die zweite Hälfte der sechziger Jahre in Gestalt des Diskussionsbildes an, wobei die Orientierung der Malerei an der von der Kulturpolitik vorgegebenen Modellvorstellung des sozialistischen Menschen — ideologisch und technologisch hochqualifiziert sowie stets aus kollektivem Verantwortungsbewußtsein heraus motiviert — die stilistische Änderung des statuarischen Gruppenbildes der fünfziger Jahre beschleunigt. Wie schon in den früheren Phasen ihrer Entwicklung stilisiert die Partei auch für diesen Bildtypus ein bestimmtes Gemälde, nämlich die „Neuererdiskussion" von Willi Neubert (1969), zur nachahmenswerten
Modelldarstellung „der Arbeiterklasse in der Ausübung ihrer Herrschaft über die sozialen Prozesse"
Ein wichtiges Moment in Strukturaufbau dieses Bildtyps ist die Gleichstellung von Arbeitern und Planern in der Diskussionssituation. Die lockere Sitzordnung der Brigade um einen Tisch oder die Gesprächsrunde am Arbeitsplatz lösen die statuarische Figurengruppierung der früheren Bilder auf, wobei zahlreiche Blickkontakte zwischen den Personen den Eindruck einer konkreten Situationsschilderung unterstreichen. Beliebte Themen des Diskussionsbildes sind der „Zirkel junger Elektroniker", der Kreis der kollektiv beratenden und handelnden Facharbeiter, aber auch der Erfahrungsaustausch der Soldaten im Ambiente ihrer supermodernen Waffenausrüstung.
Die größte stilistische Experimentierfreudigkeit entfaltet die DDR-Malerei nach der Zweiten Bitterfelder Konferenz in der Gattung des Historienbildes, das in Verbindung mit dem Stichwort „Erberezeption" eine wachsende Bedeutung gerade auch für den politischen Selbstfindungsprozeß der DDR erlangt. Inhaltlich formt sich das Historienbild aus der Geschichte des Klassenkampfes und aus den „revolutionären Siegen" des Proletariats, stilistisch kann sich das Historienbild einer Fülle kunsthistorischer Anregungen bedienen, die von den großen Ereignisbildern der Renaissance bis zu den zahlreichen ASSO-Darstel-lungen des deutschen Bauernkrieges und der Arbeiterbewegung reichen. Auch hier wirkt zunächst Sittes Stil bahnbrechend, wenn er im sogenannten Epochenbild den für den Sozialismus vorbildlichen Menschen aus der Geschichte herauskristallisiert und dabei die bereits skizzierte futuristische Strahlendynamik für ein raffiniertes szenisches überblendungsverfahren einsetzt.
Während Sitte mit der Sinnlichkeit seiner kraftstrotzenden Gestalten die heroische Überhöhung leistet, greift Werner Tübke auf die unterschiedlichen historischen Methoden der überhöhenden Stilisierung zurück, die der Kunst von der streng hierarchischen Bild-struktur eines mittelalterlichen Heiligenbildes, vom aristokratischen Geniekult der Renaissance oder von der Sinnenfülle des Barock bereitgestellt worden sind. Mit der virtuosen Vielseitigkeit seines handwerklichen Könnens wird dieser Leipziger Maler zum bedeutendsten Repräsentanten einer malerischen „Erberezeption" in der DDR, die sich des gesamten kunstgeschichtlichen Ideen-und Stil-potentials bedient, um den „neuen Menschen"
des Sozialismus als den „sozialistischen Humanisten" zu zeichnen. 1970 malt Tübke im Auftrag der Leipziger Karl-Marx-Universität das monumentale Bild „Arbeiterklasse und Intelligenz" und porträtiert für diesen hundertköpfigen Figurenfries die Angehörigen der Fakultät und Brigade mit sorgsam wiedergegebenen individuellen Gesichtszügen. Wie kaum ein anderes Bild aus der DDR-Produktion ist dieses die gelungene Vorstellung des sozialistischen „Homo universale“, da es die Entfaltung des einzelnen ganz aus dem gesamtgesellschaftlichen Prozeß heraus begreift. Der strukturelle Anschluß des Bildes an die Malerei der Renaissance ist nicht nur ein formaler Gestus, sondern es drückt sich in dieser Parallele auch das programmatische Verständnis „sozialistischer Humanität" aus, die sich aus der geschichtlichen Tradition das aneignet, was dem Sozialismus nutzbringend ist und das verwirft, was die Unterdrükkung und Ausbeutung der arbeitenden Klasse gefördert hat. In diesem Sinne sind Tübkes Historienbilder durch und durch sozialistisch, auch wenn sie formal auf altmeisterliche Stilisierungen zurückgreifen.
Neben Werner Tübke profiliert sich auch Wolfgang Mattheuer als der große Virtuose in der allegorischen Verdichtung, wobei seine nüchterne Realistik zusammen mit einer suggestiven Farbwirkung hinter scheinbar lakonisch-einfacher Dingwelt eine sehr vielschichtige Tiefgründigkeit entwickelt. Mattheuers Allegorien vom alttestamentarischen „Kain" -Mord bis zur Tragödie des „Sisyphos" aus der antiken Mythologie entziehen sich jeder eindeutigen Interpretation durch die Tatsache, daß der Maler seine Symbolfiguren zumeist mit seinen eigenen Gesichtszügen ausstattet und sie dadurch über das Zitat hinaus zu komplexen Selbstmitteilungen verschlüsselt. In Mattheuers Werk klingt somit bereits in den ausgehenden sechziger Jahren jene inhaltliche Vertiefung an, welche die Malerei der siebziger Jahre so deutlich von der Kunstszene der sechziger Jahre abhebt.
„Weite und Vielfalt" der siebziger Jahre
Abbildung 6
Wolfgang Mattheuer, Hinter den Sieben Bergen, 1970
Wolfgang Mattheuer, Hinter den Sieben Bergen, 1970
Mit stolzem Blick auf die große nationale und internationale Resonanz betont die DDR-Kunstkritik von heute zu Recht die „besonderen neuen Qualitäten" welche die Kunst der DDR in ihrer jüngsten Schaffensperiode erworben hat. Im gleichen Atemzug verweist man auf die Kulturpolitik der SED, die auf ihrem VIII. Parteitag 1971 mit dem Motto Honeckers: „Weite und Vielfalt der gestalterischen Möglichkeiten" die Motivation zur Entfaltung solch neuer Potenzen gab.
Mit der Aufforderung, die „Weite und Vielfalt" des Sozialistischen Realismus zu erproben, wollte die Partei 1971 gezielt das dynamisch modernistische Malkalkül von Sitte und Heisig aus den sechziger Jahren sanktionieren und fördern. Als wesentliche Kennzeichen dieses am sozialistischen Fortschritt orientierten neuen Menschenbildes lassen sich umfassende polytechnische Schulung, ästhetische Bildung am kulturellen Erbe, ideologische Festigkeit und bewußte Einordnung der individuellen Bedürfnisse in das gesellschaftliche Gesamtwohl schlagwortartig benennen.
Die Kunst der siebziger Jahre nutzte jedoch den vom VIII. Parteitag offiziell legitimierten Freiraum des Experiments nicht nur — wie von der Partei beabsichtigt — zur Erprobung neuer stilistischer Möglichkeiten, sondern sie wagte auch eine Aufweichung und Erweiterung der inhaltlich fixierten Bildtypen, indem sie den optimistischen Charakter des traditionellen Arbeiterbildes durch eine verstärkte Artikulation von Konflikten relativierte. Diese Transformation des Illusionsbildes in das Konfliktbild ist in keiner Weise mit jenen Veränderungen zu vergleichen, welche die DDR-Malerei in Verlauf der fünfziger und sechziger Jahre erfahren hat. Hermann Raum spricht daher auch im Katalog zur Ausstellung „Weggefährten — Zeitgenossen" von dem „Revolutionären" und „Produktiv-Neuen", das die Kunst der siebziger Jahre „so reich an Bildstoffen und ideellem Gehalt, an formellen Lösungen und Anregungen" und so unmittelbar aktuell „in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit"
gemacht habe
In solchen Bemerkungen der DDR-Kunstkritik wird indirekt eine deutliche Zäsur zwischen den siebziger Jahren und den beiden vorangegangenen Jahrzehnten konstatiert. Im gleichen Katalog-Aufsatz analysiert Raum auch die Gründe, die eine solche stoffliche und gestalterische Verdichtung der DDR-Malerei ermöglichten. An erster Stelle nennt Raum ein wachsendes öffentliches Interesse, das die Bildende Kunst für sich in den siebziger Jahren verbuchen kann, statistisch ablesbar z. B. an den Besucherzahlen der Dresdner Kunstausstellung, die 1977/78 gerade wegen der intensiv geführten Diskussionen um eine Reihe von Konfliktbildern erstmals weit mehr als eine Million Besucher verzeichnen konnte: „Das Massenbedürfnis und Masseninteresse an bildender Kunst stieg in dem Maße, wie diese ihre spezifischen Möglichkeiten herausarbeitete, differenzierter in ihren Ausdrucksweisen, tiefer, ja widerspruchsreicher in ihren Gestalten und schwieriger in ihrer Lesbarkeit, also insgesamt anspruchsvoller wurde"
Raum sieht hier ein Kausalverhältnis zwischen dem sprunghaft angestiegenen Niveau, das sich vor allem in einem vertieften Problembewußtsein ausdrückt, und einer Steigerung des Interesses für den Betrachter, zumal die Malerei der siebziger Jahre auf den belehrenden Zeigefinger des dogmatischen Realismus verzichtet.
Die Existenz eines Dialoges zwischen der Kunst und der Bevölkerung spiegelt sich auch in der Art und Weise wider, wie die DDR-Kunstkritik heute Ausstellungen rezensiert. Ein Kommentar wie der zur 10. Leipziger Bezirksausstellung im „Neuen Deutschland" vom 24. Oktober 1979 aus der Feder Dietmar Ei-solds mit dem Titel: „Herausforderung zur Zwiesprache über bewegende Fragen der Zeit" wäre zehn Jahre früher ebenso wenig denkbar gewesen wie die Würdigung Hermann Raums im Katalog „Weggefährten — Zeitgenossen" für die Kunst der siebziger Jahre: Die Malerei „hat sich für ihr Publikum, eben für das DDR-Publikum der siebziger Jahre, in zweierlei Hinsicht als , Lebenselement'verfügbar gemacht, indem sie zum einen in differenzierte-rer und reichhaltigerer Weise Genuß, Erholung, Vergnügen, aber auch Denkarbeit bietet und zum anderen das reale Leben allseitiger, wahrhaftiger ausleuchtet, sich auch den alltäglichsten Sorgen, dem Ungelösten und Unerlösten, ja dem vielleicht Unlösbaren ebenso zuwendet wie den kleinen Freuden und dem großen privaten Glück, der so nötigen und so schweren Selbstverwirklichung des einzelnen, dem weiteren Spektrum der Beziehungen Individuum — Gesellschaft"
Wenn man den vielseitigen Themenkatalog der Malerei für die siebziger Jahre aufschlüsselt, so stößt man in der Tat immer wieder auf die von Raum angesprochene Fragestellung: Wie lassen sich die Bedürfnisse individuellen Glücks mit den sozialen Notwendigkeiten in Einklang bringen? Mit dieser Problematisierung erobert sich die DDR-Malerei jene thematisch pluralistische Artikulationsbasis bis hin zur Selbstreflexion im Selbstporträt zurück, die sie in der liberalen Frühphase der vierziger Jahre schon einmal besessen hatte. Das heißt, daß das Konfliktbild als Bildtyp der siebziger Jahre nicht nur neue stilistische und inhaltliche Akzente in die Genres des Arbeiterporträts, des Brigadebildes und des Historienbildes einbringt, sondern darüber hinaus andere Gattungen wie z. B. das bereits genannte Selbstporträt, aber auch das erlebnis-
haft empfundene Landschaftsbild, das Stilleben oder das Familienbild wiederentdeckt.
Dem vielseitiger gewordenen inhaltlichen Spektrum korrespondiert im stilistischen Angebot die „Ausprägung einer Vielfalt unverkennbar persönlicher Handschriften" die es unmöglich machen, noch weiterhin von dem Sozialistischen Realismus der DDR zu sprechen.
Dieser Pluralismus wird besonders augenfällig an der DDR-spezifisch wichtigen Gattung des Arbeiter-und Brigadebildes. Dabei zeigt sich als Grundtendenz eine Entheroisierung zugunsten einer realitätsnahen Individualzeichnung sowie einer Problematisierung des Arbeitsund Lebensalltags. Der fortschreitende Verzicht auf jenen Bildtypus, der den Arbeiter durch überhöhende Symbolisierung posenhaft zum Vorbild stilisierte, zeige sich bereits 1970 im „Brigadier" von Bernhard Heisig. Auf diesem Gemälde wirkt der porträtierte Brigadier wie der Nachbar von nebenan, der auf der Suche nach einem persönlichen Wort auf den Betrachter zuzuschreiten scheint. Diese Geste wird noch durch die lebhafte, impressionistische Farbe unterstrichen, die dem Bild als Gesamtaussage die Stimmung individueller Lebensfreude und die Ausstrahlung einer großen persönlichen Kommunikationsbereitschaft verleiht.
Zu den meist diskutierten Bildern der VIII.
Kunstausstellung 1977/78 in Dresden zählte das eindrucksvolle Mattheuer-Gemälde „Die Ausgezeichnete" von 1973/74. Ungewöhnlich war für die Betrachter dieses Bildes die Entheroisierung des sogenannten Arbeiterbildnisses durch die sinnbildhafte Verdichtung einer Situation aus dem betrieblichen Alltag. Obwohl Mattheuers „Ausgezeichnete" aus Anlaß ihrer Feierstunde porträtiert ist, strahlt das Gemälde die melancholische Leere eines alten, einsam gewordenen Menschen aus, der die Schattenseiten des Lebens erfahren hat und aus dem Wissen um die Schwere des Alltags nicht nur mit Freude auf die erteilte Ehrung reagiert, sondern in ernster Stille verharrt. Ein in monochromer Farbe gemalter Hintergrund und ein weißer Tisch, der die Frau wie eine Barriere isoliert, konzentrieren die Aufmerksamkeit des Betrachters ganz auf die Psyche dieser dem Rentenalter nahen Frau. Das Gemälde spricht dabei keinen Konfliktstoff unmittelbar an, sondern zwingt den Betrachter eben seine sinnbildlich gesetzte Farbe und Dingzeichnung zu eigenständiger Reflexion.
Neben einer neuen Blüte des Stillebens und des Familienbildes erlebt vor allem das Landschaftsbild eine auffallend fruchtbare Renaissance unter den Malern der DDR, wobei gerade in dieser Gattung der „Reichtum" der „per-sönlichen Handschriften" besonders ausgeprägt erscheint. Neben sehr individuell empfundenen Landschaftsimpressionen im Stil von Nolde oder Macke trifft man mehr und mehr auf Stilelemente im Anschluß an die dingliche Rätselsprache eines Magritte oder an die surreal-phantastischen Bildfindungen von Max Ernst oder Oelze. Caspar David Friedrichs zwischen verstecktem Chaos und harmonischer Ordnung angesiedelte, symbolische Landschaften sind vor allem nach der großen Dresdner Ausstellung des Romantikers als Anreger unter den jüngeren Malern aus dem Schülerkreis Heisigs, Tübkes und Mattheuers auszumachen, und die menschenleere Stadtlandschaft der Neuen Sachlichkeit, wie wir sie von Scholz, Schrimpf und Radziwill her kennen, dürfte wohl eine Reihe von Stadt-ansichten aus den siebziger Jahren angeregt haben. Den eindrucksvollsten Niederschlag hat die magische Färbund Dingsetzung der Veristen aus den zwanziger Jahren zweifellos in dem suggestiven Gemälde des jungen Hallensers Uwe Pfeifer gefunden, das unter dem ironischen Titel „Feierabend“ den Menschen-stau nach Dienstschluß im Unterführungstunnel darstellt. Deutlicher als hier in diesem Bild kann die Frage nach der Lebensqualität wohl kaum gestellt sein.
Im Anschluß an Mattheuers zahlreiche symbolisch-hintergründige Landschaftsbilder, die des Malers Gratwanderung zwischen Realität und Wunschträumen in doppelbödigen Titeln wie „Schöner Abend" und „Schöner Sonntag" verrätseln, sind viele Landschaftsbilder aus den siebziger Jahren verschlüsselte Selbstaussagen, oder sie beinhalten zentrale Fragen zum Verhältnis zwischen Mensch und Natur — ein Thema, das auch im Industriestaat DDR aufgrund seiner räumlichen Enge und der wenigen noch relativ unberührten Landschaftsregionen Aufmerksamkeit findet.
Aus den hier beispielhaft zitierten Bildern wird deutlich, wie realitätsnah das Konflikt-bild der siebziger Jahre die Probleme individueller wie gesellschaftlicher Existenz thematisiert. Der Reifeprozeß, der sich in solchen Sinnfragen nach der Lebensqualität ausspricht, gestattet daher auch mit vollem Recht den Niveauvergleich mit der Kunst des Westens. Dabei wäre es aber absolut falsch, wenn man die prinzipiellen Unterschiede leugnete, die das künstlerische Selbstverständnis eines DDR-Malers von dem eines Vertreters der westlichen Kunstszene trennen.
Jede originelle Bildlösung der letzten Jahre, jede Konfliktaussage über die Verhältnisse im DDR-Alltag — kurz, das ganze vielseitige Spektrum der „persönlichen Handschriften"
dient letztlich dazu, die „Persönlichkeit" des sozialistischen Menschen so „konkret" wie möglich zu machen Allen Malern gemeinsam ist daher im Gegensatz zum Wertepluralismus westlicher Kunst die grundsätzliche Orientierung an der Zielsetzung einer sozialistischen Gesellschaft. Individuell differenziert hat sich allein die künstlerische Umsetzung dieser Orientierung aufgrund von persönlich empfundenen Lebenssituationen. Individualität als Selbstzweck, wie wir sie in unserer westlichen Kunstszene kennen, gilt in der DDR nach wie vor als eine verwerfliche Flucht aus der Gesellschaft, als eine Aufhebung des Prinzips „Parteilichkeit". Bei aller Korrektur vergangener Maßstäbe haben Kunstkritik und Kunstpolitik der siebziger Jahre das Lenin-Postulat der „Parteilichkeit" für die Kunstproduktion der DDR nie aufgegeben. Wenn beide in jüngster Zeit auch die Leninsche „Volksverbundenheit" wieder aufgreifen — ohne allerdings die Malerei auf jene Klischeehaftigkeit zurückführen zu wollen, die sie in den fünfziger Jahren disqualifizierte —, so ist das möglich, weil die „Volksverbundenheit" heute als Interessenidentität zwischen Kunst und Gesellschaft verstanden wird. Wenn also der Künstler den kritischen Zeigefinger auf brisante Konfliktstoffe legt, dann können Kunst-politik und Kunstkritik in der Interpretation solcher Konfliktbilder darauf verweisen, daß hinter solchen Problemaussagen stets der Wille zur Überwindung eines Mangels steht. Die Infragestellung einer Realität um ihrer selbst willen, wie wir sie in der westlichen Kunstszene seit der Dada-Tradition immer wieder erleben ist der DDR-Kunst fremd; in der Ausschaltung einer solchen totalen Infragestellung besitzt der DDR-eigene Sozialistische Realismus daher auch trotz aller Differenzierung der Handschrift seine tragende Kontinuität.
Genau in dieser Tatsache ist der Grund zu suchen, daß die Kunstkritik der DDR von heute trotz aller Zurechtrückung alter Fehleinschätzungen die eigene dreißigjährige und die sowjetische Tradition letztlich nicht leugnet, sondern als ständigen Fortschritt in Parallele zur gesellschaftspolitischen Entwicklung begreift. Zum anderen liegt in diesem künstlerischen Selbstverständnis der heute zu Ruhm gelangten DDR-Maler auch der große stilistische Freiheitsraum begründet, den die Partei zur Verwunderung des Westens ihren Bildenden Künstlern im Unterschied zu den Schriftstellern in großem Maße gewährt. Es mag erstaunen, daß eine offizielle Galerie der DDR wie die Leipziger „Galerie am Sachsenplatz" 1978 eine Ausstellung mit Collagen aus eigener DDR-Produktion zusammenstellen konnte, daß surreale, abstrakte und konstruktivistische Bildfindungen in aufwendigen Bildbänden abgedruckt werden, während Schriftsteller, die sich gegen die Ausbürgerung des unbequemen, aber doch sozialistischen Literaten Wolf Biermann ausgesprochen haben, Repressalien erleiden.
Die Erklärung für die Toleranz der Partei gegenüber dem malerischen Stilpluralismus ist allerdings nicht ausschließlich in solch äußerlichen Dimensionen wie der Tatsache zu suchen, daß die internationale Anerkennung der heutigen DDR-Malerei und ihr Export in den Westen zu größeren experimentellen Spielräumen verholten hat. Ebenso wenig erklärt sich die relativ liberale Kunstpolitik gegenüber der Malerei allein aus jenem vielzitierten Argument, die Bildende Kunst habe nicht die Breitenwirkung in der Bevölkerung wie die Literatur. Wichtiger als diese sicher auch richtige Begründung erscheint mir die bereits erwähnte verbindliche ideologische Basis, zu der sich die DDR-Maler immer wieder verbal bekennen. Man braucht sich nur das Eröffnungsreferat von Willi Sitte auf dem 8. Kongreß des Verbandes Bildender Künstler der DDR aufmerksam durchzulesen, um das Gewicht dieses Aspektes zu begreifen. Schon rein äußerlich wird ihm in der Rede ein weit größerer Raum zugebilligt als dem durchaus mit Stolz vorgetragenen Verweis auf die gewachsene internationale Reputation der heutigen DDR-Malerei: „... die kritischen Akzente in unserer Kunst sind genauer und wirksamer geworden. ... Wir brauchen sozialistische Kritik — im Leben, also auch in der Kunst... Selbstverständlich haben wir immer sehr genau zu unterscheiden zwischen einer konstruktiven Kritik, die uns voranhilft, und einer Kritik, die sich gegen die Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft richtet. Auf diese Weise ist klargestellt, daß die Zulässigkeit von Kritik nicht an ihrer Schärfe gemessen wird, wohl aber an der Position, von der aus sie geübt wird, und an der Richtung, in die sie wirkt... Unsere Kunst ist in den letzten Jahren dem sozialistischen Alltag und seinen Menschen sehr viel nähergerückt, sie ist tiefer und verzweigter in ihn eingedrungen, hat eine sozial genauere Sicht gewonnen und ein stärker differenziertes, vielschichtiges Bild gezeichnet... Das hat die Möglichkeiten des sozialistischen Realismus gesteigert und verdichtet... Gesellschaftlich Verbindliches wird dabei nicht aufgegeben, sondern am besonderen Einzelfall unter dem Aspekt der ständigen Bewährung aufgedeckt. All das hat unserer Kunst neue Züge von Volksverbundenheit verliehen, weil sie damit das Leben umfassender begreift und deutet und weil dies von den Menschen als ihr Leben verstanden werden kann."
Das Verhältnis zwischen den Bildenden Künstlern und der Kulturpolitik der SED trägt in den letzten Jahren einen spezifischen Doppelcharakter, der gleichermaßen Identifikation und kritische Reflexion über den Zustand der Gesellschaft einschließt und im Begriff einer kritischen Solidarität gefaßt werden könnte. Das Fundament der Übereinstimmung liegt im gemeinsamen Bekenntnis zum Sozialismus, in der Bejahung der gesellschaftlichen Verantwortung des Künstlers und in der Anerkennung der bewußtseinsbildenden Funktion der Künste. Die Entwicklung eines Spannungsverhältnisses setzt ein, wenn es um die konkrete Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität geht. Zwar wendet sich auch die SED mit ihrem auf dem VIII. Parteitag (1971) proklamierten kulturpolitischen Programm deutlich gegen Oberflächlichkeit, Langeweile und Schönfärberei und lehnt die Aufrechterhaltung von Tabus verbal ab, doch besteht sie gleichzeitig auf der Feststellung, daß der „real existierende Sozialismus" vorwiegend in der Perspektive seiner positiven Resultate darzustellen sei. In dem Maße, wie sich die Künste mit Fehlentwicklungen und Mängeln beschäftigen und Fragen an die Gesellschaft richten, auf welche die Politik keine Antworten bereit hält, unterliegt die politische Führung immer wieder der Versuchung zu ängstlichen Abwehrreaktionen. Wenn die SED einen solchen konstruktiv-kritischen Beitrag der Künste nicht immer als Vorbedingung für gesellschaftlichen Fortschritt anerkennen will, sondern als Gefährdung eigener Machtsicherungsinteressen begreift, dann wird diese Haltung der SED manchmal auch durch eine politisch hintersin-nige Art der Werkinterpretation seitens westlicher Kritiker bestärkt, die den Verdacht der Herrschenden in der DDR nähren, es handle sich hierbei um eine kaschierte Systemopposition
Die Kulturpolitik der DDR hat in Literatur und Bildender Kunst unterschiedliche, beinahe entgegengesetzte Wirkungen gezeitigt: Während die Literaturpolitik nach der im November 1976 erfolgten Ausbürgerung Wolf Biermanns den daraus resultierenden Konflikt mit einer Reihe prominenter Schriftsteller mehr unter Gesichtspunkten einer Konfrontation behandelte und entsprechend reagierte (z. B. gegen Stefan Heym und Rolf Schneider), haben sich gleichzeitig die Entwicklungsbedingungen der Bildenden Kunst inhaltlich nicht eingeschränkt und formal sogar erweitert. Der wichtigste Grund für diesen gegenläufigen Prozeß dürfte in der Tatsache liegen, daß die Bildende Kunst ihre Aussagen über gesellschaftliche Zustände und individuelle Erfahrungen in einer stärker vermittelten Weise formuliert, die sich im Vergleich zur Literatur weniger leicht als grundsätzliche Infragestellung der sozialistischen Gesellschaft interpretieren läßt.
Auch ist offenkundig, daß die Resonanz der westlichen Kunstkritik auf Werke der Bildenden Kunst aus der DDR viel weniger als im literarischen Bereich Befürchtungen der politischen Führung aktiviert hat, es könnte sich hierbei um einen gefährlichen Beifall von der falschen Seite handeln. Vielmehr sieht die SED, daß der Erfolg ihrer Bildenden Kunst auf künstlerischen Qualitätsurteilen beruht. Ein solcher Erfolg ist daher, wie etwa auch die beachtlichen sportlichen Leistungen der DDR, als ein politischer Prestigezuwachs auszuwerten.
Schließlich kann auch nicht unerwähnt bleiben, daß bei dem vielstimmigen Künstlerprotest nach der Biermann-Ausbürgerung, den insgesamt etwa 100 Personen unterschrieben, mit Ausnahme Fritz Cremers (der sich nachträglich von seiner Mitwirkung distanzierte) keine Bildenden Künstler beteiligt waren so daß die SED daraus ein besonderes Maß an Übereinstimmung mit dieser Künstlergruppe ableiten konnte.
Diese Übereinstimmung, die auch Willi Sitte im Namen der Bildenden Künstler auf dem 8. Verbandskongreß unterstrich, macht es der SED möglich, daß Konfliktbild der Malerei mit seinen kritischen Aspekten leichter zu akzeptieren als vergleichbare Tendenzen in der Literatur. Trotzdem läßt sich die latente Befürchtung der Partei beobachten, das Konflikt-bild könnte zum wichtigsten und dominierenden Gegenstand der Bildenden Kunst in der DDR werden Wie realistisch diese Befürchtung ist, zeigt die Tatsache, daß die 10. Leipziger Bezirksausstellung im Herbst 1979 etwa 130 000 Besucher zählte die sich für die neuen Werke der Bildenden Kunst aus den letzten Jahren interessierten, während die große Berliner Ausstellung „Weggefährten — Zeitgenossen“, die den geschichtlichen Entwicklungsgang der DDR-Malerei ins Gedächtnis rufen sollte und daher propagandistisch groß angelegt war, wegen ihrer bereits bekannten Exponate nur etwa 45 000 Besucher verzeichnen konnte. Um die befürchtete Dominanz des Konfliktbildes zu relativieren, bemüht sich die Kulturpolitik in den letzten Jahren um eine stärkere Ästhetisierung der Kunst. Zu dieser Tendenz der Ästhetisierung gehört die Aufforderung zu weiteren stilistischen Experimenten, denn eine Collage und eine surreale oder abstrakte Bildfindung ist unter dem Gesichtspunkt der Breitenwirksamkeit weniger effektiv als ein realistisches Konfliktbild. Unterstützt wird diese Ästhetisierung der Kunst durch die Einrichtung eines Staatlichen Kunsthandels, der in den DDR-Städten etwa 20 Galerien für Gegenwartskunst unterhält und der auch Exporte in den Westen organisiert. Hier kann der Sammler Bilder, Grafiken und Plastiken erwerben, wodurch sich eine Nachfrage nach schmückender Kunst (Stilleben, Porträt, Landschaft) auch als Folge des wachsenden Standards in der Wohnkultur eingestellt hat. Die treffendsten Aussagen aber machen die Kunstproduktionen selbst. Die Bezirksausstellungen des Jahres 1979 haben mit ihren Exponaten gezeigt, daß das stilistische Experiment weiter fortschreitet, daß sich das Konfliktbild in der von uns beschriebenen Weise fest in der DDR-Malerei etabliert hat und daß sich individuelle Erfahrungen und Impressionen in stilistisch überraschenden Bildfindungen neben dem Konfliktbild breiten Raum erobert haben.
Wenn man darüber hinaus registriert, daß der bekannte DDR-Regisseur Konrad Wolf als Präsident der Akademie der Künste anläßlich einer Beratung Erich Honeckers mit Kultur-und Kunstschaffenden der DDR am 22. Juni 1979 den Verzicht auf Zensur und eine „dynamische, problembewußte, prozeßhafte Kunst" forderte, „die sich um die sozialistischen Ideale im Alltag der Menschen bemüht" und daß Erich Honecker auf dieser Tagung die Aufhebung jeglicher „Tabus” sowohl für „Fragen der inhaltlichen Gestaltung als auch des Stils" ausdrücklich bekräftigt so mag man daraus die Hoffnung ableiten, daß sich das pluralistische Erscheinungsbild, das sich die Bildende Kunst in den siebziger Jahren in der DDR erobert hat, auch in den achtziger Jahren fortsetzen und sogar verstärken wird.
Auszugsweiser Vorabdruck aus dem in diesen Tagen erscheinenden Buch der Verfasserin: „Malerei der DDR 1949— 1979, Dumont-Buchverlag Köln.
Karin Thomas, geb. 1941, Studium der Kunstgeschichte, Germanistik, Philosophie und Geschichte; nach kurzer Lehrtätigkeit im gymnasialen Schuldienst und an der Hochschule Mainz arbeitet die Autorin heute als Verlagslektorin für Bildende Kunst, Pädagogik und Kunsttheorie im DuMont Buchverlag Köln. Veröffentlichungen u. a.: Bis heute, Stilgeschichte der Bildenden Kunst im 20. Jahrhundert, 1978 4; DuMont s kleines Sachwörterbuch zur Kunst des 20. Jahrhunderts, 1980I (dumont tb 6); DuMont s Künstlerlexikon von 1945 bis zur Gegenwart (in Zusammenarbeit mit Gerd de Vries), 19792 (dumont tb 54); Die Malerei in der DDR 1949-1979, 1980 (dumont tb 97); Monografien über Joseph Beuys (1973, 1979) und Heinz Mack (1976).
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